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© 2019 – Peter Walther, Göttingen (www.irrationale.net)

Umschlag: Frank Lepold, Offenbach

Federzeichnung „Heidekate“: Frank Lepold, Offenbach

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7481-7683-1

INHALT

ZUM BLAUEN ENZIAN

Als nun Gott wieder einmal danach war, ging er auf der Erde spazieren und kam, als er in der Lüneburger Heide die Gegend um den Wilseder Berg erkundete, zufällig auch beim Enzianwirt vorbei. Der bewirtschaftete dort an einer kaum befahrenen Kreisstraße den Gasthof mit Kegelbahn „Zum Blauen Enzian“ und gehörte zu den Menschen, die nicht an ihn glauben wollten. Da kehre ich doch gleich mal ein und sehe nach dem Rechten, dachte Gott so vor sich hin.

Kein Vorbau. Die Eingangstür führte direkt in den Schankraum: zwei Meter Theke, drei Tische, zwei kleinere und ein großer runder mit einem Schild – „Stammtisch“ in Schwabacher Fraktur auf eine Birkenholzscheibe gebrannt –, eine Tür „Privat“ zur Küche, eine zu den Toiletten und zur Kegelbahn. Hinter der Theke, gelangweilt aufgestützt, ein kleiner Mann Ende vierzig mit Halbglatze und Bullenschnäuzer in einem Jägermeister-T-Shirt: Horst, der Enzianwirt; auf einem Barhocker an der Theke mit dem Rücken zu Gott in Jeans und Netzunterhemd vor einem Glas Wasser: Schorse Kriemelmeyer; am Stammtisch vier Männer zwischen vierzig und sechzig, alle in dunklen Anzügen mit schwarzen Krawatten, einer, der älteste, mit Goldkettchen: Sargträger, die hier für eine Beerdigung um halb zwei in Undeloh vorglühten.

Schorse Kriemelmeyer starrte weiter regungslos in sein Mineralwasser, der Enzianwirt und die vier am Stammtisch blickten erstaunt, ja, fast erschrocken auf, als Gott den Schankraum betrat, grußlos zunächst, eins fünfundachtzig oder mehr, Brille, grüne Lederjacke, Spazierstock. Ein Fremder? Hier? Ein Eindringling.

Fremde hatten sich in der nun schon fast fünfundsechzigjährigen Geschichte in der Tat nur gelegentlich und aus Versehen in den Gasthof verirrt, in größerem Ausmaß nur zweimal. Einmal, als die Nationalsozialisten Hermann Löns oder was sie für seine Überreste hielten in Frankreich ausgebuddelt hatten und ein paar Wochen das Gerücht herumging, man wolle ihn endgültig hier am Wilseder Berg begraben: 1934 war das. Großmutter Marianne nagelte kurzentschlossen ein Schild „Lönsklause“ über die Haustür und begann, zuerst noch ohne Konzession, in der guten Stube Bier in Flaschen an Gäste auszuschenken. Daraufhin kehrten an zwei, drei Wochenenden hintereinander Neugierige aus der Gegend bei ihr ein, aus Lüneburg, Celle und Walsrode, einige sogar aus Hamburg, Hannover oder Verden an der Aller. Als dieser Plan fallengelassen wurde, „aus Naturschutzgründen“ hieß es, die Massen der Löns-Pilger sollten nicht die schöne Heide zertrampeln, verlief sich das Interesse an dem Wohnzimmerausschank in der Heidekate so schnell wieder, wie es aufgekommen war.

1974 war die Gaststätte dann zum ersten und auch zum letzten Mal so gefüllt, daß viele keinen Sitzplatz mehr fanden und dicht gedrängt vor der Theke, zwischen den Tischen und im Toilettenflur standen. Horst hatte seine Brigitte geheiratet, war in den Bungalow-Neubau mit dem neunzig Quadratmeter großen Wohnzimmer umgezogen, hatte die Wand zwischen Gaststube und Schlafzimmer herausgerissen, eine richtige Theke mit Zapfhähnen eingebaut, eine Musikbox in die Ecke gestellt. Dazu waren der häßliche kastenförmige Kegelbahnanbau in Fertigbauweise nach hinten hinaus und eine Neonreklame über dem Eingang gekommen: Fertig war die Verwandlung der „Lönsklause“ in den „Blauen Enzian“.

Zur Neueröffnung sang ein Alleinunterhalter aus Uelzen, der auf den Plakaten mit Sonnenbrille gezeichnet war und sich als „Heino aus der Heide“ ankündigen ließ, „Blau, blau, blau blüht der Enzian“. Fast alle Gäste waren nur gekommen, weil sie den Heide-Heino für den echten hielten, und kaum jemand fand ohne diesen zackig-tümelnden Rummel einen Grund, seinen Besuch zu wiederholen.

„Einen wunderschönen guten Morgen, die Herren“, grüßte Gott, als er an der Theke angekommen war, und setzte hinzu:

„Einen Enzian, bitte.“

„Haben wir nicht, kriegen wir auch nicht wieder rein.“

Das wußte Gott natürlich, aber weil er auch wußte, daß keiner der Anwesenden, ob an der Theke oder am Stammtisch, von seinem Wissen auch nur einen Hauch ahnte, setzte er auf das Spielchen noch einen drauf, zum Warmwerden, wie er es vor sich selbst rechtfertigte: „Und wieso heißt dieses Etablissement hier Zum Blauen Enzian, wenn es noch nicht einmal welchen gibt?“

„Äh“, wollte sich der Wirt gerade verteidigen, als Schorse Kriemelmeyer Gott von der Seite anrüffelte, ohne den Blick dabei von seinem Mineralwasser zu nehmen: „Wir sind ja hier auch nicht in den Bergen, sondern in der Heide. Der Wilseder Berg ist auch kein Dreitausender, noch nicht einmal zweihundert, einhundertneunundsechzig Komma zwo genau. Da wächst kein Enzian, nur Wacholder.“

„Eben“, entgegnete Gott mit einem seiner beiden Lieblingswörter – ‚alles‘ war das andere – „Eben. Mit einem Wacholder wäre ich auch zufrieden.“

„Auch den nicht. So etwas trinkt sonst niemand hier. Wir sind keine Schickimicki-Bar, wir habe nur normale Sachen.“

„Dann bitte ein Schessinghäuser Gedeck.“ Das Fragezeichen stand Horst, dem Enzianwirt, auf der Stirn geschrieben. „Ein Schessinghäuser Gedeck, auch Schessinghäuser Katerfrühstück genannt, besteht aus einem doppelten Doppelkorn und einer kleinen Flasche Mineralwasser“, erläuterte Gott, als zitierte er aus dem Großen Lexikon der Mixgetränke. Er hatte es aber gerade selbst erfunden. Kriemelmeyers Getränk hatte in ihm die Erinnerung an einen alten Bauern aus Schessinghausen wachgerufen, der ihm auf einer seiner früheren Wanderungen diese Mischung als das Rezept für ein ewiges Leben angepriesen hatte.

„Jaaaa?“ Der Enzianwirt zerdehnte das Ja und hängte ein halbes Fragezeichen an, als müsse er noch darüber nachdenken. Den Rest seiner Antwort betonte er überdeutlich scharf, als habe er einen schwerhörigen und begriffsstutzigen Menschen vor sich, und unterstrich zudem jede Silbe mit flachen, die Luft zerschneidenden Handbewegungen: „Das ist nor-mal, das haben wir“, goß zwei Schnapsgläser mit Doppelkorn voll, knapp über den Eichstrich, immerhin, öffnete eine kleine Flasche Grauhof und stellte alles mitsamt einem Wasserglas vor Gott auf die Theke.

Der hängte seinen Spazierstock in die linke Armbeuge, klemmte die beiden Schnapsgläser zwischen Zeige- und Mittelfinger sowie kleinen und Ringfinger der linken Hand, nahm Glas und Mineralwasserflasche in die Rechte, brachte die Last mit federnden Schritten, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten, zum mittleren kleinen Tisch, Maurice Chevalier als Tanzbär mit Lederjacke verkleidet, stellte Gläser und Flasche schwungvoll darauf, setzte sich, „Prost!“, kippte beide Gläser Korn schnell hintereinander weg, wischte sich die Mundwinkel ab: „So geht das!“, schob das leere Wasserglas von sich weg in die Tischmitte, lehnte sich sichtbar zufrieden mit seinem Auftritt zurück und betrachtete das Schattenspiel auf dem Wandkalender der Volksbank: ein Niedersachsenhaus mit gekreuzten Pferdeköpfen, 1998, Juni, das rote Markierungsquadrat auf der Drei unter Mittwoch. Die vier am Stammtisch spielten mit ihren Biertulpen: Herforder. Gute Güte, dachte Gott, bis hier hoch schon.

Schorse Kriemelmeyer, eigentlich Georg Meyer, Kriemelmeyer, um seine Familie von den anderen Meyers im Dorf zu unterscheiden, hatte die ‚Zeit‘ der Vorwoche vor sich ausgebreitet, „Kommunismus: Haben Marx und Engels Haß gepredigt? Von Albert C. Sellner“; sein Netzunterhemd mit dem durchwuchernden Rückenhaar täuschte. Der arbeitslose Soziologe, Taxifahrer und Gelegenheitsdealer wohnte mit vierundvierzig wieder bei seiner Mutter, brach aber manchmal nach Hamburg aus, wo er den Anarchisten gab und Heimspiele des FC St. Pauli besuchte.

Horst, der Enzianwirt, untersuchte eingehend seine Fingernägel und beschloß, sie ‚demnächst‘ wieder einmal zu schneiden.

DIETERS HENGSTPARADE

Einige Minuten fiel kein Wort. Draußen flatterte ein Vogel. Gott blätterte in Gedanken das Große Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur durch, fand aber nichts zur Sitte, sich vor der Beerdigung zu betrinken. Dann unterbrach der älteste der Stammtischrunde, der mit dem Goldkettchen, die fast andächtige Stille: „Wo waren wir stehengeblieben?“

„Dieters Hengstparade.“ Dieter war der Tote, den sie in zwei Stunden unter die Erde bringen sollten. Bei der Beerdigung von Rixen Louis drei Wochen zuvor hatte er noch selbst zu den Sargträgern gehört und mitgetrunken, als könne er noch Jahrzehnte so durchhalten.

„Hengstparade. Richtig. Also! Als dann Fräulein Jedamski hier reinkommt, steht er auf, holt seinen Lümmel raus und legt ihn hier auf ’n Tisch.“

„As’n Hengst sien’, segg ich di, as’n Hengst sien’.“

„Ge-wal-tich!“

„Hier auf den Tisch. Neben den Teller.“

„As’n Hengst sien’! Sowas hast noch nich sehn!“

„Und sie: Verzieht keine Miene. Wird noch nich mal rot. Kuckt nur ganz kurz hin, lacht und geht weiter, als wär’ nix.“

„So wahr ich hier sitze.“

„Kein bißchen eingebildet oder etepetete. Die war in Ordnung.“

„Was ‘ne Frau. Als wär‘ sie eine von uns. Nicht so wie die Neue.“

„Und der Dieter. Ja. So war er.“

„Prost. Prost auf beide!“

Mit leeren Biergläsern. Der Wirt fing sofort an, vier neue zu zapfen. Gott prostete mit dem leeren Wasserglas zurück.

„Kuck nicht so ungläubig, du da drüben in deiner grünen Joppe. So war er, unser Dieter. Das stimmt alles. Al-les. Wort für Wort.“

Es war aber alles gelogen und gehörte zu einem Stückchen, das sie nicht zum ersten Mal aufführten. Normalerweise sah Gott, auch wenn er es besser wußte, über solche Klatschgeschichten und Aufschneidereien großzügig hinweg, an einem Tag wie diesem wollte er es den schon leicht angeheiterten Sargträgern aber auf keinen Fall durchgehen lassen.

„Schämen Sie sich nicht?“, entgegnete er: „Sie tragen heute Ihren Freund zu Grabe und statt an einem solchen Tag einmal innezuhalten und in sich zu gehen und nachzudenken über die Vergänglichkeit des Seins, über sich und die Welt, über den Sinn Ihres Lebens oder auch nur darüber, wie lange Ihre Lebern noch durchhalten bei Ihrem Alkoholkonsum, statt also den Tod Ihres Freundes zum Anlaß zu nehmen, wenigstens ein einziges Mal nachzudenken über Ihr Leben“, beinahe hätte Gott ‚über Ihr beschissenes Leben‘ gesagt, konnte sich aber gerade noch bremsen. „Was machen Sie stattdessen? Sie tischen mir eine solche Geschichte auf, die Ihren toten Freund beleidigt und auch Ihre alte Lehrerin. Wenn sie wenigstens noch wahr wäre und eine echte Erinnerung an den Toten. Aber nein.“

„Willst du etwa behaupten, wir lügen?“, unterbrach ihn der mit dem Goldkettchen.

„Genau“, antwortete Gott, „und zwar gleich doppelt. Sie haben es erfaßt.“ Er stützte seine Ellbogen auf den Tisch, faltete seine Hände in Kinnhöhe und blickte die Stammtischrunde herausfordernd an.

„Woher willst Du das wissen?“ Das Goldkettchen war rot angelaufen und aufgestanden: „Du bist doch nicht von hier. Und Dieter kennst du auch nicht. Gib es zu!“

Wie ein Zuhälter auf einer Ludenbeerdigung auf St. Pauli, dachte Gott, aber das paßt, das ist er ja auch, nur weit vom Schuß auf dem Dorf, drei Nummern kleiner und ganz und gar erfolglos. Anlageberatung, Partnervermittlung, Strukturvertriebe, ein halbes Dutzend betrügerische Schneeballsysteme, alle Geschäftsideen, die das schnelle und mühelose Geld versprachen, hatte er schon versucht, war aber stets daran gescheitert, daß nie jemand anderes als seine Saufkumpane auf seine großspurigen Versprechungen hereinfiel. Den Lebensunterhalt mußte seine Frau mit ihrer Heißmangel verdienen. Geld, um neue Verlustgeschäfte einzufädeln, rückte sie schon seit Jahren nicht mehr heraus.

„Herr Prahlemann“, versuchte Gott das Goldkettchen, das eigentlich Hans-Joachim Bruns hieß, zu verunsichern: „Richtig, ich komme nicht von hier, aber, wie Sie sehen, kenne ich sogar Ihren Spitznamen. Und ich weiß noch viel mehr über Sie. Ich weiß, wieviel Sie auf dem Konto haben, ich weiß, mit wie vielen Firmen Sie schon bankrottgegangen sind, ich weiß, daß diese Geschichte über Ihren Freund frei erfunden ist, schlecht erfunden noch dazu. Sein Schwengel mißt normale dreizehn Zentimeter und er hat ihn auch nie auf irgendeinen Tisch gelegt. Ich weiß eben alles. Damit müssen Sie sich abfinden. Aber“, er gluckste innerlich bei dem Gedanken an seinen guten Einfall, „wenn Sie den Mut aufbringen, gebe ich Ihnen gern Gelegenheit, mir auf der Stelle das Gegenteil zu beweisen. Noch ist der Sarg nicht zugenagelt. Wir gehen zusammen zur Friedhofskapelle und messen nach. Und wenn wir dann feststellen, daß Ihre Behauptungen stimmen, verschwinde ich auf der Stelle und belästige Sie nicht länger.“ Gott hielt Prahlemann seine Rechte hin: „Schlagen Sie ein!“

Der sprang empört auf, beugte seinen Oberkörper ein Stück zurück, nahm seine Hände auf Brusthöhe und hielt Gott die Handinnenflächen abwehrend entgegen: „Störung der Totenruhe wäre das, Störung der Totenruhe. Du weißt genau, daß wir das unserem Dieter niemals antun würden. Deshalb schlägst du das auch vor. Wir haben dich durchschaut.“

„Papperlapapp.“ Gott wischte die hilflose Entgegnung mit einem Wort weg. Diese Wichte wollten ihn durchschaut haben? Diese lächerlichen Kreaturen? Ihn?! Das einzige Wesen im Universum, das alles weiß?! Pah!!

„Was ist denn schon dabei? Wenn Ihr Freund sein Ding hier wirklich auf den Tisch gelegt hätte vor den Augen Fräulein Jedamskis, wie Sie behaupten, hat er zwar nicht, aber nehmen wir es mal für einen Augenblick an, wenn das seine Art gewesen wäre, dann hätte er wohl auch nichts dagegen, wenn wir jetzt einmal kurz nachschauen unterm Totenhemd, und, wenn es stimmt, wenn, ich sage ausdrücklich: wenn, denn es stimmt ja nicht, das wissen wir alle, es sind nun einmal nur dreizehn Zentimeter und nicht vierundvierzig oder fünfzig, wenn es also trotzdem stimmt, dann rufen wir im Chor ‚Habet! Habet! Habet!‘ und lobpreisen vor der ganzen Welt die Größe seines Gemächts.“

Weder einer der vier Sargträger noch der Enzianwirt hatten verstanden, worauf Gott anspielte. „Habet ist Latein und heißt: er hat“, half Kriemelmeyer ein: „Früher wurde bei jedem Papst überprüft, ob er auch Eier hat, bevor er sein Amt antreten durfte. Ein Kardinal mußte unter der Soutane nachfühlen und das dann dreimal rufen, wenn er erfolgreich war.“

„Leichenschändung wäre das“, regte sich Prahlemann auf, „die perverse Sau will nur an Dieter rumgrabbeln. Leichenschändung. Üble Nachrede. Gut, daß unser Dieter sich diesen Mist nicht mehr anhören muß. Die Ohren würden ihm klingeln. Beide Ohren. Kommt der da einfach reingeplatzt in unsere Trauer und weiß gleich alles besser als wir, Dieters Freunde. Unser Dieter ist das immer noch. Unser Freund. Und du weißt nichts, gar nichts. Unser armer Dieter.“

Die anderen drei nickten bedächtig. „Die besten sterben zuerst.“

„Unser Dieter. Armer Dieter. Unser Freund.“ Gott ahmte die Stimme des Goldkettchens so gut nach, daß die Sargträger, Kriemelmeyer und der Enzianwirt zusammenzuckten. „Was sind Sie nur für Heuchler. Unser Dieter, oho! Letzten Mittwoch, als sein Stuhl hier leergeblieben war, weil er im Sterben lag, gut, Sie wußten nicht, wie es um ihn stand, aber das entschuldigt Sie nicht, letzten Mittwoch war er niemandes Freund hier, das größte Arschloch weit und breit war er, da waren Sie sich alle einig …“

„Woher willst Du das wieder wissen“, unterbrach ihn Goldkettchen Bruns, „du warst doch gar nicht dabei.“ Vielleicht hatten sie einen Verräter unter sich. Seine Augen wanderten von einem Sargträger zum anderen, vom Stammtisch an die Theke zu Kriemelmeyer und dem Enzianwirt und von dort wieder zurück, fanden aber nichts als die suchenden Augen der anderen, die den gleichen Verdacht hatten.

Gott ignorierte das Goldkettchen und die suchenden Blicke. „Armer Dieter: Ja, das stimmt, ein armer Tropf war er. Schauen Sie sich nur seinen Lebenslauf an, meine Herren. Nichts, was er je angefaßt hat, ist ihm zu einem guten Ende gelungen. Als er vier war, konnte er den Struwwelpeter auswendig, seine Eltern hatten ihm den Text vollständig eingebleut und zu jeder Gelegenheit aufsagen lassen, einige von ihnen können sich bestimmt noch erinnern …“

Bernd Thieme konnte, zog es aber vor zu schweigen, um von den anderen nicht für den Verräter gehalten zu werden.

„… Hauptschulabschluß mit Ach und Krach, dreimal durch die Gesellenprüfung als Kfz-Mechaniker gefallen, das wissen Sie aber alle hier, ein paar Wochen Spielplätze und Wartehäuschen in der Nordheide, kurze Zuhälterkarriere auf St. Pauli, Herr Bruns und auch Herr Meyer, nicht wahr, haben das sehr wohl mitbekommen, Sie sind ihm da ja oft genug begegnet … keine Proteste, meine Herren, das ist zwecklos, ich weiß es, ich weiß alles über Sie …

Herr Meyer, Sie waren damals noch keine sechzehn und niemand sollte etwas von ihren heimlichen Ausflügen mitbekommen, am wenigsten Ihre Mutter, aber das spielt doch heute keine Rolle mehr … Herr Bruns, Prahlemann, sie haben damals mit den Luden krumme Geschäfte gemacht, wollten die über den Tisch ziehen, aber die waren Ihnen über, genau, wie sie Ihrem Freund Dieter über waren, und es ging fast immer umgekehrt aus, das soll bis heute niemand wissen, aber ich weiß es … Sie waren nicht gerissen genug für das Milieu und Ihr Freund Dieter viel zu weich; nach noch nicht einmal einem Jahr wieder zurück zu seinen Eltern, erzählt, er habe Arbeit in einer Werkstatt, sich von seiner Mutter Tag für Tag Butterbrote schmieren lassen, aber immer nur in den Wald und sich bis vier auf eine Bank am Wanderweg gesetzt, sogar Kostgeld abgegeben, damit die Eltern nichts merkten. Alle im Dorf wußten das, Sie auch, meine Herren, nur seine Eltern nicht, denen hat niemand etwas erzählt.

Woher aber das Geld kam, das Ihr Freund Dieter trotzdem ausgab, das wußten nur wenige, erstens er selbst, zweitens die Jugendlichen, an die er von der Bank unter dem Wacholder aus Drogen verkauft hat, Haschisch und Trips, Koks und Heroin, was die Dorfjugend halt so konsumiert, und drittens Sie, Herr Bruns, der diese Drogen in Dieters Auftrag von den alten Bekannten aus Hamburg besorgt hat, gegen Provision selbstverständlich …“

Der Angesprochene wollte hochfahren und protestieren, Gott brachte ihn aber mit einer knappen Handbewegung wieder auf den Stuhl zurück.

„Gegen Provision selbstverständlich, genau wie für das wertlose Adressenmaterial, das Sie Dieter besorgt haben, als er nach dem Tod seiner Eltern die Drogengeschäfte aufgegeben und eine Partnervermittlung gegründet hat. Daß die Agentur gescheitert ist, eine einzige erfolgreiche Vermittlung nur, die Studienratswitwe aus Lüneburg mit dem Elektromeister aus Bad Bevensen, das wissen Sie wieder alle hier in dieser Runde, daß Dieter den Kredit nicht zurückzahlen konnte, daß sein Elternhaus zwangsversteigert wurde, daß er bis an sein Ende letzten Freitag von der Arbeitslosenhilfe leben mußte und vom Amt von einer Fortbildungsmaßnahme in die nächste geschoben wurde, das wissen Sie auch. Daß aber unser Herr Bruns hier, Jochen Prahlemann, wie Sie ihn nennen, damals, weil Ihr Dieter als Erbe den einträglichen Drogenhandel fahren ließ und diese Einnahmequelle versiegt war, daß unser Herr Bruns hier dann das Adressengeschäft mit den Kölner Gaunern eingefädelt und Dieter dazu überredet hat, damit er 35 Prozent Provision kassieren konnte, das wissen Sie nicht, das hat er bisher verschwiegen, da staunen Sie, nicht wahr, meine Herren?“

Einen Augenblick lang war es still im Schankraum. Goldkettchen Bruns schaute suchend von einem seiner Sargträgerkollegen und Stammtischbrüder zum anderen, die wichen seinem Blick aus, verweigerten jede Miene oder Geste, die er als Kommentar auffassen könnte. Kriemelmeyer saß weiter regungslos mit dem Rücken zur übrigen Gesellschaft an der Theke, hinter der Enzianhorst eine Biertulpe anhauchte und sorgfältig polierte. Gott schob den Deckel mit den beiden Schnapsgläsern langsam und bedächtig neben den mit dem Wasserglas und richtete beide aus. Bruns durchbrach das Schweigen mit einem unverständlichen Gemurmel, mehr an sich als an die anderen gerichtet, ehe er plötzlich sehr laut wurde: „Woher will er das wissen? Gar nichts weiß er! Alles nur Gerüchte! Damals wie heute! Nur Gerüchte!“ Dann setzte er leiser nach: „Gerüchte.“

Gott drehte seinen Stuhl ein paar Grad nach rechts, so, daß er jetzt dem Goldkettchen frontal gegenübersaß, und lehnte sich zurück: „Tatsachen, Herr Bruns, keine Gerüchte, Tatsachen. Ihre Freunde hier wissen das sehr wohl.“

Der Angesprochene fuhr erneut mit hochrotem Kopf aus seinem Stuhl hoch: „Verleumdung ist das! Das hat ein Nachspiel! Üble Nachrede! Erst macht er Dieter schlecht, dann mich! Da soll man sich nicht aufregen! Wer ist der Nächste, frage ich mich.“