Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Rosa – Ein Sommer in Cornwall« an empfehlungen@piper.de, und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Redaktion: Sandra Lode
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«
Covermotiv: depositphotos.com (FlowerStudio; may1985; acceleratorhams)
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Inspiriert durch die Lebensgeschichte von Erfolgsautorin Rosamunde Pilcher
Unvermittelt blitzen Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hervor, flimmernde Lichtpunkte, die sich im Hals der Vase bündeln und über die Landhausdielen tanzen. Von der plötzlichen Helligkeit geblendet, lässt Rosa ihre Hände sinken, mit denen sie zuvor Osterglocken mit einem Bund Heidelbeergrün neu arrangiert hat, schließt einen Moment die Augen und reckt ihr Kinn der Sonne entgegen, der Wärme des nahenden Frühlings.
Bis vor zwei Wochen bedeckte eine dünne Schneedecke die Tausend-Seelen-Gemeinde Longforgan und sorgte dafür, dass die Uhren der schottischen Grafschaft Perthshire langsamer tickten als zuvor. Als hätte jemand den Stecker aus der Betriebsamkeit ihres Alltags gezogen, trägt der erste Schnee eine Zeit des Müßiggangs und der Besinnung zu den Dorfbewohnern. Sobald Seen und Bäche zu Eis erstarren und Frost die angrenzenden Hügel und Bäume wie mit Zucker bestäubt, duftet es in den Häusern nach Venison Stew und würzig-fruchtigem Christmas Pudding, verfeinert mit Trockenfrüchten und Brandy. Öfen werden angeheizt, alte Fotos angeschaut und Geschichten aus dem hintersten Winkel der Erinnerung hervorgeholt, ebenso ein rauchiger Whisky, dessen Aroma sich niemals besser entfaltet als nach einem langen Winterspaziergang entlang der Küste, sobald die unvermeidbaren Schauer vorübergezogen sind.
Für Rosa bedeuten die Winter in Longforgan vor allem behagliche Stunden vor dem Kamin. Eingekuschelt in eine Wolldecke, die Füße auf einer gepolsterten Bank ausgestreckt, genießt sie die Ruhe, bevor das surrende Tagesgeschäft erneut um sich greift und selbst in diesem kleinen Ort eine erstaunliche Dynamik entwickeln kann. Doch die Kälte setzt ihr immer mehr zu. Obgleich sie ihr Geburtsjahr zu ignorieren versucht, lässt sich an ihrem Alter nicht rütteln, ebenso wenig an den sich mehrenden Todesanzeigen alter Bekannter im Evening Telegraph. Auch heute liegt eine Kondolenzkarte zum Absenden auf ihrem Sekretär bereit, gleich neben der gusseisernen Teekanne samt Stövchen. Rosa hat einen prägnanten Spruch ausgesucht, einen Gruß daruntergeschrieben, um der Familie einer entfernten Freundin ihr Beileid auszudrücken. Mehr nicht. Obwohl sie mit ihren Romanen Menschen auf der ganzen Welt berühren kann, ist im Hause Chiprel für wortgewaltige Gefühle kein Platz. Privat gilt sie als unnahbar, eine Person, die ihre Empfindungen hinter einer sprichwörtlich harten Schale versteckt.
Rosa stellt den Blumenstrauß auf eine Anrichte vor dem Fenster und lässt ihren Blick über den Garten schweifen, die ersten Frühblüher, die ihre zarten Blütenköpfe trotz anhaltender Kälte beharrlich aus dem Erdreich strecken. Heute scheint es – zumindest für schottische Verhältnisse – ein milder Tag zu werden. Nur vereinzelt huschen Wolken über den ansonsten strahlend blauen Himmel und die Sonne hat für diese frühe Jahreszeit bereits eine enorme Kraft entwickelt. Sie beschließt, spazieren zu gehen, holt ihren Parker aus dem Vorflur, dazu die Lederboots und eine Pudelmütze, und tritt zusammen mit ihren Hunden, der Pekinesendame Bonny und dem Dackelrüden Red, auf die Terrasse. Die Luft riecht frisch, ein wenig auch nach Erde. Nur hin und wieder fegt ein eisiger Wind über das Grundstück, ein letzter Gruß des Winters, der an diesem küstennahen Ort immer etwas salzig schmeckt.
Langsam folgt sie dem gewundenen Weg durch den Garten und geht im Kopf bereits die Aufgaben für den Start ins neue Gartenjahr durch. Insbesondere der Giersch ist eine Plage, eine Herausforderung, der sie sich immer wieder aufs Neue stellt. Obwohl ihre Kinder für diese schwere Arbeit einen Gärtner beauftragt haben, rückt sie dem Unkraut nach wie vor selbst mit einer Spitzhacke zu Leibe. Sie ist nicht krank. Nur ein wenig in die Jahre gekommen, wie ihre blaue Gartenbank, die trotz der abblätternden Farbe weiterhin herrlich bequem ist. Niemals aber würde sie sich die Arbeit im Garten nehmen lassen. Eine Tätigkeit, die hilft ihr, sich im wahrsten Sinne des Wortes zu erden. Wenn Sand und Steinchen durch ihre Finger rinnen und sich Vergangenes mit Zukunft verbindet, kommt sie zur Ruhe. Zwischen all den ausgewählten Pflanzen, mit denen sie nach und nach die Beete bestückt hat, lässt sie ihre Seele baumeln und ihren Gedanken freien Lauf. An das, was war, und das, was nie sein wird. An die sonnigen Tage ihres Lebens und regnerische Stunden voller Dunkelheit, die sie zu dem Menschen geformt haben, der sie heute ist.
Einst bewohnte sie das schneeweiß verputzte Cottage zusammen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern. Seit er gestorben ist und ihre Familie sich ihr eigenes Leben aufgebaut hat, lebt sie hier allein. Unvermindert wichtig ist ihr die Privatsphäre des geschlossenen Refugiums, das sich mit einer meterhohen Natursteinmauer von der übrigen Welt abgegrenzt. Nicht jeder ist willkommen, in diesem Punkt ist sie konsequent. Neugierige Blicke aufdringlicher Journalisten sind ihr ein Gräuel, weshalb sie trotz ihrer beachtlichen Karriere stets ein Augenmerk darauf gelegt hat, diese von ihrem Grundstück fernzuhalten.
Freudig kläffend verschwinden die Hunde zwischen den Büschen, und auch Rosa folgt dem Pfad in den hinteren Bereich des Gartens. Noch bestimmen Grau- und Brauntöne die ersten Frühlingstage, doch wer sich die Mühe macht, genauer hinzuschauen, entdeckt schon jetzt erste Knospen, die ihre volle Pracht bald entfalten werden. Vor allem für die Königin unter den Blumen hat Rosa eine besondere Liebe entwickelt, was nicht nur, aber auch ihrem Vornamen geschuldet ist. Wesentlich später im Jahr begrüßt die Besucher der frische Apfelduft der Albertine, gefolgt von dem betörenden Honigduft der Rosa filipes ›Kiftsgate‹ – eine Kletterrose, die bis in die Äste eines uralten Ilex hinaufgewachsen ist und dank dieser Anstrengung Haus und Garten überragt.
Hinter einer Reihe Rhododendronbüsche beginnt der »Woodland Garden«, ein natürlich anmutender Wald, angelegt vom ehemaligen Besitzer des Herrenhauses, zu dem das Cottage einst gehörte. Im späten Frühjahr bildet sich hier ein blauer Teppich aus Hasenglöckchen unter den jahrzehntealten Blutbuchen und Linden. Narzissen strecken ihre Köpfe den Sonnenstrahlen entgegen, und im Laufe des Jahres gesellen sich Farne auf dem Waldboden hinzu, dazwischen robuste Stauden, die sich mit dem Schatten der Bäume arrangieren. Obwohl dieser Teil des Gartens zu ihren Lieblingsplätzen zählt, streicht ihr Blick heute rastlos über die noch kahlen Zweige, die Bäume, unter deren Rinde bereits neues Leben pulsiert. Zusammen mit der Vorfreude auf diese vor Kraft strotzende Jahreszeit drängt sich ihr ein neuer Einfall in den Sinn und sie denkt an all die Bücher, die sie mit ihren Ideen gefüllt hat. Nur für eine Geschichte fehlte ihr bisher der Mut. Ihre persönlichste Erzählung ist noch immer nicht geschrieben.
All die Jahre zuvor hat sie es geschafft, den Gedanken zurückzudrängen, der sich unaufhaltsam wie einer der Krokusse den Weg ans Tageslicht bahnt. Nur heute ist etwas anders und sie spürt, dass es an der Zeit ist. Sie muss endlich ihr Werk vollenden, bevor sie keine Möglichkeit mehr dazu hat. Über ihre eigene Beharrlichkeit überrascht, huscht Rosa ein Lächeln übers Gesicht. Dann dreht sie um. Eilt so schnell wie möglich den Pfad zurück und auf das Arbeitszimmer zu, wo ihre Schreibmaschine schon viel zu lange unbenutzt auf sie wartet. Doch da ist diese winzige vereiste Stelle auf dem Boden. Eine spiegelblanke Pfütze, die unter verwelkten Blättern verborgen liegt und die der Winter noch fest in seinem Griff hat. Erst als sie hart auf dem Boden aufschlägt und Erde auf ihren Lippen schmeckt, begreift sie, dass sie ausgerutscht ist. Ein stechender Schmerz fährt ihr in die Hüfte und sie krallt ihre Finger in ein Grasbüschel, unfähig, sich aus eigener Kraft wieder aufzurichten. Sie hat noch so viel vor. Doch das Leben hat sich noch nie dabei zurückgehalten, ihre Pläne zu durchkreuzen.
»Dort. Das muss es sein.« Leona deutet so hektisch auf eine Ansammlung schmuckloser Reihenhäuser, dass Wren nahezu eine Vollbremsung hinlegt. Er wirft einen kurzen Blick in den Rückspiegel, lenkt den Firmensmart in eine der zahlreichen Parklücken am Straßenrand und stellt den Motor aus. Der Vorort sieht verschlafen aus, außer ihnen ist niemand auf den Straßen unterwegs. Leona verzieht beim Anblick der winzigen Grundstücke abschätzig den Mund. Müllunterstände in Ockergelb, schnurgerade Betonplattenwege, die Rasenplätze zum Nachbarn hin mit anthrazitfarbenen Stahlzäunen abgegrenzt.
»Trostlos«, fasst Wren die Umgebung mit nur einem Wort zusammen. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«
»Ich erkenne das Haus von einem der Fotos wieder. Kaum zu glauben, dass er mal einen Millionenvertrag hatte, oder?« Neugierig schaut sie sich nach allen Seiten um, speichert möglichst viele Eindrücke ab, um sie später im Büro in Worte zu fassen. Ein einfaches Stilmittel, das ihren Lesern das Gefühl geben wird, bei dem Interview dabei gewesen zu sein.
»Schwer vorstellbar, dass er so tief gesunken sein soll.« Wren streckt sich ausgiebig von der langen Fahrt und lässt seine Fingerknöchel knacken. »Paul Naumann – vom Star-Kicker zum mittellosen Landei. Klingt nach einer heißen Story, findest du nicht?«
»Das finden wir nur raus, wenn wir jetzt aussteigen. Kommst du?«
Bevor er etwas entgegnen kann, öffnet sie schwungvoll die Beifahrertür und springt aus dem Auto. Der kühle Wind verstärkt das dumpfe Pochen hinter ihren Schläfen, das sie bereits seit den frühen Morgenstunden quält. Den Mantelkragen bis zum Kinn hochgeklappt, sieht sie ihren Kollegen auffordernd an, wirft, als er nicht reagiert, einen wiederholten Blick auf die Armbanduhr und öffnet eine Dose Cremerouge. Sie weiß, dass er die Fotos später im Büro mit Photoshop überarbeiten wird, dennoch zupft sie ihre Haarsträhnen zurecht und tupft noch einen Hauch Farbe auf Wangen und Lippen.
»Die Infos sind zuverlässig«, sagt sie, verstaut ihre Schminkutensilien in der Tasche und hält Wren auffordernd seine Ausrüstung hin. »Vertrau mir! Mein Informant hat mir eine Exklusivgeschichte versprochen. Du wirst schon sehen.«
»Wie lang ist es her, dass Naumann von der Bildfläche verschwunden ist? Ein Jahr?« Wren schlägt die Tür zu und kommt auf sie zu. »Ich kann mich noch genau an die Schlagzeilen von damals erinnern. Er ist einfach aus dem laufenden Geschäft ausgestiegen. Das Ausnahmetalent der Nationalmannschaft.«
»Vielleicht war der Druck zu hoch«, mutmaßt Leona. »Die Gründe hat er nie öffentlich gemacht.«
»Ich habe ihn mir mit seinen Millionen immer auf den Bahamas vorgestellt. Doch stattdessen …«
»Ist er ganz unten angekommen. Unglaublich, aber scheinbar wahr!« Sie pustet sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sieht erneut zum Haus. »Er soll die letzten Monate tatsächlich im Ausland gelebt haben. Aber jetzt scheint er wieder da zu sein. Ein Nachbar hat ihn auf der Straße erkannt. Offenbar wollte seine Familie die Rückkehr so lange wie möglich geheim halten.«
»Was du gekonnt zu ignorieren weißt.« Er hebt eine Braue und fixiert sie so lange mit seinem kritischen Blick, bis sie sich von ihm abwendet.
»Ohne meine Neugier wäre ich niemals an die Geschichte gekommen! Mich hat der Nachbar angeschrieben, keinen unserer ach so klugen Kollegen. Siehst du den Aufmacher vor dir? Damit schaffen wir es mindestens auf Seite zwei. Nicht länger Lokalresort, wie klingt das?«
»Einfach perfekt! Dein Vater wird stolz auf dich sein!«
Sie rollt mit den Augen und schnalzt ungeduldig mit der Zunge. »Der weiß zum Glück nichts von unserem Trip. Von ihm hätten wir diesen Auftrag nie bekommen. Aber ich bin so weit, Wren. Das spüre ich.«
Statt einer Antwort verschränkt Wren die Arme vor der Brust. Zustimmung sieht anders aus, auch wenn ihm dieser finstere Blick ausgesprochen gut steht. Braune Locken, Dreitagebart, einhundert Prozent Bradley-Cooper-Verschnitt – nur leider nicht im Geringsten am weiblichen Geschlecht interessiert. Was für eine Verschwendung! Leona starrt ihn einen Moment düster an, wendet sich dann ab und zieht ein Tütchen mit Schmerzmittel aus der Tasche. Das weiße Pulver hinterlässt eine bittere Spur auf ihren Geschmacksknospen, wird jedoch hoffentlich gegen den wummernden Schmerz helfen, der unverwandt hinter ihren Schläfen klopft und immer schlimmer wird. Eher widerwillig schluckt sie, bevor sie entschlossen auf das Gartentor zusteuert. Heute darf sie sich nicht ablenken lassen. Nicht, bevor sie das Interview erfolgreich hinter sich gebracht haben.
»Wenn du dieses Zeug weiter in solchen Mengen konsumierst, musst du nach deinem Ableben als Sondermüll entsorgt werden«, kommentiert Wren ungefragt und grinst sie schief an, anscheinend um gute Laune bemüht. »Entspann dich lieber. Ich habe es nicht so gemeint. Was hältst du vom Havanna Club – wir beide, heute Abend. Na, wie klingt das?«
Sie erwidert seinen Blick kühl, lenkt dann aber ein, froh, ihn bei diesem wichtigen Termin dabei zu haben. »Zugegeben, Lust auf einen Limoncello Spritz hätte ich.«
»Aber?«
»Ich weiß nicht, was André vorhat. Verbindlich meine ich. Wir haben darüber nicht gesprochen.«
»Heißt konkret, du hältst dir jeden verdammten Abend für deine Affäre frei?«
Seine ungläubige Miene verstärkt das Druckgefühl in ihrem Bauch und sie greift automatisch in Richtung Kinn. Doch da ist nichts mehr. Keine Haarsträhne, die lang genug ist, um sie um den Zeigefinger zu wickeln. Stattdessen nestelt sie an ihrem Mantelkragen und beschleunig das Tempo, als wolle sie sich zwingen, den Termin so schnell wie möglich durchzuziehen. »Ich führe gleich ein Interview. Schon vergessen? Sei gefälligst still! Wenigstens die nächste Stunde über.«
»Und wenn sie nicht da ist?« Wren kommt mit langen Schritten hinter ihr her und deutet auf die dunklen Fenster des Hauses.
Leona wirft einen Blick auf ihre Smartwatch. »Mein Informant hat mir den dringenden Tipp gegeben, exakt um diese Uhrzeit hier aufzutauchen. Damit wären wir auf der sicheren Seite, sagt er.«
»Und woher weiß das dieser geheimnisvolle Informant?« Wren verzieht unwillig den Mund. »Taucht einfach auf und behauptet, der Nachbar von Paul Naumann zu sein. Nimm’s mir nicht übel, Leona. Aber für mich klingt er bloß nach einem Spinner, der dringend Aufmerksamkeit braucht.«
»Was hältst du von einem ehemaligen Fan, der eine Rechnung mit dem Profifußballer offen hat? Naumanns damaliges Verschwinden soll schuld daran sein, dass Deutschland die letzten Spiele verloren hat. Er hätte die Mannschaft destabilisiert, sagt er, und seither angefangen, Informationen gegen den Ex-Star zu sammeln. Und als dann vor zwei Tagen der Krankenwagen vor der Tür stand …«
»… sah er sich in der Pflicht, die Presse zu informieren?«
»Exakt!« Sie kneift ihre Augen zusammen und bleibt kurz vor der Haustür stehen. »Warum klingt das aus deinem Mund nur so unwahrscheinlich? Ich kann es mir sehr wohl vorstellen!«
»Weil du es unbedingt glauben willst?«
Leona starrt ihn an. »Nein, weil ich schon seit einigen Tagen lose mit dem Nachbarn in Kontakt stehe. Zuerst wollte ich auf Nummer sicher gehen. Aber jetzt … Wir können uns die Story nicht entgehen lassen, Wren. Kannst du dir vorstellen, was das für einen Aufschrei in den Medien gibt?« Sie tippt einige Male mit ihrer Schuhspitze auf den Boden und sieht erneut auf die Uhr. Verdammt! Wieso muss er nur in diesem Moment mit dieser Diskussion anfangen? Gerade will sie an einer Ecke ihres Fingernagels knabbern – eine schlechte Angewohnheit, die sie bisher nicht loswerden konnte –, als ihr Blick auf Wren fällt, der sie mit schiefgelegtem Kopf ansieht. »Was?«, faucht sie und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Du wirkst ebenfalls nervös auf mich, Leo! Meinst du nicht, wir sollten es noch mal überdenken? Alle Infos stammen aus einer Quelle. Das ist nicht die Art, wie wir normalerweise arbeiten. Und je länger wir darüber reden, desto dubioser erscheint mir der Fall.«
Mit zusammengekniffenen Lippen legt sie den Finger auf die Klingel, verharrt jedoch auf dem Knopf, ohne ihn zu drücken. »Verdammt, Wren! Kannst du endlich damit aufhören, mir diesen Termin ausreden zu wollen? Bitte!« Sie lässt die Hand sinken und sieht ihn flehend an. »Es ist nicht optimal gelaufen, okay! Aber du weißt, wie wichtig mir das ist. Wenn wir nur den Hauch einer Chance haben … müssen wir es versuchen. Und falls es eine Finte ist, gehen wir einfach wieder. Versprochen! Was haben wir denn zu verlieren?«
Wren kratzt sich am Kopf. »Unseren Job? Hör mal, Leona, ich bin zwei Stunden mit hundertsechzig Sachen über die Autobahn geheizt, ohne Kaffee, nur um pünktlich in dieses Kaff zu kommen. Du treibst mich mit deinem Ehrgeiz noch mal an den Rand des Wahnsinns!« Er boxt sie freundschaftlich in die Seite, wird aber sofort wieder ernst. »Ich mache mir Sorgen, wie dein Vater auf unseren Alleingang reagieren wird. Immerhin ist er auch mein Chef.«
»Wo bleibt dein Killerinstinkt, ›kleiner Zaunkönig‹?«, versucht sie zu scherzen. »Hast du mir nicht damit in den Ohren gelegen, dass du nicht in Dauerschleife Kfz-Betriebe und Dauerwellenmodells ablichten willst? Gib dir endlich mehr Mühe. Oder du wirst ewig unten in der Firmenhierarchie bleiben. In diesem Punkt ist mein Vater gnadenlos.«
»Bei dir ist der Name Programm, was?« Er seufzt. »Wenn ich ein Zaunkönig bin, bist du ein blutrünstiger Löwe, ohne jedes Erbarmen.«
Mit einem Zwinkern reckt sie das Kinn nach vorne. »Du wirst mir noch dankbar sein. Können wir loslegen?«
»Weil du’s bist. Auch, wenn ich deinen Super-Stalker gruselig finde. Meinst du, er beobachtet uns gerade?« Er schaut über die Schulter zum Nachbargrundstück hinüber und schüttelt sich, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Leona richtet.
Sie legt erneut den Finger auf die Klingel. »Nicht weiter wichtig für uns, Hauptsache, wir bekommen unsere Informationen. Der Rest sollte uns egal sein!« Noch einmal atmet sie durch und drückt auf den Knopf. Ein Schrillen ertönt im Haus. Dann sind Schritte zu hören und zusammen mit einem leisen Klicken erscheint das Gesicht einer Frau im Türrahmen. Sie trägt einen blau-weiß gestreiften Schlafanzug, die Haare zu einem wirren Knoten gebunden, die Überreste ihrer Wimperntusche unter den Augen verwischt. Betont selbstsicher streckt Leona ihr die Hand entgegen, bemüht, das derangierte Erscheinungsbild der Frau mit den Fotos diverser Hochglanzmagazine in Verbindung zu bringen. Eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden. Auf der Straße aber hätte sie die Ehefrau des weltberühmten ehemaligen Stammspielers der Nationalelf niemals erkannt. »Frau Naumann? Leona Kalthoff mein Name. Journalistin bei der WORT – wir bringen Ihre Meinung zu Papier«, rasselt sie den Werbeslogan herunter. »Ich würde gerne mit Ihnen über Ihren Mann sprechen. Haben Sie fünf Minuten Zeit?«
»Mein Mann?« Die Augen der Frau weiten sich ungläubig, als suche sie fieberhaft nach einer Erklärung für das, was sich vor ihrer Haustür abspielt.
»Ja, Paul. Paul Naumann. Wir sind doch richtig?«, fragt Leona zur Sicherheit nach.
Bei diesen Worten scheint ihr Gegenüber zusammenzusacken. Ihre Unterlippe beginnt zu zittern und sie presst sich eine Hand auf den Mund, sichtlich um Fassung bemüht. »Er ist … nicht da. Ich meine …«
»Im Krankenhaus. Das wissen wir schon«, unterbricht Leona sie und rügt sich im gleichen Atemzug für ihre Ungeduld. Verbindlich Fragen stellen, hartnäckig bleiben und Professionalität beweisen. So wie ihr Vater es ihr beigebracht hat. Sie holt erneut Luft. »Frau Naumann, zu allererst die besten Genesungswünsche der Redaktion. Wir haben gehört, dass Ihr Mann von einem Rettungswagen abgeholt worden ist. Plant er etwa, wieder auf die internationale Bühne zurückzukehren? Hat er sich beim Training verletzt? Seit wann ist er wieder im Land?«
Lisa entfährt ein Schluchzer. »Es sollte keiner mitbekommen. Bisher wissen nur unsere engsten Freunde, dass wir wieder da sind. Wir wollten es langsam angehen lassen, verstehen Sie?«
»Frau Naumann. Ich bin heute bei Ihnen, um die Fakten zusammenzutragen. Professionell und diskret. Das ist doch auch in Ihrem Interesse? Sie können uns vertrauen!«
»Aber es ist zu früh …«
Leona drückt die Schultern durch. »Dann lassen Sie es mich konkreter formulieren: Stellen Sie Ihre Sicht der Dinge dar, bevor jemand anderes es tut!«
Sie folgen Lisa Naumann ins Haus. Die Luft im Wohnzimmer ist heiß und zum Schneiden stickig. Blusen, Hosen und Socken liegen verstreut auf Sofa und Esszimmerstühlen. Auf dem Eichentisch stehen benutzte Tassen und Teller, darauf ein halbes Brötchen, dessen Käsebelag sich dem Rand entgegen neigt. Überall sind Fotos ausgebreitet. Alles in diesem Zimmer zeugt von offensichtlicher Überforderung und Leona zwingt sich, nicht sofort den Rückzug anzutreten. Stattdessen legt sie ihren Block neben das benutzte Frühstücksgeschirr und klopft auffordernd auf die Stuhllehne. »Wollen wir uns nicht besser setzen? Dann redet es sich leichter.«
»Entschuldigen Sie bitte das Chaos«, sagt ihr Gegenüber mit dünner Stimme und räumt umständlich zwei Stühle frei. »Es kam so plötzlich. Ich bin noch ganz durcheinander.«
»Was ist denn genau geschehen?«, fragt Leona und zückt ihren Kugelschreiber.
Lisa greift nach einem Fotostapel, der vor ihr auf dem Tisch liegt, und streicht gedankenverloren über das dort abgebildete Jungengesicht. Rotblonde Haare, eine niedliche Zahnlücke hinter einem verschmitzten Lächeln. Ihr Blick ist zärtlich. Und unglaublich traurig. Leona macht einen kurzen Schnappschuss mit ihrem Handy. »Ist das Ihr Mann?«
»Bitte bringen Sie das nicht in die Zeitung«, sagt Lisa Naumann mit erstickter Stimme. »Das ist privat.«
»Natürlich.« Leona bemüht sich, den Augenkontakt ein paar Sekunden länger zu halten. »Ihr Mann ist ein begnadeter Fußballspieler. Ich habe sein letztes Länderspiel gesehen. Fünfundsechzig Tore in hundertzweiunddreißig Spielen. Eine stolze Leistung.«
»Jede freie Sekunde hat er auf dem Rasenplatz verbracht. Von Anfang an war es Leidenschaft pur. Ein Jahr ist das jetzt her. Die Zeit davor kommt mir fast wie ein anderes Leben vor.«
Leona schielt auf den Aufnahmemodus ihres Handys. Der rote Knopf blinkt. Jetzt kommt es auf jedes Detail an. Auf ihren Wink, der mehr ein Augenzwinkern ist, legt Wren seinen Zeigefinger auf den Auslöser. Die richtigen Informationen zum passenden Zeitpunkt. Sie hört die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf, wie er versucht, ihr immer wieder die wichtigsten Grundsätze der journalistischen Recherche einzutrichtern. Heute wird sie ihm beweisen, dass sich sein Einsatz gelohnt hat. Dass es richtig war, auf sie, sein nunmehr einziges Kind, zu setzen. Sie rutscht auf der Stuhlkante nach vorne, die Nerven zum Zerreißen gespannt. »Dennoch haben ihn Probleme gezwungen, seiner Kariere ein plötzliches Ende zu bereiten?«
»Ach, das war nichts. Die üblichen Eifersüchteleien eben«, winkt die Spielerfrau ab. Sie schaut nervös zu Wren. »Bitte keine Fotos! Das Chaos im Haus und meine derzeitige Verfassung … Das geht niemanden was an!«
»Soweit ich weiß, ging es um mehr als seine spielerische Leistung. Es stehen ungeheure Vorwürfe im Raum.«
»Wie meinen Sie das?«
Die Augen ihres Gegenübers flackern. Mit leicht geröteten Wangen blättert sie fahrig in den Fotos. Leonas Herz beginnt schneller zu schlagen, während sie sich jedes Detail einzuprägen versucht. Das sind Emotionen, die ihre Leser lieben. Authentische Gefühle, die ihre Auflage sicherlich erhöhen werden. »Nun, ist es nicht so, dass Ihren Mann Geldprobleme belastet haben? Er soll beachtliche Summen beim Glücksspiel verloren und sich zuletzt sogar aus der Vereinskasse bedient haben. Ist das nie zur Anzeige gekommen?«
»Waren Sie noch nie im Casino?« Lisa räuspert sich. »Paul hat für den Fußball gelebt. Der Sport ist es, was meinen Mann ausgemacht hat. Darüber sollten Sie schreiben.«
»Doch dann ist er einfach so untergetaucht. Haben Sie ihm ein Ultimatum gestellt? Hat er in den vergangenen Monaten etwa eine Therapie gemacht? Und was genau ist vor zwei Tagen passiert?«
Ein erneutes Schluchzen entfährt Lisa, sie zieht ein Taschentuch hervor und tupft sich damit über die Augen. »Er hätte den Absprung geschafft. Die Therapie stand kurz vor dem Erfolg. Aber dann … Ich habe ihn noch nie so verzweifelt gesehen. Ohne jegliche Hoffnung. Oh, was mache ich den bloß? Was, wenn er nie wieder nach Hause kommt? Er hat so viel Blut verloren.« Sie schlägt die Hände vors Gesicht. Ihre Schultern beben und Leona gibt Wren ein Zeichen, erneut abzudrücken.
Der zögert zunächst, den Blick zu Boden gerichtet. Sie kann sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitet, wie er deutlich mit sich ringt, ihren Auftrag auszuführen. Obwohl dies bei Weitem nicht sein erstes Mal ist, weiß Leona, wie sehr er diese Art von Interviews hasst. Seine Skrupel machen ihn liebenswert, doch während sie seine Ehrlichkeit in ihrer Freundschaft durchaus zu schätzen weiß, sind ihr diese Gefühle bei der gemeinsamen Arbeit mehr als lästig. Sie wird dringend mit ihm darüber sprechen müssen. So geht es nicht weiter. Jedem in ihrer Branche ist bewusst, dass sich Geld vor allem mit Leid verdienen lässt. Ihr Job ist es, diese Details aus ihren Interviewpartnern herauszukitzeln, das abzuliefern, was ihr Vater erwartet. Das Pochen hinter ihren Schläfen schwillt an und sie wirft Wren erneut einen scharfen Blick zu, nicht gewillt, sich diese Chance durch seine Befindlichkeiten verderben zu lassen.
Endlich drückt er ab. Doch das mechanische Klicken reißt die Spielerfrau aus ihren Gedanken, die aufspringt und sich panisch umschaut. »Es war ein Fehler, mit Ihnen darüber zu sprechen. Jetzt, wo Paul im Krankenhaus liegt. Wir sollten das beenden. Und zwar sofort!«
Leona ballt ihre Hände zu Fäusten. Obwohl sie sich nach außen beherrscht gibt, spürt sie, wie ein Schweißtropfen an ihrer Schläfe hinunterläuft. Fieberhaft geht sie alle Optionen durch, die sie hat. Noch reichen die Puzzlestücke nicht aus, um eine Seite mit ihrer Story zu füllen, und ihre Hand wandert wie automatisch in ihre Tasche. Ihre Finger schließen sich um das glatte Papier, ihr letztes Druckmittel, um Lisa Naumann zum Sprechen zu bekommen. »Sind Sie sich sicher, dass Ihr Mann Ihre Loyalität verdient?«, sagt sie und hört dabei selbst, wie ihre Stimme zittert. Mit angehaltenem Atem beobachtet sie jede noch so kleine Reaktion ihres Gegenübers, konzentriert sich ganz auf die Situation, um diese richtig einzuschätzen.
Die Spielerfrau, die sich bereits auf dem Weg zur Tür befindet, geht zunächst weiter. Dann hält sie inne und dreht sich um. »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen. Besser, Sie gehen jetzt«, sagt sie kühl.
Leona glaubt dennoch, einen Funken Interesse in ihren Augen zu sehen. Entschlossen zieht sie das Bild heraus und hält es Lisa Naumann entgegen. »Kennen Sie die Frau, mit der Ihr Mann hier abgebildet ist? Ihr Umgang sieht vertraut aus. Mehr als das. Und Sie sind es eindeutig nicht! Es ist an der Zeit, zu reden und die Fakten auf den Tisch zu packen, meinen Sie nicht?«
Einen kurzen Moment scheinen alle im Raum die Luft anzuhalten. Doch dann sieht Lisa Naumann sie direkt an. Statt Entsetzen stielt sich ein winziges Lächeln auf ihr Gesicht und ihr eben noch zittriger Blick richtet sich mit einem Mal klar und ohne eine Spur von Unsicherheit auf Leona. »Alice hatte recht – ihr Journalisten seid wirklich skrupellos«, sagt sie mit einem immer breiter werdenden Grinsen.
»Wie bitte? Ich verstehe nicht?« Leona schaut zu Wren. Der zuckt nur mit den Schultern.
»Ach nein, wirklich nicht?« Die Frau lacht laut auf. »Dabei sind Sie doch so begabt darin, aus Fakten die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ich hätte niemals gedacht, dass Sie auf so eine billige Story reinfallen. Aber für eine lukrative Geschichte gehen Sie über Leichen, was?«
In diesem Moment öffnet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers eine Tür und eine blonde Frau betritt den Raum. Sie trägt einen perfekt sitzenden Hosenanzug, die goldglänzenden Haare wie einen Heiligenschein zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt. Leona erstarrt. »Alice Silver?«
»Du kennst mich noch?« Das Grinsen der Blondine ist überlegen. »Dachtest wohl, du bist einer riesigen Story auf der Spur, doch leider muss ich dich enttäuschen.«
»Du hast mich reingelegt!«, stellt Leona überflüssigerweise fest. Ihre Wangen werden heiß und obwohl sie versucht, sich weiterhin beherrscht zu geben, spürt sie, wie ihr die Gesichtszüge entgleiten. »Aber Frau Naumann … und Paul …«
Alice winkt ab. »Wo Paul sich derzeit aufhält, weiß ich leider nicht. Obwohl das in der Tat eine gute Geschichte wäre, nicht wahr, liebe Leona?« Sie lächelt mitleidig. »Aber dafür kenne ich unsere vorgebliche Lisa Naumann hier persönlich. Eine Schauspielerin, die liebend gerne für diese Rolle eingesprungen ist.«
»Ich habe Alice noch einen Gefallen geschuldet«, sagt ihr Gegenüber entschuldigend.
»Meine Informationen, die Mails … das warst alles du, Alice?«
Sie applaudiert gönnerhaft. »Du hast unsere Fährte hervorragend genutzt. Das Material skrupellos eingesetzt, um eine Top-Story zu bekommen. Respekt. Sich dermaßen mit dem Leid anderer zu profilieren – das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Aber so schnell wendet sich das Blatt, nicht wahr, Leona?«
Obwohl ihr zum Heulen zu Mute ist, stößt Leona ein höhnisches Lachen aus. »Das sagt die Richtige! Ich erinnere mich gut an eine Zeit, als du nicht gerade zimperlich warst. Und jetzt willst du dich als Anwältin der Menschheit aufspielen? Ausgerechnet du?«
»Damit kennst du dich besser aus, wenn ich an unseren ersten Kontakt denke. Im Gegensatz zu dir liefere ich professionelle Artikel. Meine Arbeit ist Leidenschaft pur. Nicht nur in diesem Punkt bin ich dir meilenweit überlegen. Was hältst du von der Schlagzeile: Auflage um jeden Preis – ist die ›WORT‹ noch zu retten?« Mit diabolischem Grinsen steuert Alice auf Leona zu. »Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe. Du lieferst mir den Stoff meines Lebens. Und diesmal kannst du deine Anwälte nicht auf mich hetzen. So viel steht fest!«
Als Wren den Firmenwagen auf die Abbiegespur nach Blankenese lenkt, gehen gerade die Straßenlaternen an. Sie haben sich treiben lassen, vor allem jedoch nach einer Ausrede gesucht, mit der sie ihrem Vater unter die Augen treten können. Nach wie vor fühlt Leona sich nicht für ein Verhör bereit. Mit jedem Meter, den sie sich ihrem Zuhause nähern, versteift sie sich mehr auf ihrem Sitz und krallt ihre Finger in den weichen Stoff, als könne sie dadurch den Wagen anhalten.
Sie fahren an opulenten Stadthäusern vorbei; an modernen Mehrfamilienhäusern und großzügigen Grundstücken mit altem Baumbestand. Der mondäne Elbvorort ist den oberen zehn Prozent der Hamburger Bevölkerung vorbehalten. Wohnraum in der Größe eines Schuhkartons verschlingt hier annähernd den Preis eines respektablen Kleinwagens. Reetgedeckte Fachwerkhäuser, weiß verputzte Villen aus der Gründerzeit und geschichtsträchtige Herrenhäuser prägen das Straßenbild, ebenso der unvergleichliche Elbblick. Wo Segelboote übers Wasser schippern und Kreuzfahrtschiffe vor dem Wohnzimmer vorüberziehen, ist von der Hektik der Millionenmetropole kaum etwas zu spüren. Auf ihrem Weg zum kalthoffschen Familiensitz begegnen sie nur selten glänzenden SUVs. Die Bewohner dieses Viertels bleiben hinter meterhohen Sichtschutzzäunen und Hecken verborgen – solange sie sich überhaupt hier aufhalten und nicht in Meetings und bei Terminen auf der ganzen Welt zu Hause sind.
Leona sieht zu Wren, der betont gleichmütig die Straße entlangzuckelt. Seit sie in die Stadt zurückgekommen sind, haben sie kaum ein Wort gesprochen. Zuerst waren sie eine Kleinigkeit essen, sind dann ziellos durch die Straßen gestreift. Verdrängung unausweichlicher Tatsachen – damit ließe sich ihre Strategie am ehesten beschreiben. Jetzt ist es spät und die Lösung ihres Problems ist noch immer nicht um die nächste Ecke gebogen.
»Loyalität, Fleiß und Leidenschaft« – diese Worte prangen in fetten Lettern auf dem Schild neben der Firmenzentrale und weisen jeden Mitarbeiter sowie Gast noch vor dem ersten Besuch auf die Tugenden des hanseatischen Familienunternehmens hin, das sich mehr und mehr zum Großkonzern entwickelt hat. Doch die Werte, die ihr Urgroßvater einst erfolgreich in der Unternehmenskultur verankert hat, gelten bis heute – in der Firma und bei der Familie Kalthoff. Ihr Vater hasst nichts so sehr wie ein Abweichen aus seinen gewohnten Fahrwassern. Das Missachten seiner Anweisungen ist ihm geradezu zuwider. Nicht nur einmal hat er einen Praktikanten wegen einer Lappalie, wie der nachträglich geänderten Überschrift eines Leserbriefes, gefeuert. Ihn dermaßen zu hintergehen, wie sie es mit ihrer eigenmächtigen Aktion gewagt haben, ist in der gesamten Firmengeschichte noch nicht vorgekommen. Bei dem Gedanken an die bevorstehende Strafpredigt entfährt Leona ein verzweifeltes Stöhnen.
Wren öffnet ebenfalls kurz den Mund, um ihn sogleich wieder zu schließen. Seine Finger trommeln auf das Lenkrad und als er schluckt, wandert sein Kehlkopf so angestrengt nach unten, als arbeite er gegen einen kieselsteingroßen Widerstand an. Leona seufzt noch einmal tief und gibt sich dann geschlagen. »Also gut, Wren. Spuck’s aus.«
Kurz bevor der Smart vor dem Stahlzaun ihres Elternhauses zum Stehen kommt, schaltet er den Wagen in den Leerlauf. »Es war nicht richtig, Lisa Naumann dermaßen aus der Reserve zu locken«, beginnt er vorsichtig.
»Das war nur eine Schauspielerin! Kein Grund, Mitleid mit ihr zu haben.«
»Schon klar. Aber stell dir vor, ihr Mann hätte wirklich im Krankenhaus um sein Leben gekämpft. Und wir platzen dort ohne Anmeldung einfach rein.« Er schüttelt den Kopf, als könnte er nicht fassen, an dieser Aktion beteiligt gewesen zu sein.
»Besondere Umstände erfordern eben besondere Maßnahmen«, sagt sie kühl. »Wem hätte es genützt, die Geschichte an die Konkurrenz zu verschenken? Gewöhn dich dran, Wren. So funktioniert der Weg nach oben. Du bist dafür definitiv zu weich. Das musst du schleunigst ändern.«
»Ach Leo, tu doch nicht so. Dir geht das doch auch nahe. Ich habe gesehen, wie du gezittert hast. Und deine ständigen Kopfschmerzen erst. Wem machst du eigentlich was vor?«
Sie öffnet das Fenster einen Spalt, um frische Luft in den Wagen zu lassen. Doch die Enge in ihrer Brust nimmt zu und droht ihr den Atem zu nehmen. »Im Gegensatz zu dir habe ich ein Ziel, das ich unbedingt erreichen will. Außerdem … Wren, was habe ich denn für eine Wahl? Du weißt, wie mein Vater ist.«
Er fährt sich durch die Haare. »Mir wäre es lieber, wenn wir andere Geschichten recherchieren könnten. Solche, die dem Leser ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.«
»Und du meinst, diese Jobs liegen auf der Straße? Du bist es, der sich was vormacht, Wren! Hast du mir nicht selbst von deinen Träumen erzählt? Und jetzt sieht uns an. Das Ganze ist doch nur passiert, weil wir verzweifelt sind. Weil niemand sieht, was wir wirklich drauf haben. Durch die heutige Aktion wird mein Vater sich nur in seiner Meinung über meine Unfähigkeit bestätigt sehen.« Sie spuckt die letzten Worte fast aus.
»Wenn Alice den Artikel bringt, kann ich meinen Schreibtisch räumen, so viel ist klar. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ohne Zeugnis entlassen. Das war’s dann mit meiner Karriere als Fotograf – bevor sie angefangen hat, vorbei. Einfach so, wegen nichts! Meine neue Wohnung werde ich kündigen müssen. Und wenn du schon von meinen Träumen sprichst, die kann ich ab sofort vergessen.« Wren lässt seinen Kopf gegen das Lenkrad sinken und verharrt regungslos in dieser Position.
Zaghaft stößt sie ihn an. »Wren, ich war mir so sicher …« Als er nicht reagiert, bricht sie mitten im Satz ab. Es versetzt ihr einen Stich, ihn so bedrückt zu sehen, und sie überlegt fieberhaft, wie sie das Blatt doch noch wenden kann. Wenigstens für ihn, ihren besten Freund. »Also gut«, sagt sie schließlich. »Ich mach’s. Ich nehme das Interview komplett auf meine Kappe. Vater wird nie erfahren, dass du daran beteiligt warst. Ist es dann für dich in Ordnung?«
»Und wie soll das bitte funktionieren?«, murmelt er, sieht aber wenigstens auf. Sein Blick ist müde und ihr ist zum Heulen zumute.
»Vielleicht haben wir ja Glück und es gibt keine Beweise dafür, dass du dabei warst«, überlegt sie laut. »Alice hat es eindeutig auf mich abgesehen. Du bist ihr egal. Sie hat dich nicht mal erwähnt, Wren.«
»Meinst du wirklich?« Er scheint zu überlegen und dabei die verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen, die ihm noch bleiben. »Wenn das stimmt, dann … Oh, meine Güte, das wäre fantastisch!« In seinen Worten schwingt so viel Erleichterung mit, dass Leona ein leises Kichern entfährt.
»Lass es uns ausprobieren. Schließlich bin ich seine Tochter. Er kann mich nicht einfach rausschmeißen. Und da mein Vater insgesamt sparsam mit spannenden Aufgaben umgeht, verschlechtert sich meine Situation wohl kaum. Als Konsequenz muss ich vermutlich nur länger auf das erste große Interview warten. Aber he, das kann ich aushalten, oder?«
»Leo, du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin! Mir bedeutet dieser Job alles!«
»Weiß ich doch. Und da das meine bescheuerte Idee war, werde ich die Wogen glätten. Ist doch klar.« Sie zuckt gleichmütig mit den Schultern, lässt es aber zu, dass er sie in die Arme schließt.
»Du hast was gut bei mir. Und wenn es zu schlimm wird …«
Sie legt ihre Stirn an seine Schulter, atmet noch einmal tief durch und sieht dann auf. »Weiß ich, wo ich dich finde. Danke für alles, Wren. Vor allem, dass du mitgekommen bist.« Sie drückt ihm einen Kuss auf die Wange und öffnet die Tür.
»Dafür sind Freunde doch da, oder?«
»Und du bist der beste! Hab einen schönen Abend! Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.«
Sobald das Auto aus ihrem Sichtfeld verschwindet, rutschen ihre Mundwinkel eine Etage tiefer. Fröstelnd reibt sie sich über die Arme und sieht nervös zur Stahltür, die ihr in diesem Moment wie der Eingang zu einer Festung vorkommt. Immer wieder geht sie im Kopf die wichtigsten Fakten durch, gleichzeitig hofft sie, dass ihr Vater noch nicht zu Hause ist. Es wäre nicht ungewöhnlich, dass er länger arbeitet und sie unbemerkt in ihr Zimmer verschwinden kann. An manchen Tagen kommt er so spät aus dem Büro, dass sie ihn lediglich auf offiziellen Terminen sieht. Und an besonders guten Tagen schafft sie es sogar, ein Zusammentreffen ganz zu vermeiden.
Langsam geht sie auf die Tür zu und steckt mit zittrigen Fingern den Schlüssel ins Schloss. Doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund hindert ein Widerstand sie daran, den Schlüssel komplett in den Spalt unterhalb des Türgriffs zu stecken. Sie flucht unterdrückt auf und legt den Finger auf den Klingelknopf der Gegensprechanlage, deren überdimensional großes Auge ihr stumm entgegenstarrt. Lange zu warten braucht sie nicht. Es ertönt ein Knacken und die Halbkugel mit der Kamera setzt sich in Bewegung.
»Ja?«, dröhnt ihr die Stimme ihres Vaters entgegen.
Wie ertappt zuckt Leona zusammen. So ein Mist. Jetzt heißt es, Ruhe zu bewahren. »Hallo Papa, ich bin’s. Mein Schlüssel klemmt. Lässt du mich bitte rein?«
»Damit ist alles in Ordnung.«
»Wie bitte? Was meinst du damit?«, fragt sie nervös und fixiert den Lautsprecher, als könnte er ihr eine Erklärung geben.
»Ich habe den Schlüsseldienst kommen lassen. Du wohnst ab heute nicht mehr hier.« Seine Stimme klingt geschäftsmäßig, ohne jegliche Emotion.
Obwohl sie sich bemüht, sich ebenfalls unbewegt zu geben, kann sie es nicht vermeiden, dass ihr ein Keuchen entfährt. »Papa, lass denn Unsinn! Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir. Bitte, lass mich rein.«
Einen Moment geschieht nichts und Leona überlegt, ob ihr Vater ohne ein weiteres Wort aufgelegt hat. Da ertönt der Summer. Die Stahltür springt auf und sie schlüpft schnell hindurch, bevor er es sich anders überlegen kann. An übermannshohen abstrakten Skulpturen vorbei steuert sie auf einen modernen Flachdachbau zu. Eine Villa aus Stahl und Glas, eingerahmt von zwei Mauerschalen aus Beton, mit der sich ihre Eltern ein Denkmal gesetzt haben. Die Verdunklungsrollos haben sich über jeden noch so kleinen Fensterspalt geschoben, keinerlei Helligkeit dringt durch die gigantischen Glasflächen in den Garten. Bei jedem Schritt knirschen die Steine des Kieswegs leise unter ihren Sohlen, ansonsten ist es, geradezu gespenstig still, bis auf ihren Herzschlag, dessen Wummern sie an einen Presslufthammer erinnert.
Ihr Vater erwartet sie bereits im Rahmen der geöffneten Tür. Trotz der fortgeschrittenen Stunde trägt er einen Maßanzug und die grau melierten Haare in akkuraten Wellen um den Kopf gelegt. Sein Gesichtsausdruck ist ernst, seine Augen mustern sie abschätzend. Leona begreift, dass er nicht gescherzt hat. Eine Gänsehaut zieht sich über ihre Arme und sie kommt sich in seiner Gegenwart wie eine Miniaturausgabe ihrer selbst vor. »Papa, ich bin müde, lass es uns kurz besprechen.«
»Falls du keinen Klärungsbedarf hast, geleite ich dich gerne wieder zum Ausgang.«
»Aber was …?«
Er winkt ab. »Wir gehen in mein Büro. Es geht die Angestellten nichts an, was ich dir zu sagen habe. Eine Schlagzeile reicht für heute.«
Sie zieht scharf den Atem ein. »Wie hast du es erfahren?«
Ohne eine Antwort dreht er sich um und geht voraus. Ihr bleibt nichts anders übrig, als ihm hinterherzulaufen. Seine Schritte sind siegessicher, die Körperhaltung kerzengerade – er ist ihr in jeglicher Hinsicht überlegen. Vorbei an kostspieligen Gemälden, von einem Innenarchitekten perfekt aufeinander abgestimmt, folgt sie ihm über den spiegelblanken Terrazzo-Boden durch den Flur bis zum Arbeitszimmer, wo ihre Mutter bereits auf sie wartet. Die Beine grazil übereinandergeschlagen, die Lippen fest aufeinandergepresst, thront sie auf einem der Besucherstühle. Sobald Leona den Raum betritt, streicht sie ihr cremefarbenes Kostüm glatt und will auf sie zukommen, doch ihr Vater winkt ab. »Lass uns keine Zeit mit Nebensächlichkeiten verschwenden. Wir sind nicht zum Vergnügen hier.«
»Ist das ein Verhör?« Leona stellt ihre Tasche auf den Boden und lässt sich auf einem Sessel nieder, dessen weiches Leder so weit nachgibt, dass sie Schwierigkeiten hat, aufrecht sitzen zu bleiben.
Er knallt eine Mappe auf den Tisch. »Schmutziges Karma – ›WORT‹ geht über Leichen. Weißt du, was das ist?« Bevor sie reagieren kann, spricht er weiter: »Das, liebe Leona, ist der Vorabdruck der morgigen Welt aktuell. Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich bin reingelegt worden. Die Informationen sahen echt aus, jedenfalls soweit ich sie überprüfen konnte. Ich habe es für eine große Story gehalten, doch stattdessen …«
»Große Story? Diese Geschichte entbehrt jeglicher Klasse.« Er stößt ein verächtliches Schnauben aus und lässt sich auf seinen Chefsessel sinken. »Stell dir vor, welche Wellen das schlagen wird. Wir machen uns zum Gespött der Leute, weil du nur auf deinen Spaß aus bist. Wie üblich.«
»Das ist nicht fair.«
»Nein, ist es nicht?« Sein Blick wandert abschätzig über ihr Outfit, als erwarte er, dort einen Beweis für einen ihrer Exzesse zu finden. »Du kümmerst dich ausschließlich um das nächste Vergnügen, ohne Verantwortung für dein Tun zu übernehmen, geschweige denn, deinen Kopf einzuschalten.«
»Diese Zeiten sind lange vorbei«, faucht Leona. »Ich habe in den letzten Jahren versucht, mich einzubringen, Papa. Aber du lässt es nicht zu. Oder warum bin ich bis heute unten im Lokalressort? Ich habe mehr drauf!«
»Und du meinst, diesen Zustand mit so einer billigen Nummer ändern zu können? Ich verlange nicht viel. Nur ein wenig Qualität. Die zu liefern, ist nicht schwer.«
»Als ob dich Schlagzeilen jemals gestört haben. Damit verkauft sich die Zeitung nun mal.«
»Nicht mit einer über uns«, donnert er. »Wie eine dumme Schülerin hast du dich austricksen lassen. Nicht auszudenken, was das für Auswirkungen auf die Umsatzzahlen haben kann. Wir machen uns vollkommen unglaubwürdig.«
Sie wirft ihrer Mutter einen Blick zu, die mit ihrer starren Haltung und kunstvoll zurechtgemachten Frisur einer Puppe gleicht. Mit ihrer Hilfe kann sie nicht rechnen. Wie immer hält sie sich aus allem heraus. »Es tut mir leid«, sagt Leona steif. »Das war sicher nicht meine Absicht. So hatte ich es nicht geplant.«
»Ach nein? Manchmal ist es mir ein Rätsel, was du bezweckst. Dein Urgroßvater hat die Zeitung aufgebaut. Mit Block und Bleistift die wichtigsten Neuigkeiten der Stadt zusammengetragen, Buchstabe für Buchstabe händisch den Druck gesetzt.« Er stützt sich auf den Unterarmen ab und bläht die Backen auf, die eine dunkelrote Farbe angenommen haben. »Generationen dieser Familie haben Zeit und Schweiß investiert. Jahr für Jahr habe auch ich an diesem Lebenswerk gearbeitet und alles getan, um das Unternehmen zu stärken. Dank meiner geschickten Akquise halten wir nun Beteiligungen an zwei großen Verlagen, bringen diverse Tageszeitungen und andere Printprodukte heraus, die uns einen hervorragenden Ruf in der Branche beschert haben. Jede Minute meines Lebens steckt in dieser Firma, deinem Erbe. Ist dir das bewusst?« Seine Stimme hallt durch den Raum, wird von den Wänden zurückgeworfen und umgibt sie von allen Seiten. Bis sie das Gefühl hat, keine Luft mehr zu bekommen. Um keine Schwäche zu zeigen, begegnet sie seinem Blick ohne ein Blinzeln, während sich der Zorn ihres Vaters wie scharfe Speerspitzen in sie zu bohren droht.
»Wie sollte es nicht«, stößt sie gepresst hervor. »Predigst du mir nicht täglich, wie wichtig das Unternehmen für dich ist? Mehr als alles andere auf der Welt?«
»Ach, du drehst den Spieß um?« Seine Halsschlagader tritt bedrohlich hervor. »Du hattest alle Freiheiten der Welt, konntest den ganzen Tag tun und lassen, was du wolltest. Was ist dein Problem?«
»Schade, dass wir Robert dazu nicht mehr befragen können. Oder, Papa? Aber der schwebte bekanntlich sowieso über allem. Der unantastbare Meister seines Fachs«, spottet sie und erschrickt dabei selbst über die Intensität der Wut, die aus ihr herausquillt wie aus einem überkochenden Milchtopf.
Aus den Augenwinkeln bemerkt sie, wie ihre Mutter zusammenzuckt und ihre Hand zum Hals wandern lässt. Dorthin, wo ihr Medaillon hängt. Ein kostbares Schmuckstück, das sie jeden einzelnen Tag und ungeachtet des Anlasses und Outfits trägt. Als sie ihre Hand um die Kette schließt, ihre Quelle der Kraft und Beruhigung, steigt Wut in Leona auf. Nur mit Mühe gelingt es ihr, eine scharfe Bemerkung zurückzuhalten.
»Lass deinen Bruder aus dem Spiel, hörst du?«, dröhnt ihr Vater und springt auf. »Er hat sich vom ersten Tag an hervorragend eingebracht und Geschichten geschrieben, die die Menschen begeistert haben. Auf ihn war durch und durch Verlass. Was man von dir nicht behaupten kann.« Sie erhebt sich ebenfalls von ihrem Stuhl, bemüht, seinem Blick nicht nachzugeben. Wie zwei Kampfhähne stehen sie sich gegenüber. Keiner bereit, auch nur einen Millimeter zurückzuweichen. Heiß rauscht das Blut durch ihre Adern wie ein glühender Lavastrom, der sich über sie ergießt und ihren Blick verschleiert.
»Los, dann wirf mich doch raus«, schreit sie. »Worauf wartest du noch?«
»Leona! Das ist doch keine Lösung!« Die Stimme ihrer Mutter dringt so plötzlich aus der Zimmerecke hervor, dass ihr Kopf verwirrt zu ihr herumschnellt. Kerzengerade sitzt sie auf dem Stuhl, die Hand um das Medaillon geklammert, die Lippen nicht mehr als ein Strich. Als sie nichts weiter sagt, stößt Leona einen frustrierten Seufzer aus.
Sie dreht sich wieder zu ihrem Vater um, der seine Faust auf den Tisch niederfahren lässt und sie wütend anfunkelt. »Dich hinauswerfen? Genau das habe ich vor. Noch heute verlässt du dieses Haus. Dann räumst du deinen Arbeitsplatz und wechselst die nächsten Wochen ins Archiv. Wollen wir mal sehen, ob du dann weiterhin zu solchen Alleingängen aufgelegt bist. Erst wenn du die Firma von der Pike auf kennenlernst, wirst du sehen, was das Wort Familienimperium überhaupt bedeutet.«
»Das ist doch lächerlich. Sonst noch was?«
»Allerdings! Wenn du zurückkommst, wirst du deine neue Chefin kennenlernen, Alice Silver. Ich habe ihr den Posten im Resort ›Facestory‹ angeboten. Sie scheint an dem Job sehr interessiert zu sein.«
»Du hast was?« Fassungslos starrt Leona ihn an. »Du weißt genau, was sie mir angetan hat. Heute erst wieder mit dieser Geschichte … wie konntest du nur?«