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George Sand

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

George Sand

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
1. Auflage, ISBN 978-3-962816-14-8

null-papier.de/652

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Inhaltsverzeichnis

Con­sue­lo

I. Band

II. Band

Die Grä­fin von Ru­dol­stadt

Ers­ter Teil.

Zwei­ter Teil.

Drit­ter Teil.

Vier­ter Teil.

Fünf­ter Teil.

Sechs­ter Teil.

Sieb­ter Teil.

Ach­ter Teil.

Die Gril­le oder die klei­ne Fa­det­te

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel.

Drit­tes Ka­pi­tel.

Vier­tes Ka­pi­tel.

Fünf­tes Ka­pi­tel.

Sechs­tes Ka­pi­tel.

Sieb­tes Ka­pi­tel.

Ach­tes Ka­pi­tel.

Neun­tes Ka­pi­tel.

Zehn­tes Ka­pi­tel.

Elf­tes Ka­pi­tel.

Zwölf­tes Ka­pi­tel.

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel.

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel.

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel.

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel.

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel.

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel.

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel.

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Fün­fund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Sechs­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Sie­ben­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Achtund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Neun­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel.

Die Mar­qui­se

I

II

III

In­dia­na

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel.

Drit­tes Ka­pi­tel.

Vier­tes Ka­pi­tel.

Fünf­tes Ka­pi­tel.

Sechs­tes Ka­pi­tel.

Sieb­tes Ka­pi­tel.

Ach­tes Ka­pi­tel.

Neun­tes Ka­pi­tel.

Zehn­tes Ka­pi­tel.

Elf­tes Ka­pi­tel.

Zwölf­tes Ka­pi­tel.

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel.

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel.

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel.

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel.

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel.

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel.

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel.

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Schluss.

La­vi­nia - Pau­li­ne - Kora

Vor­re­de

La­vi­nia

Pau­li­ne

Kora

Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis

In­dex

Dan­ke

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Consuelo

I. Band

Erster Teil.

1.

Ja, ja, Mes­de­moi­sel­les, schüt­teln Sie die Köp­fe so viel es Ih­nen be­liebt; die bes­te und folg­sams­te von al­len ist – doch nein! ich nen­ne sie nicht; denn sie ist in mei­ner Klas­se das ein­zi­ge be­schei­de­ne Kind, und ich will sie nicht an eine so sel­te­ne Tu­gend brin­gen, wel­che ich Ih­nen eben wün­sche …

In no­mi­ne Pa­tris er Fi­lii et Spi­ri­tus sanc­ti sang die Co­stan­za mit trot­zi­ger Mie­ne.

A­men, ant­wor­te­ten im Cho­re die üb­ri­gen jun­gen Mäd­chen.

– Bö­se­wicht! sag­te die Clo­rin­da, in­dem sie dem Sing­meis­ter ein hüb­sches bö­ses Ge­sicht mach­te und ihm mit dem Stie­le ih­res Fä­chers einen lei­sen Schlag auf die kno­chi­gen und ge­run­zel­ten Fin­ger gab, wel­che noch aus­ge­streckt auf der Cla­via­tur der Or­gel ru­he­ten.

– Kommt mit! sag­te der alte Pro­fes­so­re mit dem er­fah­re­nen und ru­hi­gen We­sen ei­nes Man­nes, wel­cher seit vier­zig Jah­ren sechs Stun­den täg­lich alle Lau­nen und Schel­me­rei­en ver­schie­de­ner Ge­ne­ra­tio­nen von weib­li­chen Zög­lin­gen zu be­ste­hen hat. Er steck­te sei­ne Bril­le in das Fut­te­ral und sei­ne Ta­baks­do­se in die Ta­sche, ohne nach dem ei­fern­den und spot­ten­den Schwar­me auf­zu­bli­cken. Wahr ist es den­noch, setz­te er hin­zu, je­nes wohl­ge­sit­te­te, lern­be­gie­ri­ge, flei­ßi­ge, gute Kind, von dem ich sag­te, das sind Sie nicht, Si­gno­ra Clo­rin­da; und Sie nicht, Si­gno­ra Co­stan­za; Sie auch nicht, Si­gno­ra Zu­li­et­ta; die Ro­si­na eben so we­nig; und die Mi­che­la noch we­ni­ger …

– Dann bin ich’s … Nein, ich!… – Gar nicht, ich! … – Ich! – Ich! – rie­fen mit ih­ren flö­ten­den oder schnei­den­den Stim­men fünf­zig Blon­di­nen und Brü­net­ten und war­fen sich wie ein Flug Mö­ven auf eine arme Mu­schel, die das eb­ben­de Meer auf dem Stran­de im Trock­nen zu­rück­ge­las­sen hat.

Die Mu­schel, näm­lich der Mae­stro (und für­wahr, kein tref­fen­de­res Gleich­nis lie­ße sich für ihn er­den­ken, mit sei­nen ecki­gen Be­we­gun­gen, sei­nen schil­lern­den Au­gen, sei­nen rot­ge­fleck­ten Ba­cken und be­son­ders sei­ner wei­ßen, sich in tau­send stei­fen, spit­zi­gen Löck­chen kräu­seln­den Per­rücke), der Mae­stro, sag’ ich, drei­mal wie­der auf die Or­gel­bank zu­rück­ge­drückt, so oft er sich er­hob um hin­weg­zu­ge­hen, aber im­mer ru­hig und un­er­schüt­tert, ganz wie eine von den Stür­men ge­wieg­te und ab­ge­här­te­te Mu­schel, ließ sich lan­ge bit­ten; dass er die­je­ni­ge sei­ner Schü­le­rin­nen nen­nen möch­te, wel­che er, mit sei­nen Lob­sprü­chen sonst so karg, dies­mal da­mit über­häuft hat­te. End­lich, in­dem er tat, als ob er den Bit­ten, die sei­ne Schlau­heit her­vor­ge­ru­fen, nur mit Wi­der­stre­ben wi­che, griff er nach dem Ma­gis­ter­sta­be, der ihm zum Takt­schla­gen diente, und trenn­te und teil­te mit­tels des­sel­ben sei­nen un­dis­zi­pli­nier­ten Hau­fen in zwei Rei­hen ab. End­lich schritt er zwi­schen die­sem dop­pel­ten Spa­lie­re leich­ter Köpf­chen hin­durch und blieb am Ende des Or­gel­cho­res vor ei­nem klei­nen We­sen ste­hen, das, die El­len­bo­gen auf die Knie ge­stützt, die Fin­ger in den Ohren, um nicht von dem Lärm ge­stört zu wer­den, sei­ne Auf­ga­be halb­laut, um nie­man­den zu stö­ren, ler­nend, und zu­sam­men­ge­bückt wie ein Äff­chen, auf ei­ner Stu­fe saß; mit fei­er­li­cher und tri­um­phie­ren­der Mie­ne blieb er ste­hen, den Fuß und den Arm vor­ge­streckt, wie Pa­ris der den Ap­fel reicht, hier nicht der Schöns­ten, aber der Folg­sams­ten.

– Con­sue­lo? die Spa­nie­rin? rie­fen in der ers­ten Über­ra­schung die jun­gen Cho­ris­tin­nen wie aus ei­nem Mun­de, dann brach ein all­ge­mei­nes, ho­me­ri­sches Ge­läch­ter aus und lock­te die Röte des Ver­drus­ses und des Zor­nes auf die ma­je­stä­ti­sche Stirn des Leh­rers. Die klei­ne Con­sue­lo, de­ren ver­stopf­te Ohren von der gan­zen Un­ter­re­dung nichts ge­hört hat­ten, und de­ren zer­streu­te Au­gen aufs Ge­ra­te­wohl um­her­blick­ten ohne et­was zu se­hen, so ver­tieft war sie in ihre Ar­beit, – Con­sue­lo merk­te An­fangs nicht im ge­rings­ten auf all den Tu­mult, und als sie end­lich die Auf­merk­sam­keit wahr­nahm, wel­che sie er­regt hat­te, ließ sie ihre Hän­de aus den Ohren auf ih­ren Schoß und ihr Heft von ih­rem Scho­ße auf die Erde fal­len; starr vor Er­stau­nen saß sie da, ver­wirrt nicht, doch ein we­nig er­schreckt, und zu­letzt stand sie auf und blick­te hin­ter sich, um zu se­hen, ob etwa dort ir­gend et­was Son­der­ba­res oder Lä­cher­li­ches wäre, das statt ih­rer zu ei­ner so lär­men­den Lus­tig­keit An­lass ge­ben moch­te.

– Con­sue­lo, sag­te der Mae­stro, in­dem er sie ohne wei­te­re Er­klä­rung bei der Hand nahm, komm her, mein gu­tes Kind, und sin­ge mir das Sal­ve Re­gi­na von Per­go­le­se, das du seit vier­zehn Ta­gen übst und wor­an die Clo­rin­de schon ein Jahr lernt.

Con­sue­lo ging, ohne zu ant­wor­ten, ohne Furcht, ohne Stolz, ohne Ver­le­gen­heit, mit dem Sing­leh­rer an die Or­gel; die­ser setz­te sich und gab mit tri­um­phie­ren­den Bli­cken sei­ner jun­gen Schü­le­rin den Ton an. Rein, ein­fach, ohne An­stren­gung sang Con­sue­lo und es klan­gen un­ter den tie­fen Wöl­bun­gen der Ka­the­dra­le hin die Töne der schöns­ten Stim­me, die je­mals dort er­schol­len war. Sie sang das Sal­ve Re­gi­na ohne sich des kleins­ten Ge­dächt­nis­feh­lers schul­dig zu ma­chen und ohne einen Ton zu wa­gen, der nicht un­ta­del­haft rein und voll ge­riet und im­mer am rech­ten Orte aus­ge­hal­ten oder los­ge­las­sen; sie folg­te nur ganz wil­len­los, aber mit der größ­ten Pünkt­lich­keit den An­wei­sun­gen, wel­che der ein­sich­ti­ge Leh­rer ihr ge­ge­ben hat­te, und führ­te mit ih­ren ge­wal­ti­gen Mit­teln die wohl­be­dach­ten und rich­ti­gen In­ten­tio­nen des treff­li­chen Man­nes aus; so leis­te­te sie mit der Uner­fah­ren­heit und Un­be­wusst­heit ei­nes Kin­des was wohl Kennt­nis, Fer­tig­keit und Be­geis­te­rung ei­ner vollen­de­ten Sän­ge­rin nicht voll­bracht hät­ten: sie sang mit Voll­kom­men­heit.

Recht gut, mein Kind, sag­te der alte Meis­ter, der mit sei­nem Lobe stets spar­sam war. Du hast mit Auf­merk­sam­keit stu­diert und du hast mit Be­wusst­sein ge­sun­gen. Das nächs­te Mal sollst du mir die Can­ta­te von Scar­lat­ti wie­der­ho­len, die ich dir ein­ge­übt habe.

Si, Si­gnor Pro­fes­so­re, ant­wor­te­te Con­sue­lo. Kann ich nun ge­hen?

– Ja, mein Kind. Mes­de­moi­sel­les, die Stun­de ist aus.

Con­sue­lo nahm ihre Hef­te, ih­ren Blei­stift und ih­ren klei­nen Fä­cher von schwar­zem Pa­pier, den ste­ten Beglei­ter der Spa­nie­rin wie der Ve­ne­zia­ne­rin, den sie zwar fast nie­mals brauch­te, aber im­mer bei sich hat­te, und tat das al­les in einen klei­nen Ko­ber. Dann ver­schwand sie hin­ter den Or­gel­pfei­fen, schlüpf­te be­händ wie ein Mäu­schen über die dunkle Trep­pe, die in die Kir­che hin­ab­führt, knie­te an dem Mit­tel­schiff vor­über­ei­lend einen Au­gen­blick nie­der, und eben als sie die Kir­che ver­las­sen woll­te, traf sie bei dem Weih­was­ser einen schö­nen Herrn, wel­cher ihr lä­chelnd den We­del reich­te. Wäh­rend sie nahm, schau­te sie ihm ge­ra­d’ ins Ge­sicht mit der Un­be­fan­gen­heit ei­nes klei­nen Mäd­chens, das sei­ne Weib­lich­keit noch nicht weiß und fühlt, und misch­te so ko­misch ihre Be­kreu­zi­gung mit ih­rem Dank, dass der jun­ge Herr zu la­chen an­hob. Con­sue­lo lach­te eben­falls; aber auf ein­mal, als ob es ihr ein­fie­le, dass sie er­war­tet wer­de, fing sie an zu lau­fen und hat­te im Au­gen­bli­cke Tür­schwel­le, Stu­fen und Vor­hal­le der Kir­che hin­ter sich ge­las­sen.

Un­ter­des­sen steck­te der Pro­fes­sor sei­ne Bril­le zum zwei­ten Male in sei­ne große Wes­ten­ta­sche, und sprach da­bei zu den Schü­le­rin­nen, wel­che ihn schwei­gend um­ga­ben:

– Schä­men Sie sich, mei­ne schö­nen De­moi­sel­les! sag­te er. Die­ses klei­ne Mäd­chen, die jüngs­te un­ter Ih­nen, die jüngs­te mei­ner Klas­se, ist die ein­zi­ge, die ein Solo or­dent­lich sin­gen kann, und in den Chö­ren lässt sie sich durch alle Dumm­hei­ten, wel­che Sie rechts und links ma­chen, nicht ir­re­füh­ren, son­dern ich höre sie im­mer rich­tig und si­cher wie einen Kla­vier­ton. Ei­fer und Aus­dau­er be­sitzt sie, und au­ßer­dem was Sie alle, wie Sie da sind, nicht ha­ben und nie­mals ha­ben wer­den: Be­wusst­sein!

– Aha! hat er sein Schlag­wort noch los­ge­las­sen! rief Co­stan­za, als er hin­aus war. Er hat es bloß neun und drei­ßig­mal wäh­rend der Stun­de an­ge­bracht, und er wäre wahr­haf­tig krank ge­wor­den, wenn ihm das vier­zigs­te ent­gan­gen wäre.

– Ein rech­tes Wun­der, wenn die Con­sue­lo Fort­schrit­te macht, sag­te Zu­li­et­ta. Sie ist so arm. Sie hat an wei­ter nichts zu den­ken als wie sie nur ge­schwind et­was ler­ne, um ihr Brot zu ver­die­nen.

– Ihre Mut­ter soll eine Zi­geu­ne­rin ge­we­sen sein, setz­te Mi­che­li­na hin­zu, und die Klei­ne hör’ ich, hat auf Gas­sen und Land­stra­ßen ge­sun­gen, ehe sie hier­her kam. Eine schö­ne Stim­me hat sie, das kann man nicht be­strei­ten; aber sie hat nicht ein Fünk­chen Geist, das arme Ding. Sie lernt aus­wen­dig, sie folgt skla­visch den An­wei­sun­gen des Pro­fes­sors, und dann tut ihre gute Lun­ge das Üb­ri­ge.

– Mag ihre Lun­ge noch so gut sein, und hät­te sie noch so viel Geist oben­ein, sag­te die schö­ne Clo­rin­da, so möch­te ich doch nicht mit ihr tau­schen, wenn ich mei­ne Ge­stalt für die ih­ri­ge hin­ge­ben müss­te.

– Da wür­dest Du auch nicht so gar viel ver­lie­ren, ent­geg­ne­te die Co­stan­za, wel­che nie­mals große Lust hat­te, Clo­rin­dens Schön­heit an­zu­er­ken­nen.

– Nein! schön ist sie nicht, sag­te eine an­de­re, sie ist gelb wie eine Os­ter­ker­ze und ihre großen Au­gen sind so nichts­sa­gend, auch ist sie im­mer so schlecht an­ge­zo­gen: ge­wiss, ganz gars­tig ist sie. – Ar­mes Mäd­chen! o, es ist ein recht großes Un­glück für sie, das al­les. Kein Ver­mö­gen, kei­ne Rei­ze!

So en­de­te Con­sue­lo’s Lob; durch die­ses Be­dau­ern hiel­ten sich die an­de­ren für die Be­wun­de­rung schad­los, wel­che ih­nen der Ge­sang des Mäd­chens ab­ge­nö­tigt hat­te.

2.

Es trug sich die­ses in Ve­ne­dig zu, vor etwa hun­dert Jah­ren und zwar in der Kir­che der Men­di­can­ti, als eben der be­rühm­te Mae­stro Por­po­ra da­selbst die Pro­ben der großen Ve­s­per­mu­sik be­schloss, wel­che er zu Ma­riä Him­mel­fahrt nächs­ten Sonn­tag aus­zu­füh­ren hat­te. Die jun­gen Cho­ris­tin­nen, die so wa­cker von ihm aus­ge­schol­ten wur­den, wa­ren Frei­schü­le­rin­nen je­ner Scuo­la, wel­che die Re­pu­blik un­ter­hielt, um jun­ge Mäd­chen dar­in aus­zu­bil­den und spä­ter aus­zu­stat­ten – soit pour le ma­ria­ge, soit pour le cloître, sagt Jean Jac­ques Rous­seau, der ih­ren herr­li­chen Ge­sang ge­ra­de auch um jene Zeit und in der­sel­ben Kir­che be­wun­dert hat. Ge­wiss er­in­nerst du dich, lie­ber Le­ser! sei­ner Schil­de­rung und der rei­zen­den Epi­so­de im 7. Bu­che der Con­fes­si­ons. Ich wer­de mich wohl hü­ten, die­se Paar Sei­ten, die ent­zückend sind, dir hier ab­zu­schrei­ben, denn die mei­ni­gen wür­dest du da­nach nicht wie­der in die Hand neh­men mö­gen; und ich an dei­ner Stel­le, lie­ber Le­ser, wür­de es eben so ma­chen. Ich will nun hof­fen, dass du die Con­fes­si­ons nicht ge­ra­de bei der Hand hast, und in mei­ner Ge­schich­te fort­fah­ren.

Nicht alle die­se jun­gen Mäd­chen wa­ren gleich arm, und es ist kein Zwei­fel, dass der äu­ßerst ge­wis­sen­haf­ten Ver­wal­tung un­ge­ach­tet man­che mit ein­schlüpf­ten, für wel­che es weit mehr eine Spe­ku­la­ti­on als ein Be­dürf­nis war, auf Kos­ten der Re­pu­blik ih­ren Un­ter­richt in der Kunst und eine Aus­stat­tung zu er­hal­ten. Da­her er­laub­ten es sich man­che die hei­li­gen Ge­set­ze der Gleich­heit zu ver­ges­sen, un­ter de­ren An­ru­fung es ih­nen ge­lun­gen war, sich auf die­sel­ben Bän­ke mit ih­ren wirk­lich ar­men Schwes­tern zu steh­len. Man­che ent­zo­gen sich dann wohl wie­der der erns­ten Be­stim­mung, wel­che die Re­pu­blik ih­nen zu­ge­dacht hat­te, und ver­zich­te­ten, nach­dem sie den Vor­teil des un­ent­geld­li­chen Un­ter­richts ge­nos­sen hat­ten, auf die Mit­gift, um an­der­wei­tig sich ein glän­zen­de­res Loos zu be­rei­ten. Die Ver­wal­tung hat­te es nicht ver­mei­den kön­nen, zu den Lehr­stun­den bis­wei­len auch die Kin­der ar­mer Künst­ler zu­zu­las­sen, de­nen ihr un­stä­tes Le­ben kei­nen län­ge­ren Auf­ent­halt in Ve­ne­dig ge­stat­te­te. Zu die­ser Klas­se ge­hör­te die klei­ne Con­sue­lo. Sie war in Spa­ni­en ge­bo­ren und von dort nach Ita­li­en ge­kom­men, ich weiß nicht ob über St. Pe­ters­burg oder Con­stan­ti­no­pel, Me­xi­ko, Archan­gel oder auf ei­nem Wege, noch di­rek­ter, nach Zi­geu­ner­art, als die ge­nann­ten.

Zi­geu­ne­rin war sie nur durch Le­bens­wei­se und nach dem Re­de­ge­brauch, von Ab­kunft war sie we­der ir­gend­wie Gi­ta­na, noch Hin­du, noch Is­rae­li­tin; sie war von rei­nem spa­ni­schem Blu­te, von mau­ri­schem Ur­sprung ohne Zwei­fel, denn sie war so ziem­lich braun und ihr gan­zes We­sen war von ei­ner Ruhe, wie sol­che nicht den um­her­schwei­fen­den Stäm­men ei­gen ist. Ich will hier­mit von die­sen Stäm­men nichts Übles ge­sagt ha­ben. Hät­te ich mir Con­sue­lo’s Ge­stalt er­dacht, so weiß ich nicht, ob ich sie nicht von Is­rael hät­te aus­ge­hen las­sen: so aber war sie von der Rip­pe Is­ma­els ent­stammt, ihr gan­zes We­sen ver­riet das. Ich habe sie nicht ge­se­hen, denn hun­dert Jah­re bin ich noch nicht alt, aber man hat es mir ver­si­chert, und ich wüss­te nicht, was sich da­wi­der sa­gen lie­ße. Je­ner Wech­sel von fie­bri­schem Un­ge­stüm und stump­fer Ab­span­nung, wel­cher die Zin­ga­rel­le be­zeich­net, war ihr fremd. Sie hat­te nichts von der ge­schmei­di­gen Neu­gier und der un­er­müd­li­chen Zu­dring­lich­keit ei­ner bet­teln­den Eb­brea. Sie war so still wie das Was­ser der La­gu­nen und zu­gleich so ämsig wie die leich­ten Gon­deln, wel­che die Flä­che des­sel­ben un­abläs­sig durch­fur­chen.

Da sie schnell wuchs und da sich ihre Mut­ter in großer Dürf­tig­keit be­fand, so trug sie Klei­der, wel­che ihr im­mer um ein Jahr zu kurz wa­ren: ih­ren lan­gen vier­zehn­jäh­ri­gen Bei­nen gab dies eine sol­che Art von wil­der Gra­zie und Dreis­tig­keit des Schrei­tens, dass es zu­gleich lus­tig und trau­rig an­zu­se­hen war. Ihr Fuß ließ nicht er­ken­nen, ob er klein sei, so plump war er be­klei­det. Ihr Wuchs da­ge­gen, um­spannt von dem zu eng ge­wor­de­nen und an al­len Näh­ten durch­bro­che­nen Leib­chen, zeig­te sich schlank und bieg­sam wie eine Pal­me, aber form­los, nicht ge­run­det, nicht ver­füh­re­risch. Das arme Mäd­chen dach­te dar­an nicht. Sie war es ge­wohnt, sich »Affe«, »Citro­ne«, »Mu­lat­tin« von den blon­den, wei­ßen und völ­li­gen Töch­tern der Adria schel­ten zu hö­ren. Ihr run­des, blei­ches, un­be­deu­ten­des Ge­sicht wür­de nie­man­den auf­ge­fal­len sein, wenn nicht ihr kur­z­es, dich­tes, hin­ter den Ohren zu­rück­ge­wor­fe­nes Haar und ihr ernst­haf­ter, auf kei­nem Ge­gen­stan­de ver­wei­len­der Blick die­sem Ge­sich­te eine ei­ge­ne, nicht ge­ra­de an­ge­neh­me Son­der­bar­keit ge­ge­ben hät­ten.

Ein Äu­ße­res, das nie miss­fällt, ver­liert mehr und mehr die Fä­hig­keit, zu ge­fal­len. Wer ein sol­ches hat, wird durch die Gleich­gül­tig­keit an­de­rer gleich­gül­tig ge­gen sich selbst ge­macht und nimmt eine Ver­nach­läs­si­gung der Hal­tung an, wel­che im­mer mehr die Auf­merk­sam­keit von ihm ab­wen­det. Die Schön­heit nimmt sich in Acht, rich­tet sich ein, hält auf sich, be­trach­tet sich und stellt sich gleich­sam stets sich selbst in ei­nem ein­ge­bil­de­ten Spie­gel vor Au­gen. Die Häss­lich­keit ver­gisst sich und lässt sich ge­hen. Doch gibt es zwei ver­schie­de­ne Ar­ten: die eine fühlt sich von Al­len ver­wor­fen und sträubt sich da­wi­der in ste­ter Re­gung von Wut und Neid – das ist die wah­re, die un­be­ding­te Häss­lich­keit; die an­de­re ist un­be­fan­gen, sorg­los, hat sich be­schie­den, scheu­et nicht das Ur­teil und sucht es nicht, ge­winnt aber die Her­zen, in­dem sie den Au­gen wehe tut – so war Con­sue­lo’s Häss­lich­keit. Wohl­tä­ter, die sich ih­rer an­nah­men, mein­ten wohl zu­erst: wie Scha­de, dass sie nicht hübsch ist! be­san­nen sich dann und nah­men den Kopf des Kin­des so ver­trau­lich, wie man der Schön­heit nicht be­geg­net, in die Höhe.

»Man sieht dir’s am Ge­sicht an, Klei­ne!« sag­ten sie nun, »du bist ein gu­tes Ge­schöpf.«

Dar­über freu­te sich Con­sue­lo, ob­gleich sie recht gut wuss­te, dass dies hieß: »und bist eben wei­ter nichts.«

In­des­sen blieb der schö­ne, jun­ge Herr, wel­cher ihr Weih­was­ser ge­reicht hat­te, bei dem Weih­kes­sel ste­hen und ließ die jun­gen »Sco­la­ri« eine nach der an­de­ren an sich vor­über­ge­hen. Er be­trach­te­te eine jede mit Auf­merk­sam­keit, und als die schöns­te von ih­nen, die Clo­rin­da, her­bei­kam, teil­te er ihr das ge­weih­te Was­ser mit den Fin­gern mit, um des Ver­gnü­gens wil­len, die ih­ri­gen zu be­rüh­ren. Das jun­ge Mäd­chen wur­de rot vor Stolz und warf im Wei­ter­ge­hen ihm je­nen halb scheu­en halb dreis­ten Blick zu, wel­cher der Aus­druck we­der des Selbst­ver­trau­ens noch der Scham ist.

Nach­dem sie alle in das In­ne­re des Klos­ters ein­ge­tre­ten wa­ren, wen­de­te sich der ga­lan­te Pa­tri­zi­er wie­der dem Schif­fe zu und re­de­te den Pro­fes­sor an, der in­zwi­schen lang­sa­mer von der Em­po­re her­ab­ge­stie­gen war.

– Beim Leib des Bac­chus, rief er, lie­ber Meis­ter! ihr müsst mir sa­gen, wel­che von eu­ren Ele­ven das Sal­ve Re­gi­na ge­sun­gen hat.

– Und wes­we­gen be­gehrt ihr das zu wis­sen, Graf Zus­ti­nia­ni? ent­geg­ne­te der Pro­fes­sor, wäh­rend sie mit­ein­an­der aus der Kir­che tra­ten.

– Um euch mein Kom­pli­ment zu ma­chen, ant­wor­te­te der Pa­tri­zi­er. Seit lan­ger Zeit ver­fol­ge ich eure Ve­s­per­mu­si­ken, und bis in die Pro­ben so­gar, denn es ist euch be­kannt, wie sehr ich di­let­tan­te der hei­li­gen Mu­sik bin – aber heut zum ers­ten male habe ich ein Stück vom Per­go­le­se mit sol­cher Voll­kom­men­heit sin­gen hö­ren; und die Stim­me an­lan­gend, so ist es wahr­haf­tig die schöns­te, die ich Zeit mei­nes Le­bens ge­hört habe.

– Glaub’s wohl, beim Christ! ver­setz­te der Pro­fes­sor und nahm mit Be­ha­gen und mit Wür­de eine große Pri­se Ta­bak.

– Sagt mir also den Na­men die­ses himm­li­schen We­sens, das mich so hoch ent­zückt hat. Wie barsch ihr auch seid, und wie­wohl ihr ewig klagt, so muss man doch ge­ste­hen, dass ihr aus eu­rer Schu­le eine der bes­ten in ganz Ita­li­en ge­macht habt; vor­treff­lich sind eue­re Chö­re und eue­re Soli wirk­lich sehr schätz­bar; je­doch sind die Mu­sik­stücke, wel­che ihr auf­füh­ren las­set, von so großem und stren­gem Stil, dass es den jun­gen Mäd­chen nur sel­ten ge­lingt alle Schön­hei­ten der­sel­ben zur Emp­fin­dung zu brin­gen.

– Sie brin­gen sie nicht zur Emp­fin­dung, sag­te der Pro­fes­sor trau­rig, weil sie sel­ber nichts da­von emp­fin­den! An fri­schen um­fang­rei­chen und me­tall­rei­chen Stim­men ha­ben wir, Gott sei Dank, kei­nen Man­gel; aber die in­ne­re mu­si­ka­li­sche An­la­ge, hilf Him­mel! wie sel­ten ist die und wie un­zu­läng­lich!

– We­nigs­tens be­sit­zet ihr doch eine von be­wun­derns­wür­di­gen Ga­ben. Ein herr­li­ches In­stru­ment, voll­kom­me­nes Ge­fühl und be­merk­li­che Schu­le! Sagt mir doch, wer es ist.

– Nicht wahr, ent­geg­ne­te der Pro­fes­sor, in­dem er die Fra­ge des Gra­fen über­ging, ihr habt eue­re Freu­de dar­an ge­habt?

– Sie hat mir an’s Herz ge­grif­fen, sie hat mir Trä­nen ent­lockt; und mit so ein­fa­chen Mit­teln, mit so un­ge­such­ten Ef­fek­ten, dass ich bis heu­te kei­ne Ah­nung von der Mög­lich­keit hat­te. Üb­ri­gens habe ich mich der Wor­te er­in­nert, die ihr mir beim Un­ter­rich­te in eue­rer gött­li­chen Kunst so oft wie­der­holt habt, teu­rer Meis­ter! und zum ers­ten male habe ich de­ren Wahr­heit be­grif­fen.

– Was habe ich euch denn ge­sagt? ver­setz­te der Mae­stro, in­dem sein Ge­sicht glänz­te.

– Ihr habt ge­sagt, er­wi­der­te der Graf, das Gro­ße, Wah­re und Schö­ne in den Küns­ten ist das Ein­fa­che.

– Ich sag­te euch aber auch, dass wir das Bril­lan­te, das Ge­wähl­te, das Kun­strei­che ha­ben, Ei­gen­schaf­ten de­nen man un­ter Um­stän­den eben­falls die Ach­tung und den Bei­fall nicht ver­sa­gen kann?

– Ohne Zwei­fel. Je­doch zwi­schen die­sen un­ter­ge­ord­ne­ten Ei­gen­schaf­ten und den wahr­haf­ten Of­fen­ba­run­gen des Ge­ni­us ist ein Ab­grund, sag­tet ihr. Wohl­an, teu­rer Meis­ter! eue­re Sän­ge­rin steht auf der einen Sei­te, sie ganz al­lein, und alle die an­de­ren ste­hen drü­ben.

– Wahr, be­merk­te der Pro­fes­sor sich die Hän­de rei­bend, wahr und gut ge­sagt!

– Sie heißt? nahm wie­der der Graf das Wort.

– Wer? frag­te bos­haft der Pro­fes­sor.

O, per Dio San­to, jene Si­re­ne, oder viel­mehr der Erz­en­gel des­sen Ge­sang ich hör­te.

– Und was liegt denn an ih­rem Na­men, Herr Graf? sag­te Por­po­ra mit stren­gem Tone.

– Und warum wollt ihr aus die­sem Na­men ein Ge­heim­nis ma­chen, Herr Pro­fes­sor?

– Ich wer­de euch sa­gen: warum, so­bald ihr mir ge­sagt ha­ben wer­det, wes­we­gen ihr so hit­zig seid, ihn zu er­fah­ren.

– Ist es nicht ein sehr na­tür­li­ches und in der Tat un­wi­der­steh­li­ches Ge­fühl, wel­ches uns an­treibt das zu ken­nen, zu nen­nen, zu er­bli­cken, was un­se­re Be­wun­de­rung er­regt?

– Sehr wohl, das ist aber nicht euer ein­zi­ger Be­weg­grund; er­laubt mir, teue­rer Graf, euch hier­in Lü­gen zu stra­fen. Ich weiß wohl, ihr seid ein großer Mu­sik­freund und ein Ken­ner, aber ihr seid da­ne­ben auch der Ei­gen­tü­mer des Thea­ters San Sa­mu­el. Es ist euer In­ter­es­se und noch mehr der Ruhm, den ihr dar­ein set­zet, die bes­ten Ta­len­te und die schöns­ten Stim­men Ita­li­ens her­an­zu­zie­hen. Ihr wis­set wohl, dass bei uns die gute Schu­le ist, dass nur bei uns die stren­gen Stu­di­en ge­macht und die großen Sän­ge­rin­nen ge­bil­det wer­den. Die Co­ril­la habt ihr uns schon weg­ge­fischt, und da sie euch viel­leicht nächs­tens durch ein an­der­wei­ti­ges En­ga­ge­ment wie­der weg­ge­nom­men wird, so streicht ihr um un­se­re Schu­le her­um und spü­ret, ob wir nicht wie­der so eine Co­ril­la ha­ben, die ihr dann auf dem Sprun­ge steht, uns weg­zu­schnap­pen. Die­ses ist die Wahr­heit, mein Herr Graf! be­ken­nen Sie, dass ich die Wahr­heit ge­sagt habe.

– Und wenn auch, teu­rer Mae­stro, ent­geg­ne­te der Graf lä­chelnd, was tut das und was für Übles fin­det ihr dar­in?

– Was für Übe­les? Ei, ein sehr großes, Herr Graf! Ihr ver­führt, ihr ver­derbt die­se ar­men Ge­schöp­fe.

– Hol­la, wie meint ihr das, tol­ler Pro­fes­sor? Seit wann habt ihr euch denn zum Pa­ter Guar­di­an die­ser brech­li­chen Tu­gen­den ge­macht?

– Ich mei­ne das, wie es recht ist, Herr Graf, und ich küm­me­re mich nicht um ihre Tu­gend und nicht um ihre Brech­lich­keit: aber ich küm­me­re mich um ihr Ta­lent, das ihr auf eue­ren Thea­tern ver­bil­det und zu Grun­de rich­tet, in­dem ihr sie ge­mei­nes und ge­schmack­lo­ses Zeug sin­gen las­set. Ist es nicht ein Jam­mer und eine Schan­de, die­se Co­ril­la, die auf dem bes­ten Wege war, die erns­te Kunst groß­ar­tig zu er­fas­sen, die­se Co­ril­la von dem Hei­li­gen zum Pro­fa­nen, vom Ge­bet zu den Pos­sen, vom Al­ta­re zu den Bret­tern, vom Er­ha­be­nen zum Lä­cher­li­chen, von Al­le­gri und Pa­le­stri­na zu ei­nem Al­bi­no­ni und dem Bart­sche­rer Apol­li­ni her­ab­stei­gen zu se­hen?

– So­mit schlagt ihr es mir aus Ri­go­ris­mus ab, die­ses Mäd­chen zu nen­nen, auf wel­ches ich gar nicht ein­mal Ab­sich­ten ha­ben kann, da ich ja nicht weiß ob sie die üb­ri­gen für das Thea­ter not­wen­di­gen Ei­gen­schaf­ten be­sitzt?

– Ich schla­ge es euch rund ab.

– Und ihr meint wirk­lich, dass ich sie nicht ent­de­cken wer­de?

– Lei­der! ent­de­cken wer­det ihr sie, wenn ihr es euch vor­setz­tet: aber ich wer­de mein Mög­lichs­tes tun, um zu ver­hü­ten, dass ihr sie uns ent­rei­ßet.

– Wohl­an, Meis­ter, halb seid ihr schon be­siegt: denn eue­re ge­heim­nis­vol­le Göt­tin habe ich ge­se­hen, habe ich er­ra­ten, habe ich er­kannt.

– So? sag­te der Mae­stro mit ei­ner zwei­feln­den und zu­rück­hal­ten­den Mie­ne, seid ihr eue­rer Sa­che auch ge­wiss?

– Mei­ne Au­gen und mein Herz ha­ben sie mir ver­ra­ten, und um euch zu über­zeu­gen, will ich euch ihr Bild ent­wer­fen. Sie ist groß ge­wach­sen: sie ist, glaub’ ich, die größ­te von al­len eu­ern Schü­le­rin­nen; sie ist weiß wie der Schnee von Fri­aul und ro­sen­wan­gig wie der Mor­gen­him­mel ei­nes hei­te­ren Ta­ges. Sie hat Haa­re von Gold, Au­gen von Azur, eine lieb­li­che Kör­per­fül­le und am Fin­ger trägt sie einen klei­nen Ru­bin, der mei­ne Hand strei­fend mich in Flam­men ge­setzt hat wie ein ma­gi­scher Fun­ke.

– Bra­vo, rief Por­po­ra, spöt­tisch lä­chelnd. In die­sem Fal­le habe ich euch nichts zu ver­heim­li­chen. Eue­re Schön­heit ist – die Clo­rin­de. Geht doch hin und macht ihr eue­re ver­lo­cken­den An­trä­ge. Bie­tet ihr Gold, Dia­man­ten, Putz. Ihr wer­det sie ohne Mühe für eue­re Trup­pe ge­win­nen, und sie wird euch auch wohl die Co­ril­la er­set­zen kön­nen. Denn euer heu­ti­ges Thea­ter­pu­bli­kum zieht ja ein paar schö­ne Schul­tern ei­ner schö­nen Stim­me, und ein paar her­aus­for­dern­de Au­gen ei­nem ge­bil­de­ten Geis­te vor.

– Soll­te ich mich ge­täuscht ha­ben, lie­ber Meis­ter? frag­te der Graf ein we­nig irre ge­wor­den: wäre die Clo­rin­de nichts wei­ter als eine ge­mei­ne Schön­heit?

– Und wenn nun mei­ne Si­re­ne, mei­ne Göt­tin, mein Erz­en­gel, wie ihr sie zu nen­nen be­liebt, nichts we­ni­ger als schön wäre? ver­setz­te der Mae­stro bos­haft.

– Wenn sie miss­ge­stal­tet wäre, so will ich euch bit­ten, sie mir nie­mals zu zei­gen; denn mein schö­ner Traum wäre zu grau­sam zer­stört. Wäre sie aber bloß häss­lich, so wäre ich im­stan­de, sie im­mer noch an­zu­be­ten; nur für das Thea­ter wür­de ich sie dann nicht en­ga­gie­ren, denn Ta­lent ohne Schön­heit ist nicht sel­ten für ein Weib ein Un­glück, ein Kampf, eine Mar­ter. Wo­nach seht ihr, Mae­stro, und wes­halb bleibt ihr ste­hen?

– Hier ist der Platz, wo die Gon­deln hal­ten, und es ist kei­ne da. Aber ihr, Graf, wor­auf hef­tet ihr eue­re Bli­cke?

– Ich sehe nur, ob nicht der Ben­gel da, der auf den Stu­fen der An­län­de ne­ben ei­nem klei­nen, ziem­lich häss­li­chen Mäd­chen sitzt, mein Schütz­ling An­zo­le­to ist, wahr­haf­tig der auf­ge­weck­tes­te und hüb­sche­s­te von al­len un­se­ren Gas­sen­bu­ben. Seht ihn euch an, lie­ber Meis­ter; das ist et­was für euch so gut wie für mich. Die­ser Jun­ge hat die schöns­te Te­nor­stim­me, die in Ve­ne­dig zu fin­den ist, und eine ver­zwei­fel­te Lie­be zur Mu­sik und ganz un­glaub­li­che Fä­hig­kei­ten. Ich woll­te euch schon lan­ge von ihm er­zäh­len und euch bit­ten, ihm Stun­den zu ge­ben. Die­ser ist es, auf den ich wahr­haf­tig die Hoff­nung mei­nes Thea­ters baue und er wird mich, den­ke ich, in ei­ni­gen Jah­ren für das was ich auf ihn wen­de, reich be­loh­nen. Heda, Zoto! komm her, mein Kind, ich will dich dem be­rühm­ten Meis­ter Por­po­ra vor­stel­len.

An­zo­le­to’s nack­te Füße spiel­ten im Was­ser, wäh­rend er da­mit be­schäf­tigt war, Mu­scheln von je­ner zier­li­chen Ar, die der Ve­ne­tia­ner poe­tisch fio­ri de ma­re nennt, ver­mit­telst ei­ner großen Na­del zu durch­boh­ren. Als ihn der Graf rief, sprang er auf. Er trug nichts auf dem Lei­be als ein recht ab­ge­nutz­tes Bein­kleid und ein ziem­lich fei­nes, aber sehr zer­ris­se­nes Hemd, wel­ches sei­ne wei­ßen und gleich de­nen ei­nes an­ti­ken Bac­chus­kna­ben mo­de­lier­ten Schul­tern durch­bli­cken ließ. Sei­ne Schön­heit war in der Tat die­je­ni­ge, mit wel­cher der grie­chi­sche Künst­ler einen jun­gen Faun aus­ge­stat­tet ha­ben wür­de, und sei­ne Ge­sichts­bil­dung zeig­te das an je­nen Schöp­fun­gen der heid­nischen Plas­tik so häu­fig uns be­geg­nen­de, ganz ei­gen­tüm­li­che Ge­misch von träu­me­ri­scher Schwer­mut und spöt­ti­scher Un­be­sorgt­heit. Sein krau­ses aber wei­ches Haar, hell­blond und von der Son­ne nur ein we­nig ge­bräunt, um­gab in tau­send dich­ten, kur­z­en Rin­gellöck­chen sei­nen Ala­bas­ter­hals. Alle sei­ne Züge wa­ren voll­kom­men schön; aber et­was all­zu Keckes lag in dem durch­drin­gen­den Blick sei­ner pech­schwar­zen Au­gen, was dem Pro­fes­sor nicht ge­fiel. Er warf alle sei­ne Mu­scheln in den Schoß des Mäd­chens wel­ches ne­ben ihm saß, und wäh­rend die­ses, ohne sich stö­ren zu las­sen, fort­fuhr sie mit klei­nen Gold­per­len ge­mischt auf­zu­rei­hen, trat er zu Zus­ti­nia­ni, dem er nach Lan­des­sit­te die Hand küss­te.

– In der Tat ein hüb­scher Jun­ge, sag­te der Pro­fes­sor, ihm die Ba­cke klop­fend; aber er scheint sich mit Spie­len zu be­lus­ti­gen, die doch zu kin­disch für sein Al­ter sind; denn er ist wohl ein acht­zehn Jah­re alt, nicht so?

– Neun­zehn, Sior Pro­fe­sor! ent­geg­ne­te An­zo­le­to in sei­nem ve­ne­tia­ni­schen Dia­lek­te; wenn ich mich aber mit den Mu­scheln be­lus­ti­ge, so tu’ ich das nur um der klei­nen Con­sue­lo zu hel­fen, wel­che Hals­ket­ten macht.

– Con­sue­lo, sag­te der Meis­ter, in­dem er mit dem Gra­fen und An­zo­le­to zu sei­ner Schü­le­rin trat, ich hät­te nicht ge­dacht, dass du so putz­süch­tig wä­rest.

– O nein, ich ma­che das nicht für mich, Herr Pro­fes­sor! ent­geg­ne­te Con­sue­lo, in­dem sie sich nur halb er­hob, aus Vor­sicht, da­mit die Mu­scheln, die sie in der Schür­ze hat­te, nicht ins Was­ser fie­len; ich ma­che das zum Han­del, und um Reis und Mais ein­zu­kau­fen.

– Sie ist arm, und sie er­nährt ihre Mut­ter, sag­te Por­po­ra. Höre, Con­sue­lo, wenn ihr in Ver­le­gen­heit seid, dei­ne Mut­ter und du, so musst du zu mir kom­men, aber zu bet­teln ver­bie­te ich dir, hörst du wohl?

– O Sie brau­chen ihr das nicht zu ver­bie­ten, Sior Pro­fe­sor, fiel ihm An­zo­le­to leb­haft in die Rede, sie wür­de es auch von selbst nicht tun, und ich, ich wür­de es nicht lei­den.

– Du! du hast ja auch nichts, sag­te der Graf.

– Nichts, als Ihre Wohl­ta­ten, gnä­digs­ter Herr! aber wir tei­len, die Klei­ne und ich.

– Sie ist also eine Ver­wand­te; von dir?

– Nein, eine Frem­de, es ist Con­sue­lo.

– Con­sue­lo? Wun­der­li­cher Name! sag­te der Graf.

– Ein schö­ner Name, Ew. Gna­den, fiel An­zo­le­to ein; er be­deu­tet Trost.

– Gut; sie ist, wie es scheint, dei­ne Freun­din?

– Mei­ne Braut ist sie, Herr!

– Schon? Se­het da, die­se Kin­der den­ken schon an die Hoch­zeit.

– Ja wir ma­chen an dem Tage Hoch­zeit wo Sie mein En­ga­ge­ment beim Thea­ter San Sa­mu­el aus­fer­ti­gen wer­den, gnä­di­ger Herr!

– In die­sem Fal­le wer­det ihr noch lan­ge war­ten, Kin­der­chen!

– Oh, wir wol­len schon war­ten, sag­te Con­sue­lo mit der hei­te­ren Ruhe der Un­schuld.

Der Graf und der Mae­stro er­götz­ten sich ei­ni­ge Au­gen­bli­cke an der Ein­falt und an den Ant­wor­ten die­ses jun­gen Paa­res; nach­dem sie als­dann noch dem An­zo­le­to die Zeit be­stimmt hat­ten, wann er nächs­ten Ta­ges zu dem Pro­fes­sor kom­men soll­te; um sei­ne Stim­me prü­fen zu las­sen, ent­fern­ten sie sich und über­lie­ßen die Kin­der ih­rem wich­ti­gen Ge­schäf­te.

– Wie ge­fällt euch die­ses klei­ne Mäd­chen? sag­te der Pro­fes­sor zu Zus­ti­nia­ni.

– Ich hat­te sie vor ei­nem Weil­chen schon ge­se­hen, und ich fin­de sie häss­lich ge­nug, um das Sprich­wort zu recht­fer­ti­gen: Ei­nem acht­zehn­jäh­ri­gen Blu­te dünkt je­des Weib schön.

– Recht so, ant­wor­te­te der Pro­fes­sor, nun­mehr kann ich euch sa­gen, wer eure gött­li­che Sän­ge­rin, eure Si­re­ne, eure ge­heim­nis­vol­le Schön­heit ist – Con­sue­lo!

– Die­ses die­ses un­sau­be­re Ding, die­ser schwar­ze, ma­ge­re Spreng­sel? Nicht mög­lich, Mae­stro.

– Nichts de­sto we­ni­ger wahr, Herr Graf! Sagt, wür­de sie nicht eine höchst ver­füh­re­ri­sche Pri­ma Don­na ab­ge­ben?

Der Graf stand still, schau­te sich um, be­trach­te­te Con­sue­lo noch ein­mal von fern, und schlug dann in ko­mi­scher Verzweif­lung die Hän­de zu­sam­men. Ge­rech­ter Him­mel! rief er aus, kannst du dich so ver­grei­fen, und das Feu­er des Ge­ni­us in ein so schlecht ge­mei­ßel­tes Ge­fäße gie­ßen!

– Also ihr ver­zich­tet auf eure straf­ba­ren Plä­ne? sag­te der Pro­fes­sor.

– Ganz ge­wiss.

– Ver­sprecht ihr mir das? füg­te Por­po­ra hin­zu.

– Noch mehr, ich schwö­re es euch, ent­geg­ne­te der Graf.

3.

Auf­ge­schos­sen un­ter dem ita­lie­ni­schen Him­mel, er­zo­gen von dem Zu­fall wie ein Vo­gel am Stran­de, arm, ver­waist, ver­las­sen, und doch glück­lich in der Ge­gen­wart, und voll Ver­trau­en in sei­ne Zu­kunft, wie ein Kind der Lie­be, was er ohne Zwei­fel war, hat­te An­zo­le­to, die­ser hüb­sche Jun­ge von neun­zehn Jah­ren, an der klei­nen Con­sue­lo, der zur Sei­te er auf dem Pflas­ter Ve­ne­digs in volls­ter Frei­heit sei­ne Tage ver­brach­te, wohl schwer­lich sei­ne ers­te Lieb­schaft. In die leich­ten Freu­den ein­ge­weiht, die sich ihm mehr als ein­mal dar­ge­bo­ten, wür­de er viel­leicht schon ent­kräf­tet und ver­derbt ge­we­sen sein, hät­te er in un­se­rem trau­ri­gen Kli­ma ge­lebt, oder wäre er min­der reich von der Na­tur be­gabt ge­we­sen. Al­lein bei frü­her Ent­wick­lung und ei­ner kräf­ti­gen An­la­ge zu ei­ner aus­dau­ern­den Männ­lich­keit, hat­te er sein Herz rein und sei­ne Sinn­lich­keit un­ter der Herr­schaft sei­nes Wil­lens er­hal­ten. Der Zu­fall hat­te ihn mit der klei­nen Spa­nie­rin zu­sam­men­ge­führt, vor den Ma­don­nen­bil­dern, wo sie ihre An­dacht absang; aus Lust, sei­ne Stim­me zu üben, hat­te er mit ihr beim Ster­nen­lich­te gan­ze Aben­de hin­durch ge­sun­gen. Dann tra­fen sie ein­an­der auf dem San­de des Lido wo sie Mu­scheln auf­la­sen, er um sie zu es­sen, sie um Ro­sen­krän­ze und Schmuck dar­aus zu ma­chen. Dann wie­der fan­den sie sich in der Kir­che, wo sie von Her­zen zu dem gu­ten Got­te be­te­te, er mit al­len Au­gen nach den schö­nen Da­men schau­te. Und bei al­len die­sen Be­geg­nun­gen war ihm Con­sue­lo so gut, so lieb, so freund­lich, so fröh­lich vor­ge­kom­men, dass er ihr Freund und ihr un­zer­trenn­li­cher Ge­fähr­te ge­wor­den war, er wuss­te selbst nicht recht, warum und wie. An­zo­le­to kann­te von der Lie­be noch nichts als das Ver­gnü­gen. Er emp­fand Freund­schaft für Con­sue­lo, und ei­nem Vol­ke und Lan­de an­ge­hö­rend, wo mehr die Lei­den­schaf­ten als die Zu­nei­gun­gen herr­schen, wuss­te er die­ser Freund­schaft kei­nen an­de­ren Na­men als den der Lie­be zu ge­ben. Con­sue­lo ließ sich die­se Re­dens­art ge­fal­len, nach­dem sie dem An­zo­le­to fol­gen­den Ein­wand ge­macht hat­te: »Wenn du sagst, dass du mein Lieb­ha­ber bist, so wirst du mich also hei­ra­ten?« wor­auf er ihr geant­wor­tet hat­te: »Ei frei­lich, wenn dir’s recht ist, so hei­ra­ten wir ein­an­der.« Dies war dem­nach von Au­gen­blick an eine ab­ge­mach­te Sa­che. Vi­el­leicht war es von Sei­ten An­zo­le­to’s nur ein Spiel, wäh­rend Con­sue­lo mit al­lem Ver­trau­en der Welt dar­an glaub­te. Ge­wiss ist so­viel, dass sein jun­ges Herz schon jene strei­ten­den Ge­füh­le und jene ver­wor­re­nen Re­gun­gen in sich spür­te, die über­sät­tig­ten Men­schen das In­ne­re be­stür­men und zer­rei­ßen.

Hef­ti­gen Be­gier­den Preis ge­ge­ben, ver­gnü­gungs­süch­tig, nur das lie­bend was ihn glück­lich mach­te, aber al­les was sich sei­nen Freu­den ent­ge­gen­stell­te has­send und flie­hend, durch und durch eine Künst­ler­na­tur d. h. die das Le­ben mit ei­ner er­schre­cken­den Hef­tig­keit sucht und schmeckt, fand er, dass sei­ne Liebs­ten ihm von Pas­sio­nen die ihn in der Tat nicht tief er­grif­fen hat­ten, alle Lei­den und Ge­fah­ren den­noch auf­er­leg­ten. Er be­such­te sie nun wohl von Zeit zu Zeit, wann ihn sein Ver­lan­gen trieb, ward aber im­mer wie­der ab­ge­sto­ßen durch Sät­ti­gung und Un­lust. Und als die­ser selt­sa­me Kna­be so sei­ne See­len­kraft ide­al­los und un­wür­dig ver­geu­det hat­te, emp­fand er das Be­dürf­nis ei­nes sanf­ten Um­gangs und ei­nes keu­schen, hei­te­ren Er­gus­ses. Er hät­te schon wie Jean Jac­ques sa­gen kön­nen: »So wahr ist es, dass das was uns am meis­ten an die Frau­en fes­selt, we­ni­ger die Wol­lust ist, als eine ge­wis­se An­mu­tig­keit des Le­bens an ih­rer Sei­te.«

Ohne nun sich Re­chen­schaft zu ge­ben über das was ihn zu Con­sue­lo hin­zog, – für das Schö­ne hat­te er noch kei­nen Sinn und un­ter­schied nicht, ob sie häss­lich oder hübsch war, – Kind ge­nug um sich mit ihr an Spie­le­rei­en un­ter sei­nem Al­ter zu ver­gnü­gen, Mann ge­nug, um ihre vier­zehn Jah­re aufs ge­wis­sen­haf­tes­te zu ach­ten, führ­te er mit ihr, auf of­fe­ner Gas­se, auf den Mar­morflie­sen und den Kanä­len Ve­ne­digs, ein eben­so glück­li­ches, eben­so rei­nes, eben­so ver­bor­ge­nes und fast eben­so poe­ti­sches Le­ben wie Paul und Vir­gi­nie un­ter den Pom­pel­mu­sen ih­rer Wild­nis. Sie hat­ten eine grö­ße­re und ge­fähr­li­che­re Frei­heit als die­se Kin­der, kei­ne Fa­mi­lie, kei­ne wach­sa­men, zärt­li­chen Müt­ter die sie zur Tu­gend er­zie­hen konn­ten, kei­nen treu­en Die­ner der sie abends ge­sucht und heim­ge­lei­tet hät­te, nicht ein­mal einen Hund, um sie vor Ge­fahr zu war­nen; aber sie ta­ten den­noch kei­ner­lei Fall.

Sie kreuz­ten auf den La­gu­nen in of­fe­ner Bar­ke, zu je­der Stun­de und bei je­dem Wet­ter, ohne Ru­der, ohne Steu­er­mann; sie streif­ten auf den Mo­räs­ten ohne Füh­rer, ohne Uhr und un­be­sorgt um die keh­ren­de Flut; sie san­gen vor den ge­schmück­ten Ka­pel­len un­ter der Vig­ne an den Stra­ßen­e­cken, ohne an die spä­te Ta­ge­s­stun­de zu den­ken und brauch­ten bis an den Mor­gen kein an­de­res Bett als die wei­ßen Stein­plat­ten die von der Ta­ges­hit­ze noch warm wa­ren. Sie stan­den vor dem Pul­ci­nell-Thea­ter still und folg­ten mit gie­ri­ger Auf­merk­sam­keit dem fan­tas­ti­schen Schau­spie­le von der schö­nen Co­ri­san­da, der Ma­rio­net­ten­kö­ni­gin; es fiel ih­nen nicht ein, dass sie kein Früh­stück ge­habt hat­ten, und wie we­nig Aus­sicht war, ein Abendes­sen zu er­hal­ten. Sie über­lie­ßen sich den un­ge­zü­gel­ten Freu­den des Car­ne­val, nicht wei­ter ver­klei­det und ge­putzt, als er mit sei­ner um­ge­kehr­ten Ja­cke und sie mit ei­ner großen al­ten Band­schlei­fe über dem Ohre. Auf dem Ge­län­der ei­ner Brücke oder auf den Stu­fen ei­nes Pal­las­tes, hiel­ten sie köst­li­che Mahl­zei­ten von frut­ti di mare,1 ro­hen Fen­chel­stümp­fen oder Citro­nen­scha­len.

Ge­nug, sie führ­ten ein fröh­li­ches und frei­es Le­ben und ihre Lieb­ko­sun­gen wa­ren nicht ge­fähr­li­cher, ihre Ge­füh­le nicht ver­lieb­ter als es zwi­schen ge­sit­te­ten Kin­dern glei­chen Al­ters und Ge­schlech­tes der Fall ge­we­sen wäre. Tage, Jah­re flos­sen hin; An­zo­le­to hat­te an­de­re Liebs­ten, Con­sue­lo ahn­te nicht ein­mal dass es noch eine an­de­re Art Lie­be gäbe als die­se, de­ren Ge­gen­stand sie war. Sie trat in die Mäd­chen­jah­re und emp­fand kei­ne Nö­ti­gung, sich zu­rück­hal­ten­der ge­gen ih­ren Bräu­ti­gam zu be­tra­gen; er sah sie grö­ßer wer­den und sich ver­wan­deln und emp­fand kei­ne Un­ge­duld und wünsch­te kei­nen Wech­sel die­ser un­be­wölk­ten, of­fe­nen, un­sträf­li­chen Ver­trau­lich­keit.

Vier Jah­re wa­ren ver­gan­gen, seit­dem der Pro­fes­sor Por­po­ra und der Graf Zus­ti­nia­ni ein­an­der ihre »klei­nen Mu­si­ker« vor­ge­stellt hat­ten. Der Graf hat­te seit­dem nicht mehr an die jun­ge Kir­chen­sän­ge­rin ge­dacht und der Pro­fes­sor hat­te nicht min­der den schö­nen An­zo­le­to ver­ges­sen, an dem er da­mals bei ei­ner ers­ten Prü­fung nichts von dem ge­fun­den hat­te, was er bei sei­nen Zög­lin­gen vor­aus­setz­te, näm­lich vor al­lem eine erns­te und ge­dul­di­ge Auf­fas­sungs­ga­be, so­dann eine an Selbst­ver­nich­tung grän­zen­de De­mut des Schü­lers vor dem Leh­rer, und end­lich den völ­li­gen Man­gel je­der vor­gän­gi­gen mu­si­ka­li­schen Un­ter­wei­sung.

»Re­det mir nie­mals«, sag­te er, »von ei­nem Schü­ler, des­sen Kopf sich mei­nem Wil­len nicht wie eine un­be­schrie­be­ne Ta­fel dar­bie­tet, wie ein rei­nes Wachs, das von mir den ers­ten Ein­druck zu emp­fan­gen hat. Ich habe nicht Zeit, mei­nem Schü­ler ein Jahr zum Ver­ler­nen zu schen­ken, be­vor ich zu leh­ren an­fan­gen kann. Soll ich auf eine Schie­fer­plat­te schrei­ben, so brin­get sie mir rein; und da­mit nicht ge­nug, brin­get sie mir auch gut. Ist sie zu stark, so wird sie nicht emp­fäng­lich sein, ist sie zu schwach, so wird sie mir un­ter der Hand zer­bre­chen.«

Kurz, er ge­stand zwar dem jun­gen An­zo­le­to aus­ge­zeich­ne­te Mit­tel zu, er­klär­te aber beim Schlus­se der ers­ten Stun­de dem Gra­fen et­was ver­drieß­lich, und mit ei­ner iro­ni­schen An­spruchs­lo­sig­keit, sein Un­ter­richt sei nicht für einen be­reits so weit vor­ge­rück­ten Schü­ler, und um – »die na­tür­li­chen Fort­schrit­te und die un­wi­der­steh­li­che Ent­wick­lung die­ser ma­gni­fi­quen An­la­ge zu er­schwe­ren und zu hem­men« sei der ers­te bes­te Leh­rer gut ge­nug.

Der Graf schick­te sei­nen Schütz­ling zu dem Pro­fes­sor Mel­li­fio­re, wel­cher von der Rou­la­de bis zur Ka­denz und von dem Tril­ler bis zum Grup­pet­to sei­nen glän­zen­den Fä­hig­kei­ten die voll­stän­digs­te Ent­wick­lung gab und ihn so weit brach­te, dass, als er 23 Jah­re alt sich in dem Sa­lon des Gra­fen hö­ren ließ, je­der­mann ihn fä­hig sprach, im Thea­ter San Sa­mu­el mit großem Er­folg in den ers­ten Par­ti­en auf­zu­tre­ten.

Ei­nes Abends wur­de näm­lich die gan­ze kunst­lie­ben­de No­bles­se und was nur von Künst­lern in Ve­ne­dig ei­ni­ges Re­nom­mé ge­noss, zu ei­ner letz­ten und ent­schei­den­den Pro­be ein­ge­la­den. Zum ers­ten Male in sei­nem Le­ben schäl­te sich An­zo­le­to aus sei­ner ge­mei­nen Tracht, zog eine At­las­wes­te und ein schwar­zes Staats­kleid an, ließ sei­ne schö­nen Haa­re fri­sie­ren und pu­dern, steck­te sei­ne Füße in Schnal­len­schu­he, gab sich eine fei­er­li­che Mie­ne und schlich auf den Ze­hen­spit­zen an ein Kla­vier, wo er, bei dem Schei­ne von tau­send Wachs­ker­zen und an­ge­gafft von zwei- bis drei­hun­dert Per­so­nen, erst mit den Au­gen dem Ri­tor­nel­le folg­te, so­dann sei­ne Lun­gen auf­blies und sich mit sei­ner Dreis­tig­keit, mit sei­nem Ehr­geiz und mit sei­nem ho­hen Brust-C in die ge­fähr­li­che Lauf­bahn schwang, auf wel­cher kei­ne Jury, kein Kampf­rich­ter, son­dern ein gan­zes Pub­li­kum in der einen Hand die Sie­ge­spal­me, in der an­de­ren das Pfeif­chen hält.

Ob An­zo­le­to in­ner­lich be­wegt war, ist kei­ne Fra­ge; er ließ je­doch sehr we­nig da­von bli­cken, und nicht so­bald hat­ten sei­ne schwar­zen Au­gen, wel­che ver­stoh­len die der Frau­en be­frag­ten, den ge­hei­men Bei­fall, der sich ei­nem so schö­nen Jüng­lin­ge sel­ten ver­sagt, er­ra­ten, nicht so­bald hat­ten die Kunst­lieb­ha­ber um­her, über­rascht von der Ge­walt sei­ner klang­rei­chen Stim­me und von der Leich­tig­keit sei­ner Vo­ka­li­sa­ti­on, ein bei­fäl­li­ges Ge­mur­mel hö­ren las­sen, als Freu­de und Hoff­nung sein gan­zes We­sen durch­glü­he­ten. Jetzt zum ers­ten Male in sei­nem Le­ben fühl­te An­zo­le­to, der bis da­hin nur eine ge­wöhn­li­che Be­hand­lung und ge­wöhn­li­chen Un­ter­richt er­fah­ren hat­te, dass er kein ge­wöhn­li­cher Mensch sei und, von dem Tri­um­phe, nach dem er dürs­te­te und den er emp­fand, hin­ge­ris­sen, sang er mit ei­ner Kraft, ei­ner Ei­gen­tüm­lich­keit und ei­nem Feu­er zum Er­stau­nen.

Sein Ge­schmack war al­ler­dings nicht im­mer rein und sein Vor­trag nicht in al­len Tei­len des Stückes ta­del­los: aber er wuss­te sich stets durch küh­ne Wür­fe, durch Blit­ze der Auf­fas­sung und Schwung der Be­geis­te­rung wie­der zu he­ben. Er ver­fehl­te man­che Ef­fec­te, wel­che der Kom­po­nist be­ab­sich­tigt hat­te, aber er fand an­de­re, an wel­che noch nie­mand ge­dacht, we­der der Kom­po­nist, der sie vor­ge­zeich­net, noch der Leh­rer, der sie er­läu­tert, noch ei­ner der Vir­tuo­sen, die sie frü­her aus­ge­führt hat­ten. Die­se Kühn­hei­ten er­grif­fen und ent­zück­ten alle Welt. Zehn Un­ge­schick­lich­kei­ten ver­zieh man ihm für eine Neu­heit, zehn Ver­stö­ße ge­gen die Metho­de für eine ei­gen ge­fühl­te Stel­le. So wahr ist es, dass in der Kunst das kleins­te Auf­leuch­ten des Ge­nies, der kleins­te An­lauf zu neu­en Erobe­run­gen die Men­schen mehr blen­det als alle Hilfs­mit­tel und alle Klar­heit der Ein­sicht, die sich in den Schran­ken des Ge­wohn­ten hält.

Nie­mand gab sich viel­leicht Re­chen­schaft von den Ur­sa­chen und nie­mand ent­zog sich den Wir­kun­gen die­ses En­thu­si­as­mus. Die Co­ril­la hat­te die Un­ter­hal­tung mit ei­ner großen Arie er­öff­net, wel­che sie treff­lich sang und wel­che leb­haft be­klatscht wur­de; der Er­folg des jun­gen De­bü­tan­ten lösch­te nun aber den ih­ri­gen so ganz aus, dass sie dar­über im In­nern wü­tend war. Je­doch als An­zo­le­to, mit Lob­sprü­chen und Lieb­ko­sun­gen über­häuft, wie­der an das Kla­vier trat, wo sie saß, und zu ihr nie­der­ge­beugt mit ei­ner Mi­schung von Un­ter­wür­fig­keit und Kühn­heit sag­te: »Und Sie, Kö­ni­gin des Ge­san­ges, Kö­ni­gin der Schön­heit, ha­ben Sie nicht einen Blick der Auf­mun­te­rung für den ar­men Un­glück­li­chem der Sie fürch­tet und Sie an­be­tet?« da be­trach­te­te die Pri­ma Don­na, er­staunt über eine sol­che Dreis­tig­keit, die­ses schö­ne Ge­sicht in der Nähe, wel­ches sie zu­vor kei­nes Blickes ge­wür­digt hat­te; denn wel­che eit­le und sieg­ge­wohn­te Frau wür­de ein dunkles ar­mes Kind ih­rer Auf­merk­sam­keit wert hal­ten? Jetzt end­lich be­ach­te­te sie ihn; sei­ne Schön­heit über­rasch­te sie, sein feu­ri­ges Auge drang in sie ein und ih­rer­seits be­siegt, be­zau­bert, ließ sie auf ihn einen lan­gen Glut­blick fal­len, gleich­sam ein Sie­gel auf das Di­plom sei­ner Berühmt­heit ge­drückt.

An die­sem merk­wür­di­gen Abend hat­te An­zo­le­to sein Pub­li­kum be­herrscht und sei­nen ge­fähr­lichs­ten Feind ent­waff­net; denn die schö­ne Sän­ge­rin war nicht bloß Kö­ni­gin auf den Bre­tern, son­dern auch in der Ad­mi­nis­tra­ti­on und in dem Ka­bi­net des Gra­fen Zus­ti­nia­ni.

4.

Ein ein­zi­ger Zu­hö­rer, wel­cher auf dem Ran­de sei­nes Stuh­les mit ge­kreuz­ten Bei­nen und un­be­weg­lich auf die Knie ge­stütz­ten Hän­den gleich ei­ner ägyp­ti­schen Gott­heit saß, war mit­ten un­ter den ein­stim­mi­gen und so­gar ein we­nig un­sin­ni­gen Bei­falls­be­zeu­gun­gen, wel­che die Stim­me und Ma­nier des De­bü­tan­ten her­vor­ge­ru­fen hat­te, stumm ge­blie­ben wie eine Sphinx und ge­heim­nis­voll wie eine Hie­ro­gly­phe: es war dies der ge­lehr­te Pro­fes­sor und be­rühm­te Kom­po­nist Por­po­ra. Wäh­rend sein ga­lan­ter Kol­le­ge, der Pro­fes­sor Mel­li­fio­re, wel­cher die Ehre von An­zo­le­to’s Er­folg ganz sich al­lein an­eig­ne­te, um­her­ging, sich vor den Frau­en in die Brust wer­fend und sich ge­gen alle Män­ner mit Ge­schmei­dig­keit ver­nei­gend, um sich so­gar für ihre Bli­cke zu be­dan­ken, saß der Leh­rer der hei­li­gen Mu­sik still da, die Au­gen auf dem Bo­den, die Brau­en em­por­ge­zo­gen, den Mund ge­schlos­sen und wie ver­lo­ren in sei­ne Be­trach­tun­gen. Nach­dem die gan­ze Ge­sell­schaft, wel­che die­sen Abend zu ei­nem großen Bal­le bei der Do­ger­es­se ge­be­ten war, sich nach und nach ver­lau­fen hat­te und nur die wärms­ten Di­let­tan­ten mit ei­ni­gen Da­men und den vor­nehms­ten Mu­si­kern am Kla­vie­re zu­rück­ge­blie­ben wa­ren, nä­her­te sich Zus­ti­nia­ni dem stren­gen Mae­stro.

– Das heißt doch zu sehr ge­gen die Neue­ren schmol­len, mein lie­ber Pro­fes­sor, sag­te er zu ihm, und euer Schwei­gen täuscht mich nicht. Ihr wollt vor die­ser welt­li­chen Mu­sik und die­ser neu­en Gat­tung, an de­nen wir uns ent­zücken, eue­re Sin­ne bis aufs Äu­ßers­te ver­schlos­sen hal­ten. Euer Herz hat sich nun euch zum Trot­ze ge­öff­net und eure Ohren ha­ben das Gift der Ver­füh­rung auf­ge­nom­men.

– Wis­sen Sie, Sior Pro­fe­sor, sag­te im Dia­lek­te die rei­zen­de Co­ril­la, in­dem sie ge­gen ih­ren al­ten Leh­rer den Kin­des­brauch der Scuo­la wie­der­auf­nahm, Sie müs­sen mir einen rech­ten Ge­fal­len tun …

– Fort von mir, Un­se­li­ge! rief der Meis­ter halb la­chend und halb noch ver­drieß­lich die Lieb­ko­sung sei­ner ab­trün­ni­gen Schü­le­rin ab­weh­rend. Was für Ge­mein­schaft ist noch zwi­schen dir und mir? Ich ken­ne dich nicht mehr. Brin­ge bei an­de­ren dein lieb­li­ches Lä­cheln und dein treu­lo­ses Ge­zwit­scher an.

– Er fängt schon an gut zu wer­den, sag­te die Co­ril­la, in­dem sie mit der einen Hand den Arm des De­bü­tan­ten er­griff, wäh­rend sie mit der an­de­ren nicht abließ, die lan­gen Zip­fel an des Pro­fes­sors wei­ßer Kra­wat­te zu zer­knit­tern. Komm her, Zoto,2 und beu­ge dein Knie vor dem ge­schick­tes­ten Ge­sang­leh­rer Ita­li­ens. De­mü­ti­ge dich mein Kind und ent­waff­ne sei­ne Stren­ge. Ein ein­zi­ges Wort von ihm, wel­ches du er­lan­gen kannst, muss grö­ßern Wert in dei­nen Au­gen ha­ben als alle Trom­pe­ten des Ruh­mes.

– Sie sind sehr stren­ge ge­gen mich ge­we­sen, Herr Pro­fes­sor, sag­te An­zo­le­to, sich mit ei­ner et­was spöt­ti­schen Be­schei­den­heit ver­beu­gend; in­des­sen ist es seit vier Jah­ren mein ein­zi­ger Ge­dan­ke, Ih­nen die Zu­rück­nah­me ei­nes sehr har­ten Ur­teilss­pru­ches ab­zu­nö­ti­gen; und wenn es mir heut Abend nicht ge­glückt ist, so weiß ich nicht, ob ich den Mut ha­ben wer­de, wie­der vor dem Pub­li­kum auf­zu­tre­ten, be­la­den wie ich bin mit ih­rem Ana­the­ma.

– Kna­be, sag­te der Pro­fes­sor, in­dem er mit ei­ner Leb­haf­tig­keit sich er­hob und mit ei­ner Kraft der Über­zeu­gung sprach, wel­che ihn edel und groß er­schei­nen lie­ßen, wäh­rend er sonst ge­krümmt und un­ge­schickt aus­sah, über­las­se den Wei­bern die ho­nig­sü­ßen und treu­lo­sen Wor­te. Nie­mals er­nied­ri­ge dich zu der Spra­che der Schmei­che­lei, selbst nicht vor dei­nem Vor­ge­setz­ten, wie viel we­ni­ger vor dem, des­sen Bei­fall du in dei­nem In­nern ver­ach­test. Es war eine Zeit, wo du dort un­ten in dei­nem Win­kel lagst, arm, un­ge­kannt, voll Furcht; dei­ne gan­ze Zu­kunft hing an ei­nem Haa­re, an ei­nem Tone dei­ner Keh­le, an ei­nem au­gen­blick­li­chen Ver­sa­gen dei­ner Mit­tel, an ei­ner Gril­le dei­ner Zu­hö­rer. Ein Un­ge­fähr, ein Kraft­auf­wand, ein Au­gen­blick ha­ben dich reich, be­rühmt, un­ver­schämt ge­macht. Dei­ne Bahn ist of­fen, du darfst auf ihr nur lau­fen, so­weit dich dei­ne Kräf­te tra­gen wer­den. Höre mich an, denn du wirst zum ers­ten und viel­leicht zum letz­ten male die Wahr­heit hö­ren. Du bist auf ei­nem schlech­ten Wege, du singst schlecht und du ge­fällst dir in der schlech­ten Mu­sik. Du kannst nichts, und hast nichts gründ­li­ches ge­lernt, du be­sit­zest nichts als Übung und Fer­tig­keit. Du set­zest dich um nichts in Feu­er; du kannst nur gir­ren und zwit­schern gleich den nied­li­chen, ko­ket­ten Däm­chen, de­nen man ihr Ge­zie­re nach­sieht, weil sie vom Sin­gen nichts ver­ste­hen. Aber du ver­stehst nicht mit dem Atem um­zu­ge­hen, du sprichst schlecht aus, hast einen un­ed­len Aus­druck und einen falschen, ge­mei­nen Styl. Ver­lie­re den Mut des­we­gen nicht; du hast alle die­se Feh­ler, aber du hast das Zeug, sie zu be­meis­tern: denn du be­sit­zest Ei­gen­schaf­ten, wel­che man durch Un­ter­richt und An­stren­gung nicht er­wer­ben kann; du hast was man durch schlech­te Ratschlä­ge und schlech­te Mus­ter nicht ver­liert, du hast das hei­li­ge Feu­er … du hast Ge­nie! … lei­der, ein Feu­er, wel­ches nichts Großem leuch­ten wird, ein Ge­nie, wel­ches un­frucht­bar blei­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­