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Sophienlust - Die nächste Generation
– 29 –

Ein neues Glück für Schwester Regine

Geht der Engel von Sophienlust womöglich fort?

Simone Aigner

Impressum:

Epub-Version © 2021 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74097-768-9

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Dr. Fabian Gerlach legte behutsam den mobilen Hörer des Telefons zurück auf den Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Das durfte doch nicht wahr sein! Nun hatte er extra die Assistenzarzt-Stelle an der Klinik in Maibach angenommen, weil sich die abgesprochenen Arbeitszeiten gut mit der Betreuung seines fünfjährigen Sohnes Leon vereinbaren ließen, und kaum war er drei Monate an der Klinik beschäftigt, wurde kurzfristig der Dienstplan geändert. Nun hatte ihn eben Professor Doktor Christoph Kolhaas persönlich angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er ab nächster Woche für die Dauer von geschätzten zwei Monaten für häufige Nachtdienste eingeteilt werden würde. Er bedauere das sehr, aber es ginge nicht anders.

Jeglichen Protest von Fabian hatte der Professor im Keim erstickt und sich auf eine Notsituation berufen. Überraschenderweise waren ihm zwei Ärzte ausgefallen. Natürlich würde er sich um adäquaten Ersatz bemühen, aber einige Wochen würde es schon dauern. Gute Ärzte standen ja nicht an der Kliniktür Schlange.

Fabian konnte es nicht fassen.

Wofür war er eigentlich von München hierhergezogen? Doch genau um diese Nachtdienste zu vermeiden! Immer wieder war es ihm im Klinikum München passiert, dass er kurzfristig eine Nachtschicht hatte übernehmen müssen, und dann hatte er Mühe und Not gehabt, jemanden zu finden, der auf Leon aufpasste. In München war ihm Charlotte, das Nachbarsmädchen, stets eine große Hilfe gewesen. Da sie sehr fleißig für das anstehende Abitur gelernt und deswegen auch privat kaum etwas unternommen hatte, war meist sie eingesprungen.

Allzu oft hatte er sie spontan um ihre Unterstützung bitten müssen. Wohlgefühlt hatte er sich dabei nicht. Abgesehen davon hatte Charlotte geplant, nach dem Abitur in Leipzig oder Berlin zu studieren, womit sie als Betreuung für Leon dann ausfiel. Von daher hatte er eine neue Lösung gesucht und geglaubt, diese mit dem Wohnort- und Stellenwechsel zur Klinik in Maibach gefunden zu haben.

Fabian lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Nun waren sie hier in Maibach, und es gab keine Charlotte mehr. Er war schon froh, dass er so rasch einen Kindergartenplatz gefunden hatte, an dem Leon von Montag bis Freitag gut untergebracht war. An den Wochenenden, an denen er Dienst hatte, passte dann Paula Wilken auf den Kleinen auf. Frau Wilken war 67 Jahre alt und pensionierte Grundschullehrerin. Er war auf sie, ganz altmodisch, durch ein Stellengesuch im Maibacher Anzeiger aufmerksam geworden.

Durch die geöffnete Tür des Raums konnte er in den Flur sehen und weiter in das Zimmer seines Sohnes. Der Kleine hockte auf dem Boden und schob konzentriert sein neues Feuerwehrauto über den Teppich. Auf dem Dach des Führerhauses blinkte das batteriebetriebene Blaulicht. Die Plastik-Drehleiter war auf halbe Höhe ausgefahren und stand Leon beim Spiel im Weg. Er ignorierte es aber und verrenkte stattdessen seinen kleinen Arm, um das Auto schieben zu können. Gerlach hatte sich beim Kauf des Spielzeugs bewusst gegen ein Modell entschieden, das auch noch über eine Sirenenfunktion verfügte, obgleich er ahnte, dass Leon dies viel Vergnügen bereitet hätte. Aber bei aller Liebe, seine Nerven waren auch nicht aus Stahl.

Fabian ging das Herz auf vor Liebe, während er sein Kind beobachtete, und gleichzeitig stieg ein quälender Schmerz in ihm auf, der ihn seit zwei Jahren begleitete. Wenn er in Leons kleines Gesicht sah, sah er Emilia, seine viel zu früh verstorbene Frau.

Das Blaulicht auf dem Spielzeugauto erlosch und lenkte Fabians Gedanken wieder in eine andere Richtung. Offenbar waren die Batterien leer oder die kleinen Lampen kaputt. Der Junge spielte auch seit Tagen mit nichts anderem als mit dem Fahrzeug. Leons Gebrummel hörte auf. Er hockte sich auf die Fersen und betrachtete sein Auto, nahm es hoch, drehte es um, bewegte den Schalter, der für die Leuchtfunktion da war, und schüttelte schließlich das Feuerwehrauto. Nichts geschah.

»Papa?« Leon sah zu ihm herüber. »Das Licht ist kaputt.«

»Wahrscheinlich sind nur die Batterien leer«, sagte Gerlach und stand auf, um neue zu holen. Ein paar hatte er immer auf Vorrat zu Hause.

Wenige Minuten später blinkten die Lampen wieder und Leon strahlte.

Gerlach wuschelte seinem Jungen durch die Haare.

»Spielst du mit mir?«, fragte der Kleine.

Eigentlich hatte er keine Zeit. Er musste noch einige Berichte schreiben. Seit Emilia nicht mehr war, brachte er sich oft Schreibarbeiten mit nach Hause, um so viel wie möglich bei seinem Sohn zu sein.

»Ein bisschen spiele ich mit dir, dann muss ich noch etwas arbeiten. Wozu sind die Kissen?«, fragte er.

»Das sind Häuser«, erklärte Leon. »Und darüber sind Wolken.« Er streckte den Arm Richtung Zimmerdecke und wedelte mit der Hand. »Die Wolken sieht man aber nicht.«

»Aha«, antwortete Gerlach.

»Auf einer Wolke sitzt eine Mama. Die muss der Feuerwehrmann runterholen, damit sie zu ihrem Kind kann«, fuhr Leon fort.

Die Worte seines Sohnes schnürten Fabian Gerlach unvermittelt die Luft ab.

»Ich glaube nicht, dass die Leiter bis zu den Wolken reicht«, erwiderte er heiser. Ihm war, als läge das Zimmer plötzlich im Schatten statt im Licht der Nachmittagssonne.

»Nicht?« Traurig sah Leon seinen Vater an. »Gibt es keine Leiter, die bis zu den Wolken reicht?«

Fabian Gerlach zog das Kind an sich und streichelte die zarten Schultern.

»Nein, Leon, leider nicht. Aber weißt du, was ich glaube?«

»Was denn?« Hoffnungsvoll sah der Junge zu ihm auf.

»Die Kissen sind gar keine Häuser, sondern Berge, und hinter den Bergen ist ein Wald mit vielen Bäumen. Auf einem Baum sitzt eine kleine Katze. Für einen Baum könnte die Feuerwehrleiter reichen.«

»Hm«, machte der Kleine. Gerlach sah seinem Sohn an, dass er nicht überzeugt war.

»Keine Mama?«, fragte er. »Eine Katze?«

»Ja«, versuchte er das Kind umzustimmen.

»Eine Katzenmama vielleicht?«, erkundigte sich Leon.

»Ja, das kann sein.«

»Na gut. Dann rettet der Feuerwehrmann jetzt die Katzenmama«, gab Leon nach.

»Okay. Ich helfe dir«, sagte der Mann. Der Junge schüttelte den Kopf.

»Du musst mir nicht helfen. Du musst dem Feuerwehrmann helfen. Das bin ich.«

Fabian Gerlach spürte einen Funken Erleichterung, und wäre er selbst nicht so traurig gewesen, hätte er über die Gedankengänge des Kleinen geschmunzelt.

»Alles klar. Lass uns anfangen«, stimmte er zu und lächelte.

*

Fabian Gerlach zog behutsam die Tür des Kinderzimmers hinter sich zu. Leon lag, frisch gebadet, im Bett und war noch während der Gute-Nacht-Geschichte eingeschlafen.

In einer halben Stunde würde sein Kollege Jan Frieling vorbeikommen. Frieling war ebenfalls Assistenzarzt in der Klinik in Maibach, arbeitete allerdings schon seit etlichen Jahren dort. Er und Jan hatten sich gleich gut verstanden und hatten sich mittlerweile schon einige Male nach Feierabend getroffen.

Fabian ging in die Küche, um das Geschirr vom Abendessen wegzuräumen. Anschließend steckte er die Wäsche in die Maschine, danach stellte er Gläser auf dem Couchtisch bereit und holte zwei Flaschen Apfelschorle. Während er noch überlegte, ob er auch eine Schale mit Erdnüssen vorbereiten sollte, meldete sein Handy den Eingang einer Kurznachricht.

›Steh vor der Tür‹, stand auf dem Display.

Er ging durch den Flur, um zu öffnen.

»Hallo«, begrüßte Jan ihn mit gesenkter Stimme und betrat auf Zehenspitzen den Flur. »Schläft der Junior?«, erkundigte er sich.

Fabian musste grinsen. Er mochte den Humor des Kollegen. Sacht schloss er die Tür hinter ihm.

»Tief und fest schläft er. Komm rein. Ich habe uns was zu trinken bereitgestellt. Magst du was essen?«

»Natürlich mag ich was essen.« Jan folgte ihm ins Wohnzimmer. Fabian schloss auch diese Tür, um Leon nicht zu stören.

»Und zwar das hier.« Frieling ließ seinen Rucksack von den Schultern gleiten, den Fabian bisher noch gar nicht gesehen hatte. »Hier.« Er kramte eine große Plastikdose hervor und stellte sie auf den Couchtisch. »Pizza. Hat Martina für uns gebacken«, erklärte er.

»Super. Du hast eine tolle Frau«, sagte Fabian und lachte. »Grüß sie von mir.«

»Mach ich. Ich muss aber vor Mitternacht zu Hause sein, hat sie gesagt. Wenn ich morgen schon mal einen Tag frei habe, möchte sie, dass ich halbwegs ausgeschlafen bin und mit ihr was unternehme.«

Jan Frieling setzte sich aufs Sofa und öffnete die Pizza-Dose während Fabian zwei Teller aus der Küche holte.

»Gibt’s was Neues bei dir?«, erkundigte Frieling sich. Fabian sah in die Dose mit den Pizzastücken. Sie waren gut belegt, mit Schinken, Pilzen, kleinen Tomaten und Peperoni, und darüber lag eine glänzende Schicht Käse. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, obwohl er zwei Stunden zuvor mit Leon zu Abend gegessen hatte. Doch die Sorge, wie er den Kleinen gut unterbringen sollte während der anstehenden Nachtdienste, hatte ihm den Appetit verdorben und er hatte nur sehr wenig gegessen. Mittlerweile allerdings hatte er richtig Hunger.

»Ja, leider«, sagte er.

»Leider?« Jan runzelte die Stirn.

»Allerdings.« Fabian erzählte seinem Kollegen vom Anruf ihres gemeinsamen Vorgesetzten, Professor Doktor Christoph Kolhaas.

»Ach du liebe Zeit«, sagte Frieling, nachdem Fabian fertig berichtet hatte. »Da plant er ausgerechnet dich für zusätzliche Nachtschichten ein. Er weiß doch, dass du mit Leon alleine bist.«

Fabian nickte. »Das interessiert ihn nicht. Ich bin echt ratlos.« Er massierte sich den Nacken.

»Ich kann dich gut verstehen. Ich würde ja deine Schichten mit übernehmen, aber so wie ich Kolhaas einschätze, macht er da nicht mit«, überlegte Frieling.

»Das sollst du auch nicht. Du machst ja ohnehin schon reichlich Nachtdienst«, entgegnete Fabian.

Jan Frieling lehnte sich im Sofa zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Hm. Ich hätte da einen Tipp für dich.«

»Tatsächlich?« Fabian sah ihn zweifelnd an.

»Ja. Es gibt in Wildmoos ein Kinderheim …«

»Ein Kinderheim? Auf keinen Fall!«, unterbrach Fabian den Kollegen.

Frieling lächelte. »Nun hör mir doch erst mal zu. Du musst Leon ja nicht dort unterbringen. Es ist ja nur ein Gedanke.«

»Ja, okay. Entschuldige.« Niemals würde er seinen Kleinen in ein Heim geben, auch nicht für ein paar Tage. Frieling vor den Kopf stoßen wollte Fabian aber natürlich auch nicht. So ließ er ihn reden.

»Wildmoos liegt etwa zwanzig Minuten mit dem Auto von Maibach entfernt. Dort gibt es ein Kinderheim, das heißt ›Sophienlust‹. Es gehört Dominik von Wellentin-Schoenecker. Ich kenne Nick, so wird er genannt, persönlich. Er war schon ab und an mit einem der Heimkinder in der Klinik. Ein sehr sympathischer junger Mann. Nick ist erst vor Kurzem volljährig geworden. Bis dahin hatte seine Mutter Denise das Heim für ihn verwaltet. Sie kenne ich nicht, aber sie soll sehr nett sein und ist mit Herz und Seele immer für die Kinder im Heim da.«

Frieling brach ab. »Du machst ein Gesicht, als möchtest du sagen: Rede nur, ein Heim steht nicht zur Diskussion.«

Fabian lachte verlegen. »Du hast mich durchschaut.«

Frieling grinste. »Allerdings. Trotzdem, man hört nur Gutes von Sophienlust. Die Kinder, die ich schon behandeln musste, wollten immer so rasch als möglich wieder nach dorthin zurück, was ja dafür spricht, dass sie sich wohlfühlen. Es gibt etliche Kinder, die leben immer dort, weil sie keine Eltern mehr haben. Oder ihre Eltern sind langfristig im Ausland oder was auch immer. Andere wiederum sind nur für ein paar Wochen da, eben dann, wenn Bedarf an Betreuung besteht, so wie bei dir jetzt.«

»Es wird nicht ganz billig sein«, wandte Fabian ein, nur, um sein Desinteresse nicht allzu deutlich zu zeigen. »Ich habe die Wohnung hier gekauft, weil sie am Stadtrand liegt und Leon somit ein wenig Grün vor der Tür hat. Auch der Stadtpark mit dem Spielplatz ist nicht weit. Mein Auto ist relativ neu, und der Umzug hat auch einiges gekostet. Größere Ausgaben müssen jetzt also erst mal warten.«

Jan Frieling schüttelte den Kopf. »Sie sehen dort nicht aufs Geld. Die Preise sind sehr moderat, und in Not geratene Kinder müssen überhaupt nichts bezahlen.«

Fabian hatte seine Zweifel. Nun hatte der Kleine erst den Umzug von München nach Maibach verkraften müssen, und jetzt, wo er sich im neuen Kindergarten einigermaßen eingelebt hatte, sollte er ihn in ein Kinderheim stecken? Leon verstand doch noch gar nicht, dass es nur für kurze Zeit sein sollte. Zudem … zwei Monate waren absolut keine kurze Zeit. Sie schienen Fabian entsetzlich lange. Er würde seinen Sohn total vermissen. Und da war ja auch noch der Abschied von Charlotte gewesen. Nach ihr fragte Leon immer wieder, auch wenn er gut mit Frau Wilken auskam. Sie war halt nicht Charlotte, die Leon beinahe eine große Schwester gewesen war.

»Nun trink endlich einen Schluck und dann lass dir die Pizza schmecken«, ermunterte Jan ihn.

Fabian zwang sich zu einem Grinsen. Seine Probleme lagen ihm schwer im Magen. Aber vielleicht hatte Frieling recht und er sollte sich das Heim wenigstens einmal ansehen …?

»Nimm Leon gleich mit, wenn du nach Wildmoos fährst«, riet der Kollege, als hätte er seine Gedanken gelesen.

Fabian wurde bockig. Nein, er würde nicht nach Wildmoos fahren, mochte Jan auch noch so viel Werbung dafür machen. Aber das musste er ja jetzt nicht aussprechen. Irgendeine Lösung würde er finden.

Er nahm ein Stück Pizza und biss hinein. Es schmeckte wunderbar.

*

»Papa? Darf ich bei dir schlafen?« Leons Stimmchen drang in Fabians wirre Träume. Er schlug die Augen auf. Unter der Schlafzimmertür, seine große rot-blaue Plastik-Taschenlampe in der Hand, stand sein Sohn. Unter dem linken Arm hielt er Leo, seinen Stofflöwen. Emilia hatte ihm das Kuscheltier zu seinem dritten Geburtstag geschenkt. Den letzten, den sie als Familie hatten feiern können.

»Klar, mein Großer«, murmelte Fabian, rutschte ein Stück Richtung Bettkante und hielt die Bettdecke hoch. Rasch krabbelte der kleine Junge an die Seite seines Vaters.

»Ich hab ganz doll schlecht geträumt«, jammerte er.

Fabian legte den Arm um seinen Sohn. »Was hast du denn geträumt?«, erkundigte er sich schlaftrunken.

»Dass unter meinem Bett ein Gespenst liegt. Das ist ganz böse und will mich holen. Ich hab so doll Angst gehabt, und ich hab mich nicht getraut, nach dir zu rufen.«