Sarah Bosse
Band 2
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© 2019 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten
Licensed by ZDF Enterprises GmbH, Mainz
© 2019 – Cottonwood Media – Opéra national de Paris – ZDF –
ZDF Enterprises GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Geschrieben von Sarah Bosse
basierend auf dem Drehbuch von Jill Girling und Lori Mather
Direction: Matt Bloom, Rob Burke, Ronan Burke
Umschlaggestaltung: Init GmbH unter Verwendung eines Filmfotos
© 2019 – Cottonwood – Opéra national de Paris – ZDF – ZDFE.
Picture Creation Rysk
Fotos im Innenteil: © 2019 – Cottonwood – Opéra national de Paris – ZDF – ZDFE. Nicolas Velter/Florian Astrodau
hf · Herstellung: MJ
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-25727-9
V001
www.cbj-verlag.de
Prolog
Hand in Hand hasteten Lena Grisky und ihr Freund Henri durch die Flure der Pariser Oper, dem Palais Garnier. Laut hallten ihre Schritte von den Wänden des altehrwürdigen Gebäudes wider. Sie hatten es eilig, denn sie mussten das Zeitreise-Portal erreichen, das hier hinter einer Eisentür verborgen war. Gemeinsam wollten sie zurück in das Jahr 1905! In wenigen Augenblicken würde sich das Portal wieder schließen. Ihr Atem ging keuchend, die Lungen stachen.
Lena hatte gerade in der Gala getanzt und trug noch ihr Kostüm. In der Hand hielt sie eine Reisetasche, in die sie rasch ein paar Sachen gestopft hatte, die sie in die Vergangenheit mitnehmen wollte.
Endlich hatten sie die schwere Tür erreicht. Auch Lenas Freunde aus der Ballettschule der Pariser Oper, Jeff, Max und Ines, waren ihnen gefolgt. Im Bewusstsein, dass sie ihre Freunde womöglich nie wiedersehen würde, umarmte Lena jeden noch einmal fest. Henri mahnte zur Eile, griff mit beiden Händen nach der Tür und zog sie auf. Ungläubig starrten Lena und ihr Freund auf eine Mauer aus roten Ziegelsteinen.
»Oh nein, das Portal hat sich bereits wieder geschlossen!«, rief Henri entsetzt.
Lena schlug die Hände vors Gesicht. »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte sie ratlos. Sie hatte fest damit gerechnet, in ihr altes Leben im Jahr 1905 zurückzukehren, zusammen mit ihrem Freund Henri.
Bis auf Ines, die wusste, dass Lena eine Zeitreisende war und aus dem Jahr 1905 kam, starrten die anderen verwirrt auf die Wand. Warum wollten Lena und Henri wohl durch eine Ziegelsteinmauer gehen?
Lena seufzte verlegen und lächelte die anderen an. »Ihr Lieben, ich glaube, ich bleibe doch noch eine Weile hier …«
Lena musste zugeben, dass sich der Gedanke für sie gut anfühlte. Aber was würde Henri sagen?
Henri hingegen beschloss, im Uhrenladen der Zeitreisenden Hilfe zu suchen, wo er den Besitzer Oscar, seinen Vater Victor und Lenas Mutter, Prinzessin Alexandra, unlängst mithilfe seines Zeitmessers mitten in einer Bewegung »eingefroren« hatte.
Was sie nicht wussten, war, dass Thea, Lenas Rivalin an der Ballettschule, Lenas Zeitmesser an sich genommen hatte und wenige Minuten früher vor besagte Wand getreten war. Clive, einer der Zeitsammler, deren Aufgabe es war, Lena und den Zeitmesser zu fangen, hatte ihr charmant den Arm geboten, und ehe sich Thea versah, war sie in einem Zeitstrudel gefangen und mehr als hundert Jahre zurück katapultiert worden.
Da half kein Zetern und kein hysterisches Gekreische, als Clive sie im Jahr 1905 willkommen hieß. In ihrem modernen Tanzkostüm war sie den neugierigen Blicken der altmodisch gekleideten Menschen ausgesetzt, die vor der Oper entlangflanierten. Hektisch tippte sie auf ihrem Smartphone herum und schrie: »Ich muss sofort Lena sprechen!«
Doch Clive zeigte kopfschüttelnd auf das kleine Gerät. »Tut mir leid, aber damit kannst du im Jahr 1905 nichts anfangen.«
Wütend stampfte Thea auf, als im selben Moment eine Kutsche dicht an ihr vorbeifuhr und sie mit Schlamm bespritzte. Entsetzt blickte Thea auf ihr verdrecktes Tutu und wischte sich über das Gesicht, was die Sache allerdings nicht besser machte. »Lena Grisky, dafür wirst du bezahlen!«
1
Noch immer standen die jungen Tänzer mit Henri vor der geöffneten Eisentür und der Wand aus roten Ziegelsteinen und ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Lenas Entscheidung, noch eine Weile zu bleiben, überwältigte sie, wobei Max und Jeff keine Ahnung hatten, was der Grund für diesen Entschluss war.
Schließlich löste sich Max aus der kleinen Gruppe und nahm Lena fest in den Arm. Ihm war es total egal, dass ihr Freund dabeistand.
»Lena, wo wolltet ihr denn hin? Kann ich dich bitte kurz unter vier Augen sprechen?«
Lena blickte unsicher von Max zu Henri, doch bevor sie etwas sagen konnte, hatte Henri sich zwischen sie und Max gedrängt. »Dieser Moment ist schon vorbei, mein Lieber.«
»Ich schätze, Lena kann für sich selbst antworten, Henri«, erwiderte Max, um einen freundlichen Ton bemüht.
Henri deutete eine kleine Verbeugung an. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte er mit einem sarkastischen Unterton, und indem er den Platz widerwillig freigab, zischte er Lena zu: »Beeil dich, Lena, wir müssen rauskriegen, wie wir jetzt vorgehen sollen!«
»Was meint er?« Verwirrt suchte Max die Blicke der anderen.
Alle sahen auf Lena, die sich endlich gesammelt hatte und sich mit einem kleinen Seufzer an Henri wandte: »Gib mir eine Minute. Bitte.«
Damit zog sie Max beiseite.
Ein Lächeln legte sich auf Ines’ Gesicht, die einfach nur glücklich darüber war, dass Lena, mit der sie in den letzten Wochen so enge Freundschaft geschlossen hatte, sie nun doch nicht verließ.
»Jetzt mal im Ernst, was ist hier eigentlich los?« Ungeduldig tippte Jeff Ines auf die Schulter. Er wollte Antworten, die ihn aus seiner Verwirrung befreiten. »Warum sollten die beiden durch eine Mauer gehen? Und wohin wollten sie überhaupt?«
Ines schenkte ihm ein mitleidiges Grinsen. »Glaub mir, je weniger Fragen du stellst, desto besser.«
In dem Moment kamen Kennedy und Bree schnatternd vorbei. Sie waren so etwas wie Theas »Hofdamen«, die um sie herumschwirrten und stets bestrebt waren, ihrer »Königin« jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Thea war Siegerin der Tanz-Casting-Show Dance Off im Fernsehen gewesen und deshalb für die jüngeren Mädchen eine Art Göttin. Sie suchten nach Thea, die sich nach der Gala in Luft aufgelöst zu haben schien.
Ines und Jeff waren Lena und Max ein Stück hinterhergeschlichen und spitzten die Ohren. Doch in diesem riesigen Treppenhaus, in dem die Besucher in eleganter Kleidung nach der Gala gemäßigten Schrittes dem Ausgang zustrebten, war es fast unmöglich zu verstehen, was die beiden miteinander zu besprechen hatten.
»Ich bin echt total verwirrt«, gab Jeff zu und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. »Und wer ist dieser Typ da? Und hast du eine Ahnung, wo Thea und Dash stecken?«
Ines, die versuchte, sich auf Lena und Max zu konzentrieren, antwortete ausweichend: »Dash war vorher seltsam drauf und musste unbedingt telefonieren. Und wen interessiert schon, wo Thea steckt?«
Endlich konnte sie ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen.
»Es tut mir so leid«, sagte Lena zu Max. »Ich hätte dir sagen sollen, dass ich mit Henri fortgehe, aber … Es ist einfach so, dass …«
Doch Henri gab ihr keine Chance, die richtigen Worte zu finden. Schon war er wieder an ihrer Seite. Für ihn war die Minute vorbei. »Lena, wir müssen wirklich los. Vielleicht sind wir hier nicht sicher.«
Lena schenkte Max einen verzweifelten Blick. »Es tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte es dir erklären.«
Sie schob sich an Max vorbei und folgte Henri.
»Lena!«, rief Max ihnen hinterher. »Was hat er gemeint mit nicht sicher?«
Doch Lena wiederholte nur: »Es tut mir leid!«
Und dann waren Lena und Henri verschwunden. Traurig und verwirrt sah Max ihnen nach.
2
Thea war außer sich. Sie fühlte sich wie ein Luftballon, den man zu fest aufgepustet hatte. Und wie sie so dastand zwischen den Kutschen und all den Leuten in ihren altmodischen Kleidern und den seltsamen Hüten, kam sie sich vor wie in einem historischen Film. Und jetzt grinste dieser Junge, der sich Clive nannte, sie auch noch dämlich an. Machte er sich etwa lustig über sie? Das tat niemand ungestraft!
»Arrgghhh!« Thea ballte die Fäuste und stampfte mit dem Fuß auf. »Wo sind wir hier? Und warum 1905? Wo sind die Autos und was machen die Pferde hier? Ich raste gleich aus! Ich will nach Hause, und zwar sofort!«
Aber Clive blickte nur amüsiert auf den Schlamm, der ihr über die Wangen und über die Kleider rann. Wütend griff Thea nach seinem Umhang und wischte sich damit das Gesicht ab. Dann drehte sie sich wortlos um und marschierte im Stechschritt auf den Eingang des Palais Garnier zu. Clive hatte Mühe, ihr zu folgen.
»Was!«, blaffte sie in die erstaunten Gesichter, die sie von allen Seiten neugierig anstarrten. »Das ist der neueste Schrei! Ihr seht alle aus, als hättet ihr Gardinen an!« Doch sie wurde umgehend von einem Türsteher gepackt und aus dem Gebäude geworfen. »Wenn ich da nicht reindarf, wie soll ich zu diesem Portal gelangen, durch das ich wieder nach Hause komme?«, kreischte sie aufgebracht und trat in einen Haufen Pferdeäpfel. »Nein! Nein! Nein! Mach das weg, sofort!«
Thea zeigte gebieterisch auf ihre Ballettschuhe. Aber Clive winkte beleidigt ab und wollte schon pfeifend seines Weges gehen, als Thea bewusst wurde, was es bedeuten würde, wenn er sie hier allein zurückließe. »Halt, warte!«
Clive blieb stehen und hielt sich die Hand hinters Ohr, um seine Ohrmuschel zu vergrößern.
»Ja, schon gut«, gab Thea klein bei. »Es tut mir leid. Okay? Hilf mir bitte. Bitte!« Bettelnd hüpfte sie auf der Stelle wie ein kleines Mädchen. Clive fühlte sich geschmeichelt.
Lena und Henri versuchten als Erstes im Büro von Victor, Henris Vater, etwas herauszufinden, das sie weiterbrachte. Der Raum sah aus wie im Jahr 1905, nur eins war anders.
»Puh, ist das staubig hier«, sagte Lena hustend.
Henri griff zielsicher unter die Tischplatte und hob triumphierend einen Brief in die Höhe. »Mein Vater ist so vorhersehbar.« Hektisch faltete er den Bogen auseinander.
»Wenn du dies liest, muss etwas fürchterlich schiefgelaufen sein. Stelle dir diese Fragen: Wo sind die Zeitsammler? Wo ist das Zeitreisebüro? Hast du noch jemand anderen durch das Zeitportal gehen sehen?«
Erschrocken hielt Henri inne und horchte. Vor der Tür waren Stimmen zu hören, und ehe sich Lena versah, hatte Henri sie auch schon in den Wandschrank geschoben. Durch den Türspalt beobachteten sie, wie drei Uniformierte das Büro betraten.
Schnell las Henri den Brief zu Ende. »Denn wenn jemand Unbefugtes durch das Portal getreten ist, wird das Zeitreisebüro dich sofort finden.«
Lena und Henri warfen sich ängstliche Blicke zu. Was hatte das alles zu bedeuten? Und was suchten die Männer in Victors Büro?
3
»Halt! Ich friere euch alle ein. Ihr steht unter Arrest!« Im Jahr 1905 war Lex, eine Agentin des Zeitreisebüros, in Oscars Uhrenladen gestürmt und tippte wild auf dem Steuerungselement an ihrem Handgelenk herum. Diesen Trick hatte sie offensichtlich nicht so gut drauf, denn im Innern des Ladens erwarteten sie der Ladeninhaber Oscar, Lenas Mutter Prinzessin Alexandra sowie Henris Vater Victor albern herumblödelnd und von der Hüfte abwärts bewegungsunfähig. Von wegen eingefroren!
Ungeduldig fuhr Lex die drei an: »Ich sagte, ich vertrete das Zeitreisebüro und Sie sind unter Arrest!«
Noch einmal drückte sie auf die Tasten. Schließlich hatte der Spuk ein Ende. Die drei sprachen und bewegten sich wieder ganz normal.
»Wo ist Lena?«, fragte Alexandra.
»Und wo ist Henri?«, fragte Victor.
»Und wer sind Sie überhaupt?«, fragte Oscar.
»Ich bin Lex.« Die Zeitinspektorin stellte sich breitbeinig hin und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. »Außerdem bin ich diejenige, die hier Fragen stellt, damit das klar ist. Ich wurde eingestellt, um das Chaos aufzuräumen.«
Und als Oscar eine Bemerkung machen wollte, brachte sie ihn mit einem Knopfdruck zum Schweigen.
»Autorisiert durch das Zeitreisebüro, fordere ich Sie auf, mir sämtliche Zeitmesser auszuhändigen, die Sie für unerlaubte Zeitreisen benutzt haben.«
»Wir haben keine!«, schimpfte Prinzessin Alexandra. »Um das mal klarzustellen.«
»Ihre Kollegin Francine Parks hat uns hier eingefroren, nachdem … ach, das tut nichts zur Sache«, erklärte Victor ungehalten. »Weiß denn in diesem vermaledeiten Büro der eine nicht, was der andere tut?«
»Sie wurde gefeuert«, stellte Lex fest. »Sie müssen jetzt mit mir verhandeln.«
Als Oscar sich langsam aus seiner Starre löste, begann Lex, nervös auf ihrem Steuerungselement herumzutippen. »Mist, warum funktioniert das nicht?«
Victor stürmte auf sie zu, um sie aufzuhalten, aber er war den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Die Strahlen trafen zwar nicht ihn, aber Oscar und Alexandra, die sich im selben Augenblick zu verjüngen begannen. Victor riss die Augen auf. Vor ihm standen Oscar und Alexandra als Teenager!
»Oh«, sagte Lex erstaunt. »Das hatte ich nicht erwartet.«
»Junge Dame, wissen Sie eigentlich, was Sie gemacht haben?«, stellte Victor die Agentin zur Rede, während er beobachtete, wie Oscar völlig euphorisch sämtliche Uhren einsammelte und zusammen mit einer ziemlich benommenen Alexandra den Laden verließ.
»Ich befolge lediglich Anweisungen«, antwortete Lex selbstbewusst. »Bleiben Sie also stehen, oder ich drücke noch einmal auf den Knopf.«
Doch Victor war schneller. Bevor Lex reagieren konnte, war er durch die Tür verschwunden.
Henri war ziemlich genervt vom Jahr 2019. Seine und Lenas Rückkehr in ihr Leben im Jahr 1905 war zum Greifen nah gewesen und dann … Sie hatten den Hinterhof erreicht, in dem sich Oscars Uhrenladen befand. Zumindest der war, in dem Wirrwarr von Zeitsprüngen, die er inzwischen hinter sich hatte, immer an der gleichen Stelle. Doch als sie nun erwartungsvoll und außer Atem die Eingangstür aufstießen, fanden sie den Laden verwaist vor.
»Oscar?«, rief Henri.
Gerade wollte Henri im Hinterzimmer nach dem Ladenbesitzer suchen, als Lena ihn am Arm packte. Sie sah ihn mit ernstem Blick an. »Was wäre, wenn wir hierblieben?«
»Na ja, das werden wir erst mal müssen«, erwiderte Henri. »Aber wir kriegen das schon hin.«
»Nein, ich meine für immer«, entgegnete Lena euphorisch. »Es ist so fantastisch hier. Du wirst es genau so lieben wie ich, das weiß ich!«
Henri war erschüttert. »Wie kannst du nur so etwas denken?«
Lena spürte Wut in sich aufkommen. Dachte Henri denn gar nicht nach? »Wenn wir zurückkehren, wird meine Mutter mich nach Russland schaffen und einsperren!«
Henri wurde ungeduldig. Das konnte doch nicht Lenas Ernst sein. »Aber wir gehören nicht hierher! Ist dir klar, was ich auf mich genommen habe, um dich zu finden? Und jetzt willst du einfach … hierbleiben?«
Lena sprach mit sanfter Stimme weiter und hielt Henris Hand. »Ich weiß und ich bin dir dankbar dafür. Aber wenn wir zurückgehen, wird man uns trennen und ich werde nicht mehr tanzen dürfen.«
Henri war traurig. Wie sollte er Lena nur überzeugen? »Aber wir sind hier Außenseiter. Wir haben keine Familie, keine Freunde.«
Lena lächelte Henri an. »Aber wir haben uns. Und meine Freunde sind auch deine Freunde. Mein Gefühl sagt mir, dass ich hierhergehöre.« Lena hielt sich die Hand auf die Brust.
»Wo steckt nur Oscar?«, fragte Henry. »Wenn er hier wäre, würde er mir zustimmen, dass das die allerschlechteste Idee wäre.«
»Ich bin hier«, sagte plötzlich jemand hinter ihnen. »Und was macht ihr in meinem Laden?«
Erschrocken schrie Lena auf. Vor ihr stand ein dunkelhäutiger Teenager in viel zu großen Klamotten, dem die überdimensionierte Brille von der Nase zu rutschen drohte. »Oscar, was in aller Welt ist denn mir dir passiert? Du bist doch Oscar, oder?«
Der Junge beäugte Lena und Henri misstrauisch. »Woher kennt ihr meinen Namen?«, fragte er ängstlich. »Habt ihr mich hierhergebracht?«
Es war, als würde jemand Henri und Lena den Boden unter den Füßen wegziehen. Nicht auch das noch!
4
Als Jeff nach der seltsamen Szene im Palais Garnier ziemlich verwirrt in die Schule zurückkehrte, lief ihm vor Mademoiselle Carrés Büro Dash in die Arme. Jeff wies mit dem Daumen zum Büro der Schulleiterin und machte ein fragendes Gesicht.
»Warum bist du eigentlich so komisch drauf und was hattest du denn mit Mademoiselle Carré zu besprechen?«
Dash seufzte und ließ den Kopf hängen. Eigentlich wollte er erst Ines einweihen, die er wirklich sehr gern hatte, aber jetzt konnte er genauso gut zuerst Jeff die Wahrheit sagen. »Weißt du … ich werde gehen.«
»Cool, ich komme mit!«, rief Jeff. Wie immer aufgedreht wie ein Kreisel machte er vor Dashs Gesicht mit den Armen wilde Tanzbewegungen. »Was wollen wir machen? Pizza essen? Crêpes? Oder diese leckeren kleinen Waffeln mit … Aber warum guckst du so komisch?«
Dash machte ein so ernstes Gesicht, dass es Jeff ganz mulmig wurde. »Jeff, ich werde die Schule verlassen. Und Paris. Die haben mich in London angenommen. Beim Royal Ballet.«
Jeff hielt mitten in der Bewegung inne. »Nein, du wirst unsere Schule nicht verlassen. Das werde ich nicht erlauben!«, rief er so laut, dass auch Max es hören musste, der gerade mit einem jüngeren Schüler Tischtennis spielte.
»Man hat mir eine Rolle im Ensemble angeboten«, sagte Dash. »Diese Gelegenheit kann ich mir nicht entgehen lassen!«
Jetzt kam Max dazu. Er und Jeff konnten es nicht glauben, dass Dash diese Entscheidung getroffen hatte, ohne vorher mit ihnen zu reden. Dann umarmten sich die drei.
Lena sah ein, dass sie Henri nicht davon überzeugen konnte, mit ihr im Jahr 2019 zu bleiben. Der Teenager Oscar war auch keine Hilfe. Was also sollten sie tun? Doch Lena kam ein guter Gedanke. Ihre Freundin Ines war ein Genie in Naturwissenschaften. Außerdem war sie ja in Lenas Zeitreisegeschichte eingeweiht. Vielleicht wusste sie Rat?
In aller Eile berichteten Lena und Henri ihr von Victors Brief und den Männern in seinem Büro. Und auch von Oscar. Dann forderte Lena Henri auf, Ines sein Notizbuch zu zeigen. Henri schlug die entsprechende Seite auf.
»Lena hat mir gesagt, dass du ein Genie bist. Kannst du das hier verstehen? Es ist die Zeichnung des Portals, das ich mit den Zeitsammlern zusammengebaut habe.«
Henri versuchte, Ines zu erklären, worum es dabei ging und wie das Gerät konstruiert war. Ines hörte aufmerksam zu, aber ihre Miene zeigte, dass das hier eine große Nummer war. Und außerdem ging es um Lenas Rückkehr in das Jahr 1905 … Der Blick auf die Uhr bot ihr eine Ausrede. »Oje, ich befürchte, es ist Sperrstunde.«
»Dann wünsche ich eine gute Nacht«, sagte Henri enttäuscht.
Nervös lachend mischte sich jetzt Lena ein, die den Moment, da Henri Ines die Skizze erklärte, genutzt hatte, um Max zur Seite zu nehmen. Sie wollte ihm das alles so gern erklären. Sie wollte, dass er verstand, in welchem Dilemma sie sich befand. Aber sie hatte es vermasselt. Bis auf unverständliches Gebrabbel hatte sie nichts über die Lippen gebracht.
Und dann hatte Max diesen schrecklichen Satz gesagt: »Ich wünschte, ich hätte dich nie kennengelernt.« Dann hatte er sie einfach stehen lassen.
Jetzt musste sie dringend mit Ines sprechen, und zwar allein.
»Ja, also mit der Sperrstunde nehmen die es hier verdammt genau«, erklärte sie Henri, indem sie ihn Richtung Tür schob. »Und du kannst ganz sicher bei Oscar schlafen?«
Henri nickte. »Ja, im Gegenzug helfe ich ihm dabei, seine Erinnerungen wiederzufinden.«
Lena sah Henri voller Mitleid an. Dann nahm sie ihn in den Arm. »Es hat sich so vieles verändert.«
»Hauptsache, wir beide sind zusammen«, flüsterte Henri in Lenas Ohr. Sie musste schlucken.
5
Obwohl Lena den Entschluss gefasst hatte, Henri zu überreden, mit ihr im Jahr 2019 zu bleiben, sah sie der Zukunft voller Sorgen entgegen. Während einer Trainingsstunde hatte Ines ihr erzählt, dass ihr Gehirn dringend Beschäftigung brauche und dass sie deshalb in den Ferien nicht am Sommerworkshop in der Ballettschule teilnehmen würde, sondern an einem Wissenschaftscamp.
Die Konzentration auf wissenschaftliche Themen würde Ines auch helfen, über den Abschied von Dash hinwegzukommen. Ein zartes Band der Zuneigung war zwischen Ines und Dash entstanden, doch nun musste sie ihn gehen lassen. Es war Dash sichtlich schwergefallen, ihr von seinem Vorhaben zu erzählen, aber er durfte sich diese Chance nicht wegen ihr entgehen lassen! Ines bestärkte ihn, auch wenn ihr Schmerz noch so groß war. Ein Platz im Ensemble des Royal Ballet in London! Ein Traum!
Lena sah ein, dass sie auf Ines nicht zählen konnte und die Sommerferien allein nutzen musste, um Henri in die Geheimnisse des 21. Jahrhunderts einzuweihen und ihm diese Zeit schmackhaft zu machen. Und das war eine verdammt schwierige Aufgabe. Für sie selbst war das Jahr 2018 am Anfang extrem verwirrend gewesen, aber sie hatte dieses Leben kennenlernen wollen. Um wie viel schwieriger war es, das einem jungen Mann beizubringen, der sich in seinem Innersten dagegen sträubte?
Während Lena und Ines über die beiden Jungen sprachen, die ihnen das Leben gerade ziemlich schwermachten, drang Getuschel an ihre Ohren. Bree und Kennedy machten sich offensichtlich Sorgen um Thea.
»Ich habe gesehen, wie sie hinter der Bühne mit diesem Platzanweiser durch diese Tür gegangen ist. Aber das ist schon ewig her«, flüsterte Kennedy aufgeregt.
»Da habe ich sie auch zuletzt gesehen«, erinnerte sich Bree. »Der Platzanweiser war so süß!«
»Aber normalerweise hätte sie doch ihre Social-Media-Profile upgedatet. Das würde sie nie versäumen. Aber ich finde nichts über diese Tür oder den süßen Typen.« Kennedy hielt verwundert ihr Smartphone in die Höhe.
Lena und Ines starrten sich entsetzt an. Tür hinter der Bühne? Platzanweiser? Keine Posts? Das konnte nur eins bedeuten!
»Thea ist durch das Zeitportal gegangen!«, flüsterten sie wie aus einem Mund.
Lena erschrak. »Oh nein! Ich habe diesen Zeitmesser fortgeworfen. Sie muss ihn gefunden haben!«
Thea schien am Jahr 1905 langsam Gefallen zu finden. Ihr war es nun doch gelungen, sich zusammen mit Clive in das Palais Garnier zu schleichen. Dort sah sie heimlich ein paar Mädchen bei den Proben im Ballettsaal zu. Thea war verblüfft. »Das sind die Tänzerinnen der Companie?«
Clive nickte zögernd, ohne zu wissen, worauf Thea hinauswollte. Sie streckte sich.
»Ich bin so viel besser als die!«, flüsterte sie im Brustton der Überzeugung. »Die schaffen es ja nicht mal richtig auf die Spitzen. Oh mein Gott. Ich beherrsche Schritte, die damals noch nicht einmal erfunden waren.«
Thea fühlte sich, als hätte sie zu viel Brausepulver geschleckt, als sie mit Clive im Schlepptau aus dem Ballettsaal eilte. Der Zufall wollte es, dass sie der Primaballerina in die Arme lief, die gerade ihre Garderobe verließ. Da Thea sich Kleidung von Clive geliehen hatte, war es kein Wunder, dass die Tänzerin Thea für einen der Hausdiener hielt. Denn im Jahr 1905 war es sehr ungewöhnlich, dass ein Mädchen Jungenklamotten trug! Prompt drückte die Primaballerina Thea ihre Tasche in die Hand und befahl: »Bring die zum Wagen von Sir Carfour.«
Thea holte tief Luft. Was fiel dieser hochnäsigen Schnepfe ein! Sie wollte gerade protestieren, als sich plötzlich vor ihrem inneren Auge eine Szene abspielte … Das war die Idee! Rasch verbeugte sich Thea. »Oh, Sie verlassen uns?«
»Nur für den Sommer.« Die Diva warf den Kopf in den Nacken und schwebte mit anmutigen Schritten aus dem Raum. Kaum war sie außer Sichtweite, übergab Thea Clive die Tasche. »Hier. Wegbringen. Zum Wagen.«
Dann schlüpfte sie in die Garderobe der Primaballerina. Genüsslich ließ sie sich in den Sessel vor dem großen Spiegel sinken, sog den Duft des Parfüms ein, der noch in der Luft hing, und dachte: Das ist mein Reich.
Thea ließ den Blick wandern: über den roten Diwan, den Ständer mit den Kostümen und all die vielen Fotos, auf denen die Primaballerina abgebildet war. Einige stammten noch aus ihrer Zeit in der Ballettschule, andere zeigten sie bei großen Aufführungen. Theas Blick blieb an einem Bild vom Défilé hängen. Sie nahm es in die Hand, um es genauer betrachten zu können. Dann entfuhr ihr ein leiser Schrei. »Lena!« Es gab keinen Zweifel, Lena war der Mittelpunkt des Bildes!
»Das muss aufgenommen worden sein, kurz bevor du verschwunden bist«, flüsterte Thea und ließ die Blicke wieder zu den altmodischen Kleidern auf dem Garderobenständer wandern. Dieser Plan war so genial! Ich bin genial, dachte Thea. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich in ihr aus.
Das Büro der Direktorin der Ballettschule der Pariser Oper war schnell gefunden. »Oh, guten Tag, ich bin gerade angekommen«, sagte Thea, während sie zögernd eintrat.
»Und Sie sind?« Überrascht sah die Direktorin von ein paar Unterlagen auf.
Da musste Thea nicht lange nachdenken. »Ich bin Prinzessin Grisky. Die andere Prinzessin Grisky.«
»Oh, natürlich.« Die Direktorin erhob sich und kam katzbuckelnd auf Thea zu. »Entschuldigen Sie bitte vielmals, wir wussten nicht, dass Sie kommen. Darf ich fragen, wie Ihr Vorname ist, Prinzessin Grisky?«
»Äh …« Thea zögerte nur kurz. »Olga Svetlana Anastasia Grisky. Aber alle nennen mich der Einfachheit halber Thea.« Thea lächelte süßlich. »Und ich bin eine talentiertere Tänzerin als meine Cousine.«
Thea führte ein paar extravagante Tanzschritte vor. Beeindruckt machte die Direktorin einen Knicks. »Willkommen, Prinzessin. Wenn Sie möchten, können Sie sehr gern am Sommerkurs teilnehmen.«
Thea grinste unauffällig. Und ob sie das wollte!
Liebe Thea,
bist du im Jahr 1905? Geht es dir gut? Was auch immer du tust, gib gut auf den Zeitmesser Acht. Wir können leider nichts für dich tun, bis die Zeitportale sich wieder öffnen. Also bleibt dir nichts anderes übrig, als genau das zu tun, was ich getan habe, nämlich dich anzupassen. Ich lüge nicht: 1905 wird hart werden, besonders für dich.
Viele Grüße – Lena.
Ines und Lena waren aufs Dach des Palais Garnier gerannt, um hinter dem losen Stein im Schornstein einen Brief für Thea zu hinterlegen. Genau hier hatten auch Lena und Henri immer ihre Briefe versteckt, die wie durch einen Zauber sowohl im Jahr 2018 als auch im Jahr 1905 zu finden gewesen waren. Thea hatte Lena einmal dabei beobachtet, wie sie einen Brief von Henri herausholte. Später hatte Thea diesen Brief gelesen und sich in einem Antwortschreiben für Lena ausgegeben. Sie kannte das Versteck also. Deswegen hatten die beiden Freundinnen die Hoffnung, dass Thea auf die Idee kommen würde, hinter dem Ziegelstein nachzusehen. Und richtig: Als Lena nach ein paar Minuten den Stein erneut herausnahm, lag zwar ihr Brief noch immer dort, aber der Umschlag war geöffnet worden. Lena nahm das Papier heraus und schaute es an.
»Keine Antwort«, stellte sie fest. »Thea hat sich bestimmt über das besonders für dich geärgert.« Lena musste lachen. »Thea ist also tatsächlich im Jahr 1905 gelandet. Dass sie nicht antwortet, wundert mich nicht. Ich hätte mir gleich denken können, dass sie von mir niemals Hilfe annehmen würde. Aber wie will sie ohne Smartphone, ohne Internet und ohne Status-Updates überleben?«
Ines musste laut lachen. Das tat so gut!
»Und ganz ohne Dusche?«, kicherte Lena.
»Und ohne Follower …«, ergänzte Ines.
Lena wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. »Wir können das mit den Zeitportalen nicht beschleunigen. Das kann Monate dauern.«
Ines grinste verschmitzt. »Wir könnten uns in Theas Account hacken und uns als sie ausgeben.«
Lena nickte. »Das verschafft uns Zeit. Ihrer Mutter und Mademoiselle Carré müssen wir eine Mail schicken, damit sie nicht misstrauisch werden.«
Für einen Moment wurden beide nachdenklich.
»Wir müssen herausfinden, wie wir ins Jahr 1905 kommen, um sie wieder zurückzubringen«, sagte Lena leiser. »Irgendwie kann ich gar nicht begreifen, dass sie weg ist.«
Ines versuchte, sich ein Grinsen abzuringen, doch plötzlich brach sie in Tränen aus. »Und ich kann nicht begreifen, dass Dash weggeht. Ich weiß, für ihn ist es das Beste, aber …«
Lena nahm ihre Freundin in den Arm. »Ich weiß, es ist nicht dasselbe, aber du hast doch mich …!«
Die Mädchen lösten sich aus der Umarmung und blickten auf die Skyline von Paris in die untergehende Sonne, die die Welt in ein unwirkliches Licht tauchte.
»Ines?«, sagte Lena. »Ich möchte gerne in deiner Gegenwart bleiben.«
Ines nickte. »Ja, das wünsche ich mir auch.«
Lena seufzte. »Ich meine, für immer. Ich weiß, dass ich hierhergehöre.«
Was Lena nicht wusste, war, dass Henri hinter einer der Statuen stand und ihre Worte gehört hatte. Er war am Boden zerstört.