Wir hatten bereits am Montag mit Unai gerechnet und verbrachten zwölf Stunden in einem Geburtshaus. Dort passierte aber nichts. Fuhren wieder heim …
»Denk immer daran«, hatte mir die Hebamme gesagt, »solange deine Freundin sprechen kann, ist es nicht ernst!«
Ende Oktober fing Jenni an zu schreien: »Es geht los! Es kommt!« Ihre Aussprache war klar, die Satzstellung makellos, keinerlei Anzeichen phonetischer Schwäche – was war ich der Hebamme dankbar! Ab Mitternacht wurde Jenni lauter. Sie bildete zwar immer noch Wortgruppen, ihr Inhalt aber blieb im Dunkeln. Um zwei keuchte sie nur noch, stöhnte, kreischte … Und dann veränderte sich alles: Das Leben, wie ich es kannte – heimatlos, rauschhaft, permanent auf Achse –, war vorüber. Nach 20 Jahren Achterbahnfahrt zwischen Anden und Himalaya lag vor mir eine Erfahrung, auf die mich nichts und niemand vorbereitet hatte.
Als die Mauer ’89 fiel, ging es los: Mit einem Schulfreund radelte ich vom Rostocker Elternhaus zum Nordkap, im Gepäck nicht mehr als einen Regenponcho und stapelweise Hermann Hesse. Für zwei Burschen, die bis dahin nur die Dünen der Ostsee gesehen hatten, waren die Weiten des Nordens wie ein Versprechen: von Abenteuer, von Freiheit und davon, dass die Träume nie ausgehen.
In Potsdam studierte ich Architektur, am College of Art in Edinburgh Bildende Kunst, Design und Philosophie.
Als Architekt ging ich nach Spanien und denke manchmal daran wie an einen sommerleichten Film: der Atlantik vor der Nase, ein 4000 Meter hoher Berg im Rücken, Meeresfrüchte, schwerer Wein … und unser Büro gewann einen Wettbewerb nach dem anderen. Die Zeit auf Teneriffa war die schönste meines Lebens, doch selbst das Paradies geht einem irgendwann auf den Keks.
Ich packte also meine Sachen und flog ans Ende der Welt. Diesmal nahmen wir uns mehr vor als Norwegen: Wir wollten auf dem Landweg von Patagonien nach Alaska, mit dem Fahrrad von Pol zu Pol. Vor uns lagen 20 000 Kilometer Schotterpiste, der bolivianische Bürgerkrieg und die schönsten Frauen, die ich bis dahin gesehen hatte.
Es musste so kommen: Nach mehr als zwei Jahren hatten wir gerade einmal die Karibik erreicht. Die Hälfte! Mein Schulfreund flog zurück in die Heimat. Ich aber fuhr weiter, immer weiter.
Die Reise hinterließ ihre Spuren: Ich träumte fortan von einem einfachen Leben, von mehr Zeit und Lebensfreude statt immer mehr Geld und Konsum, von Radeln statt Autofahren, von Freiheit statt Eigenheim. Und ich wurde süchtig nach der Ferne – nach Menschen, nach Geschichten und nach einem guten Gedanken, der bleibt. Bereits im Flieger zurück in das graue Deutschland plante ich die nächsten Touren: nach Nepal, dem Land der Götter, in die Megacitys von Indien und den Nebelwald Ugandas, in die Antarktis – und in 80 Tagen einmal um die Welt. Ich habe es Reisejournalismus genannt, produzierte Diashows, tingelte damit durch die Heimat und berichtete zwischen Ostsee und Allgäu von meinen Abenteuern.
2013 durchquerte ich die Kanarischen Inseln: sechs Monate Fußmarsch von Lanzarote bis nach El Hierro, dem einstigen Ende der westlichen Welt. Auf der dritten Insel traf ich Jenni, und auf der siebten war sie schwanger, und damit war mein Leben vorbei. Oder doch nicht?
In meiner Brust schlagen zwei Herzen. Das eine hat Fernweh, das andere Heimweh. Nach 14 rastlosen Jahren begab ich mich zusammen mit Jenni auf die Suche nach einer Heimat.
Als Jenni schwanger wurde, brauchten wir dringend ein Dach über dem Kopf. Gran Canaria war keine Option. Die Finanzkrise hatte Spanien arg getroffen, die Kanarischen Inseln lagen am Boden. Ich wiederum hatte mein letztes Mietverhältnis vor 14 Jahren. Mein Hausrat passte in eine Reisetasche und mein Schlafsack auf jedes Sofa.
Um die Suche zu erleichtern, beschränkten wir sie auf drei Kontinente: Asien, Europa, Südamerika. Auf jedem von ihnen hatte ich gelebt, jeden lange durchreist, und an jedem hing mein Herz. In Norwegen kam ich auf den Geschmack der weiten Welt, in Schottland wurde ich zum Bergsteiger. In den Anden führte ich einst eine Herberge und in Pokhara um ein Haar ein Café. Es lag so abgeschieden, dass man ein Boot brauchte und 15 Minuten hätte rudern müssen, wollte man dort eine Tasse Darjeeling trinken. Doch die Mühe war es wert, denn rund ums Haus wucherten Bougainvillea und haushohe Weihnachtssterne, und stand man frühmorgens am Ufer des Phewa-Sees, sah man über dessen bleierner, nebelverhangener Haut den heiligen Berg Machapuchare 6993 Meter in den kobaltblauen Himmel ragen. Wir überlegten.
Der schönste Platz auf der Welt? Patagonien, ganz klar. Doch Argentinien ist korrupt und instabil. Landreformen und Schuldenschnitte gehören zum Alltag der Gauchos wie Matetee und Grillfleisch.
Und Nepal? Nepal ist Chaos. Du gehst darin unter – oder du schaffst es hindurch. Wenn du verdaut hast, dass nichts von dem, was du mal geplant hast, zu irgendetwas führt; wenn du deutsche Tugenden wie Disziplin, Pragmatismus und Effizienz über Bord geworfen hast; wenn du nichts mehr vom Morgen erwartest – dann hast du es geschafft. Dann kommst du an im Hier und Jetzt, in einem nie endenden Strudel aus Sprachen und Festen und Göttern. Und doch wirst du nie begreifen, was sich vor deinen Augen abspielt. Du bleibst Zuschauer, geduldeter Gast. Ein Bleichgesicht.
So beginnt ein guter Morgen: Kaffeeduft, blauer Himmel, saftiges Grün – und in der Luft das Gebimmel Grauwolliger Pommernschafe.
Uns blieb nur eins: Europa. Erneut wogen wir ab. Skandinavien? Zu teuer. Spanien? Bankrott. Die Schweiz unbezahlbar. Österreich auf dem Weg zum Nationalstaat. Also Deutschland. Während wir das Netz durchkämmten, entwarf mein Vater Karten. Die Lage aller deutschen Kernkraftwerke war darauf verzeichnet, Giftmülldeponien und atomare Endlager. Die Überschwemmungsgebiete großer Flüsse. Die Befallsgebiete des Eichenprozessionsspinners. Baulandpreise. Pegida.
Es blieb nicht viel übrig: Wir landeten an der Ostsee – eine halbe Stunde entfernt vom Haus meiner Eltern.
Der Hof lag in einem winzigen Dorf namens Bäbelin, unweit von Wismar, etwa auf halbem Wege zwischen Ostseeküste und Mecklenburger Seenplatte. Er war riesig und bot mit seinen Scheunen und Streuobstwiesen, mit seinen vielen Nischen, Werkstätten und Fundstücken Raum zum Werken und Wirken. Natürlich konnten wir ihn nicht bezahlen. Doch auf dem Grundstück lagen jede Menge Ziegelsteine herum. Das Stück verkauften wir symbolisch für 200 Euro. Im Tausch gab es ein Urlaubswochenende für die ganze Familie auf unserer zukünftigen Farm, samt frischen Hühnereiern und Grillfest unter den Sternen.
Die Idee ging auf, die Förderer standen bald Schlange, und im Spätsommer 2014 bezogen wir den Kunterbunthof – ein Ort, so erträumten wir ihn, für liebe Menschen aus aller Welt. Und die brauchten wir auch, denn wir wussten gar nicht, wo wir anfangen sollten!
Von einem Tag auf den anderen hatten wir ein gigantisches Stück Land mit Wald und Wiesen und einem halben Dutzend Häusern und Schuppen drauf, und alles gedieh und zerfiel vor unseren Augen.
Die Werft hatte uns einen Bogen aus Stahl gefertigt. Versuchen, ihn mit einem Flaschenzug zu bewegen.
Mein Vater spricht in solchen Momenten in physikalischen Gleichnissen: »Betrachtet man den Hof als ein abgeschlossenes System, so kann die Entropie niemals kleiner werden. Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik.«
Ich: »Aha.«
Er: »Es wird hier niemals von alleine ordentlicher.« Und nach einer Weile: »Die Physik rät in einem solchen Fall an, dem System von außen Energie zuzuführen.«
Stille.
Die Arbeit am eigenen Haus macht erwartungsgemäß einen Heidenspaß: Unai auf der Suche nach Löchern, die Mama dann verspachtelt.
Das Problem lag auf der Hand: Wir hatten eine Vision, doch uns fehlten die Mittel, sie umzusetzen. Es fehlten Hände, es fehlte Zeit, und auf dem Konto war schon wieder Ebbe. Wir wussten uns keinen besseren Rat, als im Internet von unserem Projekt zu erzählen – und schon bald wurden wir fündig.
Im Schatten unkontrollierten wirtschaftlichen Wachstums und grenzenloser globaler Gier wächst im Cyberspace eine weltumspannende Community heran, der es um Eigenverantwortung und den Austausch auf Augenhöhe geht. Menschen mit viel Fernweh und wenig Geld treffen in Portalen wie Workaway und Wwoofing auf Menschen, die Hilfe im Haus und Garten brauchen. Das Ergebnis heißt »Urlaub gegen Hand«, Ferien nicht im Strandkorb, sondern mitten im Leben. Man könnte sagen: ein kostenloser Aktivurlaub für all jene, die fremde Kulturen, andere Lebensweisen und alternative Lebensentwürfe nicht nur durch die Kamera beobachten, sondern hautnah miterleben wollen – dreckige Hände, Landluft und Essen in gemütlicher Runde inklusive. Wir schilderten also den Arbeitswilligen unser Dilemma und warteten.
Spielzeug war gestern! Unai liebt echte Maschinen: Akkuschrauber, Flex, Kettensäge – je gefährlicher, desto besser.
Antoine war der Erste. Er schrieb auf Französisch: Seine Universität verlange ein dreimonatiges Praktikum auf einer Baustelle. Es folgte Susanne: Sie war mit ihrem Sohn auf der Flucht vor den Zwängen des deutschen Bildungssystems und suchte eine Bleibe. Dann kam Rafa: geradewegs vom Camino de Santiago. Er könne jetzt unmöglich zurück in die Großstadt – und blieb den ganzen Sommer bei uns.
Andere machten einen Wochenendausflug mit ihren Kindern und wieder andere für ein paar Tage Halt auf ihrem Trip um die Welt. Der Deal war immer der gleiche: Wir stellten Kost und Logis, die Besucher packten ein paar Stunden pro Tag mit an. Holz hacken, Rasen mähen, malern, mauern, gärtnern, Dächer decken – alles war möglich.
Der erste Monat lief gut, doch dann kamen immer mehr. Sie verschoben die Abreise, blieben hängen, brachten ihre Freunde mit. Und bald stellten wir zwei Leute ab, die von früh bis spät nichts anderes taten als Kochen. Und noch mal zwei zum Einkaufen. Und schließlich führte kein Weg daran vorbei: Wir eröffneten unseren eigenen Zeltplatz!
Von überall her kamen Leute, um uns bei der Sanierung des Hofes zu helfen – aus England, Spanien, Argentinien, der Schweiz und der Bretagne. Manche absolvierten ein Praktikum, andere nahmen eine Auszeit vom Leben in der Großstadt.
Unglaublich, doch nun empirisch belegt: Mecklenburg ist der einzige bewohnbare Fleck auf dem Planeten – und zufällig nur eine halbe Stunde vom Haus meiner Eltern entfernt.
Als Unai 18 Monate alt war, brach sie wieder durch: die alte Lust am Reisen. Ich kam mir vor wie ein trockener Alkoholiker, der versehentlich in eine Weinbrandbohne gebissen hatte. Tatsächlich nippten wir an einem argentinischen Malbec, und mit den Aromen kamen die Erinnerungen: an die Anden, die Salzseen, das süße Leben und die spanische Sprache, und damit hatte sich die Sesshaftigkeit erledigt.
Ob ihr das mit den Aromen ähnlich gegangen sei, fragte ich Jenni?
»Eher weniger. Aber wie wäre es mit einem Besuch in Spanien? Zeigen wir doch Unai seine Wurzeln!«
Ich hielt das für eine schöne Idee und spürte gleich, dass sie ein Grundproblem meiner Arbeit als weltreisender Fotograf berührte: Ständig unterwegs, ein Land exotischer als das andere, doch vor der eigenen Haustür kenne ich mich nicht aus. Ändern wir das doch! Und fahren wir von der Ostsee bis ins Baskenland!
Unai trägt die Ankündigung unserer Reisepläne mit Fassung. Wir glauben, sogar Vorfreude zu sehen.
Nur, wie reist man mit einem Baby? Zu Fuß? Per Caravan? In einer Sportkarre? Und wenn ja: Maserati oder Maxi-Cosi? Reist man überhaupt?
Eines stand fest: Wir brauchten ein geeignetes Transportmittel! Beweglich, robust, unabhängig von Sprit und Strom. Eines, das es uns erlaubt, mit den Landschaften, durch die wir reisen, in Kontakt zu kommen. Und eines, das kinderfreundlich ist, das Platz hat für Bücher, Bälle und Teddybären. Wir fanden es in einem kleinen Laden namens Vélo 54 in Hamburg: ein Lastenfahrrad des jungen französischen Herstellers Douze.
Was für ein Gefährt! Es ist fast drei Meter lang, 25 Kilogramm schwer, sieht dabei äußerst sportlich aus, hat eine Getriebenabe, hydraulische Scheibenbremsen, und wenn wir wirklich wollten, könnten wir den halben Hausrat damit transportieren; der Koloss verträgt eine Zuladung von 180 Kilo! 80 davon gehen auf mich und 12 auf Unai, für den es im vorderen Teil des Rades eine gepolsterte Sitzbank mit Lehne gibt. Mit hinein in diesen Transportkasten kommen auch die Trinkflaschen, das Werkzeug und Ersatzteile, Dinosaurier, Malkreiden, ein paar Bausteine und Jonglierbälle. Links und rechts an den Außenseiten will ich das Stativ und das Zeltgestänge verzurren. Auf dem Gepäckträger eine gigantische wasserdichte Reisetasche, die man auch als Rucksack verwenden kann, und am Lenker, immer zur Hand und stoßsicher aufgehängt, ein gepolsterter Koffer für die Fotoausrüstung, Karten und sonstigen Kleinkram.
In der Hamburger Fahrradmanufaktur Vélo 54 erhält unser Douze den letzten Schliff. Es ist ein echter Hingucker: Sportrad und Kinderwagen in einem – und unser Zuhause für die kommenden vier Monate!
Mit Burkhard in Südamerika: Bei 20 Grad minus über 5000 Meter hohe Pässe.
Natürlich kommen auch die alten Satteltaschen mit. Sie sind schon arg zerschunden, doch sie stecken voller Abenteuer und Geschichten. Als ich nach ihnen griff, war das wie eine Zeitreise: Ich sah mich vor 14 Jahren. Weniger Bart, mehr Haar. Ich ging durch Hamburg, und es regnete, was ich passend fand, denn in anderen Wetterlagen hatte ich die Hansestadt noch nie gesehen. Ich hielt die Tristesse eine Weile aus, dann bekam ich Lust auf eine Reise und sonnige Gesichter.
Unter einer Weide mit ausladenden Ästen hatten sich grau gekleidete Menschen mit schwarzgrauen Regenschirmen versammelt, und ich stellte mich dazu, denn ich hatte keinen. Mein Blick wanderte durch die Pfützen, zu den gepflegten Schuhen, dann hochwärts – und da stand Burkhard, mein Schulfreund, mit dem ich einst nach Norwegen aufgebrochen war.
Wir liefen durch den Regen zu ihm nach Hause. In seinem Wohnzimmer hingen zwei Plakate: ein großformatiger Frauenakt von Peter Lindbergh und eine Weltkarte. Wir starrten den ganzen Abend an die Wand, sprachen, obschon wir uns Jahre nicht gesehen hatten, wenig, und gegen Mitternacht geschah es: Die zwei Plakate verwandelten sich! Vor uns hingen nun zwei Lebensentwürfe – und die eine große Frage: Was wollen wir wirklich? Das Gewisse oder das Ungewisse? Ein Leben im nieselgrauen Deutschland, einen gut bezahlten Job, Familie, Auto, großes Haus? Oder wollen wir noch einmal alles in Frage stellen und uns auf eine Reise begeben, von der wir weder wissen, wohin sie uns führen, noch wie lange sie dauern wird?
Wir leerten einen Minztee und entschieden uns für die Weltkarte.
Binnen weniger Wochen kündigten wir unsere Jobs, hängten den Alltag an den Nagel – und strampelten auf der Panamericana durch die Anden.
Im Sommer 2005 erreichten wir Bolivien: Brennende Reifen blockierten die Straßen, in La Paz flog das Dynamit durch die Gassen.
Die Satteltaschen von damals habe ich noch immer. In Bolivien hatten wir sie mit schwarzer Farbe beschmiert und uns selbst die Kleidung zerschlissen, um nicht allzu gelackt daherzukommen. Für lateinamerikanische Verhältnisse waren wir zwar immer noch reich, aber wir kamen damit heil durch den Bürgerkrieg. Wir fuhren an die brennenden Barrikaden, stellten uns zu den Cocabauern und skandierten mit Evo Morales gegen den westlichen Imperialismus.
Nun hielt ich die Taschen wieder in den Händen – 14 Jahre nach jener Weltkarte, 18 Monate nach der Geburt meines Sohnes.
Was brauchten wir noch? Sonnenhüte! Wanderstiefel. Landkarten können auch nicht schaden, Windeln, Hundefutter. Einen Almanach der guten Küche. Und damit konnte es losgehen.