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Impressum: Copyright: 2011 by Harry Eilenstein – Alle Rechte, insbesondere auch das der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors und des Verlages (nicht als Fotokopie, Mikrofilm, auf elektronischen Datenträgern oder im Internet) reproduziert, übersetzt, gespeichert oder verbreitet werden.

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783748169604

Die Themen der einzelnen Bände der Reihe „Die Götter der Germanen“

  1. Die Entwicklung der germanischen Religion
  2. Lexikon der germanischen Religion
  3. Der ursprüngliche Göttervater Tyr
  4. Tyr in der Unterwelt: der Schmied Wieland
  5. Tyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 1
  6. Tyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 2
  7. Tyr in der Unterwelt: der Zwergenkönig
  8. Der Himmelswächter Heimdall
  9. Der Sommergott Baldur
  10. Der Meeresgott: Ägir, Hler und Njörd
  11. Der Eibengott Ullr
  12. Die Zwillingsgötter Alcis
  13. Der neue Göttervater Odin Teil 1
  14. Der neue Göttervater Odin Teil 2
  15. Der Fruchtbarkeitsgott Freyr
  16. Der Chaos-Gott Loki
  17. Der Donnergott Thor
  18. Der Priestergott Hönir
  19. Die Göttersöhne
  20. Die unbekannteren Götter
  21. Die Göttermutter Frigg
  22. Die Liebesgöttin: Freya und Menglöd
  23. Die Erdgöttinnen
  24. Die Korngöttin Sif
  25. Die Apfel-Göttin Idun
  26. Die Hügelgrab-Jenseitsgöttin Hel
  27. Die Meeres-Jenseitsgöttin Ran
  28. Die unbekannteren Jenseitsgöttinnen
  29. Die unbekannteren Göttinnen
  30. Die Nornen
  31. Die Walküren
  32. Die Zwerge
  33. Der Urriese Ymir
  34. Die Riesen
  35. Die Riesinnen
  36. Mythologische Wesen
  37. Mythologische Priester und Priesterinnen
  38. Sigurd/Siegfried
  39. Helden und Göttersöhne
  40. Die Symbolik der Vögel und Insekten
  41. Die Symbolik der Schlangen, Drachen und Ungeheuer
  42. Die Symbolik der Herdentiere
  43. Die Symbolik der Raubtiere
  44. Die Symbolik der Wassertiere und sonstigen Tiere
  45. Die Symbolik der Pflanzen
  46. Die Symbolik der Farben
  47. Die Symbolik der Zahlen
  48. Die Symbolik von Sonne, Mond und Sternen
  49. Das Jenseits
  50. Seelenvogel, Utiseta und Einweihung
  51. Wiederzeugung und Wiedergeburt
  52. Elemente der Kosmologie
  53. Der Weltenbaum
  54. Die Symbolik der Himmelsrichtungen und der Jahreszeiten
  55. Mythologische Motive
  56. Der Tempel
  57. Die Einrichtung des Tempels
  58. Priesterin – Seherin – Zauberin – Hexe
  59. Priester – Seher – Zauberer
  60. Rituelle Kleidung und Schmuck
  61. Skalden und Skaldinnen
  62. 62 Kriegerinnen und Ekstase-Krieger
  63. Die Symbolik der Körperteile
  64. Magie und Ritual
  65. Gestaltwandlungen
  66. Magische Waffen
  67. Magische Werkzeuge und Gegenstände
  68. Zaubersprüche
  69. Göttermet
  70. Zaubertränke
  71. Träume, Omen und Orakel
  72. Runen
  73. Sozial-religiöse Rituale
  74. Weisheiten und Sprichworte
  75. Kenningar
  76. Rätsel
  77. Die vollständige Edda des Snorri Sturluson
  78. Frühe Skaldenlieder
  79. Mythologische Sagas
  80. Hymnen an die germanischen Götter

Inhaltsverzeichnis

  1. Ägir
    1. Ran und Ägir
  2. Alcis
    1. An die beiden Alcis
    2. Morgendliche Anrufung der beiden Alcis
  3. Altar
    1. Der Altar
  4. Amboß
    1. Der Amboß
  5. Atli
    1. Hymne an Atli
  6. Audhumbla
    1. An Audhumbla
  7. Aurvandil
    1. Aurvandil
  8. Baldur
    1. An Baldur
    2. Baldurs Schicksal
    3. Baldurs Reise
    4. Baldur und Ullr
  9. Bertha
    1. An Bertha
  10. Beyla
    1. Hymne an Beyla
  11. Bil
    1. An Bil
  12. Biört
    1. An Biört
  13. Blid(ur)
    1. An Blid(ur)
  14. Bohrer
    1. Der Bohrer
  15. Bragi
    1. An Bragi
  16. Byggwir
    1. Hymne an Byggvir
  17. Drachen
    1. Drachen-Schutzzauber für ein Hügelgrab
    2. Odin und der Drache auf dem Weg in die Unterwelt
  18. Drachenblut
    1. Drachenblut
  19. Drachenschiff
    1. Zauberlied für ein Drachenschiff
  20. Drachenschwert
    1. Zauberlied für ein Drachenschwert
  21. Eir
    1. Anrufung der Eir
  22. Eldir
    1. Hymne an Eldir
  23. Erdgöttin
    1. An die Erdgöttin
    2. Lied des Heilers
    3. Erdzauber
  24. Eschenholz-Kiste
    1. Die Eschenholz-Kiste
  25. Fessel
    1. Lokis Fesseln
    2. Tyrs Fesseln
  26. Fimafeng
    1. Hymne an Fimafeng
  27. Fiölnir
    1. Fiölnir
  28. Flugschuhe
    1. Die Flugschuhe
  29. Forseti
    1. An Forseti
  30. Franmar
    1. Hymne an Franmar
  31. Freya
    1. An Freya
    2. Freya-Anrufung
    3. Hymne an die neun Dienerinnen der Freya-Menglöd
  32. Freyr
    1. Im Tempel des Freyr
  33. Frid(ur)
    1. An Frid(ur)
  34. Frigg
    1. Anrufung der Göttin Frigg
    2. Die Reise zur Quelle
  35. Fulla
    1. An Fulla
  36. Gerdr
    1. An Gerdr
  37. Gna
    1. Hymne an Gna
  38. Göttermet
    1. Reise in die Vergangenheit
  39. Grid
    1. An Grid
  40. Groa
    1. An Groa
  41. Gullveig
    1. An Gullveig
  42. Gunnlöd
    1. An Gunnlöd
  43. Gürtel
    1. Der Gürtel
  44. Hammer
    1. Der Hammer
    2. Thors Hammer
  45. Harfe
    1. Die Harfe
  46. Heid
    1. An Heid
  47. Heimdall
    1. Ein Haus-Segen
    2. Der Kampf der beiden Robben
    3. Heimdalar-Galdr
  48. Hel
    1. Reise zur Hel
  49. Helm
    1. Das Zauber-Lied des Helm-Schmiedes
  50. Hermodr
    1. Hymne an Hermod
    2. Hermodr und Thökk
  51. Himmelsrichtungen
    1. Anrufung des Ostens
    2. Anrufung des Südens
    3. Anrufung des Westens
    4. Anrufung des Nordens
  52. Hleidr
    1. Anrufung der Hleidr
  53. Hlif(thursa)
    1. An Hlif(thursa)
  54. Hlin
    1. An Hlin
  55. Hljot
    1. An Ljod
  56. Hnoss und Görsemi
    1. An Hnoss und Görsemi
  57. Hochsitz
    1. Der Hochsitz
  58. Hödur
    1. Der blinde Gott
    2. Ein endloser Kampf
    3. An Hödur
  59. Hönir
    1. Bitte um Heilung
    2. Hymne an Hönir
    3. Bitte, ein Priester werden zu dürfen
    4. Odin, Hönir und Loki
    5. Priester-Streit
  60. Hörn
    1. An Hörn
  61. Hrungnir
    1. An Hrungnir
  62. Hrungnir-Herz
    1. Das Hrungnir-Herz
  63. Huldar
    1. Anrufung der Huldar
    2. An Huldar Sonnenmutter
    3. Huldar die Spinnerin
    4. Huldar im Holunder
  64. Idun
    1. An Idun
    2. Gebet an Idun
    3. Idun und Bragi
    4. Anrufung der Idun
  65. Ingibjörg
    1. An Ingibjörg
  66. Irmin
    1. Irmin
  67. Iwidie
    1. An Iwidie
  68. Jarnsaxa
    1. An Jarnsaxa
  69. Jörmungandr
    1. An die Midgardschlange
  70. Jorunn
    1. An Jorunn
  71. Kessel
    1. Der Kessel
  72. Keule
    1. Die Keule des Thor
  73. Knochen
    1. Der Knochen
  74. Krönung
    1. Die Krönung des Fürsten
  75. Kvasir
    1. Kvasir
  76. Leimrute
    1. Die Leimrute
  77. Lofn
    1. An Lofn
  78. Loki
    1. Bitte an Loki
    2. An Loki
    3. Sänger-Wettstreit
  79. Mahlstein
    1. Der Mahlstein
  80. Mannus
    1. Mannus
  81. Marnar
    1. An Marnar
  82. Messer
    1. Das Messer
  83. Modgud
    1. An Modgudr
  84. Nanna
    1. An Nanna
  85. Nehalennia
    1. An Nehalennia
  86. Netz
    1. An das Netz
  87. Niörd
    1. An den Meeresgott
    2. Bitten an Niörd
  88. Njörun
    1. An Njörun
  89. Nornen
    1. Die Nornen
  90. Odin
    1. An Odin
  91. Odr
    1. Odr
  92. Ottar
    1. Hymne an Ottar
  93. Pfeil und Bogen
    1. Pfeil-Zauber
  94. Pflug
    1. Der Pflug
  95. Ran
    1. Bitte um einen Segen für eine Seereise
    2. Ran und Hel
  96. Ring
    1. Der Ring
    2. Die Weihung des Ringes
  97. Röskwa
    1. Hymne an Röskwa
  98. Saga
    1. An Saga
  99. Schädelschale
    1. Die Schädelschale
  100. Schild
    1. Die Suche nach dem Sonnen-Schild
  101. Schwert
    1. Das Schwert des Tyr
  102. Seelenweg-Säulen
    1. Die Seelenweg-Säulen
  103. Sense
    1. Die Sense
  104. Siegstein
    1. Der Siegstein
  105. Sif
    1. Sif die Getreidegöttin
    2. Sif die Geliebte
    3. Beschützerin-Zauberspruch
    4. Ernte-Zauberspruch
    5. Bitte um Hilfe an Sif
  106. Sigyn
    1. An Sigyn
  107. Sinmara
    1. An Sinmara
  108. Sinthgunt
    1. An Sinthgunt
  109. Sjöfn
    1. An Sjöfn
  110. Skirnir
    1. Hymne an Skirnir
  111. Skjalf
    1. An Skjalf
  112. Snotra
    1. Anrufung der Snotra
  113. Sonnenkugel
    1. Die Goldkugel
  114. Sonnenrad
    1. Das Sonnenrad
  115. Speer
    1. Die Speer-Vision
  116. Stab
    1. Der Stab
  117. Statuen
    1. Die Steinmetz-Prüfung
  118. Streitwagen
    1. Der Streitwagen
  119. Svipdag
    1. Svipdag
  120. Syn
    1. An Syn
  121. Syr
    1. An Syr
  122. Tafl
    1. Tafl
  123. Tamfana
    1. An Tamfana
  124. Tarnkappe
    1. Die Tarnkappe
  125. Thialfi
    1. Hymne an Thialfi
  126. Thor
    1. Bitte an Thor
    2. An Thor
    3. Anrufung des Thor
    4. Thor und Jörmungandr
    5. Thor und Thrivaldi
  127. Thorgerdr und Irpa
    1. Anrufung der Thorgerdr
  128. Thröng/Thrungva
    1. An Thröng/Thrungva
  129. Thrudr
    1. Anrufung der Thrudr
  130. Trinkhorn
    1. Das Trinkhorn
    2. An das Met-Horn
  131. Tuisto
    1. An Tuisto
  132. Tyr
    1. An Tyr
    2. Anrufung des Tyr
    3. Tyrs Hymne an sich selber
  133. Ullr
    1. Verse an den Schneeschuh-Asen
    2. Bitte um Hilfe an den Schildgott
    3. Die rituelle Hirschjagd
    4. Baldur und Ullr
    5. Julnacht in Ydalir
  134. Utiseta
    1. Der Diar lehrt das Utiseta
  135. Wali
    1. Das Lied des Wali
  136. Var
    1. Anrufung der Var
  137. Vör
    1. Anrufung der Vör
  138. Walküren
    1. Walküren-Verse
  139. Wetzstein
    1. An den Wetzstein
    2. Der Wetzstein
  140. Widar
    1. An Widar
  141. Wieland
    1. An Wieland
  142. Wodan, Wili und We
    1. Wodan, Wili und We
  143. Yggdrasil
    1. Hymne an den Weltenbaum
  144. Ymir
    1. An Ymir
    2. Ymir der Urriese
    3. An Ymir
    4. Gebet an Ymir
    5. Die fünf Gesichter des Ymir
  145. Zahlen-Symbolik
    1. Das Lied der Zahlen
  146. Zwergenkönig
    1. Das Lied des Zwergenkönigs

Die Texte in diesem Buch sind keine Überlieferung der Germanen, sondern die Neudichtungen aus den übrigen Bänden dieser Reihe.

Sie enthalten Anrufungen, Vers-Mythen, lyrische Zusammenfassungen zu einem Thema u.ä.

In den Anmerkungen zu den lyrischen Texten in disem Buch stehen viele Erläuterungen der Mythen und der Kenningar.

Die ausführlichen Betrachtungen finden sich in den Kapiteln über die jeweilige Gottheit, den magischen Gegenstand usw. in den übrigen Bänden dieser Reihe.

Am Ende des Buches ist eine Übersicht mit allen Themen mit dem Hinweis auf den Band der Reihe „Die Götter der Germanen“, in dem sie besprochen werden, angefügt.

1. Ägir

1. a) Ran und Ägir

Das Folgende fand nach den Ereignissen in dem Lied „Lokasenna“, das auch „Ägirs Trinkgelage“ genannt wird, in der Halle der Ran statt.

„Nun liegt Loki gefangen,

Loptr1 ist in Hel2 gebunden3;

Frieden ist heimgekehrt nach Fensalir4.

Und fortan bist Du hier König, Ägir5.“

„Das bin ich für drei Monde,

Für die Dauer einer Sommerzeit.

Und König? Das klingt nicht richtig, Ran6,

Kommen denn die alten Zeiten zurück?“

„Wer sollte Dich denn weisen können,

Wogen-Gold7, Weisheits-Hüter,

Hier in der Meeres-Halle,

in dem hohen Saal der Ran?“

„Bin ich noch Herr von Asgard, das ich erbaute?8

Am Baum9 stand ich, blickte über die Welt;

Lang ist das her, längst vergangene Zeiten …

Liebe Meeres-Herrin, mache Dir nichts vor!“

„Willst Du das nicht wieder haben?

Warum holst Du es Dir denn nicht jetzt zurück?

Was hindert Dich, Deine Würde zu wahren,

Wieder König auf dem Idafeld10 zu werden?“

„Thor hat mich besiegt, Odin mir den Thron genommen,

Töricht wäre es, erneut zu kämpfen und zu streiten.

'Rache ist des Kriegers Pflicht' – ich hör' schon Deinen Rat –

Rasch käme ich dann nach Walhall – und dann?“

„Wo ist Deine Ehre? Wohin ist denn Dein Ruhm?

Wer bist Du noch – ein Schatten Deiner selbst!

Hol' Dir zurück, was Du verlorst, die Himmels-Halle,

Die Hohe, die Weite, die Gold'ne, die Uralte!11

„Es herrschte Krieg, es herrschte Kampf,

Es herrschte Aufruhr allenthalben,

Als die Menschen den einäugigen Asen12 wählten,

und Asgard dem Herrn des Donners13 gaben.“

„Was hat das zu tun mit Deiner Ehre, Deinem Weg?

Wo ist Deine Wut? Wo ist Deine Stärke?

Müde ist Dein Bein! Mager ist Dein Arm!

Und nur mäßig munter ist Dein Freudenstab14!“

„Schweig jetzt, Ran, Du schwingst zu lose Reden!

Schwer ist auch mir selbst mein Schicksal!

Doch es war gut für das dicht bewohnte Midgard,

daß Odin, daß Thor an meine Stelle trat.“

„Willst Du sagen, daß Du vor Feinden weichst?

Wirklich – Du warst mal der Herr der Götter?

Du bist eine Schande für diese Halle!

Derlei Dinge wurden hier noch nie gesagt!“

„Denke, schaue, prüfe, bevor Du derart redest!

Denn Midgards Männer brauchten einen Halt:

Ich sterbe und werde geboren und sterbe erneut,

Ich bin stark, doch ich bin der Wandel und kein Fels.“15

„Das ist das Leben, so ist der Lauf der Dinge,

Längst haben die drei Nornen dies beschlossen.

Was sollte daran falsch und unwahr sein,

Wenn doch jeder Narr dies leicht erkennen kann?“

„Die Hunnen kamen16, die Heime aller waren in Gefahr,

Hoch im Norden, tief im Süden: Krieg und Kampf!

Sie brauchten einen König, der stets siegt,

Sie sehnten sich nach einem Allmacht-Asen!“

„Und wer soll das anders sein als Du, die Sonne?

Sahst Du jemals einen heller strahlen?

Midgard17, Utgard18 bergen nirgendwo ein mächtigeres Licht!

Vermag denn irgendeiner in Asgard19 mehr zu finden?“

„Höre, Ran, sie brauchten Halt und nicht den Wandel:

Sie holten sich den Gungnir-König20 hoch nach Asgard.

Sie fürchteten den Tod, sie flohen vor dem Grab,

Doch war das feige? Ihre Welt war ganz in Aufruhr!“

„Dann hätten sie kämpfen sollen – und siegen!

Selbst Du wärst doch nicht vor vielen Feinden gewichen!

Und sie verlassen ihren Führer in der Schlacht

und fliehen zu dem Raben-Vater21!“

„Siehst Du nicht, was sie da suchten?

In stürmischer See den Fels!

Einen mächtigen König, der alles vermag,

der Midgard und alle Dinge lenkt!“

„Und bist Du das nicht? Bist Du bar aller Kraft?

Bis die Hunnen kamen, bist Du doch der Herrscher gewesen!

Und alles war gut, die Asen gediehen,

die alte Sonne ging unter, die junge Sonne ging auf.“

„Das ist es: Ich bin der Wechsel, der Wandel!

Sie wähnten mich deshalb schwach

Und suchten das Unwandelbare

und fanden Thor und fanden Odin.“

„Du sagst, sie suchten die Herrschaft des Einen?

Sehnten sich nah dem König, der alles lenkt?

Gaben ihren Willen auf? Vergaßen ihre Macht?

Und lebten als Sklaven unter einem großen König?“

„Sie lebten weiter – und sie lernten etwas Neues:

Lange kannten sie schon meinem Wandel:

Nun sahen sie die Mitte, strahlend und unwandelbar,

ihre Seele, ja, ihr Ich – das hat Odin ihnen da gezeigt!“

„Was sagst Du da? Erst Odin zeigte ihnen ihre Seele?

Du, der Sonnengott, sagt dies? Ist das wirklich wahr?

Was ist das Bild der Seele, wenn nicht die Sonne?

Was scheint in jedem Herzen? Das goldene Licht!“

„Ja, ich war das Bild der Seelen bis Raben-Widrir22 kam,

Er hat ihnen gewiesen, die Sonne in sich selbst zu finden.

Und nicht nur den Königen wie ich,

nein, er hat sie jedem Mann gezeigt!“

„Und Du meinst wirklich, deshalb habe Munins Herr23 gesiegt?

Weil er der Menschen Augen weit geöffnet hat?

Für die Seele im Saal des eigenen Herzens,

für den goldenen Schein in der Halle der Brust24?“

„Vor langer Zeit haben viele Weise verkündet,

Wenige wußten es nur zuvor und jetzt ein jeder:

Erkenne Dich selbst und sei Dein eigener König!

Deine Seele leuchtet in Dir und sie ist Dein Weg!“

„Und das hat Midvitnis25 den Menschen gezeigt?

Vermochte er das zu bewirken in Midgard?

Reichte er den Seinen einen polierten Schild,

Einen Spiegel, in dem sie sich dann selber sahen?“

„Er wies ihnen den Weg zu sich selber.

Das war es, was er ihnen brachte.

Deshalb verließen sie unsere Tempel-Säle

und schauten auf den Einaugen-Ase26.“

„Und wir? Nur zwei Riesen im wogenden Wasser …

in den Weiten des Meeres – machtlos und klein …

Das willst Du dulden? Das willst Du ertragen?

Damit willst Du Dich bescheiden und in Frieden sein?“

„Bin ich nicht der Ase des Wechsels und Wandels?

Das Leben geht nicht die Wege, die ich wähle …

Aber es wird auch nicht bleiben, wie es jetzt grad' ist,

denn ein neuer Wandel wird noch kommen – bald.“

„Was meinst Du? Was siehst Du? Was weißt Du?

Ich wähnte, ich sei sei die Seherinnen-Asin,

Doch ich weiß nicht, was da kommen mag …

Wovon sprichst Du, Ägir, was siehst Du da kommen?“

„Es werden mächtige Männer27 kommen von ferne,

Hier nach Midgard, zu der Insel im Meer:

Mit Worten und Wundern als ihren Waffen

Werden sie einen neuen Gott verkünden.“

„Und Du wirst dann der Dritte in dieser Folge werden?

Dann wird jeglicher Ruhm vergehen und verblassen!

Was wirst Du dann noch sein, O Ägir, Du Großer?

Ein dunkler Schatten im Meer, den niemand mehr sieht!“

„Nein, ich werde hier im Norden

mit dem Neuen verschmelzen,

und es wird noch immer die Sonne sein,

deren Schein in den Herzen leuchtet.“28

„Dem soll ich trauen? Und danach sollen wir trachten?

Unser Tod wird das sein – unser Ende!

Wer wird unsere Namen noch wissen?

Wo werden wir dann noch genannt und geehrt?“

„Ich brauche nicht meinen Namen in aller Munde,

Nur mein Licht soll in allen dann leuchten.

Und Odin ist auch garnichts andres …

Es ist das Licht, das in allen Herzen erwacht.“

„Du sprichst wie Bragi29 nach zu vielen Bechern mit Met!

Bist Du das wirklich? Einst warst Du der König des Himmels!

Nun löst Du Dich auf – wie ein Horn Met in der See!

Dann werde ich Dich hier wohl bald nicht mehr seh'n?“

„Es wird eine Zeit kommen, in der wir alle leuchten werden,

Die Wanen, die Asen, die Götter der vieler Länder,

In der sie den Krieg beenden, in einem Kreise beisammenstehn,

Eine neue Kunst: die Vielfalt in Gemeinschaft gefaßt.“

„Tochter, eil' in den Keller, prüfe die Kufen30, die Fässer:

Ist dort kein Met mehr, hat Ägir den Wein ganz geleert?

Dein Vater spricht irre, den Verstand hat er verloren,

Die Vernunft hat er verlegt, sein Wissen vergessen!“

„Du brauchst nicht zu prüfen, Ran, meine Braut!

Besser ist's, wenn wir nun das sehen, dem folgen,

Was die Nornen uns senden, der Weisheit zum Nutzen,

Was nährt unser Wachstum – im Hier und im Jetzt.“

„Was macht Dich auf einmal nüchtern, mein Mann?

Mächtig schien mir das Traumbild in Dir zu sein!

Komm' jetzt auf mein Lager, laß uns jetzt kosen,

Kostbar ist die Zeit, die die Nornen uns geben!“

„Wir werden sehen, ob ich die Wahrheit schaute,

Ich wünschte, es werde so kommen:

Eine bunte Gemeinschaft, und Vielfalt … ein Bund …31

Oh – bar der Kleidung bist Du schon – ich komme!“


1 Loptr = Loki

2 Hel = Unterwelt

3 Der Wintergott Loki liegt während des Sommers gefesselt in der Hel – der Sommergott Tyr (Fenrir) liegt während des Winters gefesselt in der Hel.

4 Fensalir = „Sumpf-Saal“ = Friggs Halle = Wasserunterwelt

5 Ägir = Tyr-Riese in der Wasserunterwelt

6 Ran = Göttin des Meeres und der Wasserunterwelt; Frau des Tyr-Ägir

7 Wogen-Gold = die goldene Sonne in der Wasserunterwelt = Tyr-Ägir

8 Tyr ist der Riesenbaumeister, der die Mauer um Asgard erbaut hat.

9 Baum = Weltenbaum

10 Idafeld = Gelände, auf dem Asgard errichtet wurde

11 Hier ist Tyrs Halle Gimle gemeint.

12 einäugiger Ase = Odin

13 Herr des Donners = Thor

14 Freudenstab = Penis

15 Der Sonnengott-Göttervater Tyr ist jeden Abend bzw. Herbst gestorben und jeden Morgen bzw. Frühling wiedergeboren worden – der Schamenengott-Kriegsgott-Götervater Odin ist hingegen immer siegreich.

16 die Hunnen kamen = Völkerwanderungszeit (375-568 n.Chr.), in der Thor und Odin um ca. 500 n.Chr. Tyr als den nordgermanischen Göttervater abgesetzt haben

17 Midgard = Diesseits

18 Utgard = Jenseits

19 Asgard = Wohnort der Götter

20 Gungnir = Odins Speer; Gungnir-König = Odin

21 Raben-Vater = Odin

22 Raben = Odins Raben; Widrir = Beiname des Odin; Raben-Widrir = Odin

23 Munin = einer der beiden Raben des Odin; sein Herr = Odin

24 Halle der Brust = Herzchakra

25 Midvidnis = Odin

26 Einaugen-Ase = Odin

27 mächtige Männer = christliche Missionare

28 Die Germanen haben den christlichen Gott Vater dem alten Tyr (Abendsonne) und Christus dem jungen, wiedergeborenen Tyr (Morgensonne) gleichgesetzt.

29 Bragi = Gott der Dichtung

30 Kufe = Eisenring um ein Faß = Faß

31 die Vision einer gelungen Globalisierung, einer gelungen Gemeinschaft auf der Erde

2. Alcis

2. a) An die beiden Alcis

1. Die Zwillinge

Fili und Kili32, ihr flammenden Fohlen,

frohgemut jagt ihr die Winde!

Eilender stürmt ihr als Adler:

Erster seid ihr stets am Ziel!

Weißfellig, wutstürmend, lauft ihr zu Wäldern,

weit in die Heide und weit in die Steppe!

Goldmähnig, Gelbleuchtend, edelste Rosse:

Gellend klingt das Wiehern durch das Tal!

Hornbori, Haugspori, Hirsche der Wälder,

Herrliche Kronen auf stolzesten Häuptern;

Dröhnende Stimmen in dunkelsten Forsten:

Da seid ihr führwahr nicht weit!

Hüter der Herden und Herren der Haine;

Heimat sind Bäume und Auen für alle –

Horntragende33 Hirsche und Ricken und Kitze:

Hier in aller Früh' kommt ihr aus dem Wald.

Weißfell und Wutbringer, wandernde Wölfe,

Weithin ertönt euer schauriges Heulen;

Klingt durch die Weiten und jegliche Klüfte:

Kaum einer weiß nicht, wer da singt!

Renner im Rudel und rasende Jäger,

Rastlos verfolgt ihr die Rehe und Schweine!

Graufellig, gelbäugig, grimmige Läufer:

Wehe dem, den ihr verfolgt!

Regin und Rögnir, ihr schwarzdunklen Raben,

Rasch mit den Flügeln und stark mit dem Schnabel;

Müh'los im Sturm und auch mutig im Donner:

Manchesmal schon habt ihr meinen Weg gekreuzt.

Kämpferisch seid ihr und kühn und auch kräftig,

Kaum einer wagt es noch, mit euch zu kämpfen;

Jegliche Vögel ahnen das Jenseits, das ihr jedem bietet:

Jeder weiß, daß ihr die Todesboten seid!

2. Der Streitwagen

Arwakr und Alswid, ihr allsehende Rosse,

Allezeit lauft ihr vorm Streitwagen des Tyr;

Kämpfer und Krieger, schneeweiße Pferde:

Kennt hier jemand diese beiden nicht?

Schneefell und Scheinflanke, schimmerndes Glänzen

Scheint immer rings um sie mit hellem Leuchten;

Jünglinge sind sie noch, Jäger der Wolken,

Jeder von uns freut sich sie zu seh'n!

Dwalin und Durin, ihr Delling34-Gesellen,

Dag35 hat euch wieder vor Goldrad36 gerufen!

Priesterin, ruf' jetzt den Horizont-Pförtner

Pfosten, Balken leuchten golden hell!

Bifur und Bafur, hört, öffnet die Berge,

Brecht nun die Tore am östlichen Himmel!

Sonnenrad, Streitwagen, goldener Schild:

Scheine wieder, singe nun des Lichtes Lied!

Nyi und Nidi, des Nachtwagens Mähren,

Nifelheim kennt ihr von allen am besten;

Kohlschwarze Rosse in eiskalten Wäldern:

Kommt ihr wieder? Kennt ihr den Weg?

Nari und Nain, die niemals ermüden,

niemals verlassen der Unterwelt Pfade;

Wanderer, die sich am Morgen verwandeln:

Werdet ihr auch heute wieder weiß und hell?

Alfar, Alfarin und Alfen und Asen,

Abends und morgens uns're Beschützer!

Hüter der Sippe, Wächter der Horde:

Haus und Hof und Hügel37 sind geschützt durch euch!

Gullinhof38, Gullintann39, goldene Rosse,

Gaben und Hilfreiches spendet ihr allen,

wenn sie euch bitten und euch wieder opfern:

Wasser, Speisen, Freunde, Heim und Glück!

3. Die Helfer

Galar und Fialar, ihr Geber des Guten,

Goldleuchtend schimmert der Honig,

Eilt zu uns, ihr Gabenfrohen:

Euren Trank40, den brauchen wir!

Hört uns, ihr Herren des Hymir-Gebräues41,

Hörner mit Göttermet helfen den Menschen;

Wenn wir aus dem Widrir-Kessel42 trinken:

Weicht der Tod aus uns'rem Leib!

Sindri und Brokk, ihr seid Schmiede des Schwertes,

Schafft auch mir die Waffen, die helfen!

Worte und Weisheit und Stärke:

Wie soll jemand ohne diese finden, was er sucht?

Helft mir, mein Heim jetzt im Herzen zu haben,

Hier und Jetzt zu leben,

Jederzeit das zu tun, was ich bejahe:

Jahraus, jahrein mir treu zu sein!

Gulltop, Gullfaxi, ihr Rosse des Gold'nen,

Gerade Wege, schmale Grate, viele Steine –

So ist oft mein Pfad, So ist oft mein Steg:

Schwere Schritte – helft mit nun!

Streitwagen, Schimmernder, Scheinender -

Sturm kommt, Wind weht, Regen naht mir,

Wagenlenker – Wo bist Du? Hilf mir hier:

Wie soll ich Dich den Weg alleine seh'n?

Moinn, Goinn, graue Graback-Söhne43,

Gebt mir Stärke, gebt mir Fülle;

Öffnet meine Augen, öffnet meine Wege:

Ohne euch ist auch am Tage Nacht.

Dori, Ori, Dunkelalfen44, Dains Erben45,

Das Leben wird leicht, wenn Freunde nahen;

Bringt mir, was ich dringend brauche:

Bald kommt Freude – ich vertraue euch!

2. b) Morgendliche Anrufung der beiden Alcis

Die folgende Anrufung enthält Elemente aus verschiedenen indogermanischen Überlieferungen.

Ich stehe am sternklaren Morgen

schweigend auf dem Hügel des Svadi46;

Dunkel umhüllt mich, Dämm'rung umgibt mich,

die Schatten verbergen noch Dellings Tor47.

Ich bin Volkrast48, der Erwecker der vielen!

Ich bin Aurgelmir49, der Vater des Lichtes!

Ich bin Thrudgelmir50, der Rufer der Stärke des Tyr!

Ich bin Bergelmir51, der Freund des Tages-Glanzes!

Den mild-süßen Trank der Weisheit habe ich euch geseiht,

Den mild-süßen Trank der Dichter – ihn hab' ich für euch besungen,

Den mild-süßen Trank der Unsterblichen misch' ich für euch:

Milch und Honig und mächtige Kräuter.

Erfreut euch an unseren Lobliedern,

Erquickt euch an den Kraftversen,

Gesängen unserer Sippe aus alter Zeit,

die von Weisen und Seherinnen stammen.

Die Herzen der Dichter hüten die alten Weisen,

Um euch den heiligen Tanz der Worte zu bringen;

Die Lippen der Sänger singen die alten Lieder,

Um euch die Geschenke der Skalden zu Füßen zu legen.

Das Himmelsrand-Feuer lodert hoch empor,

Hymirs Hitze52 färbt die Wolken der Nott53;

Rot glimmt der Rand des Tores zwischen den Welten,

rasch breitet sich die Glut an Ymirs Schädel54 aus.

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten55! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe56! Kommt!

Freya, Dein Schoß ist der Quell alles sich-Regenden,

Frigg, Deine Brüste sind der Quell aller Speisen;

Gefion57, Dein Leib ist der Quell allen Lebens,

Gyma58, Deine Augen sind der Quell aller Liebe.

Du bist die Mutter des Sonnengottes und seine Geliebte,

Du bist die, die alles gibt und alles nimmt:

Einen Fuß auf der Erde, einen Fuß im Meer,

Halb im Dunkel der Nacht, halb im Licht des Tages.

Hel, hast Du die Funken schon in die Höhe geblasen?

Hyndla59, ist die Glut in Deiner Höhle schon entfacht?

Hyrrokkin60, hat das schlafende Feuer schon Deine Hilfe erhalten?

Huldar61, hast Du die Flammen schon heißer gemacht?

Rindr62, Herrin der rabenschwarzen Kammer,

rasch – öffne das Hügelgrab des Rögnir63!

Gefion, Göttin der finsteren Grotte64,

greife den Stein, schiebe das Grabtor beiseite!

Gerdr, gehe zum Himmelstor,

Goldlockige Asin, öffne die Pforte!

Laß Deine Gaben leuchten,

Licht scheinen, die Glut aufflammen!

Singe den Schicksalsgesang der Nornen,

über den endlosem Wechsel von Tag und Nacht!

Öffne weit das Seelenweg-Tor

am Fuße des Weltenbaumes!

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Hört mich, ihr beiden Hirsche!

Helden des Himmels!

Seid mir wohlgesonnen!

Schnellfüßige Hornträger!

Alcis, ich rufe euch! Ashvins, ich rufe euch!

Arwak, ich rufe Dich! Alswid, ich rufe Dich!

Dwalin, komm zu uns! Durin, komm zu uns!

Dwalin, komm zu uns! Dulin, komm zu uns!

Fliegt wie zwei schneeweiße Schwäne

schwingenschlagend empor!

Tretet wie zwei horntragende Stiere

stampfend aus den Wäldern hervor!

Windschnell wie zwei weißflankige Rosse,

Mutig wie zwei graufellige Wölfe,

Rasch wie zwei rotbraune Hirsche,

Das seid ihr, ihr zwei Regin-Söhne65!

Ihr längmähnigen Rosse, ihr Regentrinker!

Ihr goldmähnigen Rögnir-Söhne66, ihr Lichtrufer!

Ihr goldschweifigen Brüder, ihr Sturmbringer!

Ihr goldhufigen Beli-Söhne67, ihr Brandhüter68!

Ich singe euch den Lobgesang,

Ich seihe euch den Opfermet;

Alle Gaben gebe ich euch,

mit Galdr69 und Seidr70 rufe ich euch!

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Himmelsgöttin, sende uns auch heute die Sonne,

den strahlenden Asen, den die Amseln begrüßen;

Erdgöttin, gib der Sonne auch heute Geburt,

dem goldenen Regin, für den die Priester singen.

Audhumbla, Du Mutter des hellsten der Asen,

auch die Alcis hast Du geboren,

Du hast die drei Götter gestillt

und sie als Kinder geschützt und gehalten.

Große Göttin, Dein bloßer Leib ist schön wie der Himmel,

grün und fruchtbar wie die pflanzentragende Erde;

Wenn Du Deinen goldenen Sohn gebierst und die beiden Rosse

dann gibst Du ihnen eine Fülle an Kraft und Weisheit.

Tyr hat sich mit Thröng vereint

in den Tälern der Nacht;

der Schwarze lag bei der Schönen:

So erschaffen sie das Leben.

Mimir trinkt Deine Milch, Freya,

wie ein mächtiger Stier an einem Teich,

doch Deine Fülle ist ohne Ende, Frigg:

alle Tage wächst der Ase heran.

Große, Du bist der Halt der Menschen und Götter,

Deine Gaben ernähren alle;

Weite, auf Dir leben alle athmenden Wesen,

Du erfüllst ihre Wünsche.

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Überquert die Furt am Rand der Rindr,

durch die Flut, die Midgard rings umgibt!

Legt ab von der Erde in eurer luftigen Barke

mit dem leuchtenden, goldenen Sonnensegel!

Ihr Söhne der Sonne, ihr schimmernden Schlangen,

schließt die Horizont-Tore auf!

Ihr weißen Fohlen, ihr feuerschnaubenden Flügelrosse,

führt den Gold'nen am Himmel empor!

Ihr breitbrustigen Hengste in der Himmels-Brandung,

Ihr goldzahnigen Brüder – kommt zu uns!

Ihr Gedanken-angeschirrte Rosse der Rindr,

Ihr schlankhalsigen Renner – kommt zu uns!

Ihr Reim-geleiteten Pferde im Leuchten des Morgens,

Ihr leichtfüßigen Läufer, – kommt zu uns!

Ihr Freude-gelenkten Schimmel im hellen Schein,

Ihr starkgliedrigen Traber, – kommt zu uns!

Kommt in meinen Worten gefahren – in Kühnheit!

Kommt in meinen Versen gesegelt – in Klugheit!

Kommt in meinen Strophen geritten – in Kraft!

Kommt in meinen Liedern gelaufen – in Klarheit!

Kinder des Glanzes, Künder der Wärme,

kommt, ihr Heiler, ihr Helfer!

Begleiter des Drachen, Banner des Morgens,

bewegt euch am Himmel hinauf!

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Tyr, Adler auf der Esche!

Ich rufe Dich mit alten Liedern – komm herab!

Alcis, Raben auf der Eiche!

Ich locke euch mit edlen Versen – kommt herbei!

Eilt herab von den Zweigen – zögert nicht, kommt näher!

Eilt hervor aus der Nacht – zieht von Niflheim herauf!

Eilt heraus aus dem Hügel – den gewohnten Weg:

Ewig währt der Wechsel von Tag und Nacht …

Lauft wie mit Flügeln durch die Lüfte!

Zerstiebt die Wolken mit lautem Schnauben!

Weckt den Regenbogen mit eurem Wiehern!

Zieht den Sonnenwagen im Wind!

Golden ist der Wagen, golden sind die Waffen,

Golden ist die Brustwehr, golden ist die Achse;

Golden sind die Speichen, golden sind die Sitze,

Golden ist die starke Deichsel, golden sind die Räder.

Weithinblickender Bogenschütze

mit brennenden Sonnenpfeilen,

Goldgelockter Lichtgebieter

mit grellhellem Sonnenschild!

Windumbrauster Himmelswanderer

mit weisheitspendendem Met!

Wärmeschenkender Weltbewahrer

mit wohlstandmehrenden Händen!

Sonnendrache! Schimmernde Schlangen!

Schnell eilende Sinmara-Gefährten! Kommt!

Goldener Schild! Goldmähnige Traber!

Glanzverbreitende Geirröd-Sippe! Kommt!

Bringt uns Speise und Trank von Bifröst her,

Bringt uns Schutz für Haus und Herden;

Gebt uns Kinder und Freunde und Gimles71 Fülle,

Gebt uns Geborgenheit im Kreis der Sippe!

Bringt uns Gutes, ihr beiden, und

Gießt Gaben aus wie die Quelle einen Fluß;

Euer Wagen ist mit allen guten Dingen gefüllt:

Laßt uns unser Leben genießen!

Helft den Männern, helft den Frauen und den Kindern

helft den Alten und den Weisen, den Ammen!

Stärkt die Krieger, stärkt die Heiler und die Fürsten

stärkt uns, gebt uns Mut und Weisheit!

Ihr bringt uns die Fruchtbarkeit des Bauches,

Ihr bringt uns die Stärke der Lenden,

Ihr gewährt uns die Lust der Leiber,

die das Leben erschafft.

Laßt uns're Seele wie die Sonne im Herzen leuchten!

Laßt uns aufsteigen aus dem Meer der Gefühle!

Helft uns, uns von der Steppe der Gedanken zu erheben!

Helft uns, uns aus dem Wald der Erinnerungen emporzuschwingen!

Wind weht von dem Bug des Wagens – Gedeihen für Midgard,

Tau tropft von den Speichen – Leben für Asen und Wanen;

Licht leuchtet von dem Sonnenschild – Freude für Götter und Menschen,

Wärme strahlt von dem Drachenschiff – Sonnensegen für alle Lebenden.


32 Fili und Kili = zwei Zwerge = die beiden Alcis Pferde-Söhne des Tyr, die seinen Sonnen-Streitwagen ziehen; jede Doppelstrophe beginnt mit einem anderen Namen-Paar der Alcis

33 Die Germanen und auch die Indogermanen unterschieden nicht zwischen „Horn“ und „Geweih“ – der keltische Hirschgott hieß „Cernunos“, d h. der „Gehörnte“.

34 Delling = der Morgen = Tyr

35 Dag = Sonne = Tyr

36 Goldrad = Sonnen-Streitwagen

37 Hügel = Hügelgräber der Ahnen

38 Gullinhof = „Goldhuf“

39 Gullintann = „Goldzahn“

40 Trank = Göttermet

41 Hymir = Tyr im Jenseits; sein Gebräu = Göttermet (von ihm haben die Asen den Braukessel geraubt)

42 Widrir = Odin; Inhalt seines Kessels = Göttermet

43 Graback = „Graurücken“ = Tyr als Schlange; Goinn und Moinn sind seine beiden Söhne

44 Dunkelalf = Schwarzalf = Zwerg

45 Dain = ein wichtiger Zwerg; seine Erben = Zwerge

46 Svadi = Tyr; sein Hügel = Tyrs Hügelgrab

47 Delling = der junge Tag = der wiedergeborene Tyr; sein Tor = Tor der Sonne am östlichen Horizont

48 Volkrast = „Volk-Erwecker“ = der Sonnenpriester, der morgens die Sonne anruft

49 Aurgelmir = „Licht-Rufer-Ymir“ = sowohl die Sonne als der Sonnenpriester (Tyr als rangmäßig erster Riese ist Ymir als dem altersmäßig ersten Riesen gleichgesetzt worden.)

50 Thrudgelmir = „Kraft-Rufer-Ymir“

51 Bergelmir = „Glanz-Rufer-Ymir“

52 Hymir = Tyr im Jenseits; seine Hitze = Sonnenglut

53 Nott = Nacht, Nachtgöttin, Jenseitsgöttin

54 Ymir = Urriese; sein Schädel = Himmelsgewölbe

55 Sinmara = Hel, Jenseitsgöttin; ihre Gefährten = die von ihr wiedergeborenen Götter Tyr und die beiden Alcis

56 Geirröd = Tyr, seine Sippe = Tyr und die beiden Alcis

57 Gefion = eine Erdgöttin

58 Gyma = eine Erdgöttin

59 Hyndla = Hel

60 Hyrrokkin = Hel

61 Huldar = eine Muttergöttin

62 Rindr = eine Erdgöttin

63 Rögnir = König = Götterkönig = Tyr

64 Grotte = Grabkammer im Hügelgrab (hier das Grab des Tyr und der beiden Alcis)

65 Regin = König = Götterkönig = Tyr; seine Söhne = Alcis

66 Rögnir = König = Götterkönig = Tyr; seine Söhne =Alcis

67 Beli = Sonnengott = Tyr; seine Söhne = Alcis

68 Brand = Sonne

69 Galdr = Kultgesang, Zaubergesang

70 Seidr = Zaubertrank-Braukunst, Magie

71 Gimle = die goldene Halle des Tyr

3. Der Altar

3. a) Der Altar

Diar72, weihe den Tisch der Disen73

und des Delling74 für das Opfer:

Gib die Gaben den Göttern,

Gefiun75 und Gudmund76 und allen Asen.

Diar, weihe den Tisch der Disen

und des Delling für das Orakel:

Tyr und Loki77 kämpfen auf dem Tafl78

und zeigen die Taten der Zukunft.

Diar, weihe den Tisch der Disen

und des Delling für den Eid:

Der rotgoldene Sonnen-Ring des Tyr

bindet der Regin79 Macht an unsere Worte.

Diar, weihe den Tisch der Disen

und des Delling für die Jenseitsreise:

Der Tau-kühle Met im Trinkhorn

gibt dem Erben Thron und Leben.80


72 Diar = Priester (des Tyr)

73 Dise = Göttin

74 Delling = Tyr als die aufgehende Sonne

75 Gefiun = Beiname der Freya als Erdgöttin

76 Gudmund = Tyr

77 Tyr und Loki sind einst der Sommergott und der Wintergott gewesen.

78 Tafl = Brettspiel, das zwischen zwei Heeren stattfindet; der Ausgang des Kampfes zeigt den Ausgang des Themas, zu dem das Tafl-Orakel befragt worden ist

79 Regin = Götter

4. Der Amboß

4. a) Der Amboß

Was wäre Wieland ohne Amboß?

Wie würde Mimir81 Schwerter schmieden?

Die Asen hoben den Hammer hoch,

Schlugen ihn auf den Eisenblock nieder.

Regin legte Gram82 in die Glut,

grimmig schlug er die Kante der Klinge,

Sigmunds schneidende Flamme lag im Feuer,

schwingend erhob sie Sigurd über Fafnir.

Sindri und Brokk83 schmiedeten Tyrfing84,

schufen Surturs85 strahlendes Schwert;

auf ihrem Amboß, in ihrer Esse

erhob sich Draupnir86, entstand Gullinborsti87.


80 Bei der Kröung reiste der Erbe in das Jenseits zu dem Göttervater (einst Tyr, später dann Odin) und erhielt bei seiner Rückkehr den Met-Trank, der ursprünglich symbolisch die Unsterblichkeit verlieh.

81 Mimri = Tyr als Jenseits-Riese

82 Gram = das Schwert, das Sigmund von Odin erhalten hat und das bei Sigmunds Tod zerbrach; Sigurd ließ es durch Regin neuschmieden und töte mit ihm den Drachen Fafnir

83 Sindir und Brokk = die beiden Alcis-Söhne des Tyr, die Tyrs Schwert neuschmiedeten und später dann in den neueren Mythen alle magischen Gegenstände der Asen

84 Tyrfing = „Tyr-Finger“ = Tyrs Schwert

85 Surtur = Tyr als Jenseits-Riese

86 Draupnir = Odins goldener Ring = Symbol der Sonne und der Wiedergeburt

87 Gullinborsti = „Goldborste“ = Freyrs Sonnen-Eber

5. Atli

5. a) Hymne an Atli

Atli88 errichtet den Adler-Tempel89 mit acht90 Altären

im Glanzwald91, durch den der Schrei des Hrungnir-Vogels92 schallt.

Er behütet goldgehörnte Rinder für Baugi93 im Feld,

Er bringt Thiazi94 Opfer, er singt Mimir95 Lieder.

Idmunds Sohn96 holt die Idun der Hahnen-Felsen97,

in der dunklen Kammer des Jammers98 kennt er sich aus.

Das Schlangen-Lager99 aus Ringen100 wird zu Dellings Tor101:

das Licht102 kommt mit Adler-Schwingen103, die Priester singen104.

Atli, gib mir Rat, wie ich Arngrims105 Priester werde!

Atli, hilf mit Tat, daß ich Alsvartrs106 Freundschaft finde!


88 Atli = halbythologischer Priester des Tyr

89 Adler = Seelenvogel des Tyr; Adler-Tempel = Tyr-Tempel

90 acht = Zahl der Vollkommenheit und der Sonne

91 Glanzwald („Glasislund“) = Jenseits des Sonnengott-Göttervaters Tyr

92 Hrungnir = Tyr; Tyr-Vogel = Adler (Tyrs Seelenvogel)

93 Baugi („Ring“) = Tyr

94 Thiazi = Tyr

95 Mimir („Erinnerung“) = Tyr

96 Idmunds Sohn = Atli

97 Hahn = Seelenvogel; Hahnen-Felsen = Grabkammer des Hügelgrabes; Idun des Hügelgrabes = Jenseitsgöttin

98 Kammer des Jammers = Grabkammer im Hügelgrab

99 Schlange = Totengeist; Schlangen-Lager = Grabschatz

100 Ring = Symbol der Sonne und der Jenseitsreise, Teil des Grabschatzes

101 Delling = Gott des Morgens, des Tages und des Lichts = Sonne; sein Tor = der östliche Horizont, wo die Sonne aufgeht

102 Licht = Sonne = Tyr (er lag nachts als Schlange/Drache in seinem Hügelgrab)

103 Adler-Schwingen = die am Morgen wiedergeborene Sonne ist der Adler-Seelenvogel des Tyr

104 singen = die morgendliche Sonnen-Anrufung

105 Arngrim („Adler-Maskenhelm“) = Tyr

106 Alsvartr („All-Schwarzer“) = Tyr als „Schwarz-Sonne“ in der Unterwelt

6. Audhumbla

6. a) An Audhumbla

Meine milchreiche Mutter

im Norden des nebligen Niflheim107

fülle ein Horn voll des feinen weißen Tranks

voll des milden Mets für mich

gib mir wogendes, wallendes Leben

gib mir der Gaben Beste: meine Geburt

und meiner Seele strahlenden Segen

Funken flogen aus von Muspells Flammen

verliehen Leben dem leblosen Eis

furchten Ymir, formten die Kuh

da faßte der Riese den fülligen Euter

und labte sich an dem weißen Lebenstrank108

Dunkel war es unter dem Dach der Welt

nur der Brunnen in des Berglands Mitte brodelt

zwölf Flüsse fließen und frieren zu Eis

bedecken dick das dunkle Land.

Da reckte sich riesig der erste Baum

von dem Brunnen hoch und breit empor;109

der Feuerdrache wohnt in den Wassern;110

Urd111 waltet im Brunnen unter den Wurzeln

und Mimir112 hütet hier so manches Wissen

Audhumbla, gewähr mir Deine Gabe:

geborgen, geführt, erfüllt durch Deine Milch

Wissen, Verstehen durch das Wasser der Urd113

Erinn'rungs-Ernte durch das Mimir-Getränk114

Kraft und Können durch Drachenfeuer115

strahlende Seele durch Göttermet

im Brodeln des Kessels116 werden alle Gaben geboren

denn Du bist die Göttin in der Gestalt einer Kuh


107 Niflheim = „Nebelheim“ = Jenseits

108 Aus dem heißen Muspelheim im Süden flogen Funken in das eisige Niflheim im Norden und schmolzen den Urriesen Ymir aus dem Eis, der dann von der Urkuh (Muttergöttin) ernährt wurde.

109 In der Mitte der Welt (Nordpol) steht der Weltenbaum, zwischen dessen Wurzeln eine heiße Quelle entspringt, deren Wasser in zwölf Flüssen fortfließt. Aus diesem Wasser bilden sich die Gletscher im Norden.

110 Feuerdrache = der ehemalige Sonnengott-Göttervater Tyr als Sonnendrache in der Unterwelt (die Weltenbaum-Quelle ist das Tor zur Unterwelt)

111 Urd = Norne

112 Mimir = Tyr-Riese

7. Aurvandil

7. a) Aurvandil

Weißstern117, hellster der Himmel-Lichter,

Du erscheinst am Morgen an Ymirs Haupt118,

als Baldurs Bote119 an Rindrs Rand120,

um vom baldigen Nahen der Sonne zu künden.

Morgenstern, glänzender Gatte der Groa121,

geleite den Goldenen122 durch Gerdrs Tor123;

hellster der Sterne in der Höhe,

Du bist Hrungnirs Gefährte124.

Lichtwanderer, rascher Läufer

im Freude-losen Eliwagar125

ich singe Dir Deine Lieder,

daß Du uns allezeit die Sonne bringst.


113 Wasser der Urd = Ritual-Met

114 Mimir = „Erinnerung“ = Tyr-Riese; Mimir-Getränk = Ritual-Met (er stärkte die Erinnerungsfähigkeit)

115 Drachenfeuer = Kundalinifeuer

116 Kessel = Quelle unter dem Weltenbaum und der Braukessel für den Göttermet

117 Weißstern = Venus

118 Ymirs Haupt = Ymirs Schädel = Himmelskuppel

119 Baldur = Sommergott, Sonnengott (Nachfolger des Tyr); sein Bote = Venus (Morgenstern)

120 Rindr = Erdgöttin; ihr Rand = Horizont

8. Baldur

8. a) An Baldur

Baldur, Bringer der Blüten,

Odins Sohn und Gott des Sommers.

Schnee fällt, Sturm tobt,

doch Loki liegt schon in Leid126,

gefangen ist der Gast Ägirs127,

der Meister des Mistelpfeils128.

Hermod holte Draupnir her129

als Pfand dem Pferdegott130.

Baldur, laß das Licht nun wieder leuchten

am Himmel und auch in den Herzen.

Alle Asen warten in Asgard auf Dich,

nur Loki ließ Dich im Dunkeln leiden131.

Baldur, öffne Hel und uns're Häuser;

Sommerase, laß die Sonne wieder scheinen;

kehr' zurück, komme zu uns,

laß in Midgard milde Winde weh'n,

Gerste zu Garben gedeihen,

Rapunzel reichlich wachsen am Rain,

Mangold in Mengen sprießen für Männer und Frau'n.

Baldur, laß die Bäume erblüh'n

und Iduns Äpfel wieder grünen

und laß' fließen in Mengen den Met der Götter.

8. b) Baldurs Schicksal

Sonnen-Ase, Odin-Sohn;

Dein Haar ist hell und licht Dein Auge,

Dein Leib: er leuchtet mild und sanft,

Dein Antlitz: ruhig und rein, voll Freude.

Sohn der Frigg, der Friedens-Ase;

Um Breidablick132 blüht Baldurs Braue133,

der Halle Dach strahlt golden-hell,

Gesang hör' ich und Harfenklang.

Hermodr-Bruder, Hringhorn-Fahrer134;

Die Eichen hinter Deiner Halle

tragen Misteln, milchig-weiß

zwischen schattig-grünen Zweigen.

Gott der Tränen, Draupnir-Träger;

Dein Licht gibt Bragi135 lebende Verse,

Dein Leuchten leitet Forsetis136 Wort,

und fördert Frieden am Tage des Things.

Hödur-Bruder, Breidablick-Ase137;

Tyr ist der Richter, der Erhalter des Rechts,

Forseti befriedet der Feinde Worte

durch Baldur, den guten Geist des Gerichts.

Forseti-Vater, Sonnengleicher;

Dein Lied stets lindert den Streit der Asen,

den Kampf der Riesen, den Krieg der Menschen,

Du bist der Segen des Vaters Tyr.

Baldur, Betrachter der goldenen Tafeln138;

Du erkennst die Wurzeln der Worte,

und wägst die Wege, die wir wagen wollen,

Du weist das uns stets, was richtig ist.

Reiner Ase, Ullr-Freund139;

Du kennst und kannst die Sprache des Mondes:

Du liest und Du deutest die Träume und Bilder

und Zeichen und Omen und alle Orakel.

Dem Segen der Asen, der Speise des Feuers140,

Dem Baldur drohten schwere Träume,

die Frigg141 bedrängten düst're Bilder,

Sorgen säumten der Idun142 Sinnen.

Was drohte dem weißen Asen,

dem Gatten Nannas, dem Schönen Gott?

Frigg ließ alle Eide leisten,

kein Harm zu bringen Hödurs Bruder.

Doch Loki lauerte mit argen Listen

dem Frohsinn-Spender, dem Friedens-Ase;

er wußte, daß Frigg die Mistel vergaß –

Baldurs Bruder gab er den Pfeil.

Der blinde Ase brachte Baldur

Was er ihm wohl nie wünschte:

Das Licht der Asen ganz verlosch,

den Himmel deckten dunkle Wolken.

Die wilde Reiterin des schwarzen Wolfes143,

die Schlangenschwester144 sah'n sie nun,

sie stieß das Schiff von Odin Sproß145,

das Opfer der Mistel146, ins Meer.

Auf Hringhorn fuhr er in die Ferne,

Baldur trat da durch die Flamme,

Lokis Opfer sank in tiefe Wasser

Odin flüsterte in Baldurs Ohr.

Der lichte Ase ging nun fort:

den Schlangenweg, den Drachenpfad,

die hohe Regenbogenbrücke147,

Baldur wanderte den Weg der Nacht.

Der Adler-Ase148 flog mit ihm,

zeigte seinem Sohn die Schritte

zur Gjallar-Brücke149 über der Gischt,

wo Raben und Wölfe und Schlangen wohnen.

Vor der Höhle der Hel hielt er,

laut erklang die kalte Brücke,

unter des Baldurs schwankenden Schritten –

der Hüter Walhallas150 kehrt nun heim.

Hermodr eilt, den Harfner zu holen,

Asgards Freude, den Schützling der Frigg

Leben und Licht zurückzubringen,

doch Loki verwehrte dem Weißen den Weg.

Da kam Windzeit, Wolfszeit, Dunkelheit,

des Lichtgotts tiefer Traum und Schlaf,

Pflanzen starben, Blätter sanken,

Schnee fiel, Eis wuchs, Sturm blies, Finsternis.

Da reichte Hel dem Hellen den Met151,

Idun gab dem Asen den Apfel152;

Hrungnirs Herz153: es regte sich wieder

in des Baldurs beklommener Brust.

Nanna154 umarmte155 der Toten Nachbar156,

Baldurs Geliebte gab ihm Leben,

den Bleichen gebar die Blühende wieder157:

der schöne Ase erwachte vom Schlaf158.

Die Nacht ging zur Neige, der Tag trat nun an,

Sommer und Winter wechselten wieder,

dem hehren Hüter von Odins Gold

reicht Hödur huldvoll die Hand zum Gruß.

Der schöne Ase, der Segen des Things,

kehrt heim von Utgard, von Hel,

aus Ydalirs Halle159, von Ullrs Mahl,

von seiner Zuflucht in schwerer Zeit.

Der hürnene Ase160, der Speere Spott161

steht sonnengleich scheinend an seinem Ort,

Draupnir162 leuchtet als Sonnenscheibe:

ein feuriges, flammendes, fliegendes Rad.

Lieder-Finder, Skalden-Freund,

Schwanen-Ase163, Schwingen-Träger:

Dein Singen läßt das Sonnenrad scheinen,

das mit goldenen Gaben Gedeihen gibt.

Baldur, Gott des Rades und der Harfe;

Wecke der wankenden Menschen Mitte,

laß sie die weisen Worte lauschen

und die Feuer in ihren Herzen164 finden.

Baldur, Bote des Baumes des Lebens165;

hilf uns in Stille166 uns selber zu sehen,

am Tag mit Taten uns selbst zu erschaffen,

in Wahrheit und Weisheit zu wandern.

8. c) Baldurs Reise

Diese Strophen sind aus der Sicht des Baldur geschrieben. Sie stellen seinen Weg ins Jenseits und wieder zurück dar.

Die Mistel traf in meine Mitte,

der Feder-Pfeil flog in mein Herz,

Lokis Lachen, Hödurs Leid …

Schmerz und Wärme, Schwindel und Schwinden …

Ein Schwan, ein Adler, ein Seelenvogel –

schwerelos schwebe ich über mir selber167;

tot, ich blicke auf Baldurs Bahre hinab,

ich selber auf mich selbst.

Das Weinen der Asen, die Tränen der Wanen,

klingen von fern her zum Sohn der Frigg.

Ich rufe und rufe, doch keiner hört,

Ich greife, nichts faßt – alles ist Nebel.168

Ich liege reglos auf Hringhorns169 Rumpf,

sehe mich selber dort seelenlos liegen,

Mein Vater Odin flüstert, spricht mit mir,

weist mir den Weg, winkt mir zu folgen.170

Das Feuer brennt und Flammen fliegen

von den Fackeln – gefräßige Glut171:

ich spüre nicht, wie sie mich verschlingt;

Hyrrokkin172 stößt Hringhorn in die hohe See.

Odin flüstert, ich folge dem Weisen,

wie ein Vogel173 dem Raben-Asen174,

er führt mich durch Wege fern von der Welt,

er flüstert, ich folge … bin nur noch ein Vogel.

Garm grollt, Fenrir geifert175,

Zunge leckt und Zähne zerren –

lassen, nichts mehr fassen:

die Asen alle, das Alte und Liebe geht.

Widar geht und Ullr weicht,

Odin winkt, Forseti: fort,

Hödur176 fern, Frigg177 nur Nebel,

Nanna178? weit entfernt, nicht hier …

Ein letzter liebender Gruß,

Augen wenden sich fort von der Welt,

der Blick wird gebannt auf das Innen,

still wird es, stetig und stumm.179

Die Brücke über den Gjallar180 bannt

meinen Blick auf den Boden in mir:

Gedanken gehen, Gewohnheit auch,

Wünsche weichen, Sehnen verlischt.

Hels Finger fassen tastend

meine Formen, meine Bilder,

zerbröckeln das, was war,

und lösen auf, was ich einst lebte.

Hels Atem haucht in meine Hülle,

Bilder werden Licht und Wärme,

Der große Baum wird wieder Keim,

Der Himmel-Streber181 schrumpft zum Samen.182

Die Schnecke senkt den Fühler ein,

der starke Bär zieht sich zurück,

der Adler kehrt heim in den Horst,

das Außen sinkt nun sachte in das Innen.

Sonnenglut183 in meiner Seele,

Draupnir184 dringt in meinen Geist,

Sonnenrad185 in meinem Herzen,

Rückkehr, Heimkehr: ich komme nun zu mir.

Das Feuer der Hel186: nun fließt es in mir

als Schlange, als Drache, als drängendes Leben;

Hel naht, sie wird zu Nanna,

ich bin vereint187 mit der Mutter-Geliebten.

Milder Met mundet mir gut188,

fließt funkelnd und frisch nun in mir,

ich wachse erwachend, verwundert,

Nebel-Licht189 hilft mir, hüllt mich.

Wille erwacht und drängt nach der Welt,

Wünsche keimen, Sehnen kommt,

Baldur wird neu, die Glieder wachsen,

Die Nacht naht nun bald ihrem Ende.

Die Äpfel der Idun190 eß' ich in der Höhle,

Im Dunkel der Nanna191, im Dunkel der Hel,

im Leib der Frigg, im Leib der Freya,

Des Forseti-Vaters Frühling192 ist nah.

Die Sonne erwacht, scheint schimmernd am Himmel,

Die Pforte der Göttin193 ist offen und groß,

Volkrast194 der Zwerg singt vor den Toren des Tages,

der Nanna zur Stärkung, dem Baldur zum Gruß.195

8. d) Baldur und Ullr

Schnee fällt, Wasser friert, Eis funkelt,

Weiß bedeckt die weiten Wälder.

Ullr jagt braune Bären in den Bergen,

Rauch ringelt sich empor im Eibental196.

Der Bogen-Ase197 trägt das Wildbret heim,

über ihm leuchtet das Licht des Nordens;

der Schneeschuh-Ase198 kommt zurück nach Ydalir199,

zur Halle im Hag der hohen Eiben.

Im Spätherbst, in der Hödur-Zeit200,

friert in den Ebenen das erstes Eis;

Die Gänse suchen südwärts Sonne –

Ein Wand'rer nimmt den Weg nach Norden.

Das Eibental betrat Hermodrs Bruder201,

Nach Ydalir führt Wegtams Sohn202 der Weg,

Es pocht im Schneegestöber an die Pforte,

Es tritt zum Tor der Eibental-Ase203.

Da sieht Sifs Sohn204 den Sonnen-Haar205,

er umarmt den Freund mit Freude;