Robert und Valerie, er dreiundzwanzig, sie neunzehn, sie hell, er dunkel – keiner hat sie je für Geschwister gehalten. Halbgeschwister, daher vielleicht. Mit der Rückkehr der Krankheit ihrer Mutter ist auch er zurückgekehrt, und er verspricht: Diesmal wird er bleiben.

Gemeinsam stehen sie nun vor Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt: Wie umgehen mit einem Abschied, mit all den Gefühlen, die kein Ventil finden? Valerie und Robert suchen Halt aneinander, in der Hoffnung, so auch sich selbst und dem unfassbaren Geschehen um sich herum näherzukommen. Doch die Nähe zwischen ihnen hat viele Gesichter: zart und schmerzlich, wild und tröstlich – und nicht zuletzt gefährlich.

Julia Rothenburg zeigt die Trauer als ein zutiefst widersprüchliches, durch und durch lebendiges Gefühl und verleiht ihren Figuren eine entwaffnende Intensität. Ihre große Empathie, ihr Gespür für Zwischentöne und ihre scharfgestochene Sprache machen »hell/dunkel« zu einer betörend spannenden Lektüre.

 

 

Inhalt

Teil I

1. So fühlen sich immer …

2. Sie schläft schon als …

3. So sonnenbestrahlt ist die Welt …

4. Sie sitzen im Imbisshäuschen …

5. Valerie liegt im Bett …

6. Von der Straße aus wirkt …

7. Valerie und Robert sind wieder …

8. Auf dem Nachhauseweg …

9. Sie hasst es …

10. Er hat Valerie bestimmt …

11. Wie kann man gleichzeitig …

12. Es ist absurd, dass er …

13. Valerie, I can hear …

14. Es gibt keinen Gedanken …

15. Roberts Lippen sind weich …

Teil II

16. Von weitem betrachtet …

17. Ali sitzt auf ihrem Bett …

18. Nachts kann Robert nicht schlafen …

19. Valerie ist froh, dass die Mutter …

20. Robert schwimmt …

21. Krass, sagt Ivana …

22. Robert wartet an die kalte Wand …

23. Nach dem Essen schauen sie fern …

24. Ich schulde dir ein Bier …

25. Der Kanal ist heute merkwürdig …

26. Robert sitzt auf dem Teppich …

27. Bereits in der Frauenumkleidekabine …

28. Robert wartet vor dem Schwimmbad …

29. Da stehen sie also schon wieder …

Teil III

30. Valerie hat sich im Schlaf …

31. Die Mutter ist zum Glück …

32. Da sitzt er nun also …

33. Valerie erinnert sich noch an …

34. Robert steht am Bahnhof …

35. Die Zeit ist klebrig …

36. Es dämmert bereits wieder …

 

Teil I

 

1

So fühlen sich immer die ersten Schritte an. Jedes Mal sitzt ihr Atem fest, kommt nur abgehackt aus ihrem Körper, in jämmerliche Stückchen zerteilt. Jedes Mal denkt sie, dass das so unmöglich gehen kann, nicht mit diesen Beinen, den viel zu kurzen. Viel zu langsam ist ihr Körper, behäbig und schwer. Und dann geht es doch, dann geht es wie von selbst.

Die Stimme der Sportlehrerin hört sie jetzt nicht mehr, aber sie sieht sie winken. Ihr pochendes Herz verdrängt das Gefühl von Kälte, der Feuchte in den Kniekehlen. Die Luft schmeckt kalt, aber ihre Ohren werden heiß, alles zieht sich zusammen. Während sie immer schneller wird, verschwimmen die anderen zu bunten Flecken. Wie vorgespult, denkt Valerie. Wenn man das bloß könnte.

Irgendwo schrillt es, das Geräusch holt auch die anderen zurück, den Straßenlärm, das Keuchen, ihren eigenen viel zu lauten Atem.

Am Zaun stehen ein paar Grundschüler und stecken ihre Nase durch das Gitter, die Hände in den Fäustlingen hängen wie Tierköpfe in den Streben.

Sie hat gepfiffen, ruft Nathalie, als Valerie sie überholt. Nathalie geht nur noch, die Arme um ihre Mitte geschlungen, als müsste sie sich zusammenhalten. Ihr Gesicht sieht aus wie das eines Neugeborenen, runzelig und rot vom Rennen.

Erst als Valerie langsamer wird, bemerkt sie das Seitenstechen.

Sie bleibt stehen, genießt den Schmerz, genießt die Hitze. Ihre Haut ist eiskalt. Die Sportlehrerin winkt ihr zu, reckt den Daumen nach oben, nickt dazu. Valerie lächelt.

In der Umkleidekabine riecht es schon nach kaltem Schweiß, als sie hereinkommt. Nathalie und Ivana haben ihr einen Platz freigehalten. Beide keuchen noch immer, ihre Gesichter fleckig.

Und, was ist jetzt, fragt Ivana und atmet dabei laut, die Worte einzeln dazwischen. Treffen wir uns am Samstag, Lernkreis, du weißt schon.

Valerie merkt erst, dass sie gemeint ist, als die beiden sie anschauen. Aus ihrer Tasche blinkt es.

Ja, sagt sie, klar, wieso nicht.

Sie schaut auf ihr Handy. Drei Anrufe in Abwesenheit, alle von ihrer Mutter. Und zwei SMS.

Fahre jetzt doch ins Krankenhaus. Ruf zurück.

Das ist eine Fähigkeit, die allein ihre Mutter besitzt: in so wenige Worte so viel Vorwurf hineinzulegen. Oder woher sonst soll diese Walze aus Gefühlen kommen, die durch sie hindurchrollt? Ausgelöst von, sie zählt nach, nur sieben Worten.

Also um elf bei mir oder was?, fragt Ivana. Valerie, huhu.

Was?, fragt Valerie.

Die nächste SMS ist kurz, sie klingt trotzdem in ihren Ohren nach.

Bleibe über Nacht.

Wieso gehen wir nicht mal ins Café, sagt Nathalie.

Da ist es samstags zu voll, also bei mir, ja?

Valerie steckt das Handy zurück in die Tasche, zieht sich das T-Shirt über den Kopf und ist froh, dass man so wenigstens für eine Sekunde ihr Gesicht nicht sieht. Und dass sie so auch die anderen nicht sehen muss, wie sie jetzt bestimmt schon wieder zu ihr hinglotzen.

Ja, sagt sie. Klar.

Vor der Sporthalle hat sich schon eine Traube gebildet, hin- und herwankend, von weitem hört man es kreischen. Je näher man kommt, desto mehr einzelne Stimmen sind auszumachen, die da rufen.

Ivana steckt sich eine Zigarette an, hält sie Valerie hin. Nein, lass, sagt Valerie. Ich muss jetzt eh schon.

Alles klar, sagt Ivana, bläst den Rauch aus. Ich bereite dann schon mal die Übungsaufgaben vor.

Super, sagt Valerie und meint es nicht im mindesten. Ich guck auch mal, was ich machen kann.

Aber Nathalie und Ivana schauen sich schon um, als suchten sie irgendwas. Von hinten nähert sich der Jungskurs.

War ja klar, denkt Valerie. Wir sehen uns morgen, sagt sie in die Luft.

Sie ruft ihre Mutter zurück, sobald die anderen nicht mehr als eine Rauchwolke sind. Aber es tutet nur, ein leeres Tuten, dann die Stimme ihrer Mutter, eine Ansage, die sie schon tausendmal gehört hat. Und trotzdem klingt es jedes Mal so, als wäre ihre Mutter doch am Telefon.

Ganz wie von selbst läuft sie immer schneller. Die Kälte zischt ihr in den Ohren.

Die Tür ist nicht abgeschlossen. In der Wohnung riecht es nach ihrer Mutter, schwach noch nach ihrem Parfum, aber vor allem nach Camels.

Eigentlich riecht es in der Wohnung immer so, der Geruch haftet an den Tapeten, so oft man auch lüftet. Valerie hasst das, aber gegen so etwas kann man nichts machen. Da hilft auch das beste Raumspray nichts. Diesmal ist es allerdings frischer Rauch, das merkt man sofort. Valerie muss fast husten.

Irgendwo in der Wohnung knallt es. Als wäre etwas umgefallen.

Hallo, ruft Valerie.

Ihr Herz rast jetzt. Sie schleicht, aber die Dielen knarren unter ihrem Schritt.

Vor lauter Rauch kann man ihn kaum erkennen, aber es ist Robert, der da auf dem Sofa sitzt und mit dem Finger auf eine Zigarette klopft, als wäre nie etwas gewesen.

Spinnst du, sagt Valerie. Ihr Herzschlag beruhigt sich nur langsam.

Wie wär’s mit ’ner Begrüßung?

Valerie verschränkt die Arme.

Hallo.

Dann wedelt sie mit den Händen, bis sie wieder etwas sehen kann. Robert hat schon das Fenster geöffnet, es zieht zu ihr herüber.

Valerie steht in der Mitte des Zimmers, und erst allmählich wird ihr klar, dass Robert wirklich da ist, keine Fata Morgana, die mit dem Rauch verschwinden wird.

Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet.

Sie weiß nicht, was sie sonst sagen soll. Was soll das, dass er hier auf einmal einfach so sitzt? Als wäre er nie weggewesen, als hätte er jedes Recht darauf, jetzt hier zu sein.

Katrin ist im Krankenhaus, sagt Robert und setzt sich wieder hin. Er schaut Valerie dabei von unten an, lauernd, als müsste sie darauf irgendwie reagieren. In Ohnmacht fallen vielleicht. Als wären sie in einem Mafiafilm, und er würde sie bedrohen. Hat schon darauf gewartet, dass sie nach Hause kommt, damit er sie überfallen kann. Manchmal sieht Robert tatsächlich aus wie ein Gangster, wenn er so die Augen zusammenkneift. Jedes Mal kippt sein Gesichtsausdruck dann aber, als könne er die Spannung nicht halten. Kippt ins Weiche, Dehnbare und am Ende hängen seine Schultern dann so traurig herunter.

Ich weiß, sagt Valerie. Erzähl mir was Neues.

Sie lässt ihre Tasche los, der Laut des Aufpralls knallt in die Stille.

Sie geht zu Robert, der sie noch immer anschaut. Dass es jetzt kälter wird im Raum, macht die Stimmung noch seltsamer, die da zwischen ihnen hängt.

Klar, dachte ich mir, sagt Robert, als hätte sie ihn gar nicht angefahren, als wäre gar nichts gewesen. Er lächelt sogar dazu.

Ich war in der Schule, sagt Valerie. Bin nicht ans Handy gegangen, aber sie hat mir eine SMS –

Sie weiß nicht, wieso sie ihm das so genau erklärt. Dass Robert lächelt wie ein gütiger Onkel, als wäre er viel älter als sie, irritiert sie.

Sie hat mich auch angerufen. Ich dachte, ich komme vorbei. Wollte zuerst nach dir schauen.

Okay. Lieb von dir.

Hör mal. Robert rutscht hin und her. Also, da bin ich. Hab ich dir doch versprochen letztes Mal.

Valerie nickt, aber eigentlich weiß sie nicht mehr genau, was er versprochen hat. Will sie gerade auch gar nicht wissen. Sie blinzelt ein paarmal, aber verschwinden tut er trotzdem nicht.

Okay, siehst du, ich bin gleich hergekommen. Jetzt können wir nur hoffen, dass es nicht so schlimm ist.

Ja, gut, sagt Valerie, und beinahe fühlt sie sich ein wenig so, als würde sie umkippen müssen von diesem ständigen Nicken.

Na, jetzt komm doch erst mal her, sagt Robert und breitet die Arme aus.

Er sieht komisch aus, wie ein kranker Vogel oder ein Irrer vielleicht.

Sie zögert. Aber wie er da so verkrümmt auf dem Sofa wartet, bleibt ihr nicht viel anderes übrig. Also beugt sie sich zu ihm hinunter. Er drückt sie fest. Er riecht nach Zigarettenrauch, und Valerie rümpft die Nase. Alles, wonach Robert sonst riecht, fehlt heute. Aber es ist auch Ewigkeiten her, dass er sie das letzte Mal umarmt hat.

Du stinkst, sagt sie.

Haha, sagt er, drückt hinter ihrem Rücken seine Kippe im Aschenbecher aus.

Setz dich, sagt er und rückt zur Seite, dann springt er auf und macht das Fenster wieder zu.

Die Kälte von draußen sitzt schon auf den Sofapolstern. Valerie lässt sich tief sinken. Robert bläst die Luft aus, dabei ist die Zigarette ja schon längst verglüht.

Es ist wohl wieder das Übliche. Die Blutwerte sind halt nicht gut, musste wohl doch eine Infusion her.

Okay. Valerie atmet aus, beinahe gleichzeitig mit Robert.

Sie sah auch wirklich schrecklich aus in den letzten Tagen, sagt sie. Aber sie wollte immer nicht zum Arzt. War auch Zeit, dass das mit der Infusion mal klappt.

Der Arzt hat es empfohlen, nachdem er sie untersucht hat, sagt Robert. Aber nach ein paar Infusionen wird es wohl wieder. Dann machen sie noch Untersuchungen, um herauszufinden, ob es vielleicht an irgendwas anderem liegt.

Okay, sagt Valerie wieder.

Robert reibt sich jetzt mit den Händen auf den Knien herum. Na also, sagt er. Auf jeden Fall habe ich ja vom letzten Mal gelernt, diesmal bin ich mehr da.

Er schaut beim Reden ständig zu ihr hin, als müsste sie gleich doch noch ausrasten, als wartete er nur darauf. Recht hat er. Aber Valerie hat keine Lust zu streiten. Schon gar nicht, wenn er plötzlich darauf aus ist. Nach all der Stille. Soll er doch selber gucken, wie er damit klarkommt.

Okay, sagt sie. Sie weiß, dass sie jetzt auch zu ihm hinüberschauen sollte. Wäre sie bloß auf dem Sportplatz geblieben.

Okay, also, sagt Robert und reibt sich wieder über die Knie. Wir sollten sie dann wohl mal besuchen fahren. Ich würde gerne sofort los. Bevor die im Krankenhaus Stress machen wegen der Besuchszeit. Ist ja schon fast halb sechs. Wie sieht’s aus, kommst du mit?

Robert schiebt die Zigarettenpackung auf dem Tisch hin und her. Valerie findet es merkwürdig, dass er manchmal so etwas Fahriges hat, dann wieder so eine Gelassenheit. Als könnte er sich nicht entscheiden, in welche Richtung es gehen soll. Wie er wohl ist, wenn ihm niemand zuschaut?

Ich habe Hausaufgaben.

Robert schaut ihr in die Augen, das erste Mal ganz direkt, und seine Augenlider zucken, als versuchte er so, seinen Blick scharfzustellen. Du siehst irgendwie müde aus, sagt er.

Ist ja auch anstrengend.

Er nickt. Dann also morgen, sagt er. Ich fahre auf jeden Fall jetzt, aber du solltest dich wirklich ausruhen.

Das klingt so sehr nach einem Vater, dass sie fast lachen muss. Aber sie fühlt sich trotzdem nicht wie ein Kind. Wieso sollte sie auch. Das ist etwas, das nur von ihm ausgeht.

Valerie verschränkt die Arme.

Sie stehen auf, stehen wie hingestellt im Zimmer herum. Das ist fast noch peinlicher als alles vorher.

Na komm her, sagt Robert und nimmt sie in den Arm.

Du stinkst immer noch, sagt sie, aber das klingt ziemlich lahm.

Bis später, sagt er, den einen Arm schon in der Jacke.

Als Robert gegangen ist, steht Valerie noch immer im Zimmer. Aber das fällt ihr erst auf, als über ihr die Kuckucksuhr der Nachbarn gedämpft durch die Wände ruft. Sie lauscht in die Stille dazwischen. Sie hört Roberts Schritte schon nicht mehr, aber sie glaubt, dass die Haustür rumst.

Eben noch wollte sie unbedingt, dass er wieder geht, jetzt ist es trotzdem merkwürdig. Als würde ihr jetzt erst auffallen, dass sie allein ist. Vielleicht eines der wenigen Gefühle, die stärker sind als Wut.

Valerie schaltet die Lichter aus und setzt sich, schaut nach draußen, wo die Straßenlaternen genau in diesem Moment angehen. Irgendwann muss es geregnet haben. Gegenüber glänzen die Streben des Friedhoftors wie frisch gestrichen, moosig daneben die Friedhofsmauer.

Sie schaut, ob sie Robert noch irgendwo entdecken kann, aber die Gehwege liegen verlassen da wie auf einer Postkarte.

Hier zu sitzen fühlt sich falsch an.

Valerie steht auf, läuft durch die Wohnung, schaltet im Flur die Lichter an, dann wieder aus, doch wieder an.

Die Tür zum Zimmer ihrer Mutter steht sperrangelweit auf. Wie eine offene Wunde, denkt Valerie. Gott, wie melodramatisch.

Man kann darin nichts erkennen, dunkel ist es, das Licht aus dem Flur fällt nur auf den beigen Teppich.

Im Zimmer ist alles in Unordnung. Die Bettdecke liegt wie ein Ungetüm auf der Matratze, dellt sich in merkwürdigen Formationen. Beinahe wie ein Körper sieht es aus, ein schlafender.

Valerie geht hin, berührt die Decke. Ansonsten ist hier alles wie immer. Die Schranktüren sind geschlossen, so dass Valerie sich im daran befestigten Spiegel sehen kann. Hat sie als Kind ständig gemacht: Wenn die Mutter nicht da war, saß sie im Schneidersitz vor dem Spiegel und hat sich einfach nur in die Augen gestarrt. Sich selbst anzuschauen ist der sicherste Weg zurück aus dieser Trance, das wusste sie schon damals.

Im schummrigen Licht des Zimmers erkennt sie sich allerdings kaum. Sie schaltet das Licht an. Ihre Haare kleben ihr im Gesicht, getrockneter Schweiß. Ihre Wimperntusche ist etwas verlaufen. Valerie drückt ihre Nase gegen den Spiegel, bleibt so, wischt sich die Schminke weg, dann den fettigen Fleck, den ihre Nase auf dem Glas hinterlassen hat. Hinter ihr spiegelt sich das Deckenungetüm.

Valerie tritt zum Bett, schlägt die Kissen aus, ordnet die Decke. Breitet sogar die Tagesdecke darüber, die zerknüllt auf dem Boden liegt. Daneben die Wolldecke, die ist immer so schwer. Valerie schlägt sie über den Arm.

Was macht sie hier eigentlich? Albern ist das.

Als würde sie sich dadurch besser fühlen, als brächte das irgendwem was.

Sie könnte natürlich auch ihre Jacke nehmen statt der doofen Wolldecke, Robert hinterher. Mit ihm gemeinsam diese Sache durchstehen, die Mutter besuchen, für heute alles getan haben. Irgendwo gibt es noch eine zweite Version von ihr, die genau das tut. Die andere Valerie hat Robert schon eingeholt, läuft jetzt mit ihm zur U-Bahn. Oder laufen sie die Straße entlang?

Valerie fällt auf, dass sie nicht einmal weiß, in welches Krankenhaus Robert geht. Ins Urbankrankenhaus oder doch ins Westend? Sie muss sich entscheiden, sonst kippt die Szene.

Valerie und Robert steigen in die U-Bahn. Gemeinsam sitzen sie auf anderthalb Plätzen, weil neben ihnen wie ein gestrandetes Walross ein Mann liegt, die Augen geschlossen im dicken Gesicht. Robert erzählt von den vergangenen Wochen. Er macht seinen neuen Ausbilder nach, der jedes letzte Wort im Satz schreit. Dabei schauen sie immer wieder zum Walross hin, ob es aufwacht. Aber nur träge hebt sich die Brust, über der sich wie eine weiche Tierhaut ein grauer Pullover spannt. Valerie kichert.

Die andere Valerie steht hier wie bekloppt mit dieser Wolldecke, sieht sich selbst von der Seite im Spiegel, nur sich selbst, keinen Robert und keine auf die U-Bahn-Scheibe gedruckten Brandenburger Tore.

Einen Moment lang hat sie das Gefühl, dass beide Valeries gleich unwahrscheinlich sind, dass es weder die in der U-Bahn gibt noch die Valerie, die hier steht und nichts tut, die wütend ist und nicht weiß, wohin damit. Als klemmte die Entscheidung zwischen den beiden Valeries sie irgendwo in ihrer Mitte fest, im Nirgendwo. Aber das ist Unfug.

Sie wirft die Wolldecke aufs Bett, schließt die Tür.

Dann macht sie die Tür doch wieder auf. Geschlossene Türen haben so etwas Unheimliches.

Im Wohnzimmer setzt sie sich erneut auf das Sofa, greift zu dem Buch, das irgendwer auf den Couchtisch gelegt hat.

Heute Nacht hatte sie lange darin gelesen, ewig her ist das jetzt. Sie konnte nicht schlafen, die Dielen knarrten, wenn die Mutter jede halbe Stunde auf die Toilette ging. Aus dem Klo regelmäßig das Rauschen der Spülung, sonst nichts, aber Valerie brauchte das Würgen nicht zu hören. Sie hatte sich Stöpsel ganz tief in die Ohren gesteckt, aber die Geräusche waren in ihrem Kopf.

Irgendwann musste sie zu dringend aufs Klo. Sie war schnell gehuscht, die Mutter hatte sie trotzdem getroffen. Als hätte sie gelauert, auf irgendeine Regung von Valerie gewartet, um dann herauszukommen.

Das Schattenspiel im Flur schnitt eine Grimasse in ihr ohnehin schon mürrisches Gesicht. Geh wieder schlafen, sagte die Mutter, hier gibt es nichts zu gucken.

Valerie schaltet den Fernseher ein. Irgendeine Show, der Moderator grinst, die Gäste grinsen. Valerie sieht zu, wie sie sich die Hände schütteln, ein Clip wird eingeblendet. Danach wieder das Studio, einer der Gäste schaut grimmig drein, lächelt dann wieder wie angeknipst. Valerie muss lachen, sie kann es kaum unterdrücken. Wie sie dasitzt, in der leeren Wohnung, in die Leere hineinlacht, darüber muss sie erst recht lachen. Das Sofa wackelt.

Weil sie nicht will, dass Robert sie hier findet, geht sie in ihr Zimmer. Wartet im Bett, die Arme überkreuzt, in einem Ohr einen Stöpsel, um Musik zu hören, das andere Ohr zum Lauschen, horcht auf Schritte.

Aber da ist nichts, manchmal nur macht der Bass sie glauben, dass sich Schritte nähern.

In ihrem Zimmer ist es stockdunkel, aber wenn jemand den Hof betritt, blitzt Licht auf. Dann ist es so lange hell, wie derjenige braucht, um sein Fahrrad anzuschließen. Nur, wenn draußen jemand ist, hat ihr Zimmer wieder Wände.

Valerie wird unruhig, als es zehn wird, dann halb elf. Wieso lässt Robert sich so viel Zeit? Was treibt er so lange?

Aber sich jetzt Sorgen zu machen ist verlorene Zeit. Sie hat schon viel zu viel Zeit an so einen Scheiß verplempert.

Sie versucht sich abzulenken, sucht in ihrem Kopf nach etwas anderem. Irgendwann taucht Alis Gesicht auf. Ja, Ali, den könnte sie mal wieder anrufen. Auf seine letzte SMS hat sie nicht geantwortet. Aber er ist bestimmt nicht sauer. So ist es immer zwischen ihnen. Er ist nicht so anstrengend wie die anderen.

Sie sieht Ali dabei zu, wie er in seinem Lieblingsplattenladen steht und durch die Platten kämmt. Sie steht daneben, tut so, als würde sie auch nach den Platten schauen. Sie hat keine Ahnung, wonach sie suchen soll. Ali lächelt, winkt sie näher.

Aber Alis Gesicht passt irgendwie nicht hierher, nicht in diese Dunkelheit, die in ihrem Zimmer liegt, wenn im Hof niemand ist. Nicht in dieses komische Gefühl in ihr, das sie hat, weil Robert einfach nicht nach Hause kommt. Und weil Robert einfach nach Hause gekommen ist. Stattdessen mischt sich Robert in ihre Gedanken hinein, sein Gesicht, seine Bewegungen.

Sich Robert vorzustellen war schon immer am einfachsten, vor alldem hier war er ihr Lieblingsschauspieler gewesen. In ihrer Vorstellung tut er alles mit einer Bestimmtheit, die die Handlung vorantreibt.

Ist er in eine Bar gegangen, trinkt dort, die Ellbogen auf die Theke gestützt? Redet er mit einem Fremden? Hat er eine Frau kennengelernt? Küsst er vielleicht in diesem Moment jemanden, irgendwo in einer schummrigen Ecke, gräbt einer Blondine seine Hände ins Haar? Oder sitzt er mit hängendem Kopf am Bett der Mutter, während sie schläft, mit offenem Mund, der ihre rote Zunge zeigt? Vielleicht ist das Zimmer aber auch dunkel, nur piepsende Apparate, blinkende Lämpchen und dazu von draußen das kalte Mondlicht?

Valerie kann nicht aufhören, daran zu denken, die Musik in ihrem Ohr der Soundtrack dazu.

Sie schaut auf ihr Handy, keine Nachricht. Es ist elf, und Valerie schließt die Augen.

Fast ist sie eingeschlafen, als es plötzlich rumst. Erst denkt sie, es ist die Musik, aber die ist schon längst verstummt, der MP3-Player ist ausgegangen und liegt hart und kalt auf ihrem Bauch.

Dann hört sie einen Schlüssel auf den Tisch klirren, feste Schritte, die nur zu Robert gehören können.

Einen Moment lang überlegt sie, aus ihrem Zimmer zu gehen, das Licht anzuschalten. Robert steht mit hängenden Schultern in der Wohnung. Robert schaut sie müde an, schüttelt den Kopf, als hätte sie etwas gefragt.

Valerie bleibt liegen, sieht zu, wie unter ihrer Tür das Licht hindurchkriecht, hört, wie Robert den Flur entlangstreunert, wie Türen knarren. Ist er unruhig? Ist er erschöpft?

Soll er doch, denkt sie.

Valerie schließt die Augen. Hinter ihren Lidern zuckt es. Aber es sind keine Träume, die da kommen. Alles bleibt schwarz.

 

2

Sie schläft schon, als er die Tür öffnet. Ob sie weiß, wie sie aussieht, wenn sie schläft?

Natürlich nicht, denkt Robert. Das weiß ja keiner von sich. Man kennt sich selbst doch nur als festgefrorenes Gesicht auf einem Foto, als Wackelbild im Spiegel. Es fehlt immer das Wesentliche.

Wie ruhig Valerie jetzt wirkt. Sie hat vergessen, sich abzuschminken. Mit dem dunklen Lidstrich und den hellrosa Wangen sieht sie aus wie eine bemalte Porzellanpuppe.

Ein Streifen Licht huscht über ihren Körper, als er die Tür noch ein Stückchen weiter öffnet und dann wieder schließt.

Sie wacht nicht auf. Er ist merkwürdig enttäuscht. Ein wenig rumpelt er absichtlich gegen die Wände. Er horcht immer wieder nach. Nichts regt sich. Armselig, das weiß er. Aber so leise, so ruhig kommt ihm die Wohnung irgendwie komisch vor, falsch. So ohne jeden Herzschlag.

Selbst im Wohnzimmer wirkt alles gespenstisch verlassen. Sie hat aufgeräumt, oder kommt es ihm nur so vor? Die Arbeitsplatten glänzen regelrecht, darauf eine Schale mit Obst, wie eine Dekoration im Möbelprospekt.

Im Sofa sinkt er ein, als wäre es uralt. Tatsächlich hat er aber keine Erinnerungen daran. Dann fällt ihm doch etwas ein, ein kurzes Aufblitzen nur, er sieht sich selbst mit Valerie dort sitzen, die Fernbedienung in der Hand nach oben gestreckt, Valerie hüpft auf ihm herum, greift nach ihr. Gellend hört er ihr Schreien im Ohr, ihr Lachen, sein eigenes Lachen. Irgendwann hat sie natürlich geheult, meistens hat sie irgendwann geheult. Beinahe muss Robert lächeln. Woran man sich immer erinnert. Als gäbe es nichts Wichtigeres in all seinen Erinnerungen als dieses Heulen.

Robert steht wieder auf, durchsucht die Schränke, findet aber keinen Alkohol. Besser so, denkt er. Er wollte schließlich auch damit endlich aufhören.

Dann findet er doch etwas: Unter der Spüle steht noch eine angebrochene Flasche Wein. Er stellt sie vor sich auf den Couchtisch, schaut eine Weile darauf. Irgendwann nimmt er doch einen Schluck. Der Wein ist sauer und warm, wird auch nach ein paar weiteren Schlucken nicht besser.

Wie er hier sitzt mit der halbvollen Flasche, nicht mal mit einem Glas, das ist beschämend und albern zugleich. Seine Mutter stirbt, und er sitzt im Wohnzimmer und lässt sich volllaufen, starrt in die Dunkelheit um sich, als suchte er eine Antwort, kippt noch einen nach, weil da nichts kommt.

Aber was hat er erwartet?

Das ist die Frage, die ihm die Psychotante immer zuerst gestellt hat. Was haben Sie denn erwartet? Augenbrauen hochgezogen, verständnisvoller Blick, leicht nach vorne gebeugt, nicht zu sehr, damit er sich nicht bedrängt fühlt. Ist ja sein Raum, seine Stunde. Da ist sie ganz offen, das kann er ganz frei – dabei macht doch schon das Knarzen dieses blöden Therapiestuhls, dass nichts mehr frei ist. Dass er über jede Bewegung extra nachdenkt, weil jedes Zurechtrücken, jedes Beinüberschlagen schon dazu führt, dass man es im engen Raum hört, als hätte er damit etwas zugegeben. Ein Geständnis seiner Körperhaltung, er muss gar nicht den Mund aufmachen, die Psychotante guckt auch so schon, als wüsste sie alles. Ohne ihn anzusehen natürlich, Blick diskret an ihm vorbei.

Ja, was hat er erwartet? Irgendeinen Knall vielleicht. Schließlich ist es ewig her, seit er das letzte Mal hier war. Zumindest gefühlt. Vor drei Monaten war er kurz im Krankenhaus, davor hatte er an Weihnachten vorbeigeschaut. Aber da hatte er gleich gesagt, dass er arbeiten müsse, dass er deswegen nicht lange bleiben könne, dabei hat die Firma über Silvester ja zu.

Ansonsten die Stimme der Mutter am Telefon. Und am Telefon klang die Mutter so anders, blechern und gleichzeitig fröhlich, auf eine distanzierte Art, genau so wie sie vermutlich mit ihren Kollegen geredet hatte, damals, als sie noch arbeitete.

Wie kommt er jetzt eigentlich darauf? Er war ja nie mit ihr im Büro, nicht in der Firma vorher und schon gar nicht bei dieser komischen Wohltätigkeitsorganisation, wo sie als Buchhalterin gearbeitet hatte. Aber das eine Mal, jetzt erinnert er sich, da hatte sie von zu Hause gearbeitet. Valerie hatte die Windpocken oder so. Auf jeden Fall war ihm furchtbar langweilig gewesen, und er hatte im Wohnzimmer gespielt. Er hörte sie telefonieren, und einen Moment war er nicht sicher, ob das wirklich sie war. Diese andere Stimme plötzlich. Diese andere Mutter, die sie war und dann gleich schon nicht mehr war, als sie nämlich auflegte und rummeckerte, weil er vergessen hatte, seinen Spielzeugkran wieder wegzuräumen.

Das letzte Mal, als er hier war, haben sie kaum ein Wort miteinander gesprochen. Wobei das nicht ganz stimmt. Robert weiß nicht mehr, was er gesagt hat, oder ob er überhaupt irgendwas gesagt hat. Die ganze Erinnerung ist schemenhaft, dabei sind nur drei Monate vergangen. Aber was für drei Monate.

Und heute, heute wollte er ja, heute hätte er endlich gekonnt. Und genau heute hat er nicht mit ihr sprechen können. Nur kurz war sie aufgewacht, als er kam. Davor hatte er allerdings schon minutenlang dort gestanden und sie angestarrt. Das Bild, wie sie da liegt, schlafend, aber nicht friedlich, nicht wie Valerie schläft, so ruhig und gleichmäßig, sondern eher wie ein Stein, hat sich eingebrannt. Trotzdem sieht sie im Schlaf gar nicht so krank aus. Erst im Reden verzerrt sich ihr Gesicht zu dieser Schmerzensmaske.

Robert, hatte sie gesagt, schön, dass du gekommen bist. Ob da wirklich Freude war hinter dieser Maske? Er hatte auf Wut gewartet, genau wie bei Valerie, stattdessen auch bei ihr nur Schweigen.

Wo hast du Valerie gelassen?

Sie konnte nicht, die Schule, sagte er, und sie sagte nichts dazu, sondern verzog nur weiter das Gesicht, ließ es dann plötzlich erschlaffen und schloss die Augen.

Nichts sieht älter aus, denkt Robert jetzt, als dieses Erschlaffen, Spannung verlieren, wie ein alter, schon schrumpelig gewordener Ballon. Als wäre es möglich, noch im Leben alles aus einem Gesicht abzulassen, als eine Art Vorgeschmack auf den Tod, auf das völlige Luftverlieren.

Es ist schön, sagte sie, man bekommt ja so selten Besuch.

Du bist doch erst seit ein paar Stunden hier, wollte er sagen, sagte es aber nicht, sondern setzte sich.

Wie ist die andere?, fragte er.

Eine unerträgliche Person, sagte die Mutter und ließ die Augen geschlossen. Immerzu muss sie sich beschweren.

Du kannst ruhig wieder gehen, sagte sie irgendwann.

Aber Robert blieb sitzen. Erst als lärmend die Tür geöffnet wurde, stand er auf. Eine ältere Frau kam herein, begleitet von drei jüngeren, dahinter huschte eine Pflegerin durch den Gang, blieb schließlich stehen und nickte ihm zu.

Ich bin der Sohn, sagte er, aber er sagte es in den leeren Gang, die Pflegerin war schon fort.

Erst jetzt, wo die Anstrengung ihm langsam aus den Gliedern sickert, merkt er, wie müde er ist. Wie erschöpft, als liefe auch aus ihm alles heraus.

Er muss sich noch das Bett in der Kammer beziehen, oder das Sofa, oder aber, er legt sich einfach so auf das Sofa, wartet, dass er wegdöst, genau wie Valerie, die sich ja schließlich auch nicht abgeschminkt hat. Wahrscheinlich ist sie einfach beim Musikhören eingeschlafen.

Auch das hatte er sich anders vorgestellt. Schließlich ist er das vorher tausendmal durchgegangen, das Wiedersehen. Damit er diesmal alles richtig macht. Er hatte sich auf einen Streit eingestellt, auf Weinen. Auf irgendwas. Er hätte es genommen, wie es gekommen wäre.

Stattdessen: nichts. Er hat keine Ahnung, was hinter Valeries Puppengesicht vor sich geht, hinter dieser zerbrechlichen Härte.

Robert holt sich eine Decke, legt sich hin, schließt die Augen. In der Wohnung unter ihm muss der Fernseher laufen, er hört es durch den Fußboden. Er lauscht auf das Murmeln, irgendwo gibt es ein Knacken, von draußen vielleicht.

Wie viel sich verändert hat, denkt Robert, seit er das letzte Mal hier war. Selbst die Wohnung fühlt sich anders an. Fremd und trotzdem vertraut. So, als wäre es eine neue, die man ihm anstelle der alten untergeschoben hat, die genauso aussieht, dieselben Möbel, dieselbe Schwester. Aber alles Statisten. Selbst die Vorhänge.

Robert lauscht seinem eigenen Atem. Der Schlaf kommt nur langsam. Irgendwann in der Nacht fängt es wieder zu regnen an.

 

3

So sonnenbestrahlt ist die Welt am nächsten Morgen, dass Valerie sich erst blinzelnd daran gewöhnt. Es ist ungewöhnlich warm, die Küche schimmert gelblich wie im Sommer. Wenn es nur wirklich Sommer wäre, denkt sie. Wie sie diese Zwischenzeiten hasst. Immerzu dieses Warten.

Und jetzt wartet sie auf Robert. Aber sie versucht wenigstens, irgendetwas anderes zu machen. Ein Kreuzworträtsel, Hausaufgaben. Wie ein Bürokrat hat sie alles auf dem Küchentisch aufgereiht, in kleinen Häufchen nebeneinander, als wollte sie alles abarbeiten. Stattdessen schiebt sie es nur hin und her.

Als Robert in die Küche kommt, isst sie gerade eine Schale Müsli.

Na du, sagt Robert und hebt die Arme zum Kratzen. Er trägt ein weißes T-Shirt, unter dem seine Haut irgendwie dunkel aussieht, viel dunkler als ihre, ohnehin ist alles an ihm dunkler. Valeries Haare sind blond, wie Weizen oder wie Sonne oder wie ein Pissfleck in giftigem Gelb. Aber das erst, seitdem sie vor ein paar Monaten versucht hat, sie zu färben. Wie sie da standen, in Ivanas kleinem Bad. Sieht doch gar nicht mal so schlecht aus, sagte Ivana, und während sie das sagte, befummelte sie ihr eigenes Weizenhaar. Nathalie machte ein Gesicht wie ein verschrecktes Reh und schaute in die Dusche, wo alle zehn Sekunden der Wasserhahn einen Tropfen in die Wanne spuckte. Oh Gott, sagte Valerie und musste dann lachen. Über alles und am meisten über Nathalies Gesicht im Spiegel neben ihr, neben ihren Pissehaaren und ihrem Gesicht, das noch so rund war, dabei ist das gar nicht so lange her.

Valerie steht auf. Dann setzt sie sich doch wieder, blättert stattdessen in einem Buch, in welchem, weiß sie nicht, sie schaut gar nicht hin, nicht zu dem Streifen Haut über Roberts Hose, den man jetzt sieht, schwarze Härchen wie eine Dreckspur nach unten.

Na du, sagt Robert noch mal und setzt sich gegenüber, lässt sich richtig fallen, als müsste er sich selbst etwas beweisen. Er sieht müde aus, seine Haare sind verstrubbelt.

Du warst lange weg, sagt Valerie und ärgert sich, weil sie klingt wie die Mutter. Aber das stimmt nicht ganz, die Mutter hätte gar nichts gesagt, nur geguckt hätte sie mit einem Blick, der viel mehr sagt und der einem viel nachhaltiger das schlechte Gewissen in den Magen pumpt.

Ich weiß. Robert fährt sich mit den Händen über das Gesicht.

Wie geht es Mama?, fragt Valerie und fragt sich, wieso sie sich eigentlich so anstrengt, unbeteiligt zu klingen.

Ich hab mir Sorgen gemacht.

Sie sieht echt nicht gut aus, sagt Robert. Ganz bleich und so, aber na ja, du hast sie ja gesehen. Sie kriegt jetzt Blut, das wird schon.

Okay, sagt Valerie. Aber haben sie?

Nein, nein. Robert schüttelt den Kopf dazu, als reichten die Worte nicht. Ist erst mal okay so, denke ich. Scheint alles okay zu sein. Aber sie ist natürlich nicht so froh, dass sie wieder da ist.

Sie schweigen, und Valeries Löffel klirrt in der Müslischale.

Okay. Und wann willst du sie das nächste Mal besuchen?

Heute, sagt Robert. Vielleicht können wir ja gehen, wenn du aus der Schule kommst. Ich meine, wenn du willst.

Ich habe aber bis Nachmittag, sagt Valerie, wieder klirrt es, und sie legt den Löffel beiseite. Na gut, okay. Sie seufzt. Meinetwegen.

Okay, Valle, so machen wir das. Er kneift die Augen ein bisschen zusammen, wie wenn er echt lächelt, wenn er es ernst meint, hat er schon immer. Und obwohl seine Augen nur noch kleine braune Schlitze sind, sind sie ganz auf sie gerichtet.

Da ist plötzlich ein warmes Gefühl in ihr, das sie schon lange nicht mehr gespürt hat. Sie lächelt zurück, und ihr fällt auf, dass sie auch das schon lange nicht mehr gemacht hat.

Das leichte Lächeln bleibt in ihrem Gesicht, als sie auf die Straße tritt. Aber ihr Rucksack ist schwer von all den Büchern, und nach wenigen Schritten ziehen sich ihre Mundwinkel ganz von alleine nach unten. Jetzt ist ihr nur noch übel, weil sie zu wenig gegessen hat.

Je näher sie der Schule kommt, desto absurder erscheint ihr das alles. Als liefe sie gar nicht zur Schule, als gäbe es gar keine Schule, als versuchte sie, etwas ganz Unmögliches zu erreichen, unerreichbar und doch sichtbar wie hinter einer Glaswand.

Vor den Toren stehen schon die anderen, in Gruppen wie zusammengeklumpte Zellen, ab und zu stößt jemand daraus hervor, meistens ein Junge, stolpert auf die Straße, auf der sich die Autos schieben.

Vom Sportplatz gegenüber kommt ein Pfeifen, in der Mitte sieht man Figürchen mit wehenden Haaren im Kreis laufen.

Valerie ist schon bereit, in die Straße einzubiegen, hält schon Ausschau nach den anderen, aber ihre Beine tragen sie einfach weiter, laufen Schritt für Schritt an der Straße vorbei, als wäre da wirklich eine Glaswand, die ihre Schritte lenkt.

Valerie läuft noch ein bisschen weiter, bleibt dann stehen. Der Marheinekeplatz ist um diese Uhrzeit leer, ein paar Obdachlose sitzen auf den Bänken, beugen sich über eine Nettotüte. Müll quillt aus der Tüte, aus den Stahleimern um sie, türmt sich zu ihren Füßen. Die Spielgeräte sind verwaist, eine Schaukel ruckelt gespenstisch hin und her, während über ihr die Bäume im Wind zittern.

Valeries Beine laufen weiter, laufen an den Spielgeräten vorbei, vorbei an dem Wasserspielplatz, wo jetzt kein Wasser ist.

Vor der Markthalle sitzen noch mehr Menschen, einige gekrümmte auf der Bank davor, obdachlos genug, um laut zu reden mit verzerrten Mündern, aber immerhin mit Kaffee in den Händen.

Zwei davon glotzen sie an, und Valerie muss sich zwingen, ihnen nicht den Stinkefinger zu zeigen, so sehr hasst sie dieses ständige Gegaffe.

Um diese Uhrzeit ist hier kaum jemand Normales unterwegs. Um diese Uhrzeit ist die Straße ein einziger Hort für merkwürdige Gestalten.

Endlich weiß Valerie, wohin, ihre Beine wussten es sowieso. Bei ihrem Lieblingscafé macht sie halt. Sie geht dort immer mit Ivana und Nathalie hin, manchmal nach der Schule, neulich sogar zum Mathelernen. Mit Ali ist sie hier nie gewesen. Ali ist niemand, der solche Orte mag.

Am Tresen ist eine andere Bedienung als sonst. Ein Glück. Was jetzt alles zerstören könnte, wäre eine Frage.

Valerie sucht sich eine Illustrierte, kleckst mit dem Kaffee darauf, schaut aus dem Fenster. Sie fühlt sich hier wohl, auch wenn aus der Decke blechern Chartsmusik dröhnt, eingewebt in das Schnattern der Frauen am Nebentisch. Eigentlich sind sie viel zu alt für dieses Café, denkt Valerie. Vielleicht verschanzen sich hier aber auch morgens die Alten in den Cafés. Erst nachmittags kommen die Jungen.

Die anderen, wie sie da in diesem Moment in der Klasse sitzen, sind meilenweit entfernt. Valerie spürt eine Verlorenheit, die gleichzeitig Glück ist. Als hätte das alles einen Grund. Weil sie hier ist vielleicht, weil sie die neueste Zeitschrift liest, ohne wirklich zu lesen, und anstatt ihrer Gedanken die Chartsmusik durch ihr Hirn dudelt, eine fröhliche Welt, in die sie sich einfach einfügt.

Irgendwann guckt die Bedienung komisch, weil Valerie ihren Kaffee nicht trinkt, aber auch nichts Neues bestellt. Es sind zwei Stunden vergangen, aber Valerie merkt es nur daran, dass der Kaffee jetzt wirklich kalt ist. So kalt schmeckt man erst das ganze Aroma, widerlich, bitter, pelzig, gallig. Es gibt einen Grund, warum alle Kaffee immer nur heiß trinken.

Valerie steht auf, legt Geld auf den Tisch. Ihr ist ein bisschen schwindelig, aber niemand schaut hin, als sie zur Tür wankt.

Draußen ist es kühl, es tröpfelt. Ihr Gesicht fühlt sich feucht an. Sie wünscht sich trotzdem, sie könnte ewig so laufen. Immer geradeaus oder einfach sonst wohin.

Das Wasser im Wasserspielplatz ist immer noch ausgeschaltet. Vielleicht, weil jetzt Herbst ist oder weil es ohnehin regnet. Kinder sind sowieso keine da. Valerie ist froh, die paar alten Männer auf der Bank, die dasitzen, so hohl, als spürten sie den Regen nicht, der doch so laut auf ihre Tüten platscht, die stören sie nicht weiter.

Ob die wohl früher auch schon da waren? Ob Valerie hier gespielt hat als Kind, die Mutter neben den Männern auf der Bank? Das kann sie sich nicht vorstellen, aber irgendwo gespielt haben muss sie. Sie erinnert sich nicht daran, natürlich nicht, als Kind ist man dumm und glücklich und man erinnert sich deswegen später an absolut nichts. Aber es gibt Fotos von ihr auf dem Spielplatz mit ihrer Mutter, die damals eine andere war, und manchmal war auch ein Mann auf den Bildern.

Valerie geht schneller.

Robert sitzt noch immer am Küchentisch, schaut auf, als sie hereinkommt.

Oh, hallo, sagt er, runzelt die Stirn.

Ihr Rucksack rumst zu Boden. Schule war langweilig, sagt sie.

Robert mustert sie, nickt dann aber. Willst du dich erst ausruhen, oder wollen wir gleich los?

Lieber gleich, sagt sie. Dann haben wir es hinter uns.

Okay, sagt er. Ich schreib ihr nur kurz, dass wir kommen.

Gemeinsam U-Bahn zu fahren ist komisch. Jetzt, wo sie sich gegenübersitzen, die Knie berühren sich beinahe, weil Robert so lange Beine hat, ist da wieder diese Peinlichkeit. Robert räuspert sich, es geht fast unter im dröhnenden Schnurren des Wagens.

Das Abitur, was?, sagt er, und Valerie nickt, beide nicken sie.

Manchmal denke ich, es war dumm, dass ich das einfach geschmissen habe. Das eine Jahr hätte ich ja eigentlich auch noch durchhalten können. Vor allem nach der Extrarunde vorher.

Valerie nickt weiter. Was soll sie auch sonst tun.

Aber du ziehst es echt durch, oder? Trotz allem?