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Der Autor

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Dr. Henning Tümmers ist Privatdozent am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen, Lehrbeauftragter am Tübinger Seminar für Zeitgeschichte und Teilprojektleiter am Sonderforschungsbereich 923 »Bedrohte Ordnungen«. Seine Forschungsinteressen umfassen die NS-Zeit und die Geschichte beider deutscher Staaten nach 1945, die Wiedergutmachung von historischem Unrecht und den transnationalen Umgang mit gesellschaftlichen Bedrohungen im 20. und 21. Jahrhundert. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen Studien zur Auseinandersetzung mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik und zur Immunschwächekrankheit AIDS.

Henning Tümmers

Nach Verfolgung und Vernichtung

Das Dritte Reich und die Deutschen nach 1945

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-031932-5

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pdf:        ISBN 978-3-17-031933-2

epub:     ISBN 978-3-17-031934-9

mobi:     ISBN 978-3-17-031935-6

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Einleitung
  2. Gegenwärtige Vergangenheit
  3. Thema, Thesen, Fragestellung und Begriffe
  4. 1   Demokratisierungsversuche nach Hitler
  5. Trauerspiele
  6. »Nürnberg«
  7. Konfliktreiche Kompensation
  8. Schuldfragen
  9. Selbstfindung durch Universalisierung
  10. 2   Nach der Besatzung: Staatenkonsolidierung und Systemwettstreit
  11. Vergangenheitspolitik beiderseits der Mauer
  12. Braune Justiz
  13. »Was tun, wenn ein ganzes Volk bockt?«
  14. Politische Bildung – Politisierung der Geschichte
  15. 3   Anfänge und Höhepunkte der »inneren« Auseinandersetzung
  16. Aufklärungsprozesse
  17. Auf der Bühne
  18. Introspektiven
  19. »Kinderbücher«
  20. Geschichtsstunde Holocaust
  21. Gegenwart gestalten I: der »Historikerstreit«
  22. Gegenwart gestalten II: das Beispiel Medizingeschichte
  23. 4   Das Dritte Reich und der Mauerfall: Diversifizierende Erinnerungen
  24. Neuere NS-Forschungen
  25. Konkurrierende Erinnerungen
  26. In der »Mitte« angekommen: das Mahnmal
  27. »Weltgewissen« und »der gute Deutsche«: Schindlers Liste
  28. Neue Unbefangenheiten
  29. Universalisierung des Holocaust
  30. Ausblick
  31. Abkürzungsverzeichnis
  32. Literaturverzeichnis
  33. Personenregister
  34. Abbildungsnachweis

Einleitung

 

 

 

Die Aktion dauerte vermutlich nur ein paar Minuten: Am 12. Mai 1945, die Kapitulation der deutschen Wehrmacht lag erst wenige Tage zurück, näherten sich in Trier drei Männer dem Hotel Monopol. Dort angekommen, bestieg einer von ihnen eine Holzleiter und begann, das an der Gebäudefassade befestigte Straßenschild mit der Aufschrift »Adolf-Hitler-Str.« zu entfernen. Kontrolliert wurde die Maßnahme von einem uniformierten Leutnant der US-Armee und einem Vertreter der amerikanischen Militärpolizei in Zivil. Nachdem der Arbeiter – allem Anschein nach ein Deutscher, der für diese Tätigkeit von den Alliierten verpflichtet worden war – die Schrauben gelöst hatte, legte er diese in Blech gestanzte Erinnerung an den »Führer« in die Hände des Polizisten.

Im Handumdrehen, so könnte man meinen, entledigte man sich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der alten Römerstadt an der Mosel der jüngsten Vergangenheit. Ganz so einfach sollte es jedoch für die Deutschen, deren Staatsoberhaupt sich am 30. April in Berlin das Leben genommen hatte, sowohl im Frühjahr 1945 als auch in den Dekaden danach nicht werden. Zwar zeitigte diese damnatio memoriae Hitlers in Trier unmittelbar Wirkung: So residierte das an der Zufahrtsstraße zur Porta Nigra gelegene Hotel Monopol fortan wieder in der »Bahnhofstr.«; niemand würde es in Zukunft über eine nach dem Diktator benannte Zufahrt erreichen. Tatsächlich nahm die Auseinandersetzung der vormaligen »Volksgemeinschaft« mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen in Momenten wie diesen aber gerade erst ihren Anfang. Solche Szenen, die sich in den Tagen nach Kriegsende allerorts ereigneten, markierten den Beginn einer bis heute andauernden »zweiten Geschichte« (Reichel 2001, 9) der NS-Herrschaft, einer Geschichte der Deutschen nach der Verfolgung und Vernichtung eines Millionenheeres von »Gemeinschaftsfremden«.

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Abb. 1: Austausch von Straßenschildern am Hotel Monopol in Trier unter Aufsicht des US-Offiziers Donald L. Berger (links), wenige Tage nach der Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945.

In ihr spielten, allerdings zu jeweils unterschiedlichen Zeiten, die nach 1933 verübten Verbrechen eine besondere Rolle, darunter die »Ausschaltung« politischer Gegner, die Ermordung von Sinti und Roma sowie geistig und körperlich Behinderter im Rahmen der »Euthanasie«-Aktion, die Verfolgung Homosexueller, »Asozialer« und weiterer Minderheiten, die Entfesselung eines »Angriffskrieges« und vor allem der industriell durchgeführte Massenmord an den Juden.

Wie zahlreiche Beispiele illustrieren, schreibt sich die »zweite Geschichte« des Dritten Reiches bis heute fort: Beispielsweise konstatierte Außenminister Heiko Maas im März 2018 in seiner Antrittsrede demonstrativ: »Ich bin wegen Auschwitz in die Politik gegangen.« Und auch Frank-Walter Steinmeier unterstrich drei Monate später den Stellenwert der nationalsozialistischen Verbrechen für die Identitätsfrage der Bundesrepublik im 21. Jahrhundert.

Anlässlich des Festakts »Zehn Jahre Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen« am 3. Juni 2018 in Berlin schlug der Bundespräsident einen Bogen zwischen dem Dritten Reich, der anschließenden westdeutschen Rechtsprechung und tagesaktuellen Themen. So gedachte er zwar hauptsächlich der aus sexuellen Gründen NS-Verfolgten und betonte die Notwendigkeit des Erinnerns an das ihnen widerfahrene Unrecht. Des Weiteren verurteilte er aber auch die Verfolgung von Homosexuellen nach 1949 durch bundesrepublikanische Organe, denn der Gesetzgeber hatte die Bestimmungen des »Schwulen-Paragrafen« 175 StGB, der Homosexualität unter Strafe stellte, erst 1969 geändert. Infolgedessen relativierte Steinmeier den Zäsurcharakter des Jahres 1945, indem er seinem Publikum die NS-Geschichte und ihre Nachgeschichte als miteinander verflochtene Zeiträume präsentierte. Der Nationalsozialismus diente dem Bundespräsidenten demnach zwar als Ausgangspunkt, jedoch nicht als Endpunkt für seinen kritischen Blick auf die jüngere deutsche Zeitgeschichte. Für Steinmeier spielte dementsprechend hierbei weniger eine Rolle, wen die Nationalsozialisten einst zum »Gegner« erklärt hatten und aus welchen Gründen. Vielmehr verwies er auf die Existenz einer universalen Menschenwürde, die nicht nur Hitler, sondern auch die ersten Kanzler der Bundesrepublik mit Füßen getreten hätten.

Gleichzeitig kritisierte Steinmeier, dass bestimmte Teile der deutschen Bevölkerung noch immer keine Lehren aus der menschenverachtenden Politik des NS-Staates gezogen hätten. Hierbei dachte er speziell an Anhänger des im 21. Jahrhundert spürbar aufkeimenden Rechtspopulismus. Vor allem ausgelöst durch die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 hatte in der Bundesrepublik die Alternative für Deutschland (AfD) Wähler und Wählerinnen von sich überzeugen können. Diese Partei erfreute sich sogar einer solchen Beliebtheit, dass ihr 2017 der Einzug in den Bundestag gelang; Historiker und Historikerinnen sprechen mit Blick auf diese Entwicklung beunruhigt von einer »Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik« (Frei/Maubach/Morina/Tändler 2019, 7).

Vor dem Hintergrund jüngster Provokationen aus ihren Reihen diente Steinmeier in Berlin das Dritte Reich als abschreckendes Beispiel, um die Bevölkerung an die Notwendigkeit von Zivilcourage und Demokratie zu erinnern. Konkret bezog sich der Bundespräsident auf eine Aussage des Parteichefs Alexander Gauland, der am 2. Juni 2018 erklärt hatte: »Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1 000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.« Dementsprechend erwiderte Steinmeier: »Wer heute den einzigartigen Bruch mit der Zivilisation leugnet, kleinredet oder relativiert, der verhöhnt nicht nur die Millionen Opfer, sondern der will ganz bewusst alte Wunden aufreißen und sät neuen Hass. Dem müssen wir uns gemeinsam entgegenstellen.«

Wer die Ereignisse aus den Jahren 1945 und 2018 miteinander vergleicht, wird zwei Dinge feststellen. Zum einen waren beide Ereignisse auf eine Demokratisierung und Werteerziehung der Deutschen ausgerichtet. Zum anderen demonstrieren Steinmeiers Ausführungen zugleich, dass sich die Qualität der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, genauer: die Perspektive auf das Dritte Reich, im Zeitraum von mehr als sieben Dekaden auffallend verändert hat.

Darum geht es in diesem Buch. Es analysiert den Umgang der Menschen in Ost- und Westdeutschland mit ihrer NS-Vergangenheit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, indem es die Entwicklung der entsprechenden Diskussionen in Gesellschaft und Politik bis in die Gegenwart hinein nachzeichnet. Dieser Umgang war (und ist) ebenso kompliziert wie komplex, denn er betraf die Strafverfolgung einzelner Verbrechen, die Wiedergutmachung von NS-Unrecht, Formen des Gedenkens, Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen, zeithistorische Forschungen, kulturelle Verarbeitungen und Prozesse der Identitätsfindung – zunächst im geteilten, seit 1989/90 dann im vereinten Deutschland.

Gegenwärtige Vergangenheit

Die Multidimensionalität dieser Auseinandersetzungen erklärt jedoch nur zum Teil die bemerkenswerte – von Vertretern und Vertreterinnen wiederkehrender »Schlussstrich-Debatten« oft beklagte – Präsenz des Dritten Reiches in Gesellschaft und Politik nach 1945. Die wohl bekannteste »Schlussstrich-Debatte« ereignete sich im letzten Jahrzehnt der »alten« Bundesrepublik: Am 6. Juni 1986 legte der Berliner Historiker und Faschismusexperte Ernst Nolte mit einem Essay in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Grundstein für den »Historikerstreit«. Unter dem Titel Vergangenheit, die nicht vergehen will kritisierte er:

»Das Zeitalter des Ersten Napoleon etwa wird in historischen Arbeiten immer wieder vergegenwärtigt und ebenso die Augusteische Klassik. Aber diese Vergangenheiten haben offenbar das Bedrängende verloren, das sie für die Zeitgenossen hatten. Eben deshalb können sie den Historikern überlassen werden. Die nationalsozialistische Vergangenheit dagegen unterliegt – wie kürzlich noch Hermann Lübbe hervorgehoben hat – anscheinend diesem Hinschwinden, diesem Entkräftigungsvorgang nicht, sondern sie scheint immer noch lebendiger und kraftvoller zu werden, aber nicht als Vorbild, sondern als Schreckbild, als eine Vergangenheit, die sich geradezu als Gegenwart etabliert oder die wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt ist.«

Wenngleich Noltes Ausführungen, in deren weiteren Verlauf er den Judenmord als Angstreflex der Nationalsozialisten auf den »›Klassenmord‹ der Bolschewiki« konstruierte, zahlreiche Kritiker auf den Plan riefen, hatte er jedoch zumindest mit seiner damaligen Beobachtung Recht, wonach sich das Dritte Reich jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt der »Historisierung«, das heißt der professionellen Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, entzog.

Wie ist das zu begründen? Warum sind das Dritte Reich und seine Verbrechen in der Öffentlichkeit noch immer präsent? Die simpelste Antwort lautet, dass auch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts der Nationalsozialismus noch immer ein Thema ist, weil bestimmte Akteure auf ihn verweisen. Dies geschieht unter anderem im Rahmen des Schulunterrichts. Neben der Beschäftigung mit Hitler und den Verbrechen der Deutschen aus Gründen der politischen Bildung finden sich aber auch (macht-)strategisch motivierte Verweise auf die NS-Zeit. Bereits Nolte dürfte gewusst haben, dass seine Ausführungen über den Nationalsozialismus unmittelbar Aufmerksamkeit erzeugen und von den Medien aufgegriffen werden. Noch heute gilt: Wer öffentlich eine Brücke zur NS-Vergangenheit schlägt und diese für Vergleiche nutzt, kann sich sicher sein, dass sein Statement nicht unbemerkt bleibt. Der Bezug auf das Dritte Reich dient dazu, ein empfundenes Problem für andere in dramatischer Form sichtbar zu machen und einen entsprechenden Diskurs zu etablieren. Des Weiteren wird der Rekurs auf das Dritte Reich aber auch zur Selbstdarstellung instrumentalisiert: Wer dieses Kapitel deutscher Geschichte anspricht und verurteilt, präsentiert sich selbst als moralisch integer.

Abgesehen davon lassen sich auch wissenschaftliche Erkenntnisse anführen, um diese Frage zu beantworten. In Anlehnung an Zygmunt Baumans Werk Dialektik der Ordnung (1992) kann man argumentieren, dass das Dritte Reich nicht verblasst, weil unsere Gegenwart über fortgesetzte Gewaltakte mit dieser Vergangenheit signifikant verwoben scheint. Es ist insofern die so empfundene Ähnlichkeit zwischen neueren Grausamkeiten, die sich in der Welt von heute ereignen, und den früheren, die Diskussionen über den Nationalsozialismus befeuern. Der Soziologe Bauman konstatierte, der Holocaust sei das Ergebnis einer Reihe von Umständen und Erscheinungen der »Moderne« (der Zeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert). Dazu rechnete er ein bestimmtes Ordnungsdenken, wonach Gesellschaften durch gezielte bevölkerungspolitische Eingriffe zu »optimieren« seien, aber auch hochfunktionale Verwaltungssysteme. Mit Blick auf die Gegenwart bemerkte Bauman außerdem, dass eben jene »modernen« Strukturen nicht aufgehört haben, zu existieren. Das Aufflammen neuer Formen von Massengewalt sei demnach jederzeit möglich. Tatsächlich haben die Massaker in Ruanda und Srebrenica 1994 und 1995 die Weltöffentlichkeit gelehrt, dass das Zeitalter der Genozide keineswegs 1945 endete. Aber es sind auch andere Formen von aktuellem Unrecht und gesellschaftliche Probleme, die Assoziationen an die NS-Zeit wecken, zum Beispiel Antisemitismus, Demokratieverachtung, Rassismus und die Missachtung der Menschenwürde. All dies evoziert aufgrund seiner Qualität, seinen Dimensionen oder aber auch aufgrund der Art seiner medialen Vermittlung Bezüge zu den Verbrechen des Dritten Reiches.

Schließlich lässt sich die Gegenwart des Nationalsozialismus aber auch historisch herleiten, was bedeutet, gesellschaftliche oder politische Entwicklungen mit einzubeziehen. An dieser Stelle ist einerseits auf neue Akteursgruppen hinzuweisen, andererseits auf einen Wahrnehmungswandel bezüglich der NS-Verbrechen und ihrer bundesdeutschen Nachgeschichte: Während jahrzehntelang vor allem Überlebende den »Führerstaat« und seine Taten thematisierten, formierten sich nach dem Ende des Kalten Kriegs und des Kolonialismus Opfer anderer Gewaltmaßnahmen und beklagten ihr Leid. Sie hielten den Nationalsozialismus im Gespräch, indem sie entweder ihre Verfolgung in Beziehung zum Holocaust setzten oder auf die bundesdeutsche Wiedergutmachung hinwiesen: Seit den 1990er-Jahren ist verstärkt zu beobachten, dass weltweit von Unrecht Betroffene speziell die Entschädigungspolitik Westdeutschlands betonen, weil diese in ihren Augen einen angemessenen und erfolgreichen Umgang mit »historischem Unrecht« darstellt, einem Unrecht, dessen Folgen die Gegenwart prägen (s. Barkan 2002). Öffentlich pochen sie auf die Notwendigkeit, auch in ihrem Land »westdeutsche« Maßnahmen der »Vergangenheitsbewältigung« zu etablieren. Folglich ist der Ruf nach Gerechtigkeit, Versöhnung, Wahrheit und Maßnahmen der Wiedergutmachung, die den Übergang von einer Diktatur in eine Demokratie fördern sollen, seit dem Ende des 20. Jahrhunderts immer lauter geworden.

In dieser Zeit etablierte sich unter dem Terminus »Transitional Justice« ein interdisziplinärer Forschungszweig, der sich bis heute Prozessen und Praktiken widmet, die den Übergang von Unrechtsregimen zu demokratischen Gesellschaften prägten und prägen (s. Kritz 1995). Entsprechende Studien haben herausgestellt, wie wichtig die Auseinandersetzung mit begangenem Unrecht für Betroffene ist und dass diese verschiedene gesellschaftliche Aufgaben erfüllt. Ihr Ziel besteht vor allem darin, Vertrauen in eine neue Regierung zu schaffen und das Fundament für ein friedliches Zusammenleben zu festigen. Zu den zentralen Funktionen eines rückwärts gerichteten Blicks zählen (s. Werle/Vormbaum 2018):

image  Ein Zeichen setzen:
Nach dem Ende einer Gewaltherrschaft hat die gesellschaftliche Aufklärung von Großverbrechen Signalwirkung. Mit der Einleitung von Ermittlungen gegen Täter und der Eröffnung von Gerichtsverfahren kommunizieren die neuen politisch Verantwortlichen der Bevölkerung nicht nur den vorangegangenen Verstoß gegen existierende Grund- und Menschenrechte, sondern auch eine neue Zeitrechnung. Demnach gehören bisher geltende Statuten und Regierungspraktiken des Vorgängersystems der Vergangenheit an.

image  Identität stiften:
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit evoziert Prozesse der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung, die wiederum starken Einfluss auf die Identität von Staaten und Gruppen nehmen können. So erklärte Joachim Gauck anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des größten NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers am 27. Januar 2015 in Berlin: »Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.« Dieses Zitat aus dem bundesdeutschen Kontext demonstriert die enge Verflechtung zwischen historischer Erinnerung und staatlichem Selbstverständnis. Dabei ist nicht nur relevant, was erinnert wird, sondern auch – darauf kam es Gauck mit seinem Verweis auf die konstitutive Rolle der NS-Verbrechen für Entscheidungen und Handlungen der Bundesrepublik nach 1949 vor allem an –, wie sich eine Nation zu ihrer Geschichte positioniert und welche Schlussfolgerungen sie aus der Vergangenheit zieht. An dieser Stelle muss auf den konstruktiven Charakter der hier verhandelten Größen hingewiesen werden, denn »Geschichte« und »Identität« existieren nicht einfach, sondern werden »gemacht«. Folglich bezeichnet der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba erstere als »ständig neu formbare Materie, die immer neue Deutungen ermöglicht«. Geschichte diene zur Durchsetzung bestimmter »Identitätsentwürfe«, wobei er diesen Aushandlungsprozess als »Identitätspolitik« bezeichnet (s. Kaschuba 2001). Neben der Fixierung eines solchen politischen Grundkonsenses stellen sich betroffenen Gesellschaften nach dem Ende der Gewaltherrschaft aber auch ganz konkrete Fragen. Sie wollen wissen, wie es überhaupt zu diesem Unrecht kommen konnte, aber auch, wie man sich in Zukunft das Zusammenleben vorzustellen hat: Auf welche Weise soll man mit den begangenen Verbrechen und den Opfern umgehen? Dabei kann es zunächst zu scharfen Grenzziehungen zwischen Tätern und Opfern kommen, die eine Versöhnung verkomplizieren. Somit werden die politischen Akteure einerseits versuchen, den Verfolgten Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zuteilwerden zu lassen, andererseits werden sie darauf bedacht sein, die Verfestigung einer Opferidentität zu verhindern.

image  Gerechtigkeit herbeiführen:
Leid anzuerkennen, die Täter zu bestrafen und Opfer zu entschädigen – diese Maßnahmen können Hoffnung auf Gerechtigkeit schüren, die wiederum eine Voraussetzung für Versöhnung darstellt. Der sich transformierende Staat erklärt mit solchen Interventionen, dass er sich grundlegend von dem Vorgängersystem unterscheidet. Die offizielle Anerkennung des erlittenen Leids als symbolische Leistung vermag diesbezüglich nicht nur, den Betroffenen Genugtuung zu verschaffen. Sie macht die Opfer überhaupt erst sichtbar und ermöglicht ihnen den Weg aus ihrem Opferstatus, an dessen Ende handelnde Subjekte stehen, die vor Gericht als Zeugen auftreten oder Entschädigungsansprüche artikulieren. Dadurch werden die Opfer nicht nur in das neue Gesellschaftssystem integriert. Strafverfahren können des Weiteren dazu dienen, mit der Erfahrung von Entwürdigung, Entrechtung und Verfolgung besser umzugehen. Zugleich gilt es, auch den Verantwortlichen für das Unrecht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Eindruck einer Siegerjustiz ist zu vermeiden.

image  Die »Wahrheit« aufdecken und dokumentieren:
Dieser Aspekt beinhaltet eine individuelle und eine kollektive Dimension. Für die Angehörigen von Gewaltopfern ist es zunächst wichtig, Informationen über deren Schicksal zu erhalten. Hingegen ist es von allgemeinerer Bedeutung, die »Wahrheit« über Gräueltaten eines Regimes aufzudecken und sie publik zu machen. Damit soll verhindert werden, dass Anhänger des Gewaltregimes diese nachträglich verklären. Zugleich stellt sich dieser Prozess der Wahrheitsfindung als ein Konstruktionsprozess dar, in dem Opfer und Täter ein bestimmtes Narrativ aushandeln, das es ihnen erlaubt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Sinn zu versehen und rivalisierende Gruppen zu versöhnen. »Die Wahrheit über die Vergangenheit als autoritatives Narrativ wird im Sinne eines Heilungsprozesses interpretiert«, erklärt der Historiker Alexander Hasgall (2018, 42), »welcher die gesellschaftliche Versöhnung fördert. […] Diese anerkannte Wahrheit ist somit auch die Basis eines neuen Fundierungsnarrativs der Nation – einer gemeinsamen Erzählung, welche deren Identität und grundlegende Werte beschreibt.«

image  Gewalt verhindern:
Mithilfe wissenschaftlicher Analysen des niedergerungenen Gewaltstaats, seiner Strukturen, Befehlsketten und der Motive der Täter, so die Hoffnung, lasse sich zukünftige Gewalt vorhersagen beziehungsweise unterbinden.

image  Politisch-moralische Grenzen ziehen:
Das Wissen über Unrechtsmaßnahmen kann genutzt werden, um politische und moralische Grenzen für die Gegenwart und Zukunft zu markieren. Beispielsweise rekurrieren Teilnehmer an medizinethischen Sterbehilfediskussionen seit Jahrzehnten auf die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion, um einer Entgrenzung moralischer Werte und ärztlichen Handelns in Gegenwart und Zukunft entgegenzutreten. Ein markantes Beispiel für die immer wieder beschworenen »Lehren«, die man aus der Vergangenheit zu ziehen versucht, ist die Einrichtung von Ethikkommissionen an Medizinischen Fakultäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Aufgabe es ist, die Forschung am Menschen – das heißt in diesem Fall: die Rechte und den Schutz des Patienten – streng zu überwachen.

Zusammenfassend bleibt mit Blick auf die »Transitional Justice«-Forschung, die seit den 1990er-Jahren politische Wandlungsprozesse untersucht und in deren Kontext die Wiedergutmachung von nationalsozialistischem Unrecht eine besondere Bedeutung spielt, festzuhalten: Die anhaltende Präsenz des Nationalsozialismus als ein öffentliches Thema basiert auch auf der Tatsache, dass sich Gesellschaften weiterhin mit Formen politischer Gewalt konfrontiert sehen.

Thema, Thesen, Fragestellung und Begriffe

Versuche, den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland nach 1945 in einer kompakten Monografie wie dieser umfassend darzustellen, müssen zwangsläufig scheitern. Allein die Literatur für bestimmte Spezialthemen der Nachgeschichte des Nationalsozialismus ist mittlerweile stark angewachsen. Daher ist eine Schwerpunktsetzung nötig.

Bereits die eingangs zitierten Worte Frank-Walter Steinmeiers demonstrieren, dass das Dritte Reich vor allem aus einem Grund nicht in Vergessenheit gerät, nämlich wegen seiner Verbrechen. Dabei ragt der Holocaust aus der Masse an »rassisch« und politisch motivierten Gewalttaten deutlich heraus. Die vorliegende Arbeit folgt der Auffassung des Historikers Peter Longerich, der den Mord an den Juden als »das eigentlich historisch Besondere und Einzigartige an der NS-Diktatur« beziehungsweise als das »zentrale Thema der Geschichte des ›Dritten Reiches‹« (Longerich 1998, 17) betrachtet. Gleichwohl will sie sich nicht auf die postnationalsozialistische Auseinandersetzung mit dem Mord an den europäischen Juden beschränken, der seit den 1970er-Jahren auch als »Holocaust« (von griechisch »holókaustus«, übersetzt »völlig verbrannt«) bezeichnet wird. Im Zentrum steht die politische und gesellschaftliche Beschäftigung mit unterschiedlichen NS-Massenverbrechen im Verlauf der Jahrzehnte. Hierfür wurden paradigmatische Themen ausgewählt.

Die vorliegende, sich an eine interessierte Öffentlichkeit richtende Überblicksdarstellung thematisiert nicht nur den Umgang mit dem Dritten Reich in der Bundesrepublik. Aus guten Gründen wird die DDR in die Analyse mit einbezogen: Zum einen waren jene Gesellschaften, die seit 1949 getrennt voneinander lebten, zuvor im Dritten Reich gemeinsam sozialisiert und durch bestimmte Ideologeme geprägt worden. Ehemalige Nationalsozialisten fanden sich selbstverständlich auch in der DDR, wenngleich der »antifaschistische Arbeiter- und Bauernstaat« seit seinem ersten Atemzug erklärte, er stehe nicht in der Tradition des Deutschen Reichs, weshalb er auch mit den nationalsozialistischen Erblasten nichts zu schaffen habe. Demgegenüber verweisen rezente Studien auf frappierende Ähnlichkeiten im Umgang mit der NS-Vergangenheit in Ost und West. So konstatierte Katrin Hammerstein bezüglich des deutsch-deutschen Gedenkens an das Dritte Reich eine Entwicklung von einer »getrennten Erinnerung« zu einer »Gedächtnismélange« (2017, 488).

Zum anderen beeinflusste die Beobachtung des jeweiligen »Systemgegners« die Beschäftigung mit der Vergangenheit im eigenen Land. Da sich die Staaten beiderseits der Mauer jeweils selbst als die »bessere Antwort« auf »Hitler-Deutschland« verstanden, konkurrierten sie um den effizienteren Bewältigungsansatz. Die Nachgeschichte des Dritten Reichs in Deutschland muss somit als eine Geschichte von »Verflechtung und Abgrenzung« (Kleßmann 1993) geschrieben werden. Dabei zeigt sich: Gerade in der Gegenüberstellung von Bundesrepublik und DDR offenbaren sich in aller Deutlichkeit die langen Phasen der vergangenheitspolitischen Passivität Ostdeutschlands; in Sachen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geschah nur wenig.

Die zeithistorische Forschung hat sich vor allem seit den 1980er-Jahren dem Umgang mit dem Dritten Reich in Deutschland nach 1945 gewidmet, etwa den Nürnberger Prozessen oder den parlamentarischen Debatten über die NS-Vergangenheit im Bundestag (s. Weinke 2006; Dubiel 1999). Sie hat des Weiteren Studien zur deutsch-deutschen Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen vorgelegt (s. Herf 1998). Diese Arbeiten betrachten allerdings entweder nur einen begrenzten Zeitraum oder sie untersuchen bestimmte Ereignisse in lediglich einem der beiden deutschen Staaten.

Im Unterschied dazu umfasst die vorliegende Darstellung, die als Gesamtschau angelegt ist und den aktuellen Stand der Forschung repräsentiert, die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen über die gesamte Epoche der Zweistaatlichkeit hinweg und verlängert den Untersuchungszeitraum sogar bis in die »Berliner Republik« beziehungsweise in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Diese Analyse der Beschäftigung mit dem Dritten Reich in drei deutschen Staaten basiert auf Erkenntnissen anderer Historiker und Historikerinnen sowie auf eigenen Studien. Aufgrund der Konzeption der Reihe zeitgeschichte aktuell wird auf die bisherigen Forschungsergebnisse nur in aller Kürze verwiesen. Nichtsdestoweniger werden zumindest zentrale Werke und die Fundstellen der zitierten Texte angeführt.

Gleichwohl stellt dieses Buch, das in vier Kapiteln die vergangenheitspolitischen Entwicklungen in Deutschland nachzeichnet, mehr dar als lediglich ein Literaturbericht. Denn nicht nur die bereits erwähnte Zusammenschau von Ereignissen in der Bundesrepublik und der DDR ist über den hier angesetzten Untersuchungszeitraum innovativ. Durch die Gegenüberstellung von politischen, gesellschaftlichen und erstmalig auch kulturellen Umgangsformen mit dem NS-Unrecht – Peter Reichel hat jene künstlerisch-ästhetische Thematisierung als »erfundene Erinnerung« (Reichel, 2004, 13) bezeichnet – werden abweichende Bewertungen hinsichtlich der Qualität des Umgangs mit der NS-Vergangenheit offenbar, was wiederum zu anderen Periodisierungen führt. So schlägt dieses Buch im Gegensatz zu Arbeiten, die in engeren Abständen Wegmarken setzen und Wendepunkte konstatieren, im dritten Kapitel einen größeren Zeitbogen, der die 1960er- bis 1980er-Jahre umfasst. Zudem treten im Rahmen einer solchen Gesamtschau die Ungleichzeitigkeiten im Umgang mit den NS-Verbrechen deutlicher hervor.

Dabei lautet die Grundannahme dieser Studie, dass sich aus der Nachgeschichte des Dritten Reiches die Demokratisierungs- und Liberalisierungsfortschritte der ehemaligen »Volksgemeinschaft« nach 1945 ableiten lassen. Die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen dient insofern als Sonde, mit deren Hilfe die damaligen Aushandlungsprozesse bezüglich des Umgangs mit entrechteten Gruppen, Unrecht, Menschenbildern, Schuld und Moral besonders sichtbar werden. Aus der Vogelperspektive lassen sich dadurch die Prägekraft eines verbrecherischen politischen Systems ebenso wie soziale Wandlungsprozesse im zeitlichen Längsschnitt studieren. Diese Beschäftigung mit dem Dritten Reich verlief dabei keineswegs geradlinig und stellte für bestimmte Zeiträume alles andere als eine Erfolgsgeschichte dar. Was sie beeinflusste, waren maßgeblich vier Faktoren:

1.  die »volksgemeinschaftliche« Sozialisation der Deutschen, die sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch tradierte Denkmuster und Feindbilder auszeichnete;

2.  der Anschluss an »westliche« beziehungsweise »östliche« Wertsysteme und Staatsformen;

3.  die Teilung Deutschlands, die zu dem bereits erwähnten Systemwettstreit führte;

4.  die Betonung grundlegender Menschenrechte gegen Ende des 20. Jahrhunderts.

Zu diesem Zeitpunkt, so eine weitere Annahme, begann sich die politische Aussprache über den »Führerstaat« durch eine neue Qualität auszuzeichnen. Während sich die wissenschaftliche Forschung kontinuierlich der Aufklärung verpflichtet fühlte, begann der inhaltliche Diskurs über die NS-Zeit in der Öffentlichkeit zu verflachen; konkrete historische Ereignisse oder Taten besaßen immer weniger Bedeutung. Genau genommen ist es deshalb falsch, die Gegenwart nur einer NS-Geschichte zu postulieren. Wer genau hinsieht, erkennt vielmehr unterschiedliche Geschichten, die heutzutage parallel zueinander aus unterschiedlichen Motiven erzählt werden.

Im Mittelpunkt dieses Buchs stehen folgende Fragen: Wer waren die Träger der Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht im 20. und 21. Jahrhundert und was waren ihre Motive? Welche Themen wurden wann angesprochen? Auf welchen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen basierte die Beschäftigung mit den NS-Verbrechen? Wie hat sich die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich über die Jahrzehnte hinweg verändert und welche Faktoren waren dafür verantwortlich? Wie unterschieden sich die Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik und der DDR, welche Gemeinsamkeiten wiesen sie auf, und wie prägte der Mauerfall den Umgang mit der NS-Zeit?

In den Antworten, die dieses Buch gibt, finden sich unterschiedliche Begriffe, die sich in der Historiografie zur Nachgeschichte des Dritten Reiches etabliert haben. Zu den gängigsten zählen »Vergangenheitsbewältigung« beziehungsweise »Vergangenheitsaufarbeitung«, »Geschichts-« und »Erinnerungspolitik« sowie »Vergangenheitspolitik«.

»Vergangenheitsbewältigung« und »Vergangenheitsaufarbeitung« stellen ursprünglich Termini der Zeitgenossen dar. Bereits in den 1950er-Jahren wurden sie in Westdeutschland von Intellektuellen wie Theodor W. Adorno genutzt, zumeist jedoch negativ konnotiert: Wer von »Aufarbeitung der Vergangenheit« spreche, so Adorno, wolle einen Schlussstrich ziehen und das Dritte Reich aus der Erinnerung »wegwischen« (Adorno 1971, 125). Des Weiteren fiel das Wort Vergangenheitsbewältigung – nun allerdings mit dem Adjektiv »unzureichende« versehen – immer dann, wenn Kritiker die Defizite der alliierten Entnazifizierung lautstark anprangerten. Sie störten sich auch an der appellativen, moralisch-pädagogischen Aufladung dieses Schlagworts und bemerkten, dass es sich allein auf jene Generationen beziehen könne, die den Nationalsozialismus miterlebt hätten; eine Entkoppelung von diesen Personenkreisen schließe sich per definitionem aus. Überhaupt, so ein weiterer Einwand, sei unklar, wann das Ziel dieser »Bewältigung« erreicht sei: Der Umgang mit Vergangenheit im Allgemeinen und der nationalsozialistischen im Besonderen müsse als infiniter Prozess begriffen werden.

Erst in den 1990er-Jahren erfuhr der Begriff eine Definitionserweiterung. Diese – zitiert wird an dieser Stelle Helmut König (1998, 375) – erinnert an jene, die man mit dem Forschungsschwerpunkt »Transitional Justice« verbindet:

»Unter Vergangenheitsbewältigung ist die Gesamtheit jener Handlungen und jenes Wissens zu verstehen, mit der sich die jeweiligen neuen demokratischen Systeme zu ihren nichtdemokratischen Vorgängerstaaten verhalten. Es geht dabei vor allem um die Frage, wie die neu etablierten Demokratien mit den strukturellen, personellen und mentalen Hinterlassenschaften ihrer Vorgängerstaaten umgehen und wie sie sich in ihrer Selbstdefinition und in ihrer politischen Kultur zu ihrer jeweiligen belastenden Geschichte stellen.«

Demgegenüber ist »Geschichtspolitik« ein Begriff, der in Deutschland erstmals im Rahmen des »Historikerstreits« Ende der 1980er-Jahre aufkam und der inzwischen eng an das Konzept der »Erinnerungskultur« gekoppelt ist. Ursprünglich negativ aufgeladen, verstanden als eine politisch-ideologisch instrumentalisierte Arbeit verschiedener Akteure wie Regierenden, Historikern und Historikerinnen sowie Publizisten und Publizistinnen an Geschichte, hat sich »Geschichtspolitik« seit Edgar Wolfrums gleichnamiger Habilitationsschrift zu einer Forschungsperspektive entwickelt. Dem Zeithistoriker zufolge ist sie differenzierter zu fassen, als

»ein Handlungs- und Politikfeld, auf dem verschiedene Akteure Geschichte mit ihren spezifischen Interessen befrachten und politisch zu nutzen suchen. Sie zielt auf Öffentlichkeit und trachtet nach legitimierenden, mobilisierenden, polarisierenden, skandalisierenden, diffamierenden u. a. Wirkungen in der politischen Auseinandersetzung« (Wolfrum 1999, 24 f.).

Peter Reichel (1995) führte überdies den Terminus »Erinnerungspolitik« ein, der auf den Bereich der politischen und kulturellen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (Errichtung von Museen, Gedenkstätten usw.) rekurriert.

Die größte Diskursmacht scheint jedoch der Ausdruck »Vergangenheitspolitik« zu besitzen. Im Gegensatz zu den konkurrierenden Termini ist dieser von Norbert Frei geprägte Neologismus kein Quellen-, sondern ein Analysebegriff. »Vergangenheitspolitik« bezieht sich auf die Jahre zwischen 1949 und 1955 und bezeichnet »einen politischen Prozeß, der […] durch hohe gesellschaftliche Akzeptanz gekennzeichnet war, ja geradezu kollektiv erwartet wurde« (Frei 1996, 13 f.). Gemeint ist damit die soziale und berufliche Integration ehemaliger NSDAP-Mitglieder in die junge Bundesrepublik in Verbindung mit der Aufhebung von Haftstrafen, die unmittelbar nach 1945 verhängt worden waren.

»Vergangenheitspolitik« steht in seiner ursprünglichen Bedeutung für die »Geschichte der Bewältigung der frühen NS-Bewältigung« (Frei 1996, 13). Inzwischen, das belegen zahlreiche Buchtitel, erfährt »Vergangenheitspolitik« als Interpretament sowohl eine zeitliche als auch thematische Ausdehnung: Der Begriff wird als Synonym für den Umgang mit der NS-Vergangenheit schlechthin verwendet. In beiden Lesarten – sowohl seiner ursprünglichen Version als auch seiner erweiterten – findet er auch in dieser Darstellung Verwendung.

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Demokratisierungsversuche nach Hitler

Im Frühjahr 1945 erlebten die Deutschen das Vorrücken der alliierten Streitkräfte und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs auf unterschiedliche Weise. Manche, darunter Adolf Hitler, bilanzierten in jenen Tagen schriftlich ihr Leben und ihre Taten, versuchten, der Nachwelt die Motive ihrer Entscheidungen begreiflich zu machen und zogen schließlich den Freitod einer Bestrafung durch die »Feinde« des Dritten Reiches vor. Andere hingegen wie Ruth Klüger oder Konrad Adenauer blickten dem Einrücken der Amerikaner erwartungsvoll entgegen, gleichzeitig aber bereitete ihnen Sorgen, was nun auf sie zukommen würde. Ruth Klüger, der 1931 in Wien geborenen jüdischen Arzttochter, war Monate zuvor bei einem Transport vom KZ-Außenlager Christianstadt ins KZ Bergen-Belsen die Flucht geglückt. Im April 1945 wartete sie im bayerischen Straubing auf das Ende der NS-Herrschaft:

»Und eines Tages waren sie da, die Amis. Das Wetter war schön, es war Frühling geworden, sie hatten die Stadt eingenommen, indem sie mit ihren Panzern und Jeeps voranfuhren, und es hatte keine Schlacht um Straubing gegeben. Der lange Spuk, der mein Leben gewesen war, diese sieben bösen Jahre, seit Hitlers Truppen, auch sie ohne Kampf, in Österreich einmarschierten, war mit einem Mal vorbei. Wir waren am Ziel. Wir hatten nie weitergeplant als bis zu diesem Moment. Wir […] gingen in das Stadtzentrum, sahen einander verdutzt an, und fragten uns, ›Was nun?‹« (Klüger 1992, 188).

Andernorts war der Krieg bereits vor Wochen beendet worden: Konrad Adenauer war im November 1944 aus dem Messelager Köln entlassen worden. Dorthin hatte man das Zentrumsmitglied im Rahmen einer umfassenden Verhaftungsaktion der Gestapo nach dem 20. Juli 1944 verbracht. Nach der Freilassung erreichte Adenauer über Umwege sein Haus in Rhöndorf, wo er mit seiner Familie im März 1945 die Zeit der letzten Kampfhandlungen zwischen US-Streitkräften und Deutschen in seinem Weinkeller zubrachte:

»Dann rückten die Amerikaner in Rhöndorf ein, die Beschießungen hörten auf. Die deutschen Truppen, die im Wald hinter meinem Haus in Schützengräben lagen, zogen sich zurück. Die Anordnungen der Amerikaner waren zwar hart und drückend, aber für uns war der Kampf, der Krieg und der Nationalsozialismus vorbei, und das tröstete über manches hinweg« (Adenauer 1965, 19).

Wenig später markierten die Kapitulationserklärungen der Wehrmacht am 8. Mai 1945 in Reims und am 9. Mai in Berlin-Karlshorst den offiziellen Zusammenbruch des »Führerstaats«. Zurück lagen zwölf Jahre NS-Herrschaft, einerseits geprägt von Terror, Verfolgung und Ermordung vermeintlicher politischer und »rassischer« Gegner – vor allem in der Sowjetunion und in Polen waren, wie man heute genauer als damals weiß, von der SS, den SD-Einsatzgruppen und dem Personal der Vernichtungslager unvorstellbare Massenmorde an Juden und anderen Bevölkerungsgruppen verübt worden. Schätzungsweise mehr als 5,5 Millionen Juden, 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene, mindestens 100 000 Sinti und Roma und 120 000 behinderte oder psychisch kranke Menschen waren »liquidiert« worden. Unzählige waren nach 1933 Opfer der NS-Verfolgung geworden. Wer im Mai 1945 als »Gemeinschaftsfremder« noch am Leben war, trug nicht selten schwere körperliche und seelische Schäden davon.

Andererseits hatte die Zeit des Dritten Reiches eine ideologisch respektive emotional motivierte Bindung der »Volksgenossen« zu ihrem »Führer« offenbart, die erst im Chaos der letzten Kriegsmonate einer wachsenden Ernüchterung gewichen war. Insofern löste die Besatzungsherrschaft der Sieger unter den Deutschen ambivalente Gefühle aus: Jene, die von den Alliierten aus den Folterkellern der SS, aus den Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern befreit wurden, begrüßten dankbar ihre Retter. Jene hingegen, die Hitler sekundiert und ihm zugejubelt hatten, blickten ängstlich in die Zukunft und fürchteten nicht zu Unrecht die Bestrafung der Siegermächte. Der »Führer« selbst war im Berliner Bunker in seinen letzten Tagen nicht mehr sonderlich an der Zukunft des deutschen Volkes interessiert. Vielmehr hatte sich am Ende sein sozialdarwinistisch getränkter Destruktionswille gegen seine »Volksgemeinschaft« gerichtet. Deutschland, hatte er Albert Speer im März 1945 gegenüber geäußert, solle vollständig zugrunde gehen. Schließlich habe der Krieg bewiesen, dass die Deutschen anderen Völkern biologisch unterlegen seien.

Eine solche Indolenz konnten sich die Alliierten 1945 nicht leisten. Den Siegern stand nach der Kapitulation »Nazi-Deutschlands« sogleich die nächste Herausforderung bevor. Am Anfang der bis heute währenden Nachgeschichte des Dritten Reiches stellte sich aus Sicht der Alliierten die Frage, wie der niedergerungene NS-Staat umerzogen und demokratisiert werden könne: durch Vergessen und Amnestie oder durch schonungslose Strafverfolgung der Täter und Ahndung ihrer Taten? Wie sollte ein Neubeginn für Deutschland aussehen? Hierüber waren bereits während des Kriegs unter Vertretern der USA, Großbritanniens, der Sowjetunion und Frankreichs, aber auch unter den Verfolgten der NS-Diktatur Kontroversen entbrannt. Einige der hieraus resultierenden Konzepte wie das Internationale Militärtribunal in Nürnberg 1945/46 besaßen im 20. Jahrhundert Pioniercharakter.

Schließlich einigte man sich auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 auf eine Politik der Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. Mithilfe dieser »vier D’s« wollten die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich das deutsche Volk befrieden und umerziehen. Dass dies keine einfache Aufgabe werden würde, merkten die Verantwortlichen schnell, denn es galt hierbei, vieles zu beachten: So sollte etwa die Privilegierung von NS-Verfolgten zugunsten des Aufbaus einer funktionierenden Gesellschaft ausgeschlossen werden, mehr noch: Man musste gegen die Opferkonkurrenz innerhalb der heterogenen Gruppe von Opfern des NS-Terrors vorgehen, denn bestimmte Gruppen erklärten, sie seien rücksichtsloser verfolgt und drangsaliert worden als andere. Selbstverständlich sahen die Besatzungsmächte vor, den Betroffenen soziale Unterstützung zuteilwerden zu lassen. Darüber hinaus fiel ihr Blick aber auch auf ein Millionenheer ehemaliger NSDAP-Parteigenossen, die nicht kollektiv zur Verantwortung gezogen werden, sondern in die Nachkriegsgesellschaft integriert werden sollten. Diesbezüglich stellte sich für die Besatzungs- und Entnazifizierungspolitik auch die Frage, welche Rolle Deutschland im aufkeimenden Kalten Krieg und in der Systemkonkurrenz zwischen Kommunismus und Kapitalismus spielen sollte. Überdies wollte man Fehler der Vergangenheit vermeiden. Das betraf vor allem die Höhe der potenziellen Reparationszahlungen. Denn nach Auffassung der westlichen Siegermächte war Deutschlands finanzielle Belastung nach dem Ersten Weltkrieg für die Instabilität der Weimarer Republik mitverantwortlich. Man hatte aus dem Untergang der ersten deutschen Demokratie zwischen 1918 und 1933 gelernt; ein »zweites Versailles« sollte es nicht geben.

So wundert es kaum, dass sich die konkrete Umsetzung der »vier D’s« in den einzelnen Besatzungszonen unterschiedlich gestaltete. Vor allem verfolgte die Militärregierung der sowjetischen Zone das Ziel, den Nationalsozialismus radikal auszulöschen. Doch deren Bemühungen gingen noch einen Schritt weiter: Während die westlichen Mächte für Deutschland ein demokratisches und liberal-kapitalistisches System vorsahen, wollte die Sowjetunion ihre Zone nach sozialistischem Vorbild umgestalten. Infolgedessen setzten unmittelbar nach 1945 in der SBZ die Verstaatlichung der Industrie sowie die Errichtung einer Einparteiherrschaft ein, nämlich die der SED, einer Zwangsvereinigung von SPD und KPD. Die in Moskau und unter den Verantwortlichen für die SBZ kursierenden Faschismustheorien erklärten den Nationalsozialismus zu einer terroristischen Herrschaftsform des »Finanzkapitals«, die sich gegen die Arbeiterbewegung gerichtet habe. Das Ziel, nach Möglichkeit zu verhindern, dass ein solches Regime je wieder in Deutschland Fuß fasse, lag demzufolge darin, das »Kapital« zu zerschlagen.

Aufgrund ihrer divergierenden Ideologien verhärteten sich in den ersten Nachkriegsjahren sukzessive die Fronten zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion. Dass eine gemeinsame Deutschlandpolitik vor diesem Hintergrund unmöglich war, erklärte in aller Deutlichkeit spätestens die sogenannte Truman-Doktrin, in der der US-Präsident Harry S. Truman Kommunismus und Demokratie als inkommensurabel bezeichnete. Im Fadenkreuz dieses ideologischen Systemwettstreits bewegte sich das besiegte Deutschland, dessen Zukunft letztlich nicht nur vom Durchsetzungswillen der Siegermächte im Bereich der Entnazifizierung abhing, sondern auch von der jeweiligen Bedrohungswahrnehmung der konkurrierenden Großmächte USA und Sowjetunion. Überdies galt es, sich mit der jüngsten Vergangenheit zu konfrontieren. Die diesbezüglichen Schritte wurden von den Alliierten dirigiert, denn die wenigsten Deutschen hatten Interesse daran. Wenn überhaupt, waren es Vertreter der »Opfergesellschaft«, die versuchten, als Schrittmacher der Auseinandersetzung zu agieren. Hierbei offenbarte sich zugleich eine hochselektive Sicht auf den Nationalsozialismus: Die Thematisierung bestimmter Verbrechen fand in der deutschen Gesellschaft nicht statt.

Nachfolgend fokussiert die Darstellung exemplarisch den frühen, von den Alliierten diktierten und sich danach in begrenztem Maße verselbstständigten Umgang mit den NS-Verbrechen in Deutschland während der Besatzungszeit bis 1949. Dabei werden Außen- und Innenperspektiven verfolgt: die der Siegermächte und die der Bevölkerung. Zu den von außen initiierten Auseinandersetzungen der postdiktatorischen Gesellschaft zählen erstens die Entnazifizierungspolitik der Alliierten, zweitens der »Jahrhundertprozess« vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg und drittens die Anfänge der Wiedergutmachung für NS-Opfer. Diese Beispiele verweisen auf die Grenzen einer oktroyierten Umerziehung, die vor allem juristischen und politischen, weniger jedoch genuin moralischen Gesichtspunkten folgte. Danach gewähren viertens die innerdeutschen Reflexionen über die »Schuldfrage« als Exkulpationsstrategie gegen von außen erhobene Kollektivvorwürfe und fünftens kulturell-künstlerische Produktionen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit NS-Verbrechen thematisierten, Einblicke in die Mentalität der Bevölkerung, ihre Wahrnehmung der Vergangenheit und die Qualität ihrer Eigenmotivation, sich mit den NS-Verbrechen zu befassen.

Trauerspiele

»Das ganze ist ein Trauerspiel, das auch durch die Erkenntnis, daß die Alliierten angesichts der Verhältnisse keine andere Wahl hatten, nicht weniger traurig wird.« Das Urteil, das Hannah Arendt in ihrem 1950 erstmals publizierten Essay Besuch in Deutschland (1993, 49) über das Entnazifizierungsprogramm der Siegermächte fällte, war niederschmetternd. Die Intellektuelle, die 1949/50 im Auftrag der Jewish Cultural Reconstruction Corporation jüdische Kulturgüter von Deutschland nach Israel oder in die USA schaffen sollte, attestierte den Deutschen eine »brutale […] Weigerung«, sich ihrer jüngsten Vergangenheit zu stellen. Aber auch die Westalliierten seien mit ihrem Vorhaben, die ehemaligen »Volksgenossen« zu »denazifizieren«, ja, sie moralisch wieder in den Sattel zu heben, gescheitert. Ihr Ansatz sei zu kompliziert gewesen, er habe die Realität des NS-Staates nicht abbilden können: Arbeiter, die aus Berufsgründen in die NSDAP eingetreten waren, kritisierte Arendt, seien mit ideologisch Überzeugten in einen Topf geworfen worden – und selbst Mitglieder des Widerstands hätten sich »im selben Netz wie ihre Feinde« verfangen (1993, 42). Überhaupt, referierte die Journalistin die Auffassungen ihrer deutschen Gesprächspartner, hätten der moralische Zeigefinger der Besatzer respektive ihre Schuldvorwürfe die geistige Abwehr der Bevölkerung erst erzeugt.

Rückblick: