Cornelia Schneider

Von Perlen und Hunden

Kurzgeschichten

 

 

Fantasy 31

 


Cornelia Schneider

Von Perlen und Hunden

Kurzgeschichten

 

Fantasy 31

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Neuausgabe der im April 2006 im Verlag des Ersten Deutschen Fantasy Club e.V., Passau, als Fantasia 194 erschienenen Erstausgabe.

 

© dieser Ausgabe: Dezember 2017

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 106 8

 


Der Chef

 

 

Gleich, als ich die Tür aufmachte, roch ich es.

Ich hatte mich verspätet an diesem Montagmorgen. Auf halbem Weg war ich noch einmal zurückgelaufen um meinen Schirm zu holen, da es heftig zu regnen angefangen hatte. Als ich dann außer Atem die Treppe hinauf und ins Büro hinein gehastet kam, war ich die Letzte. Und der Geruch sprang mich schon auf der Türschwelle an. Unverwechselbar, durchdringend, in die Nasenschleimhäute stechend: Es roch nach nassem Hundefell.

Ich grüßte wie gewöhnlich laut und bis in die hinterste Ecke vernehmbar und eilte ins Sekretariat. Dort stellte ich meinen tropfenden Schirm in den Papierkorb, hängte meinen feuchten Mantel über die Heizung, schaltete Kopierer und Computer ein und überlegte dabei fieberhaft, wie ich dem Verhängnis begegnen sollte. Lange genug hatte es sich angebahnt. Im Übrigen konnte ich auch ohne den Geruch an den betretenen Gesichtern der Kollegen ablesen – von allen Seiten wurde ich verstohlen beobachtet durch die Glasscheiben meines Sekretariats hindurch –, was mich erwartete. Und dass sie sich von mir eine Lösung des Problems erhofften.

Fast hätte ich angeklopft, bevor ich das Chefzimmer betrat. Als erfahrene Sekretärin, die Anliegen von Angestellten und Besuchern auf Dringlichkeit überprüft und nach eigenem Gutdünken entscheidet, wer vorgelassen wird ins Allerheiligste, habe ich das natürlich nicht nötig. Wir haben ein Vertrauensverhältnis, der Chef und ich. An diesem Morgen jedoch kostete es mich nicht wenig Überwindung, wie gewohnt freundlich und bestimmt meinem Arbeitgeber gegenüberzutreten.

Der Geruch hätte mich fast umgehauen. Schon immer hatte ich eine empfindliche Nase. Einen Moment stand ich an der Tür, schnappte nach Luft und würgte meinen Brechreiz hinunter. Und dann sah ich ihn.

 

Einen derart schönen Afghanen hatte ich nicht erwartet. Aufrecht saß er hinter seinem Schreibtisch. Das Fell, ein Haarteppich in milchigem Gelb, floss weich an seiner schlanken Hundegestalt herab. Das Gesicht war schmal und schwarz und von edelsten Zügen. Zwischen die Zehen seiner rechten Vorderpfote hatte er den üblichen, mit goldenen Initialen verzierten Füllhalter geklemmt und kritzelte mit gewohnt unleserlicher Schrift jene Korrespondenz auf Stapel feinsten Büttenpapiers, die ich im Laufe des Tages zu entziffern und abzutippen hatte.

Abrupt hob er den Kopf auf meinen Gutenmorgengruß hin und bellte mir etwas entgegen, das ich zwar nicht verstand, aber wegen des Tonfalls für eine Missfallensäußerung bezüglich meines Zuspätkommens halten musste. Ich erschrak auch ein wenig über die Art und Weise, wie das Gebell seine Gesichtszüge entstellte und seine fein geformte Nase unvorteilhaft kräuselte. Dazu schlug mir ein ausgesprochen ekliger Mundgeruch entgegen und die dünnen Hinterbeine zappelten aufgeregt umher.

Nicht umsonst bin ich Chefsekretärin. Als solche habe ich gelernt, mir auch in den schwierigsten Lebenslagen nichts anmerken zu lassen. Außerdem brauchte ich die Überraschte gar nicht erst zu markieren. Beide hatten wir gewusst, worauf wir zusteuerten. Und dass es kein Entrinnen gab.

Also nahm ich ohne eine Miene zu verziehen die ersten vollgekritzelten, mit Eselsohren versehenen und mit Tintenklecksen übersäten Notizen vom Schreibtisch, hörte mir ruhig die hingekläfften Anweisungen an, die ich wiederum nicht verstand, aber aufgrund unserer langjährigen Zusammenarbeit unschwer erraten konnte, und verließ das Zimmer, damit der Chef ungestört seine weiteren montagmorgendlichen Vorbereitungen treffen konnte.

Zurück im Sekretariat sank ich ermattet auf meinen Stuhl und wollte mich gerade mit ein paar verstohlenen Lockerungsübungen etwas erholen (ich besuche regelmäßig Tantra-Workshops, bei denen ich mir einige wirklich wertvolle Entspannungs- und Atemtechniken aneignen konnte), als auch schon das Telefon losklingelte. Jetzt galt es, mit feinem Gespür wichtige Kunden von unwichtigen oder gar Bittstellern zu unterscheiden. Wie üblich notierte ich die verschiedenen Anliegen, versprach Ersteren einen baldigen Rückruf, vertröstete die Anderen auf einen späteren Zeitpunkt oder verteilte sie auf die entsprechenden Sachbearbeiter. Nebenbei machte ich mich daran, meinen Computer mit dem an diesem Tag besonders unleserlichen Gekrakel meines Chefs zu füttern, worauf mir auch hier entsprechend unverständliches Gejaule entgegenschlug. Bis zur Kaffeepause verlief der Morgen jedoch ohne größere Zwischenfälle, nur dass ich mich etwas unbehaglich fühlte unter den fragenden Blicken der Kollegen jenseits der Glasscheiben. Was hätte ich ihnen auch sagen sollen?

Zum Glück verhielten sie sich abwartend und beobachteten dann auch gespannt, aber kommentarlos meine Frühstücksvorbereitungen. Ich hatte nämlich beschlossen, dem Chef anstatt des üblichen Kaffees ein Schüsselchen voll Milch zu servieren, das er tatsächlich dankbar ausschlabberte und dabei ungeniert einen Sprühregen auf die über seinen Schreibtisch ausgebreiteten Akten und Dokumente niedergehen ließ.

Keiner im Büro beschwerte sich darüber, dass ich den Kaffee schwarz ausschenkte an diesem Tag. Es zeigte sich einmal mehr, dass der Chef ein Gespür hatte für zuverlässige Leute.

Ordentlich ins Schlingern kam ich an diesem Morgen erst, als mich die Sekretärin des Oberbürgermeisters anrief und sich erkundigte, ob der Chef für Herrn Dr. Müller zu sprechen sei. Zwar wusste ich, dass dieser Anruf dringend erwartet wurde wegen des etwas heiklen Ankaufs eines städtischen Grundstücks. Aber durfte ich den Oberbürgermeister mit einem Hund verbinden?

In meiner Ratlosigkeit kam mir eine gewagte Idee. Konnte sich jener Herr nicht zwischenzeitlich ebenfalls – vielleicht in eine Bulldogge – verwandelt haben? Schon mancher erschien im hellen Licht der Öffentlichkeit von heut auf morgen in einer anderen Gestalt. Einer Kommunikation stünde in einem solchen Fall natürlich nichts im Wege. Ich hütete mich aber, der Dame eine derart taktlose Frage über den Zustand ihres Vorgesetzten zu stellen, kündigte ohne Umschweife meinem Chef das Gespräch des Oberbürgermeisters an und klinkte mich aus der Leitung. Am Gewinsel, das daraufhin durch die geschlossene Tür des Chefzimmers drang, konnte ich erkennen, dass meine Ahnung mich nicht getrogen hatte. Die Herren unterhielten sich aufs Prächtigste.

Um die Mittagszeit schickte ich unseren Praktikanten in die Gaststätte an der Ecke, er solle durch den Hintereingang gehen und in der Küche um ein Mayonnaiseeimerchen voll Essensabfälle bitten, wir hätten einen Hund zu verköstigen. Vorsichtshalber schärfte ich dem jungen Mann ein, ja kein Wort über die Position des Tieres in unserem Büro verlauten zu lassen. Da wir uns hin und wieder ein Betriebsessen in dieser Gaststätte leisteten, füllte der Wirt – er kocht selbst – bereitwillig ein leeres Eimerchen mit Spaghettiresten und in Soße zerdrückten Kartoffeln und legte sogar ein paar saftige Fleischbrocken oben drauf.

Der Chef war sehr zufrieden, schlang das Ganze in Windeseile und schwanzwedelnd in sich hinein, leckte das Eimerchen säuberlich aus und sah mich zum guten Schluss aus braunen Hundeaugen bettelnd an. Und ich verstand.

Das Büro war fast leer, da sich die meisten Kollegen in eine nahe gelegene Kantine zum Essen zurückgezogen hatten, wo sie sich, wie ich vermutete, die Köpfe heiß redeten über die Verfassung unseres Chefs. Die Zurückgebliebenen sahen verlegen vor sich hin, als ich den Afghanen zur Tür hinaus begleitete. Und wieder bewunderte ich das sandfarbene Fell, war entzückt über den wehenden Mantel, den schwebenden Gang des prachtvollen Geschöpfes, das mit einer Leichtigkeit über die Treppenstufen glitt, die ich dem Chef niemals zugetraut hätte. Im Hof beschnüffelte es sorgfältig jedes einzelne parkende Fahrzeug und hob an den Reifen ein ums andere Mal das Bein. Beim letzten angekommen – dem einzigen Daimler weit und breit – schüttelte es sich, dass das Seidenhaar flog, und eilte ohne mein Zutun schnurstracks ins Büro zurück. Dort stellte ich ihm eine Schüssel mit Wasser bereit, holte meine versäumten Entspannungsübungen nach und machte mich wieder an die Arbeit.

 

Der Nachmittag verlief auf ganz dieselbe Weise wie der Morgen. Es meldeten sich noch zwei, drei Sekretärinnen – darunter die Vorzimmerdame des Chefs der Allmächtigen Bank –, die ich, ich weiß nicht, aus welcher Eingebung heraus, in ähnlicher Zwangslage wähnte wie mich selbst und deren Vermittlungswünsche ich bedenkenlos erfüllte.

Kritisch wurde es erst wieder, als ich dem Chef die Korrespondenz vorlegte. Zweifelsohne entsprachen ganze Passagen nicht den Vorlagen, da ich sie ja kaum hatte entziffern können. Er warf nur einen kurzen Blick darauf, heulte wütend auf, fletschte die langen, von Nikotin gefärbten Zähne, was seinem aristokratischen Gesicht einen unschönen, ja gefährlichen Ausdruck verlieh, und bellte mich scharf an meinen Computer zurück. Also machte ich mich kurz vor Feierabend daran, die Briefe in zweiter Fassung noch einmal zu tippen.

Den Praktikanten erwischte ich gerade noch, bevor er sich hinter den anderen zur Tür hinausstehlen konnte. Nur widerwillig erklärte er sich bereit, noch schnell im nächsten Zoogeschäft einen Maulkorb samt Leine und Hundehalsband zu besorgen.

Wie immer war ich die Letzte, als ich von Neuem und sehr vorsichtig, die Unterschriftenmappe in der rechten Hand, die linke hinter dem Rücken, das Chefzimmer betrat. Zwar haben wir ein Vertrauensverhältnis, der Chef und ich, doch habe ich es nie gemocht, wie er sich gehen ließ am Abend. Und gerade heute war ich noch auf allerhand gefasst.

Tatsächlich hatte er sich hechelnd in seinen Sessel gefläzt, die Zunge hing ihm schräg aus dem Maul, der Geifer tropfte auf die Lehne und die Beine streckte er in alle vier Himmelsrichtungen. Ich wandte den Blick von seinem in recht unappetitlicher Weise aus dem sandfarbenen Fell stechenden Geschlecht, legte die Mappe aufgeschlagen auf den Schreibtisch, kraulte begütigend, aber aufs Äußerste gespannt – wohl wissend, die Korrespondenz entsprach auch diesmal nicht den Erwartungen – seinen warmen, weichen Bauch, was ihm ein wohliges Fiepsen entlockte, und dann machte er den erwarteten Fehler.

Gerade als er den Kopf mit halb geschlossenen Augen an meine Brust sinken ließ, die Schnauze nass und kalt gegen meinen Hals drückte und mit aufgeregter Zunge über mein Kinn zu schlecken begann, schlug ich zu.

Blitzschnell packte ich ihn im Nacken, zerrte ihn vom Stuhl herunter, drückte mit beiden Händen seinen Kopf zu Boden, schwang ein Bein über seinen widerstrebenden Körper, klemmte ihn zwischen meinen Knien fest, stülpte ihm den Maulkorb übers Gesicht und schlang ihm das Halsband um den Hals, bevor er noch begriff, wie ihm geschah.

Er sträubte sich dann doch noch ordentlich gegen die Fessel, sprang mich knurrend an und rollte furchtbar mit den Augen, erkannte aber schließlich meine Überlegenheit – so ein Windhund ist nun mal kein Schwergewicht und am Beißen hinderten ihn die Riemen – und fügte sich zähneknirschend.

Geschwind band ich ihn unter dem Schreibtisch fest, räumte das Durcheinander auf, das unser kurzer, aber heftiger Kampf angerichtet hatte, und kam langsam wieder zu Atem. Bald hatte ich mich so weit gefasst, dass ich den Fahrzeugschlüssel an mich nehmen und den Heimweg im Daimler antreten konnte. Der Hund saß aufrecht auf dem Beifahrersitz.

 

Ich fahre jetzt mit dem Auto ins Büro, was mir besonders bei Regen sehr zustatten kommt. An meinen neuen Arbeitsplatz habe ich mich schnell gewöhnt, nicht umsonst war ich langjährige Chefsekretärin. Jeden Augenblick erwarte ich den Anruf unseres Oberbürgermeisters wegen des etwas heiklen Ankaufs eines städtischen Grundstücks. Der Afghane liegt dösend zu meinen Füßen. Den Maulkorb haben wir längst schon nicht mehr nötig, wir haben ein Vertrauensverhältnis, mein Hund und ich. Die ehemaligen Kollegen verhalten sich tadellos. Jeden Tag geht ein anderer mit dem Hund spazieren, wobei dieser es sich nicht nehmen lässt, im Hof an jedem einzelnen Reifen das Bein zu heben. Beim Daimler angekommen schüttelt er sich regelmäßig, dass das Seidenhaar fliegt. Auf der Straße erregt er dann Bewunderung mit seinem wehenden sandfarbenen Mantel und dem schwebenden Gang.

Der tägliche Auslauf wird zweifelsohne als nette Abwechslung im Büroalltag begrüßt.

Bei schlechtem Wetter macht mir der Geruch nach nassem Hundefell allerdings immer noch zu schaffen.

 


Die Hyäne

 

 

So wie andere einen Hund haben, habe ich meine weiß gefleckte Hyäne, die hat mir mein Liebster aus dem Canyon geholt. Viele Nächte hatte ich mich nach ihr gesehnt, während sie dort unten ihre Einsamkeit dem Mond entgegenheulte, und jeden Morgen lag ich meinem Liebsten in den Ohren: Geh und hol mir die Hyäne. Eines Tages war er des Gebettels müde und stieg hinab in die rote Schlucht, und sie ist dann auch bereitwillig mit ihm gegangen.

Unser Haus ist nur eine armselige Strohhütte, aber seit die Hyäne tagsüber vor der Tür in der Sonne döst, könnte ein Palast mit hundert goldbetressten Torwächtern nicht größere Ehrfurcht gebieten. Die Dorfbewohner gehen gemessenen Schrittes und mit scheuen Blicken daran vorbei, und die Frauen haben ihren Weg zum Brunnen verlegt, nur um meine weiß gefleckte Hyäne zu sehen.

In diesem Land kommen auf einen einzigen Menschen mindestens eine Million Ameisen, und die sind so wild aufs Graben versessen, dass man nie weiß, ob die Erde nicht schon so hohl ist unter den Füßen, dass sie im nächsten Moment ihr Maul aufreißt und einen mit Haut und Haaren verschlingt. Aber seit die Hyäne bei mir ist, habe ich keine Angst mehr, nicht einmal mehr vor Ameisen.

Mein Liebster ist weggegangen, wenige Tage, nachdem die Hyäne bei uns eingezogen war, aber das tut nichts, sie spricht jetzt an seiner Stelle mit mir, und ihre Worte zeugen von Klugheit und großer Gelehrsamkeit.

»Der Mensch hält sich für das Maß aller Dinge. Doch fühlt er sich wohl an Leib und Seele? Im Grunde leidet er an einer schweren Gehirnerkrankung: der Einbildung«, hat sie erst neulich Abend zu mir gesagt, denn vor dem Zubettgehen unterhalten wir uns gerne noch ein Weilchen. Stundenlang habe ich nachgedacht über ihre Worte und konnte keinen Schlaf finden. Habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ich keine Bilder mehr hätte in meinem Kopf. Von mir nicht, von dir nicht, von nichts und niemandem mehr. Wenn sich die Bilder nicht mehr in mich hineindrängen könnten. Dann bliebe alles an seinem Platz und müsste nicht hierhin und dorthin geschleppt werden. Mein Liebster zum Beispiel, der doch fort ist und noch immer schwer wiegt. Es ist mir tatsächlich gelungen, die Bilder aus meinem Kopf hinauszuwerfen. Das war sehr angenehm, aber es hielt nicht lange an. Andererseits hat mich das Fehlen der Bilder aber auch ganz verrückt gemacht. Das lässt sich nicht so leicht verscheuchen, das Wissen um die Bilder, das haftet im Gehirn.

 

Ich bin jetzt tagsüber oft müde, die Feldarbeit fällt mir schwer. Zwar kann ich von der Hyäne viel lernen in den Nächten, aber wer soll an meiner Stelle für unser beider Essen sorgen? Auch der Weg zum Brunnen wird immer mühsamer mit den schweren Wasserkannen. Die Hyäne verlangt außerdem viel Fleisch, und meine Hühner sind schon alle aufgefressen. Obwohl mir die Dorfbewohner jetzt sehr viel Achtung entgegenbringen wegen der Hyäne, wurde mir hier und da schon angedeutet, dass mein Kredit zu Ende ginge.

 

Es kommen nun auch weniger Leute vorbei.

 

Obwohl die Hyäne jetzt doch bei mir ist, vermisse ich das Geheul aus dem Canyon, der Mond ist mir abhandengekommen und das Wünschen. Manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn mein Liebster sie in der Schlucht gelassen hätte. Dann ist es direkt ein Glück, dass sie mich lehrte, die Bilder zu verscheuchen. Die Leere, ich beherrsche sie jetzt in immer längeren Zeiträumen. Ich döse in der Sonne, und meine Schwäche kommt mir dabei sehr zustatten.

 

Gestern hat mir eine Nachbarin einen Krug Wasser gebracht, ich konnte ihren Blick nicht deuten. Fleisch haben wir schon lange keines mehr bekommen, und auch die übrigen Vorräte sind inzwischen alle aufgebraucht.

 

Heute habe ich niemanden gesehen.

 


Alexanderplatz

 

 

Da stand ich nun mit hängenden Armen und meinem traurigen Gesicht mitten auf dem Platz, und alles war still und dunkel um mich herum bis auf die flackernden Gaslaternen unter den alten Kastanienbäumen, die den Platz säumten. Ich war fremd in der Stadt, am Abend erst angekommen, und wollte mir eine Bleibe suchen. Doch die Einsamkeit versiegelte mir den Mund. Möglicherweise hätte ich die hiesige Sprache gar nicht verstanden, ich weiß es nicht. Auch kamen mir die Menschen, denen ich während meines Umherwanderns begegnete, nicht gerade mitteilsam vor. Die meisten hasteten stumm und mit gesenktem Kopf an mir vorbei. Mit der Zeit wurden es immer weniger, der Mond erschien am Himmel und ein irrsinniger Haufen Sterne, wie ich es nie gesehen hatte. Der Straßenverkehr floss nur noch spärlich und hörte schließlich ganz auf. Die Lichter in den Häusern gingen eins nach dem anderen aus. Das letzte lebendige Wesen, das ich erblickte, war ein streunender Hund. Er kam den Gehsteig entlang getrottet, die Nase dicht am Boden. Ich freute mich schon, weil ich mich gar so alleine fühlte in der erloschenen Stadt. Dachte mir, ich will ihn ansprechen und ihn um ein bisschen Gesellschaft bitten. Doch als er mich bemerkte, duckte er sich wie unter einem Hieb, huschte über die Straße und verschwand in einem finsteren Spalt zwischen zwei windschiefen Fachwerkhäusern.

Bei diesem Platze also angekommen, gab ich mein Umherirren auf und blieb mitten darauf stehen. Es erschien mir sinnlos, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen, wohin auch. »Alexanderplatz« las ich auf einem Straßenschild, doch war es nicht der, den ich kannte. Überhaupt kam es mir vor, als wäre die Zeit verrutscht, nach hinten weggerutscht, um Jahrzehnte, oder um Jahrhunderte. Doch ich hätte nicht sagen können, was mich zu dieser Annahme verleitete. Es war nur so ein Gefühl.

 

Als ich so stand und über mein Hiersein rätselte, das mir von dem Augenblick an, als ich den Fuß aus dem Zug und auf den Bahnsteig setzte, ganz und gar unerklärlich war, fiel mit einem Male irgendetwas von mir ab. Vielleicht war es das Fragende, das seit meiner Kindheit immerzu in mir gedrängt und gebohrt hatte. Vielleicht das Ängstliche, das mich vor den Menschen zurückschrecken ließ. Vielleicht aber auch die Plage, die ich damit hatte, mich unter ihnen wie ihresgleichen zu bewegen. Mir wurde einfach leichter, die Glieder jedoch wurden mir in gleichem Maße schwerer. Schließlich fühlte ich mich regelrecht in den Boden gedrückt, ohne dass ich ein Gewicht gespürt hätte. Im Gegenteil, es war eine angenehme, wunderschön schwebende Schwere, die sich in mir breitmachte, während scheinbar lautlos, tief in meinem Innern jedoch krachend und berstend, immer mehr unsichtbar lastendes Material von mir abzuspringen schien.

Ich kann’s nicht anders nennen als wurzelnde Leichtigkeit, was schließlich von mir übrig blieb, während ich von außen den Eindruck eines verträumten Menschen machen mochte, den ein nächtlicher Spaziergang an diesen Ort geführt hatte und der hier stille stand und seinen eigenen Gedanken lauschte.

Plötzlich drang ein großes Pulsieren von unten her in mich ein. Es brach durch die Fußsohlen, suchte sich eine Bahn durch meine Beine und ergoss sich in meinen Körper wie in ein Gefäß, das sich über eine unterirdische Quelle auffüllte. Dabei pumpte und hämmerte mein Herz mit wilder Kraft. An meinem Hals angekommen, stockte der drängende Strom, es gab einen gewaltigen Rückstau, meine ganze Gestalt bog und krümmte sich konvulsivisch, ich fürchtete zu platzen. Dann ein ploppender Knall, als spränge ein Sektkorken vom Flaschenhals, und zu meiner unsäglichen Erleichterung sprudelte es jetzt nur so aus mir heraus.

 

Wenn Sie heute in diese Stadt kommen, fragen Sie nach dem Alexanderplatz. In seiner Mitte steht ein Brunnen, der von einer lebensgroßen Brunnenfigur gespeist wird. Ein Mann mit Stock und Hut in einem etwas altmodischen Anzug, er scheint zu tänzeln auf seinem steinernen Sockel. Das Wasser plätschert frisch und klar und in hohem Bogen aus seinem zugespitzten Mund. Sein Gesicht zeigt einen munteren und unbeschwerten, fast spöttischen Ausdruck.

Ein wenig seltsam mag den einen oder anderen Betrachter der klotzig wirkende Koffer anmuten, der an der Seite des bronzenen Tänzers steht. Er wird sich vielleicht fragen, was den Künstler dazu bewogen haben mag, dem beharrlichen Wasserspeier etwas so Überflüssiges wie Reisegepäck beizuordnen.

 


Fisch

 

 

Was für ein Glück, dass ich im dritten Stock wohne, und obendrein in Hanglage. Den Leuten unter mir steht das Wasser schon bis zum Hals, während ich noch trockenen Fußes die ungetrübte Aussicht über die Dächer unserer Stadt genieße. Mit Dankbarkeit tanke ich den Sauerstoff in meine Lungen, wenn ich abends auf dem Balkon sitze, meinen Blick in die Ferne schweifen lasse und den Sonnenuntergang betrachte. Ich schwebe dann über dem Ozean.

Die Dörfler draußen in ihren Einfamilienhäusern müssen schon auf die Kirchtürme klettern, wenn sie einmal mehr als nur den Kopf aus dem Wasser strecken wollen. Darüber hinaus sind die Bedauernswerten gezwungen, unentwegt mit den Armen und Beinen zu rudern. Es heißt, die Pfarrer verlangen eine saftige Opfergabe für den Zutritt in die Gotteshäuser und führen am Portal eine scharfe Kontrolle durch. Wer ihnen nicht passt, kommt nicht hinauf zum Himmel.

Zweifelsohne ist es von Vorteil, in der Stadt zu leben. Hier haben noch die wenigsten das Pech, dass Wohn- und Arbeitsstätte gleichermaßen unter Wasser liegen. Der junge Mann im Erdgeschoss ist so ein Unglücksrabe, er hat sein Jurastudium aufgegeben und kellnert jetzt in einer Bar. Neulich, als ich im Treppenhaus ein wenig Geblubber über die schlechten Zeiten mit ihm austauschte, stellte ich mit Erschrecken fest, dass seine Zähne schon ganz grün sind von den Algen, die darauf wachsen. Seine Gesichtsfarbe hat längst ihre frühere Frische verloren, die Kleidung erinnert an einen aufgequollenen Kartoffelsack und das Haar scheint ihm frühzeitig auszufallen. Fast hätte ich die Unvorsichtigkeit begangen, ihn zu einer Tasse Kaffee einzuladen. Man kann sich vorstellen, dass er mir wahrscheinlich nicht mehr von der Pelle gerückt wäre. Ich brauche aber absolute Ruhe bei meiner Tätigkeit.