Widmung

Für meinen Vater, der meinen Blick ins Weltall gelenkt hat.

Für Raphael und Isidor, die nun auch schon den Nachthimmel für sich entdeckt haben.

PROLOG

Riecht nich’,
durchdringt dich,
ist wichtig

Oft, wenn ich entfernteren Bekannten oder Verwandten von meinem derzeitigen Leib- und Magenthema erzähle, ernte ich befremdete Blicke. Das liegt offenbar daran, dass es nicht, sagen wir, von Vulkanen oder den Fortschritten der Medizin handelt. Nein, es dreht sich um das Erdmagnetfeld. Auf den Stirnen meiner Gegenüber lässt sich dann etwas ablesen wie: „Aha. Schon etwas sonderbar, oder?“

Das Erdmagnetfeld hat so gut wie niemand auf dem Schirm. Mit Google Trend lässt sich das klar belegen: Dort werden alle Suchanfragen ausgewertet und Monat für Monat angezeigt, wie interessant ein Thema für die Suchgemeinde ist. Also habe ich bei der Recherche für dieses Buch den direkten Vergleich gewagt – Suchwort 1: Erdmagnetfeld. Suchwort 2: Noroviren, die hatten wir nämlich grad im Haus. Suchwort 3: Terror. Der Terror gewinnt in dieser Trias immer und das Erdmagnetfeld erhält in zwölf Jahren nicht ein einziges Mal auch nur einen Punkt. Schwerwiegender Zweifel: Sollte man überhaupt ein Buch über das Erdmagnetfeld schreiben?

Doch, sollte man, eindeutig und mit Nachdruck! Das Erdmagnetfeld ist nämlich eines der faszinierendsten Phänomene, die es gibt. Die Geschichte seiner Erforschung ist reich an Anekdoten und einige spektakuläre Ereignisse stehen in direktem Zusammenhang mit ihm. Aber es hat auch gewichtige Nachteile in Sachen Publikumswirksamkeit: Es ist nicht zu sehen, nicht zu hören und schon gar nicht mit der Nase zu erschnüffeln. Es schädigt nicht die Gesundheit und es ist in seiner Riesenhaftigkeit so unauffällig, dass man beim Zähne- oder Fensterputzen durchschnittlich genauso oft daran denkt wie an die Weiten des Pazifiks – nämlich nie. Darum zunächst ein kurzer Werbeblock mit Lobpreisungen, um das Erdmagnetfeld aus der stiefmütterlichen Ignoranz des Alltags herauszuheben:

Erdmagnetfeld – so wichtig wie die Luft zum Atmen. 

Weit draußen, mehrere zehntausend Kilometer vom Erdboden entfernt, trotzt du 24/7 den Invasoren aus dem All. Sonne und Sterne und andere Giganten des Universums schleudern ihren Teilchen- und Strahlungsmüll achtlos in die Gegend, aber wenn er uns zu nahe kommt, dann bist du da und lenkst ihn einfach ab. Wir leben – dank deiner, oh Erdmagnetfeld, weil du uns schützend umhüllst.

(Was die Werbung nicht erzählen würde: Die Atmosphäre hat dabei natürlich auch ein Wörtchen mitzureden, denn die hochenergetischen Teilchen, sofern sie es in unseren Luftraum schaffen, werden dort immer weiter abgebremst und zerlegt.)

Erdmagnetfeld – kommen Sie mit auf eine Reise zum Mittelpunkt der Erde!

Tief im Bauch unserer Erde kocht und brodelt es bei unsäglichen Temperaturen um die 5000 Grad. Flüssige Metallmassen vollziehen einen Tanz, streben wie in einer gigantischen Lavalampe vom heißen Erdkern aus nach oben und fallen, wenn sie sich wieder abgekühlt haben, hinunter. Sie denken bei einer Quelle an Mineralwasser oder Bier? Sie denken, die Macht der Vulkane ist gigantisch? Think bigger! Diese Quelle hier speist das Erdmagnetfeld in etwa 3000 Kilometern Tiefe!

(Zu dieser Reise wird es natürlich nie kommen. Mal abgesehen von der Hitze, können wir doch nur an der Oberfläche kratzen: Die tiefste Erdbohrung, die sogenannte Kola-Bohrung, wurde 1992 nach 22 Jahren in etwas mehr als zwölf Kilometern Tiefe abgebrochen.)

Erdmagnetfeld – mit uns ans Ziel!

Glauben Sie, die Seefahrt, der Handel mit fernen Ländern und Kulturen oder die Entdeckungsreisen ins Unbekannte haben unsere Welt bereichert, das Wissen befördert, ja vielleicht sogar einen Beitrag für unseren heutigen Lebensstandard geleistet? Dann stellen Sie sich die Seefahrt mal ohne Kompass vor – eine glückliche Heimreise mit neuen Waren, Geschichten und Erkenntnissen im Gepäck wäre weniger wahrscheinlich. Und woran richtet sich die Kompassnadel aus? Ja richtig, am Erdmagnetfeld!

(Heutzutage haben wir natürlich das GPS, und das ist in der Regel genauer und einfacher zu handhaben als ein Kompass. Aber auch die GPS-Satelliten sind auf das Erdmagnetfeld angewiesen. Dort oben in 20.000 Kilometern Höhe schützt es nämlich ihre Bordelektronik gegen Strahlung und den Teilchenbeschuss aus dem All.)

EIN STECKBRIEF ÜBER ÄUSSERLICHKEITEN

Schauen wir uns unseren freundlichen Begleiter und Beschützer einmal genauer an. Das Erdmagnetfeld erinnert in seiner Form zunächst an einen schönen, runden Apfel. Durch seinen magnetischen Nordpol am Stielansatz kommen die Feldlinien heraus, wandern über die Apfelschale bis zum Südpol, der Blüte, und gehen durchs Kerngehäuse schnurstracks zum Nordpol zurück. Und weil das Magnetfeld mit seinen Feldlinien ja überall ist und nicht nur auf der Schale, stellen Sie sich den Apfel besser noch als Zwiebel mit etlichen Schalen vor. Außerdem liegt momentan der magnetische Nordpol der Erde im geographischen Süden, das heißt, Sie müssen den Apfel umdrehen, mit der Blüte nach oben.

Die Feldlinien kennen Sie vielleicht noch aus dem Schulunterricht. Da hat man einen Stabmagneten genommen und Eisenfeilspäne dazu geschüttet. Die Späne verteilten sich auf Linien, den Feldlinien. Auch wenn diese Linien sichtbar werden, so sind sie eigentlich nur eine Idee, eine Versinnbildlichung der Geometrie des Magnetfelds. Dass sich die Eisenspäne dennoch in Linien gruppieren, liegt daran, dass die Späne selbst magnetisiert werden und sich wie Kompassnadeln ausrichten – Eisenspan für Eisenspan kettet sich der Nordpol des einen an den Südpol des anderen. Das ist nun das idealtypische Bild. Unser stiller Freund hat allerdings in Wahrheit ein bewegtes Leben, das ihn etwas mitgenommen aussehen lässt. Die Sonne nämlich bläst permanent einen Strahlungs- und Teilchenstrom ins All hinaus – auch Richtung Erde. Und der drückt auf das Erdmagnetfeld. Auf der Tagseite, also zur Sonne hin, wird es deshalb etwas zusammengestaucht und in Richtung Weltall, also auf der Nachtseite, zerfasert es. Hinzu kommt noch, dass das Erdmagnetfeld etwas schief hängt. Normalerweise, also irgendwie vom Gefühl her, so mit dem gesunden Menschenverstand gedacht, auch wenn der uns in vielen physikalischen Dingen ja nicht so weit bringt … Aber lassen wir das! Also, normalerweise würde man davon ausgehen, dass seine Pole unseren geographischen Polen entsprechen, also der eine magnetische Pol direkt am Nordpol, quasi unter dem Polarstern, und der andere Pol am Südpol, genau da, wo der Amundsen dem Scott einst eine lange Nase gemacht hat. Doch weit gefehlt. Im Süden liegt der magnetische Pol noch nicht einmal innerhalb des Polarkreises, sondern vor der antarktischen Küste, südlich von Australien. Im Norden ist die Abweichung vom geographischen Pol nicht ganz so drastisch. Unsere Kompasse zeigen auf einen Punkt nördlich von Kanada. Dieser Magnetpol wandert allmählich über den Arktischen Ozean Richtung Sibirien und kommt dabei immerhin dem geographischen Nordpol sehr nahe. Jedes Jahr zieht er um etwa 50 Kilometer weiter. In geophysikalischen Dimensionen ist das ziemlich viel – die eurasische Platte, auf der wir sitzen, rückt pro Jahr gerade mal 2,5 Zentimeter von der Stelle.

STROM MACHT MAGNETFELD – UND UMGEKEHRT

Um den Ursprung des Erdmagnetfelds zu verstehen, ist zunächst ein Blick auf ein Grundprinzip der Physik nötig. Dieses lautet: Wo Strom fließt, da gibt es ein Magnetfeld. Aber warum eigentlich?

„Das ist eben so.“ Diese Antwort werden Sie womöglich von Technikfüchsen aus Ihrer näheren Umgebung erhalten, zumindest ist es mir so ergangen. Bisweilen zeigten sie dazu noch ihre halboffene linke Faust und streckten den Daumen hoch – nein, das war keine Drohung und auch keine Geste nach dem Motto „gute Frage, schön, dass du damit zu mir kommst“, sondern die Versinnbildlichung der sogenannten Linke-Faust-Regel: Fließt der Strom in Daumenrichtung, dann fließt das Magnetfeld in Richtung der restlichen Finger. Das Magnetfeld bildet gewissermaßen einen Ring, der sich um den Daumen beziehungsweise den Stromleiter dreht.

Trotzdem blieb die Frage unbeantwortet, warum Elektrizität und Magnetismus immer im Doppelpack auftreten. Das Ganze kennen Sie vielleicht unter dem Begriff „Elektromagnetische Induktion“. Eines der alltäglichsten Anwendungsbeispiele dafür ist der Fahrraddynamo. Vereinfacht funktioniert der so: Indem Sie ordentlich in die Pedale treten, versetzen Sie einen Permanentmagneten in Drehung. Dieser ist zusammen mit einer Drahtspule in einer speziellen Konstruktion verbaut. Mit ihm rotiert sein eigenes Magnetfeld, die Bewegung verursacht eine Spannung und einen Stromfluss im Draht und schwupps – es werde Licht. Umgekehrt ist es möglich, dass durch einen Strom ein Magnetfeld aufgebaut wird – man denke nur an Magnetkräne auf einem Schrottplatz. Hier gibt es auch eine Drahtspule und außerdem einen Weicheisenkern darin, der den magnetischen Effekt verstärkt. Strom an, schwupps – das Auto hängt am Kranausleger.

Jenes „schwupps“ ist natürlich um keinen Deut besser als „Ist eben so.“ Letztlich muss man für eine Erklärung des Phänomens Magnetismus die Quantenphysik befragen und das bedeutet eine Menge höherer Mathematik und geistiger Verrenkungen. Man müsste hochkomplexe Atommodelle wälzen und sich mit einer Reihe von Kleinstteilchen mit äußerst seltsamen Eigenschaften befassen, die selbst die Physiker nur mit Behelfswörtern aus dem Bereich der Farben und Geschmäcker umschreiben, weil die Phänomene ohne solche Metaphern gar nicht zu fassen wären. Das überlassen wir darum besser den wirklichen Quantenprofis und versuchen es mit einer sehr groben Vereinfachung. Wenn sich Elektronen gemeinsam in eine bestimmte Richtung bewegen, dann entsteht, wie wir noch aus der Schule wissen, der elektrische Strom. Elektronen bewegen sich aber nicht nur vorwärts oder rückwärts oder meinetwegen auch seitwärts. Sie tänzeln um den Atomkern herum und drehen sich dazu noch um ihre eigene Achse. Letzteres ist der Spin.

Für uns sind rotierende Elektronen ziemlich leicht vorstellbar. Irgendwie halt als ein winziges, sich drehendes Etwas und hin und wieder blitzt im rechten Licht seine negative Ladung auf, wie bei einem Leuchtturm. So würde man es vielleicht im Film inszenieren. Komisch, dass man diese Geschichte nicht in der Schule erzählt; die elektromagnetische Induktion wäre dann vielleicht etwas weniger suspekt.

Für Physiker ist diese Vorstellung jedoch extrem problematisch. Dort haben die wenigsten Elementarteilchen das Privileg, eine räumliche Ausdehnung zu besitzen und Elektronen gehören ganz klar zur Masse der Nicht-Privilegierten. Das bedeutet, ein Punkt ohne jede Dimension dreht sich um sich selbst und das wiederum sprengt sämtliche Konventionen der klassischen, wie auch der modernen Geometrie und wir befinden uns mitten im verminten Gelände der Quantenphysik. Dennoch: Die Metapher mit der Drehung ist gut. Stellen Sie sich nämlich einmal vor, Ihr linkes Daumengelenk wäre ein Elektron. Und jetzt drehen Sie Ihr Elektronengelenk einmal ein bisschen, aber bitte, ohne dabei Ihr Handgelenk auszukugeln. Na, was machen jetzt Ihre Magnetfeldverdeutlichungsfinger? Exakt: Sie versinnbildlichen die Linke-Faust-Regel für das kleinste Magnetfeld der Welt, das eines Elektrons. Elektronen sind nämlich eigentlich nichts weiter als unfassbar kleine Magnete. Und so, wie der Strom stärker wird, wenn noch mehr Elektronen durch einen Draht rauschen, so verstärkt sich auch der Magnetismus, wenn sich viele Elektronen in dieselbe Richtung drehen.

Die Physik behandelt schon seit mehr als 150 Jahren Elektrizität und Magnetismus als siamesische Zwillinge und fasst all ihre Phänomene unter „Elektromagnetismus“ zusammen. Die elektromagnetische Wechselwirkung ist eine der vier Fundamentalkräfte in der Physik (eine weitere, uns von Kindesbeinen an bekannte, ist die Gravitation). Neben dem elektrischen Strom und magnetischer Anziehung und Abstoßung hat sie noch viele andere vertraute Phänomene in petto. Wenn wir uns beispielsweise im Winter über das Bisschen Tageslicht freuen, im Frühling unsere Nasen in die wärmende Sonne halten und uns im Sommer nach einem Sonnenbad die Haut brennt, dann hat das auch (aber nicht nur) mit der elektromagnetischen Wechselwirkung zu tun. Bei der Kernfusion – zwei Wasserstoffatome verschmelzen zu einem Heliumatom – verliert die Sonne immer ein klein wenig Masse (genau genommen 0,635 Prozent), denn zwei Wasserstoffatome sind zusammen etwas schwerer als ein Heliumatom. Diese Verlustmasse wird in Energie umgewandelt, beispielsweise in Form von sichtbarem Licht, wärmender Infrarot-Strahlung, UV-Strahlung und Röntgenstrahlung. Allesamt Vertreter des elektromagnetischen Spektrums – die einen etwas sanfter und freundlicher, die anderen mit fiesen Drohgebärden und für unser Wohlbefinden weniger wünschenswert. Sie alle – nicht nur das Licht – werden durch Photonen übertragen, masselose Energieteilchen, die ihrerseits wieder von Elektronen freigesetzt werden. Sie breiten sich in Wellen aus und unterscheiden sich vor allem in der Länge der Wellen, der Frequenz ihrer Schwingungen und der Menge an Energie, die sie mit sich führen. Diese Prozesse werden uns später wieder begegnen, wenn es um die Sonne geht und das Weltraumwetter und darum, wie das Erdmagnetfeld seine schützende Hand über das Leben auf unserem Planeten hält und uns vor übermäßiger lebensfeindlicher Strahlung bewahrt.

Das Erdmagnetfeld entsteht, weil tief unter unseren Füßen und weit über unseren Köpfen ein paar riesige Stromsysteme existieren, die allesamt naturgemäß Magnetfelder induzieren, die sich wiederum miteinander vermischen und zu einem großen Ganzen anwachsen, das mehrere zehntausend Kilometer ins All hineinreicht. Und dieses große Ganze ist auch immer dort, wo wir gerade sind – im Bett, auf dem Weg zur Arbeit, im Urlaubsflieger, auf dem Klo. Aber was genau dabei passiert und wie man das herausgefunden hat, ist ziemlich exemplarisch für die Geschichte des menschlichen Wissens, weil es immer auch mit dem zum jeweiligen Zeitpunkt gültigen Weltbild zu tun hat. Und darum soll das nicht mit wenigen Worten abgetan werden.

AB IN DIE FERNE!

Wie uns das Erdmagnetfeld
Orientierung verschafft

ALS DER KOMPASS NOCH GAR NICHT SEETÜCHTIG WAR

Will man sich in einer Großstadt wie Berlin zurechtfinden, braucht man eigentlich nichts. Selbst wenn man vorhat, mit dem Fahrrad vom Weißen See im Nordosten bis zum Wannsee im Südwesten zu fahren, findet sich immer irgendwo eine Bushaltestelle mit Stadtplan und rot umkreiselter „Sie befinden sich hier!“-Markierung. So lange man nicht zu klein ist oder von der reflektierenden Sonne geblendet wird, kommt man auf diese Weise dem Ziel näher und näher. Außerdem findet sich in Berlin recht oft eine direkte Sichtschneise zum Fernsehturm, der einem als innerstädtischer Orientierungspunkt regelrecht ans Herz wächst. Im Umland wiederum kann man sich nach dem Moosvorkommen auf Bäumen richten oder auch danach, wie der hierzulande vorherrschende Westwind sie allmählich gen Osten gedrückt hat. Im Zweifel darf man als kommunikationsbefähigtes Wesen natürlich auch Einheimische fragen, und zu guter Letzt gibt es ja auch Smartphones mit Karten-App und das GPS. Letzteres ist eine richtig geniale Erfindung. Nicht nur, dass Freund- und Partnerschaften bei Autofahrten dadurch weniger krisenanfällig geworden sind. Sogar Satelliten im All verorten sich damit hochgenau, obwohl sie je nach Höhe mit bis zu 25.000 Kilometern pro Stunde um die Erde brettern. Allgemein verhelfen uns Navigationssatellitensysteme wie das GPS zu einem einheitlichen Koordinatensystem für unseren Globus. Endlich, muss man sagen; vor allem, wenn man bedenkt, wie lange das internationale Vermessungswesen schon mit Messpunkten und Kartierungen herumgewerkelt und dabei doch nur einen Flickenteppich fabriziert hat. Nun aber kann man wirklich und auf den Millimeter genau sagen, wo sich, sagen wir, der Berliner Fernsehturm befindet. Und um wie viele Millimeter pro Jahr er aufgrund der Plattentektonik von der Stelle rückt. Abgesehen davon denke man noch an die Genauigkeit, mit der sich dank GPS Routen und Lieferungen planen lassen – hoch leben die rollenden Lagerhäuser, die Just-in-time-Produktion und all die anderen effizienten Dinge, die für uns den Konsum nahezu reibungslos ablaufen lassen; willkommen im 21. Jahrhundert! Wenn wir wissen wollen, wo wir stehen, müssen wir nur unser Smartphone zücken, nach draußen gehen und das GPS-Signal abwarten, und für den Rest sorgt Google Maps. Selbstverortung hat für uns nichts mehr mit einer tatsächlichen Lokalisierung zu tun, sondern mit Fragen wie: Wer bin ich? Was mache ich? Und warum stehe ich dafür so früh auf? Nicht auszudenken, was wäre, wenn einmal das GPS und seine europäischen, russischen und chinesischen Mitwettbewerber zusammenbrächen. Aufgrund der darauffolgenden globalen Liefer- und Produktionsausfälle könnte nämlich schnell ein wirtschaftlicher Schaden in Billionenhöhe auflaufen, sprich: zwölfstellige Beträge! Und darum für den Notfall, Hand aufs Herz: Wissen Sie noch, wie man mit Karte und Kompass umgeht? Oder gar ohne sie?

Gehen wir also zurück in eine Zeit, in der es beides noch nicht gab und beginnen mit einer Geschichte. Ganz klassisch: Es war einmal ein Hirte, der hieß Magnes. Er lebte jenseits des Bosporus nahe der Stadt Magnesia am Mäander. Eines Tages ging er mal wieder in die Berge, um bei den Tieren nach dem Rechten zu sehen. In der Nacht zuvor hatte es ein heftiges Gewitter gegeben. Und plötzlich passierte etwas Sonderbares: Sein Hirtenstab, an dessen Ende sich eine Eisenspitze befand, blieb an einem Stein kleben. Und wieder. Und wieder. Man stelle sich nur solches Ungemach bei einer Wanderung vor! Magnes war verwundert, erzählte es weiter, und der, dem er es erzählte, erzählte es auch weiter. Es entstand eine Legende und eine schöne Herkunftsgeschichte des Wortes „Magnet“ war geboren… aber noch lange kein Kompass. Jedenfalls nicht in der Mittelmeerregion. Aber die alten Griechen befassten sich mit dem seltsamen Wesen von Magnetit, das später auch in den ersten europäischen Kompassen zum Einsatz kommen sollte. Die Region um Magnesia ist tatsächlich heute noch bekannt für ihre Vorkommen dieses Gesteins. Zufällig war auch die Stadt Milet ganz in der Nähe. Dort lebte und wirkte Thales von Milet (etwa 624–547 v. u. Z.), den man gut und gern als den Begründer der abendländischen Wissenschaften begreifen darf. Noch heute lernt man den Satz des Thales in der Schule (das ist der mit dem Halbkreis und dem Dreieck und dem immer rechten Winkel). Jener Thales war fasziniert von den Anziehungskräften, die Magnetit ausübte, und zwar nicht nur auf andere Magnetitsteine, sondern auch auf reines Eisen. Weil es für diese Anziehung noch nicht einmal der Berührung bedurfte, ging Thales sogar so weit, Magnetit als beseeltes Gestein anzusehen. Man kann es den frühen Europäern also durchaus zu Gute halten, dass, wenn sie schon nicht auf die Idee mit dem Kompass gekommen sind, sie sich doch bereits sehr leidenschaftlich dem Phänomen des Magnetismus zugewandt hatten.

In China war man zu diesem Zeitpunkt schon deutlich weiter. Die besonderen Eigenschaften von Magnetit waren offenbar bekannt, denn es war Grundbestandteil des sogenannten Südzeigers. Diesen frühen Kompass benutzte man angeblich schon seit Menschengedenken, um Häuser, Straßen und Paläste in ihrer Umgebung auszurichten, oder auch, um sich bei der Suche nach Jade im Gelände zu orientieren. So zumindest berichtet es die chinesische Schrift Gui Gu Zi aus dem 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Dieser Südzeiger sah aus wie ein Löffel. Sein Stiel wies nach Süden – es ist die Blickrichtung des chinesischen Kaisers, der vom Polarstern repräsentiert wird und aus Sicht von uns Erdenbürgern nach Süden schaut (oder im Norden steht, je nach Kulturkreis). Betrachtet man die Pläne alter chinesischer Städte, machen sie den Eindruck, als seien sie am Reißbrett entstanden. Aber nicht immer ist ihre Achse streng nach Nord-Süd ausgerichtet; bei vielen Städten weicht das Gitternetz der Straßen und Häuserwände um einige Grad ab; mal mehr, mal weniger, mal nach Osten, mal nach Westen. Gerade das spricht für die Kompass-These. Das Erdmagnetfeld schwankt nämlich. Seine Pole befinden sich nicht dauerhaft an ein und derselben Stelle. Diese Abweichungen können mehrere Grad betragen, und damit erklärt sich auch, wenn das Gitternetz alter chinesischer Städte je nach Entstehungszeit mal mehr gen Osten, mal mehr gen Westen kippt. Tatsächlich konnten tschechische Wissenschaftler unlängst zeigen, dass die Grabstätten der Kaiser mit Hilfe dieses frühen Kompasses „eingesüdet“ wurden. Der Baubeginn dieser Grabpyramiden lässt sich sehr gut datieren: Die Baumaßnahmen begannen immer im zweiten Jahr der Regentschaft, schließlich konnte es schnell gehen mit dem Ableben des Kaisers. Die Forscher verglichen Satellitenfotos mit einem Langzeitmodell des Erdmagnetfelds, mit dem man dessen Ausrichtung zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort errechnen kann. Natürlich muss man als seriöser Wissenschaftler dabei immer Ungenauigkeiten einplanen – ein Modell ist schließlich auch nur ein Modell und kann sich irren, und die alten Baumeister oder ihre Kompasse könnten sich doch um den einen oder anderen Grad vertan haben.

Dennoch, die räumliche Ausrichtung der Pyramiden laut Satellitenbild, ihr Baubeginn und die jeweilige Orientierung des Erdmagnetfelds laut Langzeitmodell passten erstaunlich gut zueinander. So etwas ist natürlich eine feine Sache, weil gleich zwei Dinge damit plausibler erscheinen: die Gültigkeit des zugrunde liegenden Langzeitmodells für diesen bestimmten Zeitraum und die These, dass die alten Chinesen tatsächlich mit dem Kompass arbeiteten. Zeitgenössische Feng-Shui-Berater lässt eine solche Bestätigung aus der Wissenschaft vermutlich vor Freude im Quadrat springen, denn sie berufen sich auf die besagte alte chinesische Lehre und verwenden ebenfalls Kompasse, um in einem Haus beispielsweise geeignete Schlafplätze zu ermitteln.

Interessanterweise wurden in der alten Feng-Shui-Praxis die damaligen Kompasse vor allem von Wahrsagern und Gelehrten verwendet. Ihnen ging es um den rechten Weg, das richtige Leben und das harmonische Miteinander mit der Umwelt. Man betrieb also bereits im alten China eine Form der Selbstverortung im übertragenen Sinne. Und das mit Hilfe des Erdmagnetfelds.

Etwa ab dem 5. Jahrhundert verwendete man in China bereits sogenannte nasse Kompasse als Navigationshilfe für die Schifffahrt. Die magnetische Nadel war in einen hölzernen Fisch eingebaut, der in einer mit Wasser gefüllten Schüssel schwamm und damit unabhängig vom Schlingern und Schaukeln des Schiffes auf hoher See den richtigen Weg wies.

Wer nun aber in der alten Feng-Shui-Praxis den Anfang sieht und in unseren heutigen GPS- und Internetanwendungen den Gipfel an Navigations- und Selbstverortungskraft, der wird womöglich enttäuscht sein. Grabpyramiden, die mit Hilfe von Kompassen ausgerichtet wurden, hat es offenbar schon fast tausend Jahre früher in Mittelamerika bei den Olmeken und den Maya gegeben. Bei Ausgrabungen in einer Pyramide im mexikanischen San Lorenzo hat man beispielsweise einen Gegenstand aus reinem Hämatit (einem magnetischen Eisenmineral) gefunden, der einst als Kompass gedient haben könnte und der auf etwa 1000 bis 1400 vor unserer Zeitrechnung datiert wurde. Zudem sind diese Kultstätten ähnlich wie ihre chinesischen Gegenstücke zwar irgendwie ausgerichtet, aber eindeutig nicht an der Nord-Süd-Achse, sondern anders. Und dieses „anders“ könnte durchaus das Erdmagnetfeld sein. Aber sicher ist nichts und so auch nicht, ob die Olmeken oder die Chinesen die geistige Urheberschaft für den Kompass anmelden dürfen. Darum belassen wir es dabei und kehren zurück in abendländische Gefilde.

Dort musste man noch sehr lange ohne die Hilfe von Kompassen und Erdmagnetfeld auskommen. Dass man auch ohne sie eine eindrückliche Geistesgeschichte entwickeln kann, haben die alten Griechen und Römer, Araber und Juden hinlänglich bewiesen. Und zur Navigation behalf man sich mit dem, was man sonst noch so zur Hand hatte. Das waren insbesondere die Sonne und die Sterne. Entsprechend war die Astronomie eine der ersten Wissenschaften überhaupt; man befasste sich mit dem Lauf der Sterne und der Planeten über den nächtlichen Himmel, erfand die Sternbilder als Strukturen zur Orientierung und erkannte, dass sich der gesamte Fixsternhimmel scheinbar um einen einzigen Punkt im Norden dreht: den Polarstern. Man kann besten Gewissens behaupten, dass kein Stern im Weltall die Geschicke der Menschheit so sehr beeinflusst hat wie der Polarstern.

Allerdings war unser heutiger Polarstern nicht immer der Polarstern. Zur Zeit der Antike war das noch sein Nachbar im Sternbild Kleiner Bär. Unser jetziger Polarstern hat sich freilich nicht an diese Position gedrängelt; „Polarstern“ ist vielmehr eine Art Amt, das ein Stern in nördlichen Himmelsgefilden für eine gewisse Dauer übernimmt und dann turnusgemäß abgibt. Das lässt sich leicht erklären: Die Rotationsachse der Erde steht nicht fest, sondern eiert selbst ein bisschen herum, ähnlich wie ein schräg gestellter Löffel im Kaffeebecher, wenn man damit den Kaffee umrührt und den Zucker aus dem inneren Bodenrand ganz unten komplett herausholen will. Man spricht dabei auch von der Präzession.

Damals wusste man freilich noch nichts von der Rotation oder gar der Präzession der Erde und ihrer Achse. Die alten Griechen waren aber immerhin große Verehrer von Kreisen und ihren räumlichen Äquivalenten, den Kugeln. Und so entwickelten sie das sogenannte Sphärenmodell als ein Bild vom Kosmos und all dem, was sich zwischen der Erde und den Sternen befindet. Aristoteles (384–322 v. u. Z.) beispielsweise fasste die Erde als ein kugelförmiges Gebilde auf, das von weiteren kugelförmigen Gebilden umgeben ist, den Sphären. Diese Sphären sind die Heimat der Himmelskörper und drehen sich um den Erdmittelpunkt. Man kann sie sich wie Matrjoschkas oder Zwiebelschalen vorstellen: In der Mitte ist die Erde, umhüllt von der Sphäre des Mondes, diese wiederum ist umgeben von der Sphäre des Merkur und immer so weiter mit den Sphären der Venus, der Sonne, des Mars, des Jupiters, des Saturns und zu guter Letzt der Fixsterne.

Wohlgemerkt war die Erde im Bewusstsein der Menschen schon längst keine Scheibe mehr. Wer nämlich reist – und Reisen gab es auch in der Antike –, der wird sehen, dass die Sonne im südlichen Mittelmeer am Himmel weiter aufsteigt als im nördlichen und dass die Schatten der Gegenstände zur gleichen Uhrzeit unterschiedlich lang sind. Aus diesem Zusammenhang lässt sich schließen, dass die Erde eine Kugel sein muss. Das lag bereits nahe, weil Schiffe am Horizont nicht als Ganzes erschienen, sondern zunächst nur ihre Segel. Zwei Indizien also, die sich zu einem Befund verdichten ließen. Und mit Hilfe der uns bekannten Kreisformeln, die tatsächlich schon weit über 2000 Jahre gelten, konnten unsere antiken Vorfahren sogar bereits den Durchmesser der Erde berechnen.

Eine Methode dazu hat Eratosthenes (ca. 275–194 v. u. Z.), einstiger Leiter der Bibliothek von Alexandria und Begründer der Geografie, entwickelt. Dazu verglich er die Schatten, die die Sonne zur Sommersonnenwende genau mittags in Alexandria und in Syene (heute Assuan) warf. Dabei kam er auf eine Verschiebung der beiden Städte um etwas mehr als sieben Grad, etwa den fünfzigsten Teil eines Vollkreises, der bekanntlich 360 Grad umfasst. Also multiplizierte er den Abstand der beiden Städte mit fünfzig und schon hatte er den kompletten Umfang der Erde. Natürlich gibt es auch da wieder einige Ungenauigkeiten. Erstens liegen die beiden Städte nicht ganz auf demselben Längengrad, wie Eratosthenes fälschlicherweise annahm. Und zweitens musste er noch den Abstand beider Städte bestimmen lassen, und das ging damals nur durch Schrittezählen.

Nichtsdestotrotz: Die Idee war verdammt gut. Nimmt man die 835 Kilometer Luftlinie zwischen Alexandria und Assuan mal 50, dann kommt man auf 41.750 Kilometer und das ist recht nah am tatsächlichen Wert des Erdumfangs. Nicht umsonst hatte Eratosthenes die Sommersonnenwende zum Messtermin auserkoren, um vergleichbare Daten zu bekommen. Die Rotationsachse der Erde ist nämlich gegenüber ihrer Bahn um die Sonne um gut 23 Grad geneigt. Das hat zur Folge, dass auf der Nordhalbkugel am 21. Juni die Sonne um 46 Grad höher steht als am 21. Dezember. Weil man damals noch davon ausging, dass die Erde im Zentrum des Kosmos steht, beschrieb man diesen Winkel zunächst als Schiefe der Ekliptik, also als Neigung der Sonnenbahn gegenüber dem Erdhorizont. Aber Eratosthenes kannte den Grad dieser Neigung bereits recht genau.

Auch wenn in der Antike eine Menge Wissen über die Erde, den Lauf der Sonne und der anderen Himmelskörper gesammelt wurde – auf dem Mittelmeer, als Orientierung für Seefahrten, half das alles nur, wenn das Wetter auch mitspielte. Reisen über das Mittelmeer unternahm man darum besser zur Sommerzeit.

Nicht umsonst gelten auch heute noch die Monate November bis März als ungünstige Reisezeit, denn es gibt viele Regentage. Und das heißt, wenn man die Sonne oder den Sternenhimmel braucht, um sich zu verorten, dann verhüllen oft Wolken die Sicht nach oben, ganz zu schweigen von den Stürmen, die einem ordentlich die Reise vermasseln können.

Zudem erfolgte die Verortung vor allem nach der Methode „Pi mal Daumen“, denn an genauere Navigationsinstrumente für den Gebrauch auf See wie das Astrolabium, den Jakobsstab oder gar einen Sextanten war noch lange nicht zu denken. Und auch der Kompass brauchte noch mehr als das halbe Mittelalter, um seinen Weg nach Europa zu finden. Wie und wann das geschah, weiß man nicht so genau. Manche vermuten in Marco Polo den Überbringer dieses Wissens, aber der lebte und reiste erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts, während verschiedene historische Quellen den Kompass als Navigationsinstrument auf See schon im 12. Jahrhundert erwähnen.

Aber einleuchtend wäre es schon, dass ihn irgendjemand als ein tolles Feature chinesischer Schiffe entdeckt und sich gedacht hat, dass man so etwas an den europäischen, vielleicht auch zunächst an arabischen, Kähnen ebenfalls gut gebrauchen könnte. Wer auch immer also dahinter steckte, bewirkte, dass das Mittelmeer auch in den Schlechtwettermonaten befahrbar wurde und der Handel immens aufblühte. Heute würde so etwas freilich als Industriespionage geächtet. Damals gab es zum Glück noch keine Patentämter und Abkommen zum Schutze geistigen Eigentums, man kopierte einfach die Technik.

Warum aber die Kompasse so funktionierten, wie sie es taten, wusste man bis Anfang des 17. Jahrhunderts noch nicht. Man kannte ihre magnetischen Eigenschaften, aber nicht das Erdmagnetfeld. Eine Erklärung war, dass der Polarstern über eine magnetische Kraft verfügte, die die Nadelspitze des Kompasses anzog. Für unsere heutigen Begriffe ist das womöglich nicht mehr nachvollziehbar, denn warum sollte er ausgerechnet die Spitze und nicht die komplette Nadel anziehen? Und wie sollte man erklären, dass die Nadel ja gar nicht in den Himmel zeigt? Aber freilich dürfen wir heute nicht vergessen, dass irgendjemand all die Daten und Formeln erst einmal beschaffen musste, auf denen unser heutiges Wissen aufbaut (und damit auch unser Wissen um irrige Annahmen). Und schließlich galt bis ins 15./16. Jahrhundert ja immer noch das Sphärenmodell, in dem der Polarstern als Zentrum der Fixsternebene ohnehin schon eine gesonderte Stellung einnahm. Also warum sollte er nicht auch magnetisch sein und eine magnetische Nadel anziehen können?

Eigentlich eine schöne Vorstellung – und einen Sinn für die Ästhetik einer Theorie hatte man damals sehr wohl. Diese schöne Kultur rund um den Polarstern existiert übrigens auch bis in die heutige Zeit: 2008, anlässlich ihres 50. Geburtstags, strahlte die US-amerikanische Weltraumagentur NASA über ihre Deep-Space-Antenne in Madrid den Beatles-Song „Across the Universe“ in Richtung Polarstern aus. 430 Jahre werden die Worte John Lennons durchs Universum schlittern, bis sie ihr Ziel erreichen. Jai Guru Deva, om.

EIN MAGNET VON IRDISCHEN AUSMASSEN

Eine andere Antwort auf die Frage, warum die Kompassnadel in den Norden zeigt, lieferte der Franzose Pierre de Maricourt, auch Petrus Peregrinus genannt. Er hatte viel mit Kompassen und überhaupt mit Magneten experimentiert und erkannt, dass die Kompassnadel eben nicht auf den Polarstern zeigt, sondern knapp daneben. Damit nicht genug, entwickelte er auch das Fundament für jegliche weitere Forschung über Magnete und Kompasse. Peregrinus ist also der Godfather of magnetic science, wenn man so will. Er nämlich hatte entdeckt, dass Magnete einen Nord- und einen Südpol haben. Und er hatte sie auch so genannt. Seine Experimente und Erkenntnisse rund um den Magnetismus legte er in seiner Abhandlung Epistola de Magnete aus dem Jahr 1269 dar. Die Epistola wurde zur ersten europäischen Schrift, die sich einer modernen naturwissenschaftlichen Vorgehensweise bediente: Erst beobachten, dann die Denkmaschine anwerfen und sinnvolle Schlussfolgerungen ziehen.

Eigentlich aber war sie ein langer Brief an seinen besten Freund Sigerus de Foucaucourt in der nordfranzösischen Picardie. Ein sehr langer Brief. Die englische Übersetzung hat über 30 Seiten. Solche Briefe schreibt heute freilich niemand mehr an seine besten Freunde. Aber Peregrinus hatte offenbar genug Zeit, denn er verfasste ihn, während Truppen von Kreuzfahrern die süditalienische Stadt Lucera belagerten. Dabei befand er sich vermutlich auf der Gewinnerseite und zwar in der Armee von Charles d‘Anjou, dem mächtigen und nicht eben zimperlichen König von Sizilien, der insgesamt zwei Kreuzzüge angeführt hatte, und den Dante in seiner Göttlichen Komödie zum Singen vor die Tür des Fegefeuers gesetzt hatte.

Die Erkenntnisse, die Peregrinus in seinem Brief festhielt, sind definitiv bemerkenswert. Nicht nur, dass er herausfand, dass es zwei unterschiedliche Magnetpole gibt und sich gleiche Pole abstoßen, ungleiche hingegen einander anziehen. Er entdeckte auch, dass die magnetische Wirkung auf Eisen an den Magnetpolen stärker ist als an den Seitenflächen. Peregrinus experimentierte zudem mit kugelförmigen Magneten. Dabei sah er, dass sich Kompassnadeln und Eisendrahtstücke an den Polen aufstellen und dass sie sich an den anderen Stellen entlang von Meridianen ausrichten, die sich allesamt in den Polen kreuzen.

Dazu noch erweiterte Peregrinus das Sphärenmodell des Aristoteles. Hinter dem Magnetismus und den Bewegungen des Kompasses vermutete er eine universelle Kraft, die sich zwischen dem nördlichsten und dem südlichsten Punkt des Kosmos austobte. Zwischen diesen beiden Polen verortete er eine lange magnetische Achse, die das gesamte Universum mit all den aristotelischen Kugeln durchsticht und die Erde im Zentrum auffädelt wie eine Perle. Seine Deutung des Ganzen hält der Realität zwar nicht stand, aber mal ehrlich: Sie hat schon etwas Hochästhetisches!

In seiner Epistola de Magnete von 1269 beschrieb Petrus P­ere­grinus einen sogenannten trockenen Kompass – eine frei drehbare Magnetnadel, die anders als ihre Vorläuferinnen nicht in einer Wasserschale schwimmt.
Quelle: wikimedia/ Petrus Peregrinus:Epistola de magnete; 1269.

Weitere Kreise als die von Gelehrten zog jener Brief des Peregrinus freilich nicht. Und so erklärte man sich den Lauf der Kompassnadel landläufig damit, dass ein Magnetberg weit im Norden sie ausschlagen ließ. Der Berg bot natürlich Stoff für schauerliche Märchen und Gruselgeschichten. Vermutlich haben die Seefahrer sie sich gern vor dem Einschlafen erzählt und dann schüttelten sie sich oder hielten sich an den spannendsten Punkten die Ohren zu und hofften, niemals einem Magnetberg zu begegnen. In diesen Geschichten geht von dem Magnetberg eine unsägliche Kraft aus. Wer ihm zu nahe kommt, dem ist sein Verderben gewiss. Kein Schiff kann ihm entkommen, weil eine mächtige Strömung genau zu ihm fließt, oder weil seine magnetischen Kräfte bereits das Schiff mit dem darin verbauten Eisen erfasst haben. Ist das Schiff schließlich nahe genug, reißt der Magnetberg ihm alle Nägel aus. Natürlich ist der Magnetberg schon voller Nägel, denn unzählige Schiffe hat er bereits versenkt. In den Geschichten gibt es dann zwar immer einen Helden, der das Ganze überlebt, aber trotzdem erweist sich der Berg in irgendeiner Weise als sein Schicksalsberg.

Für unser dramatisches Wohlbefinden brauchen wir freilich keine Magnetberge mehr. Aber wir halten fest: Es wurde viel Seemannsgarn um die Magnetberge gesponnen, Werke der Weltliteratur behandelten sie (Die Geschichten aus 1001 Nacht, Jim Knopf) und in manchen alten Seekarten war ein solcher Magnetberg tatsächlich eingezeichnet. Der Geograph Gerhard Mercator beispielsweise verortete im 16. Jahrhundert direkt am Nordpol einen Magnetberg. Er nannte ihn Rupes nigra, zu deutsch „der schwarze Fels“. Seine Vorstellung war, dass im hohen Norden vier Meere existierten und sich in einem riesigen Strudel vereinigten, um dann ins Innere der Erde zu stürzen. Aber dort, ganz in der Mitte, gäbe es jenen Felsen aus reinem Magnetgestein mit einem Umfang von 33 Meilen. 

Gerhard Mercators Abbildung der Nordpolarregion mit dem in der Mitte eingezeichneten Magnetberg (ca. 1595). Die Beschriftung des Magnetberges spricht von einem „Rupes nigra et altissima“ (lat., „schwarzer und sehr hoher Fels“).
Quelle: wikimedia/via http://libweb5.princeton.edu/visual_materials/maps/websites/northwest-passage/mercator.htm

Mercator schrieb dies in einem Brief an den englischen Mathematiker John Dee und berief sich dabei auf einen Autor namens Jacobus Cnoyen. Der wiederum hatte seine Kenntnisse vermutlich aus der legendären und nicht überlieferten Schrift Inventio Fortunata aus dem 14. Jahrhundert.

Der englische Arzt und Hobbyphysiker William Gilbert setzte all diesen Legenden die hehre Wissenschaft entgegen. Er erachtete die Magnetberggeschichten als Humbug. 1600 veröffentlichte er sein Werk De Magnete. Darin vertrat er die Behauptung, dass die Erde selbst ein Magnet sei. Das ist freilich eine noch viel steilere These, den kompletten Globus zu einem Magneten zu erklären, statt eines einzelnen Berges. Doch wie wir wissen, hatte Gilbert Recht. Zudem hatte er sauber gearbeitet und über Jahre hinweg etliche Experimente mit Magneten durchgeführt. Gilbert war zwar ein Arzt, hatte aber keine Familie und somit offenbar einige Freizeit. Und während Galileo Galilei in Padua eine frühe Variante des Rechenschiebers entwickelte (den man übrigens „Compasso“ nannte), sich mit einer Welt anfreundete, in der die Sonne in der Mitte stand, und dazu noch das kurz zuvor von Hans Lipperhey entwickelte Fernrohr verfeinerte, während Johannes Kepler in Prag die Planetenbeobachtungen von Tycho de Brahe auswertete und sie in Formeln packte, die quasi zu Evergreens der Mathematik und der Physik wurden – während dieser Umbruchszeit in der Geschichte der Naturwissenschaften also feilte William Gilbert an Magneten herum, verpasste ihnen die verschiedensten Formen und beobachtete ihr Verhalten.

Mit De Magnete präsentierte er die erste umfassende wissenschaftliche Studie über den Magnetismus der Erde. Bevor er darin aber seine eigenen Untersuchungen zu dem Phänomen präsentierte, listete Gilbert – mit einigem Genuss, wie es scheint – etliche hanebüchene Vorstellungen über Magnete auf: Dass Mohammeds Sarg in Medina mit einer Konstruktion aus Magneten am Schweben gehalten würde, um die Muslime von seinem besonderen Draht zu Gott zu überzeugen – eine Geschichte, die sich allerdings Christen ausgedacht hatten. Dass Magnete in der bloßen Gegenwart von Diamanten impotent würden. Dass sie ihre Kräfte wieder erlangten, wenn man sie mit Bocksblut einreibe. Und dass Magnete wieder ihre Wirkung verlören, wenn man sie mit Knoblauch in Kontakt bringt. Gerade der Irrglaube mit dem Knoblauch bestand noch lange Zeit nach den Untersuchungen von Gilbert hartnäckig weiter. Seeleute, die sich mit Knoblauchatem einem Schiffskompass zu nähern wagten, riskierten Stockschläge – aus Angst, sie könnten durch Anhauchen das wichtigste Navigationsinstrument an Bord kaputt machen.

Gilbert ging auch mit seinen Philosophenkollegen hart ins Gericht. Er ärgerte sich über die Achtlosigkeit und Ignoranz, die Philosophen hinsichtlich Magneten seiner Meinung nach an den Tag gelegt hatten. Nur kurze Beschreibungen hätten sie gegeben, aber niemand sei dem Phänomen auf den Grund gegangen oder hätte gar Experimente gemacht. Immerhin: Den Brief von Peregrinus kannte er und bezeichnete ihn anerkennend als „für diese Zeit ziemlich gelehrt“. Nicht zuletzt hatte Gilbert viele Experimente von Peregrinus übernommen und etliche weitere durchgeführt. Auch er stellte Versuche mit kugelförmigen Magneten an. Dabei verwendete er gerstenkorngroße Stücke von Eisendraht, die er über seine Magnetkugeln verteilte. Die richteten sich naturgemäß entlang den Feldlinien des Kugelmagnets aus. Gilbert benutzte jedoch keine geschlossenen Feldlinien als Hilfsmittel, um zu veranschaulichen, wie sich so ein Magnetfeld im Raum auswirkt – auf diese Idee kam erst ein halbes Jahrhundert später der denkende also seiende René Descartes.

Im Grunde sah Gilbert das Gleiche, was schon Peregrinus gesehen hatte. Aber Gilbert lieferte dafür die richtige Erklärung. Er erkannte nämlich, dass sich die Eisendrahtstücke genauso verhielten wie Kompassnadeln auf hoher See. Am Äquator blieben sie also parallel zur Achse, kippten dann allmählich zu den Magnetpolen hin, um sich an den Polen senkrecht aufzustellen. Dieses Kippen der Kompassnadel in höheren Breiten, im magnetischen Sprech „Inklination“ genannt, war im 16. Jahrhundert durch beobachtungsfreudige Seeleute bekannt geworden. Weil sich die Erde genauso verhielt wie sein Kugelmagnet, schloss Gilbert, dass die Erde selbst ein Kugelmagnet sein musste. Und weil sich sein Kugelmagnet genauso verhielt wie die Erde, nannte er ihn Terrella, zu Deutsch „Erdlein“. 

Der Kugelmagnet von William Gilbert war ein handelsüblicher Dipolmagnet. Damit musste auch für die Erde gelten, dass sie ein Dipolmagnet ist, und als solcher wird die Erde immer noch idealtypisch beschrieben. Also im Grunde ist sie ein Stabmagnet wie in der Schule, nur dass dieser hier einen dicken Bauch hat.

William Gilberts Terrella bestand aus Magnetit, einem natürlich vorkommenden magnetischen Mineral. Auf seinem „Erdlein“ verhielten sich kleine Eisendrahtstücke genauso wie die Kompassnadeln auf hoher See: Abseits vom Äquator stellten sie sich in einem immer größeren Winkel auf. An den Magnetpolen standen sie sogar senkrecht. Diesen Effekt nennt man Inklination.
Quelle: William Gilbert: De Magnete, etc, 1600

Magnete sind immer Dipole und besitzen somit, Lateiner erkennen das schon am Wort, zwei Pole. Das ist der magnetische Nordpol an der einen Seite und der magnetische Südpol auf der anderen Seite. Ungünstiger Weise hatte bereits Peregrinus damit begonnen, bei der Kompassnadel die nach Norden zeigende Spitze als den „Nordpol dieses Magneten“ zu bezeichnen und die den Süden suchende Spitze als den Südpol. Ist ja irgendwie auch einleuchtend. Weil aber der Nordpol des Kompasses den nördlichen magnetischen Pol sucht, sich Nord und Nord aber niemals paaren würden, muss der nördliche magnetische Pol der Erde in Wahrheit ein magnetischer Südpol sein. Das heißt, im Norden sitzt der magnetische Südpol und im Süden der magnetische Nordpol. Aber als ob nicht schon reichen würde, dass die geographischen und magnetischen Pole namentlich nicht zueinander passen, kommt es noch dicker: in Gestalt der Deklination. Nein, nicht die aus der Grammatik mit den Substantiven, Adjektiven und den Fällen. Die hier gemeinte Deklination beschreibt den Umstand, dass die Kompassnadel gar nicht daran denkt, genau in den geographischen Norden zu zeigen. Letzteren kann man ja ziemlich einfach bestimmen: Er ist da, wo Punkt Mittag (Ortszeit) der Schatten hinweist. Aber wenn man zur gleichen Zeit einen Kompass auspackt, dann zeigt seine Nadel meist in eine etwas andere Richtung als der Schatten. Und zwar bisweilen so anders, dass man bei einer längeren Wanderung schnell am angepeilten Ziel vorbeiläuft. Das liegt letztlich daran, dass die magnetischen Feldlinien auf der Erde anders verlaufen als das geographische Längen- und Breitennetz. Die Feldlinien nehmen ein paar durchaus erhebliche Schlenker. Abweichungen von zehn Grad sind keine Seltenheit. Gilbert erklärte diese Missweisung damit, dass die Landmassen aus magnetisiertem Gestein bestehen. Insbesondere im Küstenbereich führe das dann dazu, dass die Kompassnadel in Landrichtung abgelenkt wird. Mitten auf dem Ozean, aber auch mitten auf dem Kontinent gäbe es hingegen keine Ablenkung, weil dann die magnetischen Kräfte rundherum ausgeglichen seien. Diese Idee untermauerte Gilbert mit einigen Experimenten. Er stattete seine Terrella mit ein paar magnetischen Hügelchen und Kontinentlein aus und siehe da: Die Kompassnadeln verhielten sich auf einmal anders. Allerdings muss man hinzufügen, dass in Wirklichkeit der Einfluss von Landmassen auf die Kompassnadel bei Weitem nicht so groß ist. Wohlgemerkt, der maximale Unterschied zwischen Gebirgen an Land und Tiefen im Ozean beträgt keine 20 Kilometer. Und das bei einem Erdradius von mehr als 6000 Kilometern. Zwar zeigt in unmittelbarer Nähe von Magnetgestein- und Eisenvorkommen die Kompassnadel ein anderes Norden an als ein paar Kilometer weiter. Aber dieser Einfluss ist eben sehr lokal und reicht nicht aus, um Deklinationen von zehn Grad zu erklären. Bis dieses Rätsel allerdings gelöst wurde und bis man feststellte, dass die Magnetachse und die Rotationsachse der Erde zwei verschiedene Dinge sind, brauchte es noch ein bisschen Zeit.