Die Autorin

Yvonne Westphal – Foto © Tom Wolt

Yvonne Westphal wurde im April 1989 als waschechter Widder geboren und hat die zwei großen Lieben ihres Lebens bereits in ihrer Jugend gefunden: Schreiben und ihren Ehemann, mit dem sie in der Nähe von Köln lebt und als Filmproduzentin arbeitet. Sie könnte ohne Urlaub, Schlaf und Zucker leben, aber nicht ohne ihre Familie, ihr Macbook und die Farbe rosa.
Ihre Romane sind perfekt für alle, die an die große Liebe glauben und das laute, bunte Leben lieben. Mal verspielt, mal dramatisch, mal sexy – und (fast) immer über Bad Boys mit Herz und classy Girls mit Biss.

Das Buch

Was als stürmische Jugendliebe begann, hat genauso heftig geendet, aber nie wirklich aufgehört.

Damals war Valeria die kleine Schwester von Raphaels bestem Freund, fünf Jahre später ist sie immer noch die Frau, die er nie vergessen hat. Plötzlich steht sie wieder vor ihm und die Anziehung zwischen den beiden ist ungebrochen. Bis heute ahnt Raphael nur, warum Valeria damals Schluss gemacht hat. Doch er weiß, dass er es nicht noch einmal ertragen könnte …

Auch Valeria hat ihre erste große Liebe und den Sommer, in dem sie alles hatten, nie vergessen. Doch die Enttäuschung über Raphaels Betrug sitzt immer noch tief. Gibt es überhaupt eine zweite Chance für die erste Liebe?

Yvonne Westphal

Du und ich und dieser Herbst

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
März 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-535-7

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Widmung

Für alle, die im Herzen immer 17 bleiben
und die erste große Liebe nie vergessen werden.
Und für meine überhaupt nicht mehr kleine Schwester.

Playlist


https://bit.ly/duundich-Herbst-Playlist

1 Good Girl Gone Bad


Valeria

heute

Raphael war nicht mein erster Freund.

Aber wenn ich ihn jetzt so ansehe, spüre ich immer noch dasselbe Herzklopfen wie damals. Dasselbe Verlangen. Ich fühle mich wieder wie sechzehn, zurückversetzt in den Sommer meines Lebens, in dem es nur seine unwiderstehlichen Lippen, sein selbstgefälliges Grinsen und seinen schonungslos ehrlichen Humor gab, der mich selbst jetzt noch lächeln lässt. Ich betrachte sein kantiges Gesicht, versinke eine Sekunde in seinen blauen Augen, und ich weiß: Nichts hat sich geändert. Raphael war vielleicht nicht mein erster Freund, aber er wird für immer meine erste große Liebe sein.

Doch seine gnadenlosen Worte fressen sich wie glühendes Eisen durch meine Eingeweide, reißen längst verheilt geglaubte Wunden wieder auf und stürzen mich in ein bodenloses Loch.

Alles hat sich geändert. Weil sich nichts geändert hat.

Er ist immer noch derselbe anbetungswürdige, arrogante Arsch von damals. Typen wie er wachsen mit der Gewissheit auf, dass ihnen die Welt zu Füßen liegt und sie sich bloß zwischen den Körbchengrößen entscheiden müssen. Raphael Thomas konnte jede haben. Hatte fast jede.

Und gemeinsam hatten wir alles. Einen glorreichen Sommer lang lebten wir den perfekten Teenage Dream. Scheiße, wir waren der verdammte Traum. Aber wir waren zu jung und zu blind, um es zu schätzen. Und dumm genug, um alles zu zerstören.

Während der Garten um uns herum, die Party und alle Geburtstagsgäste meines großen Bruders in das Loch der Leere gesaugt werden, klammere ich mich an einer einzigen Frage fest:

Gibt es eine zweite Chance für die erste Liebe?

Natürlich ist das albern. Fast jeder hier, der meinen großen Bruder kennt, kennt auch Raphaels und meine Geschichte. Aber kaum jemand weiß die Wahrheit.

Nicht einmal ich wollte die Wahrheit sehen, selbst als es längst zu spät war. Ich hätte es einfach wissen sollen. Man kann einen Bad Boy nicht zähmen, und jede Story, die es uns vorgaukelt, lügt. Ein Kerl kann ein braves Mädchen verderben, aber ein Mädchen kann einen Bad Boy nicht bekehren – auch wenn ich das früher dachte. Früher, als ich mich für stark und rebellisch hielt und meine Unsicherheit hinter Übermut versteckte. Klar, viel mehr war mir auch nicht übrig geblieben als kleiner Schwester des beliebtesten Jungen der Schule, die ihr Leben lang immer nur in seinem Schatten gestanden hatte und die ewige Nummer zwei blieb, egal, was sie tat.

Na ja, man kann sich selbst bemitleiden, oder man kann sein Glück in die eigene Hand nehmen und für seine Ziele kämpfen. Ungefähr das tue ich, seit ich sechzehn bin.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem alles anfing. Und in diesem Augenblick, in dem ich am liebsten vor Raphael und allen anderen in Tränen ausbrechen würde, wünsche ich mir, ich könnte noch einmal dorthin zurück und ganz von vorne anfangen. Ganz bewusst erleben. Und vielleicht einige Fehler nicht wiederholen.


Valeria

fünf Jahre früher

Atemlos kam ich in unserem Klassenraum an. Mein Herz klopfte hart in meiner Brust, aber das lag nur zum Teil an dem Sprint, den ich hingelegt hatte, um vor dem Klingeln auf meinem Platz zu sitzen. Zum deutlich größeren Teil lag es an der Tatsache, dass ich die Nummer von Riccardo Marcovicz hatte, dem gefürchtetsten Typen der Schule.

Schon in der Tür umfing mich herrisches Geschnatter: »Bitches, wir haben eine Mission. Ich will am Samstag auf die Party von –«

»YES!«, unterbrach Leon diese Kampfansprache von Diana, die in einem superknappen Minirock auf dem Pult saß und ihre drei Barbies um sich geschart hatte. Leon sah begeistert von seinem Handgelenk zu mir und hob dann die Hand seinem besten Freund Mats entgegen. »Ich hab gewonnen! Valeria ist schon wieder zu spät.«

Mats’ graugrüne Augen wanderten ebenfalls zu mir, glitten über meinen Körper und ließen meine Haut prickeln. Er war definitiv der heißeste Typ in meiner Stufe, und zwischen uns knisterte es schon seit Wochen gewaltig.

»Das zählt nicht«, widersprach er Leon, ohne den Blick von mir zu nehmen. »Valeria kommt immer zu spät.« Sein zweideutiger Tonfall und intensiver Blick ließen mich blinzeln. Nur eine Sekunde lang, dann fing ich mich und stolzierte in den Klassenraum, als wäre er ein Catwalk, vorbei an den Barbie-Bitches, die mich mit offenem Mund anstarrten.

»Weißt du, es ist immer besser, zu spät zu kommen als zu früh«, antwortete ich im selben Tonfall und sah dem Klassenschwarm dabei so tief in die Augen, dass Leon neben ihm lachen musste.

Jetzt war es Mats, der blinzelte und sich auf seinem Stuhl zurücklehnte. Seine Erscheinung war genauso nordisch wie sein Vorname, groß und blond, mit scharfen Zügen und elektrisierendem Blick. Keine Frage, ich fand ihn attraktiv und er mich wahrscheinlich auch, aber ich war nicht naiv genug zu glauben, dass er wirklich etwas für mich empfand. Also genoss ich einfach die Spannung zwischen uns und das gute Gefühl, von einem tollen Jungen bewundert zu werden – so erbärmlich das auch klingen mag. Ich war eben ein bisschen verkorkst, aber sind wir das nicht alle irgendwie?

Das Klingeln unterbrach unser Kopfkino und Mats sah ebenfalls auf die Uhr. »Außerdem habe ich gewonnen«, teilte er seinem Freund mit, »denn es hat erst jetzt geklingelt.«

»Sorry, Jungs«, ging ich erneut dazwischen und legte mein Handy so zwischen ihnen auf den Tisch, dass sie den neu angelegten Kontakt sehen konnten. »Aber ich fürchte, ich habe gewonnen. Hier ist die Nummer.«

Beide glotzten mich fassungslos an.

»Die hast du dir doch ausgedacht!«, rief Leon, aber ich zuckte bloß mit den Schultern und antwortete, er könne Riccardo ja mal anrufen. »Spinnst du? Typen wie der killen Typen wie mich!«

»Tja, das ist ja nicht mein Problem«, sagte ich und hielt die Hand auf, um meinen Gewinn einzufordern. Murrend legten beide zehn Euro hinein, während jetzt auch die Mädels dazukamen.

»Du hast Riccardo Marcovicz’ Nummer?!«, platzte es aus Diana heraus.

»Mit Kuss-Emoji«, ergänzte Leon, während Mats’ Blick sich erneut an mir festsaugte.

»Hast du dich ausgezogen?«, fragte er mit zuckenden Mundwinkeln.

Ich warf ihm bloß ein vielsagendes Lächeln zu, ohne ihn aus seinen Gedankenspielen zu erlösen, und genoss seinen Blick.

Hinter uns räusperte sich Diana vernehmlich, und ich wandte schnell den Blick von Mats ab. Die zwei waren nicht mehr zusammen, trotzdem waren sie so etwas wie die ungekrönten Herrscher unserer Stufe, und obwohl ich Diana nicht wirklich meine Freundin nennen würde, wollte ich mich nicht mit ihr und ihrem bissigen Girls Club anlegen.

Zumal ich in den Augen aller irgendwie dazugehörte, zu diesen Girls, die an jeder Schule das Sagen haben, mit denen jedes Mädchen befreundet und jeder Junge zusammen sein will. Aber ich gehörte nicht dazu, weil ich meine Brüste bis unters Kinn pushte oder zentimeterdickes Make-up trug. Im Grunde genommen war das nicht mal mein Verdienst, denn vermutlich wäre ich eher irgendwo zwischen Draufgänger und Hippie gelandet: Free Climbing an steilen Amazonasklippen, Motorradrennen in verlassenen Industriegebieten und nachts heimlich über den Zaun zum Schwimmbad klettern – das war eher die Art Leben, die mich reizte. Nicht, dass ich irgendetwas davon jemals getan hätte, aber wenn ich die Wahl hatte, sah ich lieber die Fast & Furious-Reihe als High School Musical.

»Apropos ausziehen«, wechselte Mats jetzt das Thema, »Bist du morgen Abend auch auf der Party im Delphi

Ich überspielte das Bauchkribbeln mit einem Glucksen. »Falls ich da sein werde, werde ich mich bestimmt nicht aus–«

»Apropos Party«, fiel Diana uns beiden ärgerlich ins Wort und schleifte mich am Arm mit zu unserem Tisch am Ende des Raums. Ich wappnete mich innerlich gegen eine Schimpftirade, weil ich mit ihrem Ex-Freund flirtete, aber sie fragte bloß zuckersüß: »Hast du heute schon mit deinem Bruder geredet?«

Ich stöhnte.

Ja, ich gehörte zu dieser selbst glorifizierenden Gruppe der vergötterten Tussis, weil mein zwei Jahre älterer Bruder Milias Schwarzer war und so ziemlich jedes Mädchen, das ich kannte, mindestens einmal in ihn verknallt gewesen war. Darüber, was so ein Vorzeigebruder mit dem Selbstwertgefühl einer kleinen Schwester anstellt, reden wir besser gar nicht.

Ich liebte meinen großen Bruder, aber manchmal verfluchte ich ihn auch dafür, dass er so perfekt war und ich nicht. Bescheuert, oder? Zugegeben: Milias sah verdammt gut aus, hatte das unfair charmante Lächeln unseres Dads geerbt und war der liebevollste Mensch, den ich kannte – wenn er mich nicht gerade unendlich nervte, aber das gehörte einfach zum Geschwisterleben dazu. Fakt blieb, Milias war der Sonnenschein und ich das schwarze Schaf. All diese Abstimmungen zum Abi: »Bester Schwiegersohn«, »Schönstes Lächeln«, »Traumpaar« – ungefähr in jeder dritten davon würde sein Name am Ende dieses Schuljahres vertreten sein. Und wer würde in zwei Jahren meinen Namen irgendwo hinschreiben? Wer würde überhaupt jemals etwas anderes in mir sehen als Milias’ kleine Schwester? Ich verdrängte den Gedanken schnell und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt.

»Vergiss es, er hat gerade erst eine andere kennengelernt«, teilte ich Diana mit und ließ mich auf meinen Platz sinken, weil der hereinströmende Schülerpulk die Ankunft von Herrn Blumberg ankündigte, unseres Lehrers für Geschichte. Ich war es leid, abwechselnd Mäuschen und Vermittlerin zwischen meinen angeblichen Freundinnen und meinem vergötterten Bruder zu spielen.

Sabrina und Julia legten interessiert den Kopf schief, aber Diana schnitt eine Grimasse, während wir alle Haltung annahmen, um Herrn Blumberg zu begrüßen.

»Nichts gegen Milias, aber ich steh mehr auf böse Jungs«, wisperte sie, während allgemeines Stühlerücken und Taschenkramen einsetzte. Ich verkniff mir jeden Kommentar über Mats. »Ich will auf Raphael Thomas’ Party übermorgen!«, endete sie dann.

Ich stützte den Ellenbogen auf meinen Tisch, angenehm überrascht, dass es ausnahmsweise nicht um meinen ätzend perfekten Bruder ging. Ja, Milias wäre wirklich der ideale Schwiegersohn …

… wenn sein bester Freund nicht Raphael Thomas wäre. Raphael war so etwas wie sein böser Zwilling. Verboten attraktiv, hinreißend intelligent und zum Niederknien selbstbewusst. Je mehr ich darüber nachdachte, eigentlich genau mein Typ. Wieso fiel mir das erst jetzt auf?

»Was gibt’s denn da zu grinsen?«, zischte Diana ärgerlich, während Herr Blumberg in seinem heiteren Tonfall begann, eine Geschichte zur Geschichte zu weben, derzeit: die Französische Revolution. Sein Lieblingssatz dazu: »Ab mit dem Kopf.«

»Sorry«, überspielte ich meine Gedanken und schlug mein Buch auf. »Dafür brauchst du ’nen Personalausweis. Da kommt niemand rein, der nicht mindestens in seiner Stufe ist.«

»Ach ja? Und wie kommst du dann rein?«, fragte Diana spitz. Ich hielt inne. Richtig, ich hatte irgendwann mal im Höhenflug erwähnt, dass ich auf Raphaels nächste Party gehen würde. Schnell überschlug ich die Chancen dafür, das auf legalem Wege – sprich: Milias zu fragen – zu erreichen, und verwarf den Gedanken sofort.

Milias sorgte nämlich mit übertriebenem Aufpasserdrang dafür, dass ich auch ja nicht mit seinen Freunden, Alkohol oder sonstigen Lastern in Kontakt kam – ganz besonders nicht mit Raphael, aus den allgemein bekannten Gründen. Nicht, dass dieses Verhalten meinen ersten Vollrausch verhindert oder meine Jungfräulichkeit bewahrt hätte, aber das wusste Milias nicht. Tatsächlich hatte es aber dazu geführt, dass ich niemals auch nur annähernd so intensiv über seinen besten Freund nachgedacht hatte wie in den letzten fünf Minuten. Mir wurde sogar heiß bei dem Gedanken. Ich stellte mir vor, wie ich ihn anflirtete. Würde er darauf eingehen? Hatte er überhaupt schon einmal eine Freundin gehabt? Also, eine echte Freundin?

»Ich wette, sie ist gar nicht eingeladen«, flüsterte Diana bewusst so laut, dass ich es hören konnte.

»Klar bin ich –« Ich fuhr aus der Haut, bevor mir klar wurde, dass wir mitten im Unterricht saßen.

»Valeria?«, fragte Herr Blumberg mit Nachdruck.

Ich schenkte ihm mein strahlendstes Lächeln und winkte entschuldigend ab, versprach ihm stumm, nicht mehr zu quatschen. Diana wartete gerade lange genug, bis er die Ausführungen über Napoleon wiederaufgenommen hatte, und fragte dann ihre Barbies zweifelnd: »Hat er jemals jemanden unter achtzehn eingeladen?«

»Tja, mich zufällig schon.« Die Worte waren aus meinem Mund, bevor ich mich daran hindern konnte. Wenigstens verfehlte der Satz seine Wirkung nicht: Allen dreien klappte die Kinnlade herunter.

Raphael hatte eine Adults Only-Politik, seit er letztes Jahr selbst volljährig geworden war. Natürlich gab es Ausnahmen, weil viele in seiner Stufe erst siebzehn waren – einschließlich Milias, der erst nächsten Monat, im August, Geburtstag hatte. Aber ich hatte nie gehört, dass Raphael jemanden, der nicht mindestens in der Abschlussklasse war, eingeladen geschweige denn gedatet hatte. Andererseits hatten mein Bruder und er ein Talent dafür, die Regeln … zu biegen.

»Valeria«, wiederholte Herr Blumberg ungeduldig, und ich entschuldigte mich erneut inbrünstig, wissend, dass er mir wie die meisten Leute verzieh, wenn ich sie mit meinem perfektionierten Hundeblick reumütig ansah. Wenigstens eine Sache, die Milias und ich teilten: unseren charismatischen Charme.

Aber heute klappte es nicht. Heute schüttelte Herr Blumberg ärgerlich den Kopf. »Nein! Du kannst nicht einfach die ganze Stunde lang quatschen und dann dein sonniges italienisches Grinsen aufsetzen und darauf hoffen, dass sich alles in Wohlgefallen auflöst.« Die Klasse lachte und auch mein Grinsen wurde breiter. Das war ein Kompliment, oder? »Wenn du wenigstens halb so gut in der Schule wärst wie dein Bruder, könnte ich sogar über dein ewiges Gequatsche hinwegsehen, Valeria.«

Das Grinsen gefror auf meinem Gesicht, die vereisten Splitter der Zurückweisung bohrten sich in meine Brust. Da war er wieder, der ständige Vergleich, die ewige Erinnerung an meine Unzulänglichkeit. Ich war so überrumpelt, nein, so verletzt, dass ich nicht einmal einen klaren Gedanken fassen konnte, während sich die Hälfte der Klasse an ihrem Lachen verschluckte und die andere nach Luft schnappte.

Um mir meinen Schmerz nicht anmerken zu lassen, zwang ich ein Lächeln auf meine Lippen. »War das jetzt rassistisch, frauenfeindlich oder beides?«

Herr Blumberg sah mich eine Sekunde lang an, in der ich mich fragte, ob ich eigentlich noch ganz bei Trost war. Wieso konnte ich meine Zunge eigentlich nicht im Zaum halten? Das machte es doch nur noch schlimmer! Aber dann war es zu spät für eine Entschuldigung, also schüttelte ich bloß den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Vergessen Sie’s.«

Es war einen Augenblick lang still im Klassenraum, während mich alle anstarrten und Herr Blumberg sich sammelte. Ich schüttelte den Frust mit einem tiefen Atemzug ab und schlug mein Buch auf.

»Wartest du bitte draußen?«

Er sprach ruhig, trotzdem zuckte ich hoch wie vom Blitz getroffen. »Was?«

»Warte bitte draußen, Valeria.«

Diesmal war ich diejenige, die ihn verständnislos anstarrte. War das sein Ernst?!

Als er keine Anstalten machte, den Verweis zurückzunehmen, packte ich wortlos mein Buch wieder ein, griff nach meiner Tasche und verließ den Raum. Draußen konnte ich mich gerade noch beherrschen, nicht die Tür zuzuknallen, während ich verbissen Tränen der Wut und Zurückweisung unterdrückte. Es war eine Sache, hinter Dianas aufgetakeltem Rampenlicht zurückzustecken. Aber ständig im Schatten meines großen Bruders zu stehen, war unerträglich.


Die restlichen Schulstunden verbrachte ich damit, mir Tausende Beschimpfungen auszudenken, die ich Milias auf dem Nachhauseweg an den Kopf werfen konnte. Aber als ich nach der Schule vor dem Tor ankam, kam mir alles davon lächerlich vor. Ich wollte erwachsen sein, also würde ich mich auch wie eine Erwachsene benehmen. Daher begnügte ich mich damit, ihm einen vernichtenden Blick zuzuwerfen und zur Begrüßung mit aller Kraft gegen die Schulter zu boxen.

»Aua!«, rief Milias, während Raphael neben ihm in Lachen ausbrach. »Wofür war das denn?!« Für einen Sekundenbruchteil sah ich unser beider Temperament in seinen dunklen Augen aufblitzen wie in einem Spiegel. Trotzdem musste ich gegen meinen Willen lachen.

»Hast du heute vielleicht irgendwie Herrn Blumberg geärgert?«

Augenblicklich hellte sich sein Gesicht auf. Er wechselte einen schelmischen Blick mit Raphael, dann prusteten sie beide los.

»Na ja, geärgert«, dehnte Raphael das Wort und kniff die Augen zusammen, während er an seiner Zigarette zog. Ich beobachtete, wie sich sein kantiges Gesicht zu einer heiteren Grimasse verzog und er den Kopf schief legte. Im Sommer wurden seine sandblonden Haare eine Spur heller und ließen seine unfassbar blauen Augen geradezu strahlen. Ich konnte gut verstehen, warum Diana und die Mädels so sehr auf ihn standen.

Um ehrlich zu sein, fiel mir in diesem Moment zum ersten Mal wirklich auf, wie heiß er aussah. Ich meine, ich hatte mich schon immer der einhelligen Meinung angeschlossen, dass er attraktiv war. Aber … irgendwie hatte ich nie wirklich über ihn nachgedacht. Als jahrelang bester Freund meines großen Bruders war er auch für mich wie eine Art großer Bruder, ein Cousin vielleicht – über den ich besser nicht so intensiv nachdachte!

»Warum?«, fragte Milias, ließ mich blinzeln und den Blick von Raphaels blauen Augen nehmen.

»Hä?« Ich hatte total den Faden verloren und musste noch ein bisschen länger suchen, als Raphaels intensiver Blick zu mir wanderte. Himmel, ein Blick aus seinen Augen konnte den gesamten Sauerstoff aus der Umgebung saugen. »Weil Herr Blumberg mich heute rausgeworfen hat!«, fiel es mir wieder ein und ich boxte Milias gleich noch mal.

Raphael lachte erneut, woraufhin meine Faust auch gegen seinen Oberarm flog. Wow, er war deutlich trainierter, obwohl mein Bruder jetzt nicht gerade ein Hänfling war.

»Er hat was?!«, fragte Milias nach, während er sich den Arm rieb. »Wirklich?«

»Ja!«, beharrte ich, konnte mir aber das Grinsen kaum noch verkneifen. »Ich hoffe, ihr fühlt euch scheiße!«

Raphael drückte die Zigarette auf dem Mülleimer aus und legte einen Arm über meine Schulter wie ein Bruder um seine Schwester. Trotzdem wurde mir heiß. »Wir fühlen uns schrecklich«, beteuerte er scheinheilig und blies den Rauch zur anderen Seite. Zum ersten Mal nahm ich sein sportlich-herbes Parfüm bewusst wahr, und es ließ meinen Bauch ungebeten intensiv kribbeln. Schnell tauchte ich unter seinem Arm hindurch und forderte:

»Dafür will ich am Samstag auf deine Party.«

»Lass mich überlegen – nein?!«, antwortete Milias augenblicklich, während Raphael mein Gesicht aufmerksam studierte, die blauen Augen erneut leicht verengt. Er ließ so lange mit einer Reaktion auf sich warten, dass ich unsicher wurde. Schließlich zuckten seine Mundwinkel. »Hast du ’ne Wette verloren?«

Die beiden wechselten einen kurzen Blick – vermutlich wegen irgendeiner Wette, die sie selbst gerade wieder am Laufen hatten. Doch als Raphaels Augen zu mir zurückkehrten, konnte ich ein Grinsen nicht unterdrücken: »Um ehrlich zu sein, will ich eher eine gewinnen.«

Mit einem Mal hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. »Ich kann dir helfen, jede Wette zu gewinnen«, versprach er eine Oktave tiefer.

Ich hatte diese raue Tonlage von Raphael schon tausendmal gehört, dieses süffisante, sich selbst nicht ganz ernst nehmende Grinsen schon hundertmal gesehen. Aber jetzt, wo er mir dabei direkt in die Augen sah, spürte ich ganz deutlich, wie mein Herz für einen Sekundenbruchteil ins Stolpern geriet und dann einen Hitzeball in meinen Bauch hustete.

»Äh … nein?!«, ging Milias erneut dazwischen, scheinbar genauso überrumpelt wie ich.

Ich hingegen spürte meinen Kampfgeist erwachen und nutzte den Hitzeball als Energiequelle. Lasset die Spiele beginnen!


Raphael

»Glaub mir, Raphaels Partys sind total überbewertet«, gluckste Milias jetzt und warf mir einen ironischen Blick zu. »Die Leute sind ätzend, die Musik ist mittelmäßig und das Bier lauwarm.«

Ich zuckte wenig beeindruckt mit den Schultern. »Dann bleib halt zu Hause. Mehr Platz für andere.«

Beim letzten Wort warf ich einen vielsagenden Blick zu Valeria, die er offenbar hatte beschwichtigen wollen, aber das genaue Gegenteil bewirkt hatte: Abenteuerlust blitzte in den schokoladenbraunen Augen seiner kleinen Schwester. Na ja, korrigierte ich mich bei genauerer Überlegung, so klein war die auch nicht mehr.

Sie war im April sechzehn geworden, wirkte aber um einiges reifer, sowohl dank ihres draufgängerischen und ziemlich dickköpfigen Charakters – als auch dank ihres wohlproportionierten Körpers. Nicht so dürr wie die meisten zwischen vierzehn und siebzehn, sondern eher wie die früheren Hollywood-Diven, mit anständigen Hüften, schöner Taille und beeindruckender Oberweite. Ich kannte nur ein Mädchen, das mal eine ähnlich attraktive Figur gehabt hatte. Bevor sie sich vollkommen heruntergemagert hatte. Aber ich schob den Gedanken beiseite –

Und ertappte mich dabei, wie ich Milias’ Schwester eine Spur zu intensiv ansah, ihre vollen Lippen und hohen Wangenknochen zu lange betrachtete. Entschieden trat ich einen Schritt zurück. Ich würde nichts mit der kleinen Schwester meines besten Freunds anfangen.

»Also?« Ihre blitzenden Augen bohrten sich derart herausfordernd in meine, dass ich mich für einen Moment in der Vorstellung verlor, Valeria im Halbdunkel gegen die Wand zu pressen. Eine ziemlich lange Pause entstand, in der ich meine Gedanken hinter einer überlegenen Miene verbarg und schließlich erneut mit den Schultern zuckte, zumal in diesem Augenblick Angelina dazukam, Milias’ beste und eine meiner engsten Freundinnen.

»Ich überleg’s mir.« Damit schob ich mir einen Kaugummi in den Mund und hielt das Thema für beendet, aber Valeria nicht:

»Kann ich dir dabei irgendwie helfen?«, raunte sie, als Milias Angelina umarmte. Ich blinzelte ungläubig, fragte mich, ob sie gerade wirklich vorschlug, was ich interpretierte.

»Du kannst morgen Abend im Delphi deine Partytauglichkeit beweisen«, antwortete ich, indem ich mich wie zufällig zu ihr lehnte, dabei aber unbeteiligt den Blick schweifen ließ. Sie duftete nach einer aufregenden Mischung aus Rose, Zimt und etwas anderem, Schwerem. Und ihr Augenaufschlag konnte Polkappen zum Schmelzen bringen.

»Hey! Na, alles klar?«, drängte sich Angelinas sprudelnde Fröhlichkeit zwischen uns und löste das Knistern auf.

Valeria verabschiedete sich gut gelaunt, aber ihr intensiver Blick über die Schulter brannte sich in meine Gedanken.

Wann war Milias’ kleine Schwester erwachsen geworden? Klar, sie war schon lange nicht mehr das Kind, das ich quasi aufwachsen sehen hatte. Aber irgendwie hatte ich völlig übersehen, wie sehr sie … War ja auch egal, oder?

Ich schob alle Gedanken entschieden beiseite und ließ den Blick schweifen. Ich würde nichts mit der kleinen Schwester meines besten Freundes anfangen. Nicht nach dem, was ich im Januar getan hatte …

Meine Mimik gefror, als mein Blick auf einem anderen Körper hängen blieb, der sich geradezu aus meinen Gedanken manifestiert zu haben schien. Lange Beine steckten in weißen Hotpants unter einem rosa Top, in dessen üppiges Dekolleté hellblonde Haarspitzen fielen.

Das Mädchen zu diesem Körper hieß Vanessa Kaiser und war die Kategorie Frau, die bei Germany’s Next Topmodel den ersten Platz belegte. Ihre rehbraunen Augen wechselten von Heiterkeit über Wut zu Schmerz, als sie erst mich und dann Milias sah. Vanessa war meine Nachbarin – und Milias’ Ex-Freundin, die er vor fünf Monaten und zwölf Tagen endlich nach viel Quälerei und noch mehr Frustration verlassen hatte. Es war besser so, für alle Beteiligten. Es hatte nur ein bisschen gedauert, den beiden das klarzumachen. Und meine Entscheidungen auf dem Weg dahin hätten fast meine engste Freundschaft zerstört.

Ich grüßte nicht zurück, als sie zaghaft eine Hand hob. Und ohne den ausdruckslosen Blick von ihr zu nehmen, legte ich einen Arm um Milias’ Schulter, drehte mich weg und zog ihn mit mir.

Jetzt war nicht die Zeit, über Vanessa nachzudenken.

Oder über Valeria.

2 Spiel mit dem Feuer


Raphael

Am nächsten Morgen war Milias noch nicht fertig, als ich vor seiner Haustür ankam. Das passierte ungefähr an vier von fünf Tagen, deswegen drehte ich ungeniert den Schlüssel um, der tagsüber immer in der Haustür der Schwarzers steckte, und spazierte in die Küche.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, begrüßte mich Barbara, seine Mutter. »Kaffee?«

Ich grüßte fröhlich zurück, schüttelte den Kopf und ließ mich auf einen Küchenstuhl fallen. Mein Blick blieb an einem knallgelben Stoffhaufen hängen – ein ziemlich kurzes Oberteil mit gerafftem Saum und Ausschnitt. Wenn Valeria vorhatte, das heute anzuziehen, würde sie gleich im BH in die Küche kommen.

»Banane?«

Es dauerte einen Moment, bis ich meine Gedanken von dem geistigen Bild lösen konnte. Ich blinzelte die gelbe Frucht an, die Barbara auf die Anrichte legte, und verzog das Gesicht.

»Ich geh lieber was für meine Gesundheit tun«, beschloss ich und stand auf, um meinen Kaugummi im Mülleimer zu entsorgen, meine Zigarettenpackung schon in der Hand.

Barbara schürzte ihre Lippen, die schmalen Augenbrauen tadelnd zusammengezogen. Sie sah Valeria verdammt ähnlich. Besser gesagt, Valeria ihr, mit den großen, dunklen Augen umrahmt von natürlich dicken, dunklen Wimpern und der schmalen Nase in dem ovalen Gesicht. Sie war der italienische Anteil von Milias’ Eltern, aber in Deutschland geboren und aufgewachsen, und führte einen kleinen Beautysalon in der Stadt.

»Du weißt, dass ich es besser fände, wenn ihr damit aufhört«, sagte sie irgendwo zwischen Tadel und Resignation – mehr wie eine Freundin als eine Mutter – und meinte damit, dass Milias und ich rauchten, wozu ich ihn zugegebenermaßen angestiftet hatte.

Ich hob die Arme. »Was soll ich machen, ich kann nicht überall perfekt sein.«

Jetzt lachte sie. »Du wirst es verstehen, wenn du Kinder hast.«

Ich gluckste nur, bevor ich die Haustür hinter mir zuzog. Das würde sicher nicht passieren, zumindest nicht in den nächsten zwanzig Jahren. Aber erfahrungsgemäß reagierten Eltern nicht so gut auf diese Antwort, deswegen sprach ich sie gar nicht erst aus.


Es dauerte noch fast zehn Minuten, bevor die Tür hinter mir wieder aufging.

Ich drehte mich um, das Handy noch in der Hand und einen feixenden Spruch auf den Lippen – der allerdings verpuffte, als ich nicht Milias, sondern Valeria gegenüberstand.

Sie war eine winzige Sekunde lang genauso perplex wie ich, fasste sich aber schneller und hob eine Augenbraue.

»Hat Mama dich ausgesperrt?«

Jetzt musste ich gegen ein Grinsen ankämpfen. Die Kleine hatte wirklich Feuer! Ich nahm noch einen letzten Zug von der Zigarette, bevor ich sie im Aschenbecher ausdrückte, der eigens für mich auf der Fensterbank stand, und steckte mir einen neuen Kaugummi in den Mund. Dabei nahm ich nicht eine Sekunde den Blick von Valeria. Sie trug nicht das gelbe luftige Top, sondern ein schwarzes, eng anliegendes Shirt, das ihre Kurven nachmalte wie eine zweite Haut und dessen Ausschnitt zwar nicht wirklich tief war, aber dafür umso mehr zu Gedankenspielen einlud. Dazu ausgefranste Jeansshorts und weiße Sneaker. Das Outfit war erstaunlich unaufregend, aber irgendwie … sexy. Reizvoll. Reif. Kurz verlor ich mich in der Vorstellung, wie sie wohl erst heute Abend im Delphi aussehen würde.

»Was machst du da?«, fragte sie.

Shit! Ich setzte schnell ein Pokerface auf und gerade zu einer themenfremden Antwort an, als ich erkannte, dass sie gar nicht meine Gedankenlosigkeit meinte, sondern nach meinem Handy griff.

»Hey!«, stieß ich aus, aber sie war schneller. Ich beobachtete gebannt, wie ihr Gesichtsausdruck von triumphal zu entgeistert wechselte. Ihr Temperament spiegelte ihre Gefühle so ungefiltert auf ihr Gesicht wie Sonnenlicht auf bewegten Wellen, aber ihr Seelenleben war ein schier unergründlicher See. Vielleicht war es dieser Gegensatz, der mich so faszinierte, vielleicht das fröhliche Blitzen in ihren Augen. Vielleicht auch nur die unerschrockene Art, wie sie mich anflirtete.

»Du liest Nachrichten?!«

Enttäuscht gab sie mir das Handy zurück und schälte ihre Banane.

»Was dachtest du?«, fragte ich und setzte meinen selbstgefälligen Blick auf, von dem ich wusste, dass die Mädchen ihn unwiderstehlich fanden. »Pornos?«

Der Blick, den sie mir daraufhin zuwarf, löste ein Prickeln auf meiner Haut aus: gleichzeitig wissend, wagemutig und unendlich verheißungsvoll. Die ganze Welt in ihrem Blick, während sie – in die Banane biss.

Das geschah jetzt nicht wirklich, oder? Spielte sie gerade mit mir? War das ihr Ernst? Ich starrte sie an wie ein kaputtes Auto.

Dann fiel ihr scheinbar auf, was sie da tat und wie das aussah, und sie verschluckte sich, hielt sich die Hand vor den Mund und musste lachend husten.

»Vergiss es, Raphael!« Sie rempelte in voller Absicht ihre Schulter gegen meine, als sie sich an mir vorbeidrängte.

Ich versteckte mein Erstaunen hinter einem vielsagenden Grinsen. »Was denn? Ich hab nicht in die Banane gebissen.«

Ihre kaffeebraunen Haarsträhnen umspielten ihr Gesicht, als sie sich noch mal umdrehte und mir lachend den Mittelfinger zeigte, ihr unbeschwertes Lachen steckte mich an. Dann ließ sie mich stehen. Mit diesem Bild im Kopf und ihrem Duft in der Nase.

Der Augenblick war vorbei, aber die Begeisterung blieb. Für die kleine Schwester meines besten Freundes.

Fuck.


Valeria

Mir war immer noch heiß, mein ganzer Körper kribbelte. Von seiner Nähe? Der komischen Situation? Meinem Stolz auf meine souveräne Reaktion?

Nein. Es war sein Blick. Nicht dieser Macho-Blick, den er hin und wieder aufsetzte, sondern dieser andere, tiefe. Dieser »Du weißt es noch nicht, aber du gehörst mir«-Blick, unterlegt mit dem fruchtig-frischen Geruch von Cassis-Kaugummi. Das war das erste Mal, dass Raphael mich so angesehen hatte, und ich wusste, dass ich mehr davon wollte. Alles wurde unwichtig im Vergleich zu Raphaels Reaktion auf mich. Auf mich! Nicht auf Diana, nicht auf meinen Bruder, nicht auf irgendwen sonst. Selbst die Tatsache, dass er immer auch Milias’ Freund bleiben würde, machte mir nichts aus. Denn Milias würde er niemals so ansehen, wie er mich gerade angesehen hatte.

Ich wollte mehr. Ich wollte alles! Deswegen nutzte ich die Party im Delphi, um alles an Flirtkünsten aufzufahren, was ich bisher an besonderen Härtefällen wie meinem Ex David, Mats und allen Riccardo Marcoviczes dieser Welt ausgetestet hatte.

Unglücklicherweise war Raphael zwar genau dieselbe Art Kerl, der allein an diesem Abend mit drei unterschiedlichen Tussis tanzte, aber nicht halb so unkontrolliert schwanzgesteuert war wie die Jungs in meinem Alter. Ich spürte den ganzen Abend seinen intensiven Blick auf mir, aber er kam mir – bis auf die Umarmung zur Begrüßung – nicht ein einziges Mal nah genug, dass ich ihn davon hätte überzeugen können, morgen zu seiner Party zu dürfen. Was wohl auch daran lag, dass er den ganzen Abend mit Milias verbrachte und ich mit den Leuten aus meiner Stufe. Wo mich Dianas höhnisches Lächeln zunehmend daran erinnerte, dass ich kurz davor stand, das Gesicht zu verlieren.

Also nahm ich das Ruder einfach selbst in die Hand: Ich wartete, bis Milias auf die Toilette oder wo auch immer hinging, leerte den Rest meines Glases und drängte mich einfach durch die dicht tanzende Menge zu ihm in die Raucher-Lounge, wo er gerade Blondine Nummer vier eine Zigarette anzündete.

»Entschuldige bitte kurz«, schob ich sie zur Seite, legte die Hände auf seine Brust – und küsste Raphael einfach.

Seine Lippen schmeckten nach Rum, Rauch und Cassis-Kaugummi. Drei wilde Herzschläge lang berauschte ich mich an meinem eigenen Wagemut und der Vorstellung, wie den Barbie-Bitches gerade die Augen herausfielen. Noch einen weiteren Herzschlag lang prägte ich mir das Gefühl seiner weichen Lippen ein und den sportlich-herben Duft seiner Haut, dann löste ich den Kuss und sah ihn herausfordernd an.

»Also, was ist mit morgen Abend?«, fragte ich gewinnend.

In diesem Moment waren seine Augen so tiefblau und unbezähmbar wie das Meer, und ich musste gegen die Versuchung ankämpfen, mich Hals über Kopf in diese Fluten zu stürzen. Dann hob er einen Mundwinkel und ließ den Blick so eindeutig über meinen Körper gleiten, dass ich buchstäblich fürchtete, auf der Stelle in Flammen aufzugehen. Auf dem Rückweg zu meinem Gesicht blieben seine Augen einen Moment länger auf meinen Lippen hängen, bevor er betont distanziert wegsah und sogar einen Schritt zurücktrat. Sein Blick fixierte sich auf einen Punkt hinter mir, und er setzte sich wie beiläufig in Bewegung, nicht ohne neben mir noch einmal anzuhalten, so nah, dass sein Atem ein Kribbeln auf meinem Hals hinterließ.

»Um neun geht’s los, aber auf eigene Gefahr, denn was auf meinen Partys passiert, bleibt auf meinen Partys. Verbrenn dir nicht die Finger, kleine Valeria.«

Er warf mir noch einen langen Blick zu, der mich fast um den Verstand brachte, dann ließ er mich stehen und ging auf Milias zu, der gerade zurückkam. Ich hingegen vibrierte geradezu. Von seiner elektrisierenden Nähe und dem überwältigenden Gefühl des Triumphs.

Am nächsten Abend brauchte ich fast zwei Stunden im Bad, in denen ich die viel zu freizügigen Outfits im aufgeregten WhatsApp-Chat unserer Mädelsgruppe kommentierte, meine Haare zu Locken drehte und dann wieder glättete, mich besonders aufreizend schminkte und das meiste dann doch wieder abnahm. Das Ergebnis war, dass ich genauso aussah wie an jedem anderen Tag auch, aber ich fühlte mich wenigstens wie ich selbst und nicht wie eines dieser Püppchen, die Diana und ihre Mädels in ihren knappen Röckchen und engen Tops mimten. 

Als Milias mein Outfit sah, das trotz des bauchfreien One-Shoulder-Tops und der schwarzen High-Heel-Sandalen relativ bodenständig war, wirkte er erleichtert und lächelte sogar. Raphael hatte ihm natürlich gesagt, dass er mich eingeladen hatte, und als Tarnung hatte er gleich auch die Mädels mit eingeladen. Diana stand also nicht nur in meiner Schuld, sie konnte mir auch gleich dabei zusehen, wie ich zur Abwechslung mal den Typen abschleppte, auf den sie stand.


»Du schuldest mir ein Date.«

Ich blinzelte, als ich Raphaels tiefe Stimme fast zwei Stunden später direkt neben mir hörte, und kämpfte augenblicklich gegen das Herzrasen. Fragte er mich gerade, ob ich mit ihm ausgehen wollte?

Bei der Lautstärke im riesigen Wohnzimmer seiner Eltern war es ein Wunder, dass ich ihn überhaupt hören konnte – und dass die Polizei noch nie da gewesen war. Der großzügige Raum mit der teuren Couchgarnitur und dem vollverglasten Wintergarten hatte sich in ein Party-Treibhaus verwandelt, dessen basslastige Musik in der Brust vibrierte und holziger Raumduft von Alkohol, Rauch und einem Dutzend Parfüms geschwängert war. Das Wohn-Esszimmer maß gut fünfzig Quadratmeter, trotzdem war es so voll, dass man kaum stehen konnte – geschweige denn einen Sitzplatz ergattern. Weswegen ich mit ein paar anderen am massiven Esstisch lehnte.

Raphael lehnte sich wie zufällig neben mich.

»Johanna von gestern Abend hast du ja höchst eindrucksvoll in die Flucht geschlagen«, ergänzte er jetzt und sah mich direkt an. Ich unterdrückte das stolze Blubbern in meinem Bauch und musste gleich darauf grinsen bei der Erinnerung an gestern Abend.

»Die hat sowieso nicht zu dir gepasst«, erwiderte ich gelassener, als ich in Wahrheit war, und nahm einen großen Schluck aus meinem Glas, das weit weniger Alkoholanteil enthielt, als ich selbst eingefüllt hätte. Milias nahm seine Aufpasserpflicht wirklich sehr ernst.

Ich hielt es ganze drei Sekunden aus, Raphael nicht anzusehen, bevor ich einen kurzen Blick zur Seite warf. Er sagte nichts, sah mich bloß mit diesem süffisanten Zug um die Mundwinkel an. Gott, er war so verdammt sexy!

»Ich werde dich das nächste Mal um Rat fragen, bevor ich jemanden anflirte«, beschloss er, und seine raue Stimme war voller Schalk, gleichzeitig ironisch und … warm?

Ich spürte, wie sich das Blubbern in meinem Bauch in prickelndes Hochgefühl verwandelte, und grinste breit. Raphael erwiderte meinen Blick und spiegelte mein Grinsen, so lange und so intensiv, dass alles andere verblasste. Der Raum, die Musik, sogar mein eigener Atem. Er schien diese Anziehungskraft im selben Moment zu spüren wie ich, löste den Blickkontakt und schaltete wieder auf Distanz, geradezu Ignoranz. Die Abwesenheit seines Blickes hinterließ überraschende Kälte, sein erneutes Desinteresse schmerzte beinahe physisch. Plötzlich konnte ich es nicht mehr ertragen, dass er mich weiterhin wie Luft behandelte.

Er war ziemlich gut darin, Frauen zu ignorieren, die er für zu jung hielt – weswegen Sabrina und Julia längst aufgegeben hatten und sich jetzt an den Sonnyboy René ranmachten, während Diana mit irgendeinem Typen auf der Couch knutschte.

»Ey, Pascal!«, rief Raphael über die Menge hinweg. »Wenn das Sofa morgen Flecken hat, kannst du putzen kommen!«

Pascal, der zwischen fünf anderen Leuten mehr auf Diana lag als saß, hob lachend den Kopf, aber Raphaels Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte.

»Das also ist auf eigene Gefahr«, kommentierte ich, bloß um etwas zu sagen. Raphael gluckste. Ich spürte, wie er mir wieder das Gesicht zuwandte, und freute mich über seine erneute Aufmerksamkeit. Als mir auffiel, dass ich mich über etwas so Banales, so Bescheuertes und Armseliges freute, schüttelte ich den Kopf über mich selbst. Es war ja nicht so, dass meine Eltern mich mein Leben lang vernachlässigt hätten oder so – ganz im Gegenteil. Ich wusste, dass sie uns beide gleichermaßen liebten. Wieso hatte ich dann geradezu krankhafte Angst davor, nicht wahrgenommen zu werden?

Unwillkürlich glitt mein Blick zu meinem Bruder, der mit seinem ansteckenden Grinsen auf der Couch saß und wie immer von einer Traube Menschen umgeben war, die förmlich an seinen Lippen klebte. Egal ob Mann oder Frau, Checker oder Nerd, Anführer oder Mäuschen: Menschen mochten ihn einfach. Ganz anders als mich, die ich irgendwie immer aneckte.

Entschieden schüttelte ich nochmals den Kopf, leerte den Rest meiner Cola-Mischung und stieß mich vom Tisch ab, fest entschlossen, mir das nächste Glas selbst zu mischen.

»Valeria.«

Raphaels Stimme ließ mich herumfahren. Irgendwie schaffte ich es, eine fragende Augenbraue zu heben, spürte aber selbst, wie steif mein Gesichtsausdruck dabei war.

»Ich glaube nicht, dass du dich betrinken solltest, nur weil dein großer Bruder ein soziales Phänomen ist.«

Jemand stieß ein überraschtes Keuchen aus, und mir fiel erst einen Sekundenbruchteil später auf, dass ich es war. Fassungslos starrte ich Raphael an. Konnte er Gedanken lesen oder so was? In jedem Fall hatte er eine messerscharfe Beobachtungsgabe.

»Tue ich gar nicht!«, protestierte ich im Affekt, korrigierte dann: »Ist er gar nicht!« Verzog das Gesicht. Ich machte es nur noch schlimmer. Raphaels Blick war so entwaffnend, dass ich mich geschlagen gab und mich wieder neben ihm gegen die Tischkante lehnte. »Wie kommst du darauf?«, fragte ich entmutigt. »Hat er was gesagt?«

Kaum ausgesprochen, hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. Ich öffnete mich ausgerechnet Raphael, dem oberflächlichsten Typen, den ich kannte? Vermutlich würde er jeden Moment in Lachen ausbrechen.

Aber als ich ihn vorsichtig ansah, schüttelte er bloß den Kopf und gluckste leicht. Scheinbar verbarg sich hinter dieser selbstgefälligen Fassade mehr Charakter und Gefühl, als die meisten Leute Raphael zuschreiben würden.

»Mein bester Freund in allen Ehren«, stellte er klar, wurde dann seltsam ernst und sah mir direkt in die Augen. »Aber ich glaube nicht, dass er dasselbe sieht wie ich, wenn ich dich ansehe.«

Ich spürte, wie sich meine Augen weiteten, als mein Herz in meinen Hals hüpfte und dort wie ein junger Vogel flatterte. Das waren völlig rationale Worte, aber ich wünschte mir, sie enthielten eine romantische Liebeserklärung. Gott, wie albern ich war.

Raphael beobachtete meine ungewohnte Stummheit, verengte leicht die Augen, und ich konnte förmlich sehen, wie sein Verstand arbeitete. Er war nicht nur sexy, er war auch einfühlsam, und ich war nur noch Millimeter von der Klippe entfernt, die mich Hals über Kopf ins Gefühlschaos der naiven Schwärmerei stürzen würde. Der Schwärmerei für einen berüchtigten Bad Boy und für die Vorstellung, dass nur ich seine harte Schale knacken konnte. Der Stoff, aus dem Frauenträume sind.

Ich konnte nichts sagen, aufgewühlt von meinen Empfindungen und Fantasien, während er mich bloß weiterhin ansah, so intensiv, dass ich das Gefühl hatte, in seinen blauen Augen zu versinken. Und so tief, als würde er durch meine Fassade hindurch direkt in meine Seele blicken und die Wahrheit sehen. Ich fragte mich kurz, was diese Wahrheit war. Dass ich ihn attraktiv fand? Keine Frage. Dass ich seine Gesellschaft, seine Nähe und sein Interesse genoss? Seine ungeteilte Aufmerksamkeit wollte, sie vielleicht sogar brauchte?

Nein. Ich schüttelte den Kopf und sah wieder geradeaus.

»Wenn das ein Anmachspruch war, dann ein schlechter«, teilte ich ihm mit und war einigermaßen stolz darauf, wie souverän sich meine Stimme anhörte.

Raphael verzog einen Mundwinkel und schickte damit einen heißen Schauer durch meinen Körper. »Wenn das ein Anmachspruch gewesen wäre, hättest du es mitbekommen«, entgegnete er mit tiefer Stimme, die noch mehr Hitze in mir auslöste.

Täuschte ich mich, oder war er mir plötzlich näher als vorher? Auf einmal war das Verlangen, ihn zu küssen, übermächtig. Mein Blick fiel auf seine Lippen, mein Körper wurde geradezu magnetisch von ihm angezogen. Plötzlich war mein gesamtes Blickfeld auf sein Gesicht fokussiert. Auf seine gerade Nase, die kantige Kieferlinie und die unwiderstehlichen Bartstoppeln auf seinen Wangen. Seine Lippen teilten sich.

»Tu nichts, was du später bereuen könntest.«

Raphaels Stimme war rau, beinahe heiser, und sein Blick versetzte meinen ganzen Körper in Aufruhr. Es dauerte einen Moment, bis ich meinen Puls wieder unter Kontrolle hatte und auf Abstand gehen konnte. Und noch einen, bis ich begriff, dass ich gar keinen Abstand wollte.

Angetrieben von meinem Wagemut und der elektrisierenden Vorstellung, ihn für mich zu gewinnen, schenkte ich ihm einen langen Augenaufschlag. »Das Einzige, was ich später bereuen werde, ist das, was ich nicht getan habe.«

Er blinzelte überrascht, hielt meinen Blick einen schier endlosen Moment lang fest. Seine Augen wanderten zu meinen Lippen, und für einen Sekundenbruchteil hätte ich schwören können, dass er im Begriff war, sich vorzulehnen.

»Jo, Raph!«, rief irgendjemand von irgendwoher, und er straffte sich wieder, ließ den Blick schweifen und die Flasche in seiner Hand kreisen. Kurz schien es, als wollte er noch etwas sagen, dann schüttelte er den Kopf und stieß sich vom Tisch ab, um weiterhin ein Auge auf seine Party zu haben.

Ich brauchte jetzt wirklich etwas zu trinken. Etwas Starkes.