Rainer W. Grimm wurde 1964 in Gelsenkirchen / Nordrhein -Westfalen, als zweiter Sohn, in eine Bergmannsfamilie geboren und lebt auch heute noch mit seiner Familie und seinen beiden Katzen im längst wieder ergrünten Ruhrgebiet.
Mit fünfunddreißig Jahren entdeckte der gelernte Handwerker seine Liebe zur Schriftstellerei.
Als unabhängiger Autor veröffentlicht er seitdem seine historischen Geschichten und Romane, die meist von den Wikingern erzählen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Alle Rechte liegen beim Autor
© 2020 Rainer W. Grimm
www.rwgrimm.jimdofree.com
Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
Covergestaltung: Siglinde Lítilvölva
Layout: RWG
ISBN: 9-783-7526-7873-4
Ruhe lag über Nordbuktawik. Gespenstische Ruhe! Nur das leise Plätschern der Wellen, die am Ufer hinter den hohen und breiten Büschen auf den Strand rollten war zu hören. Und manchmal zeriss der weitentfernte Schrei einer Eule die Stille der Nacht. Doch all dies waren keine menschlichen Laute. Das Dorf lag in tiefem Schlaf! Der Mond schien hell, wenn er einmal zwischen den grauen Wolken hervorblitzte, die schnell vorüber zogen. Dann erkannte man die Häuser, die am Rande des Dorfplatzes standen. Der Platz war nun größer als zuvor, denn das Langhaus des einstigen Jarls1 Oyvind, welches hier gestanden hatte, gab es schon lange nicht mehr.
„Welches Haus ist es denn?“ Ein Stoß traf den Fragenden in seine Rippen. „Aua! Was soll das?“
„Halt dein Maul“, zischte eine andere Stimme, und diese hatte nicht unrecht, denn sie waren über den Platz gut zu hören, obwohl sie sich anstrengten leise zu sein. Und es geschah, was der eine befürchtet hatte. Ein Hund begann zu bellen! Zuerst heftig, und als nichts geschah, eher gelangweilt. Aber aufhören wollte er nicht mehr.
„Ich steche das Vieh ab“, drohte der eine verärgert, doch da wurde die Tür des Hauses geöffnet, zu dem dieser Kläffer wohl gehörte. Ein junger Bursche trat heraus, und redete auf den Hund ein. Dabei streichelte er sein Fell, bis der Hund schwieg. Die beiden Gestalten pressten sich an die Hauswand, sodass sie fast darin verschwanden. Da richtete sich der junge Mann auf, hob sein Gesicht zum Himmel und spürte die Tropfen, die auf seine Haut fielen. „Na, dann komm. Bevor du das ganze Dorf aufweckst.“ Und er verschwand mit dem Hund im Haus.
„Das war sein Glück“, brummte der Kerl, und machte einen Schritt vor. Und als hätte Thor nur darauf gewartet, donnerte es ohrenbetäubend und der Himmel öffnete seine Schleusen. Nun brauchten sie nicht mehr leise zu sein, doch dafür blieb kein Fetzen Stoff trocken. In wenigen Momenten waren sie durchnässt bis auf die Haut. „Bei Thor! So ein Mist!“, ärgerte sich der Kerl, und nun wagte sich auch der andere vor. „Los, komm, Björn!“ Sie liefen durch den strömenden Regen, vorbei an dem Haus mit dem Hund, bis sie das Langhaus vor sich sahen nachdem sie suchten. „Und du bist sicher, die Alte lebt in diesem Haus?“
„Ja doch, das weiß ich genau!“, antwortete der andere Kerl genervt. „Aber ich weiß nicht, ob sie allein in diesem Haus ist. Also müssen wir vorsichtig sein.“
„Das ist mir scheißegal“, zischte Björn, der seinen Gefährten um einen ganzen Kopf überragte. „Wer sich mir in den Weg stellt, der bekommt die Klinge meines Messers zu spüren.“
„Du dämlicher Ochse, hast du vergessen was ich dir gesagt habe?“, blaffte der Kerl, dessen Name Thorgels war, den Björn an. „Die Anweisungen meines Auftraggebers waren eindeutig. Also halte dich daran!“
„Ich scheiße auf deinen geheimnisvollen Auftraggeber, Thorgels, das kannst du mir glauben“, murrte Björn, und suchte Schutz im Dunkel des überstehenden Daches der Hütte, die neben dem Langhaus stand. „Dann scheißt du wohl auch auf das halbe Stück Silber?“, sprach Björn leise, und folgte dem Kerl. Das sie nun in Hörweite des Langhauses waren, schienen sie in ihrem Streit vergessen zu haben.
Langsam öffnete Thorberg seine Augen. Es dauerte eine Weile bis er sich orientiert hatte. Der Mann lag auf seinem Schlaflager, und als er seine Hand auf die linke Seite des Bettes schob, ertastete er den weichen Körper der Ferun, die sein Weib war. Nun wusste er, wo er war!
Doch was hatte ihn geweckt? Thorberg spitzte seine Ohren, und horchte gespannt auf. War es der Hund? Aber Freki hätte sicher nicht aus lauter Langeweile gebellt. Und da er in dem Wohnraum des Hauses an der Feuerstelle lag, dies war sein Lieblingsplatz, hätte er sicher auch Ferun geweckt. Nein, jetzt wo seine Gedanken klarer wurden, erkannte er was er gehört hatte. Es waren Stimmen!
Er richtete sich auf und blickte zu dem kleinen Bett hinüber. Soweit er im Dunkeln erkennen konnte, war mit dem Kind alles in Ordnung. Die kleine Hrana schlief tief und fest, genau wie ihre Mutter. Thorberg schob seine Decke zur Seite, und setzte sich auf die Kante. Wieder hörte er angestrengt in das Dunkel. Da sprach doch jemand! Nicht weit der Wand jener Kammer, an der das Bett stand, standen auch die beiden vor Nässe triefenden Kerle. Es waren vielleicht fünf Manneslängen, die die beiden Häuser von einander trennten. Das Haus der Ulla war allerdings schöner und größer.
Thorberg erhob sich, griff nach dem Schwert, das auf einem Hocker neben dem Schlaflager lag, und wollte die Kammer verlassen, da erwachte das Kind. Hrana begann sofort zu weinen, und so erwachte auch Ferun. „Was ist los?“, fragte sie verschlafen. „Warum hast du sie geweckt?“
„Das habe ich doch gar nicht“, verteidigte sich Thorberg leise, und beugte sich zu seiner Tochter hinab. Er ergriff sie und legte sie neben ihre Mutter. Nun sah Ferun das Schwert, welches sich ihr Gemahl unter den Arm geklemmt hatte, um das Kind besser halten zu können. „Wozu brauchst du das Schwert?“ Mit den Händen machte Thorberg eine dämpfende Geste. „Sprich leise“, flüsterte er. „Das weiß ich selbst noch nicht, aber ich glaube, da schleicht jemand um das Haus. Du bleibst hier, ich sehe nach Ulla“, sprach er leise und verschwand.
„Was ist denn jetzt los?“ Björn hatte sich tatsächlich erschrocken, als die kleine Hrana zu weinen begann.
„Mensch, stell dich nicht so an“, flüsterte Thorgels. „Ist doch nur ein Balg, das plärrt!“
Er trat unter dem überhängenden Dach hervor und lief mit langen Schritten zum Langhaus hinüber, und verschwand sofort um die Ecke.
„Irgendwann werde ich dir…“, zischte Björn zornig und lief seinem Gefährten hinterher.
Vor der Tür des Langhauses machten sie halt. Björn sah sich um, während Thorgels mit seinem Messer versuchte den Riegel im Inneren des Hauses anzuheben.
Freki hatte schon vor der Kammertür gestanden, und auf seinen Herrn gewartet. „Ruhig, mein Junge“, flüsterte Thorberg, als plötzlich die Tür einer anderen Kammer geöffnet wurde. Es war Ulla, die Mutter der Ferun, einstmals Jarlsgattin auf der Nordinsel. Noch ehe sie etwas sagen konnte, zischte sie Thorberg an, dass sie Schweigen möge. Und Ulla verstand!
Gefolgt von dem Hund, das Schwert gezogen, ging der junge Mann langsam zu der Eingangstür, und bemerkte sofort die Spitze des Messers, die nach dem Riegel angelte. Und nun konnte er auch jedes Wort hören, das sie sprachen.
„Soll ich die Alte nun abstechen oder nicht?“, fragte einer, und ein anderer antwortete im Flüsterton. „Nein, du Ochse, du sollst sie nur zum Krüppel machen. Mehr nicht!“
Für Thorberg gab es an den Absichten der nächtlichen Besucher keinen Zweifel mehr. Und für ihn war es an der Zeit zu handeln. Mit einem Ruck ließ er den Riegel nach oben fahren, zog an der Tür und hieb gleichzeitig zu. Einer der Kerle jaulte auf, und aus dem leisen Knurren des Hundes wurde nun ein angriffslustiges Fletschen der Zähne.
„Pack sie, Freki“, rief Thorberg, und der Hund gehorchte. Die beiden Kerle hatten sofort von ihrem Vorhaben abgelassen und waren fluchend geflohen. Gefolgt von dem grauen Hund, der einem Wolf nicht unähnlich war, und dem es gelang sich im Arsch des Björn festzubeißen.
Wohin Freki die beiden Kerle jagte, konnte Thorberg nicht sagen, aber dass er sie jagen würde, bis sie über ihre eigenen Zungen stolpern würden, war ihm gewiss.
In der Wohnhalle des Langhauses warteten Ulla und Ferun, ohne den jungen Mann zu bestürmen. Ferun hatte das Feuer geschürt und drei Becher mit Bier gefüllt. Gemeinsam setzten sie sich an das Feuer. „Wer, in Odins Namen, war das?“, fragte Ulla. „Ja, und vor allem, was wollten sie?“, schloss Ferun ihre Frage an. Thorberg hatte sein Schwert zur Seite gelegt, und nahm einen tiefen Schluck aus dem Becher. „Sie wollten nichts Gutes, das steht fest“, sprach er besorgt. „Ich hörte sie sprechen, darum wollte ich nachsehen. Was ich dann durch die geschlossene Tür vernahm, gefiel mir gar nicht. Es waren Attentäter, Ulla, und du warst ihr Ziel!“
„Alwara, diese Schlange“, entfuhr es der Ferun sofort.
„Das kann ich nicht sagen, denn darüber sprachen sie nicht, doch es sieht ganz danach aus.“ Wieder nahm Thorberg einen Schluck aus dem Becher. Da klopfte es an der Tür, und als der Gemahl der Ferun öffnete, strich ihm Freki an den Beinen vorbei, gefolgt von einigen Männern und Frauen. Diese bestürmten den Thorberg was den geschehen sei, denn sie waren von dem Lärm geweckt worden. Der junge Mann erklärte was sich zugetragen hatte, und den Leuten entfuhr ein gemeinsamer Name: „Alwara!“
„Soweit würde sie nicht gehen“, sprach da Ulla, doch die meisten schüttelten ihren Kopf. „Oh doch, Ulla, das würde sie!“ Einer der Männer widersprach der einstigen Jarlsgattin, und Herrin über die Nordinsel. „Godwin hat recht“, nickte Ferun überzeugt. „Du musst aufwachen, Mutter. Sie wird nicht eher Ruhe geben, bis du nicht mehr lebst!“
„Ach was!“, wiegelte Ulla ab. „Es ist mitten in der Nacht. Lasst uns wieder schlafen gehen!“ Sie wandte sich um, und verschwand in der Kammer, aus der sie herausgetreten war. Die anderen Frauen und Männer verließen das Haus wieder, um dem Beispiel ihrer einstigen Jarlsgattin zu folgen. Nur Ferun, der Godwin und Thorberg blieben an dem Feuer sitzen.
„So kann es nicht weitergehen“, sprach Ferun ernst. „Es wird der Tag kommen, da wird sie Mutter wirklich töten.“
„Ja, oder sie wird ihre Krieger hierher schicken, und uns alle töten“, pflichtete Godwin bei. „Und was bitte wollt ihr dagegen tun?“, fragte Thorberg. „Vielleicht können wir Hilfe von König Grjotgard erbitten?“ Godwin sah Thorberg fragend an, wusste aber eigentlich selbst, dass diese Idee kaum Erfolg versprach. Der junge Gemahl der Ferun antwortete: „Grjotgard? Der elende Kerl wird ihr höchstens noch Krieger schicken, um uns unter ihre Knute zu drängen.“
„Einar!“, sprach da Ferun leise, und sah dann ihren Gemahl und den Godwin an. „Einar, könnte uns helfen!“
„Jarl Einar? Bist du wirr? Er liegt mit dem König im Streit, und es ginge um sein Leben, würde er hierher kommen!“
„Und doch ist Einar mein Bruder! Er würde es nicht zulassen, das Alwara unsere Mutter angreift“, entgegnete Ferun. Da nickte Godwin, und sprach: „Ferun hat recht! Jarl Oyvind hat Einar damals an Sohnesstatt angenommen, und es wäre sicher möglich, dass dieser seine Mutter verteidigen würde.“
„Weißt du wo Jarl Einar ist?“ Thorberg sah den Mann fragend an. „Oder du?“ Sein Blick wanderte zu seinem Weib. Beide schwiegen. „Dachte ich es mir doch.“ Er beugte sich hinab um Freki zu streicheln, der es sich vor seinen Beinen gemütlich gemacht hatte. „Dann müssen wir ihn suchen“, beharrte Ferun auf ihrem Vorschlag. „Er hat vier Schiffe voller Krieger, die wird man doch finden können.“
„Nun gut, ich werde mich umhören. Vielleicht gibt es ja tatsächlich jemanden, der weiß wo Jarl Einar sich aufhält.“
*
„Ihr elenden Trolle!“, schimpfte Stendar verärgert während er an einem Tisch in einer kleinen Fischerhütte, nicht weit des Hafens von Sørhamna saß. Ihm gegenüber saß der Thorgels, und Björn stützte sich stehend auf die Platte des Tisches. Es war ihm nicht möglich zu sitzen.
„Ihr habt versagt!“
„Das kommt darauf an, worum es dir ging, Stendar“, widersprach Thorgels. „Wenn es dir darum ging die Ulla zu töten, gebe ich dir Recht. Aber ich glaube nicht, dass es das war, was du wolltest.“ Mit scharfem Blick sah er den Stendar an, und dieser begann zu grinsen. „Also gib uns den versprochenen Lohn!“
Stendar nickte kurz und begann dann in seiner Geldkatze2 nach einem kleinen Stück Silber zu fischen, und schob dieses dem Thorgels zu. „Gut, ich habe einen weiteren Auftrag für euch“, sprach er fordernd. „Ihr werdet das Gerücht verbreiten, dass Ulla behauptet Alwara hätte sie in der Nacht meucheln wollen.“ Fragend sahen sich die beiden Kerle an. „Wozu soll das gut sein?“, fragte Björn.
„Das geht dich nichts an. Tue was ich dir sage, und du wirst es nicht bereuen.“ Stendar griff erneut in seine Geldkatze und holte ein weiteres Stück Hacksilber hervor, legte dieses auf den Tisch, und grinste. „Ihr seid doch oft in Sørhamna. Wie ist die Stimmung dort? Was halten die Leute von Thorsti als Jarl?“
Nun war es Thorgels der grinste, denn er begann zu verstehen. „Willst du etwa Thorsti vom Hochstuhl stürzen?“ Er stockte einen kurzen Moment. „Ja, du willst Jarl werden!“
„Wenn du es schon herausgefunden hast. Ja, das will ich! Auf dieser Insel regieren die Weiber. Alwara hier und Ulla auf der Nordinsel. Und Thorsti ist ein Rockzipfelzieher, der nur ans Vögeln denkt“, wurde Stendar immer lauter. „Nein, diese Insel muss wieder ein Mann beherrschen, damit wir auf Raubfahrt gehen können, um Reichtum anzuhäufen.“ Björn nickte sofort zustimmend, doch Thorgels fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch seinen Bart. „Ich gebe zu, das hört sich verlockend an, doch dazu brauchst du Krieger. Alwara wird den Hochstuhl nicht freiwillig räumen.“
„Und vergiss nicht, sie ist die Base des Königs“, fügte nun Björn hinzu, und diesmal nickte Thorgels. „Ach, der König! Ich war in Lade3, habe mich dort herumgetrieben bevor ich hierher kam. Und dort erfuhr ich, dass Königin Andur der Alwara immer noch Gram ist, und auch dem König hat sie den Verrat an dem ehemaligen Jarl von Tautra nicht verziehen.“
„Na und, was soll das bedeuten?“, fragte Björn unwissend.
„Das bedeutet, dass Alwara sicher vom König keine Hilfe zu erwarten hat, denn sonst droht ihm Ärger mit seinem Weib. Das soll es bedeuten!“ Zur Bekräftigung seiner Worte schlug Stendar mit der flachen Hand auf die Tischplatte.
„Dann wäre Alwara gar nicht so stark, wie sie immer behauptet zu sein“, stellte Thorgels fest, und lachte auf. „Genau so ist es! Und darum sollst du in Erfahrung bringen, welche Krieger bereit wären, sich uns anzuschließen“, sprach Stendar eindringlich. „Aber du musst vorsichtig sein.“ Da lachte Björn auf. „Jetzt verstehe ich, warum wir die Ulla besucht haben! Du willst von deinem Treiben ablenken!“
„Er hat es begriffen“, grinste Thorgels den Stendar an, und erhob sich. „Ich erwarte eine hohe Stellung, wenn du Jarl bist“, forderte er und ging zur Tür. Björn folgte ihm, drehte sich aber noch einmal um. „Und ich auch!“
*
Langsam schwang sich der Mann von dem Schlaflager. Er war nicht älter als zwanzig Winter, sein Körper war schlank und muskulös. Langes blondes Haar fiel lockig auf seine Schultern. Sein Blick fiel auf das Weib zwischen den Decken und Fellen, die das Schlaflager bedeckten. Auch sie hatte helles Haar, doch war sie fast doppelt so alt, als der Bursche selbst. Langsam öffnete sie ihre Augen. „Wohin willst du?“, murmelte sie, ohne wirklich wach zu sein, und ohne dass es sie tatsächlich interessierte. „Ich muss mal pissen“, antwortete er, doch schien sie dies nicht gehört zu haben, denn ihre Augen waren wieder geschlossen, und ein leises Schnarchen drang an sein Ohr.
Als er dann zurück in die Kammer trat, war Alwara wieder fest eingeschlafen.
Sie hatte ihn auserwählt das Schlaflager mit ihr zu teilen, nachdem sie Jarl Thorsti aus ihrer Kammer verwiesen hatte. Alwara war die Herrscherin über die Insel, da gab es keinen Zweifel, und ihr Gemahl ließ sie gewähren. Thorsti hatte das Weib schon bald nach dem er Jarl geworden war richtig kennen gelernt. Und er hatte begriffen, dass es nicht gut war, sich gegen sie zu stellen.
So zog er sich mehr und mehr zurück, ohne sich dem jüngeren Nebenbuhler oder gar seinem Weib zuwidersetzen. Er hatte sowieso längst an der Richtigkeit des Verrates an Jarl Einar gezweifelt. Dies hatte ihm kaum Vorteile gebracht. Er gehörte nun zwar zur Familie des Königs, aber dieser ignorierte ihn. Thorsti hatte den Ruf eines Weiberhelden, nicht den eines großen Kriegers! Und schon gar nicht den eines guten Jarls!
Und so lebte er allein in einer Kammer des Langhauses, und hörte mit an, wie Alwara es mit dem jungen Burschen trieb. Nun ja, er hatte seine Freiheiten zurück gewonnen, was die Frauen des Dorfes anging, denn das war der Alwara inzwischen egal.
Nun war es morgen geworden, und Alwara erhob sich erst, als die Magd an die Tür der Kammer klopfte, um sie zum Essen zu rufen. Doch es dauerte immer noch eine ganze Weile, bis sie in der Halle erschien. Eine Dienerin war immer an ihrer Seite, um die Wünsche der Alwara erfüllen zu können. Doch es war für die junge Sklavin keine einfache Arbeit, denn die Jarlsgattin zeigte sich den Sklaven und Mägden gegenüber wenig freundlich. So war es nicht verwunderlich, dass diese die Frau aus dem Geschlecht des Königs nicht mochten. Und da dies kein Geheimnis war, standen immer zwei Wachen in der großen Halle bereit. Der Tisch, der vor dem Hochstuhl stand, war gedeckt mit allerlei Köstlichkeiten, und ohne zu zögern nahm Alwara auf dem Stuhl mit der hohen Rückenlehne Platz. Bald darauf trat auch der junge Bursche an den Tisch und setzte sich der Jarlsgattin gegenüber. Thorsti lag in seiner Kammer und schlief. Er hatte, wie so oft, in der Nacht gesoffen. Beherzt griff der Beischläfer der Jarlsgattin zu, um sich zu stärken, denn Alwara verlangte ihm einiges ab. Da trat eine Magd an den Tisch, sprach aber nicht, sondern wartete bis die Alwara sie dazu aufforderte. „Was willst du?“, fragte sie unfreundlich, und man sah der Magd ihre Angst an. „Herrin, es ist etwas vorgefallen.“
„Na, dann rede doch, dumme Gans“, blaffte Alwara sie an.
„Man hat unser Wasser vergiftet, Herrin! In allen Fässern schwammen tote Tiere!“ Da sah der Kerl die Magd fragend an. „Wer sollte so etwas tun?“
„Da kommt nur Ulla und das Pack von der Nordinsel in Frage“, stellte Alwara ohne zu zögern fest.
„Warum sollte Ulla dies tun?“, fragte der junge Kerl, und wurde mit einem bösen Blick der Jarlsgattin bedacht. „Was weißt du schon?“ Ohne Alwara anzuschauen aß er weiter, und mit vollem Mund schmatzte er: „Es hat doch noch nie Angriffe aus Norbuktavik gegeben. Warum also jetzt?“
„Das weiß ich auch nicht, aber sie muss es gewesen sein“, blaffte Alwara den Mann an. „Sie will die Macht auf der Insel an sich reißen!“
Der junge Kerl schüttelte mit dem Kopf. „So? Das denke ich nicht!“
„Wenn interessiert was du denkst, Sven?“ Für den Kerl war es nun besser zu schweigen, und dies wusste er, also schwieg er fortan. Er senkte den Kopf, und stopfte sich wieder Essen in den Mund. Alwara sah die Magd an, und befahl, dass man die Fässer neu befühlen möge. Danach rief sie den einen Wächter zu sich. Dieser trat heran und erwartete seine Befehle. „Ich will, dass du Ulla in die Halle holst. Es gibt etwas Dringendes mit dem Weib zu bereden!“ Der Mann nickte. „Ich werde sie holen!“, sprach er, und verließ die Halle.
An einem regnerischen Morgen hatte sich Thorberg mit den Fischen, die er am Vortag gefangen hatte, auf den Weg nach Lade gemacht. Dort war Markttag und die Aussichten standen gut, den Fang dort auch verkaufen zu können. Mit seinem Skuder4 war er durch den Fjord gesegelt. Doch neben dem Verkauf, hatte die Fahrt in die Königsstadt noch ein anderes Ziel.
„Ich traf in Lade einen Händler, der direkt aus dem Saxland5 gekommen ist. Er tätigt seine Geschäfte im Land des Sachsenkönigs Cobbo, oder wie der heißt“, berichtete Thorberg nach seiner Heimkehr. „Dieser erzählte mir von einem Wikingerjarl, der als Graf auf einer Sachsenburg herrschte.“
„Das ist Einar“, rief Ferun erfreut. „Das muss er sein!“ Auch Ulla nickte, denn sie kannte die Geschichte des Sachsenknaben, der auf Tautra aufwuchs nur zu genau.
„Doch es gab einen Kampf, den die Nordleute verloren“, fuhr Thorberg fort. „Nur einem Schiff gelang die Flucht!“
„Dann ist er tot?“ Ulla sah ihren Schwiegersohn erschrocken, und auch enttäuscht an.
„Ebend nicht“, fuhr Thorberg fort, und streichelte dabei den großen Hund, der um seine Beine strich. „Es heißt, der Sachsenkönig war höchst erbost, da ihm der Wikingerjarl entkommen ist!“
„Aber wo ist er dann?“ Ferun sah ihre Mutter fragend an.
„Vor allem wird er uns kaum eine Hilfe sein, auch wenn wir ihn finden sollten. Seine Gefolgschaft ist kaum noch der Rede wert“, sprach Ulla enttäuscht. Auch Thorberg sah man seine Enttäuschung an. „Wir haben nur zwölf wehrfähige Männer.“
„Und fünf Frauen“, unterbrach Ferun ihren Gemahl. Dieser nickte. „Ja, fünf Schildmaiden! Doch Alwara hat dreimal so viele Krieger!“
„Und dazu noch den Schutz des Königs“, unterbrach Ferun erneut. Doch da schüttelte Thorberg seinen Kopf. „Man erzählt sich in Lade, dass König Grjotgard6 wegen Alwara immer wieder mit seinem Weib in Streit gerät. Wer weiß, ob sie von ihm noch Hilfe zu erwarten hätte.“
„Und die Männer an der Seite des Einar sind Krieger. Wikinger, keine Bauern oder Händler“, gab Ulla zu bedenken. „Wenn ich an Männer wie Olaf oder Kjelt denke, sind diese zwei- oder dreimal soviel Wert, wie die Krieger der Alwara.“
„Aber du weißt nicht, wer von ihnen noch lebt“, zweifelte Thorberg. „Nein, das weiß ich wirklich nicht“, sprach die einstige Jarlsgattin. „Aber ich weiß, dass sie gute Krieger sind und niemand schickt sie so schnell nach Walhalla!“ Sie wandte sich Ferun zu. „Wohin würde Einar gehen?“
„Ragnar7“, antwortete Ferun. „Ich würde vermuten, er würde nach König Ragnar suchen.“ Ulla nickte. „Genau! Einar und der Däne waren sich wohlgesonnen.“
„Aber wo finden wir diesen Ragnar?“ Thorberg sah die beiden Frauen fragend an. Ulla erhob sich von der Bank, auf der sie gesessen hatte. „Ja, wo mag das Königreich des Ragnar Sigurdsson liegen. Ulla sah Ferun und ihren Gemahl an, und sprach nachdenklich: „Es kann doch nicht so schwer sein, einen König ausfindig zu machen.“ Da grinste Thorberg. „Das ist es auch nicht, denn ich kenne einen Mann am Königshof des Grjotgard. Sein Name ist Ingolf und er ist ein Ire von Geburt. Er dient im Haus des Königs und kennt sich bestens aus, wenn es um Könige und Herrscher geht.“ Erstaunt sah Ferun ihren Gemahl an.
„Woher kennst du jemanden am Hof des Königs?“
„Ach, vor einiger Zeit half ich ihm auf dem Markt, als man ihn bedrohte. Er ist nicht gerade ein Hüne von Gestalt.“ Thorberg begann zu lachen. „Eher das Gegenteil! Klein und dick! Und keine Schönheit!“ Da lachten auch die Frauen, denn Thorberg begann den Iren noch ausgiebiger zu beschreiben, und tat dies auf recht komische Weise.
Als Thorberg eine Woche später, wieder mit dem Skuder nach Lade segelte, machte er sich, nachdem er seine Fische verkauft hatte, auf den Weg zum Hof des Königs. Und dort gelang es ihm den rotschöpfigen Ingolf zu treffen. Dieser war hocherfreut über den Besuch des Mannes, der ihn vor den Schlägen einiger Rüpel bewahrt hatte.
„Thorberg, mein Freund, was führt dich zu mir?“ Ingolf bat den Mann von Tautra ihm zu folgen. Gemeinsam betraten sie das Langhaus des Königs, und fanden einen ruhigen Platz in der Küche. Thorberg war noch niemals zuvor hier im Haus des Ladekönigs gewesen. Warum auch, er war nur ein einfacher Fischer!
„Die Frage mag dir seltsam erscheinen, für einen Mann wie mich, aber kannst du mir sagen, wo ich König Ragnar finde?“
„Welchen König Ragnar? Meinst du den Sigurdsson?“, fragte Ingolf erstaunt. „Hm“, Thorberg zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass er Däne sein soll.“
„Es muss Ragnar Sigurdsson sein, aber der ist Dalsländer“, sprach der Diener, Freund und enger Berater des Königs.
„Er ist der Sohn von Sigurd Hring, doch dieser ist längst in Walhalla.“
„Und wo kann ich diesen Ragnar finden?“ Thorberg war hocherfreut, dass ihm Ingolf so schnell hatte weiterhelfen können. „Er ist König von Ranrike8. Sein Reich liegt an der Grenze zum Gautenland, am großen Vänern9. Du musst in das Kattegat10 segeln, und dort suchst du die Mündung der Götaälv11. Segele den Fluss entlang und du erreichst den Vänern. Soweit ich weiß, liegt das Reich des Ragnar am Nordufer, an der Grenze zum Gautenland.“
Noch eine Weile blieb Thorberg mit dem Ingolf an dem Tisch sitzen, bis dieser zum König gerufen wurde. Da brach Thorberg auf, und begab sich auf sein Schiff, um noch vor der Dämmerung die heimische Insel zu erreichen.
*
1 Jarl – Graf /Earl
2 Geldkatze – kleines Ledersäckchen, meist am Gürtel befestigt
3 Lade – Königsstadt im Trøndelag, von König Olaf Tryggvasson in Nidaros umbenannt und erweitert, heute ein Stadtteil von Trondheim
4 Skuder/Skuta – Leichte Segler mit 8-16 Riemen, wurden zum Fischen und befahren der Fjorde, sowie entlang der Küste
5 Saxland – Bezeichnung der Nordleute für das Sachsenland, reichte vom heutigen Ruhrgebiet bis hinauf nach Niedersachsen
6 Grjotgard Herlaugsson – 790 – 867 König von Tröndelag
7 Ragnar Sigurdsson – gelebt in der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts, Sohn des dänischen Kleinkönigs Sigurd Hring
8 Ranrike – Früher Südnorwegen mit den Gauen Dalsland, Vermland und Bohuslän (heute Schweden) Grenzland zum Götaland
9 Vänern - Vänersee ist ein See im Südwesten des heutigen Schweden, gelegen zwischen den historischen Provinzen Dalsland, Vermland und Västergötland
10 Kattegat - See zwischen dem nördlichen Jütland und dem Götaland
11 Götaälv – GrenzFluss zwischen der norwegischen Ranrike und dem Dänischen Götaland
Es war zur Mittagszeit, als der Reiter von der schmalen Landzunge, welche die beiden Nord- und Südinseln verband, herangeritten kam. Zielstrebig lenkte er sein Pferd nach Nordbuktavik, und zügelte es vor dem Haus der Ulla. Er schwang sich aus dem Sattel und trat an die geschlossene Tür. Der Wind ließ seinen Umhang und das lange Haar heftig wehen, als er mit der Faust gegen das Holz schlug. Es war Ferun die die Tür öffnete und den Mann erstaunt ansah. Sie kannte den Krieger nicht gut, doch sie wusste, dass er einer der Männer der Alwara war. Wenig freundlich fragte Ferun: „Was willst du?“
„Ich suche Ulla, das einstige Weib des Jarls Oyvind“, sagte er streng. „Was willst du von meiner Mutter?“, erwiderte Ferun nicht weniger unfreundlich.
„Ich soll sie vor den Hochstuhl der Alwara bringen!“ Da lachte Ferun bitter auf. „Den Hochstuhl der Alwara? Ich dachte Thorsti ist unser Jarl, oder hat sie diesen schon an die Krabben verfüttert?“
Böse sah der Krieger die junge Frau an, doch er erwiderte nichts darauf, ignorierte den Spot, und sprach: „Macht mir keinen Ärger, sonst muss ich sie mit Gewalt nach Sørhamna bringen.“
„Ja ja, es ist ja gut, sie ist beim Nachbarn und wird bald zurückkehren. Also warte hier!“ Sie wandte sich ab und ging ins Haus. Die Tür wurde geschlossen und der Riegel fiel in die Falle. Ein wenig dumm sah der Krieger der Ferun nach, doch was hatte er erwartet? Das man ihm ein Bier anbot! So trat er zurück zu seinem Pferd, und wartete. Doch es dauerte länger, als Ferun gesagt hatte, bis Ulla über den Dorfplatz gelaufen kam. Freundlich sah sie den Mann vor ihrem Haus an, und fragte ob sie diesem behilflich sein könne. Da wurde auch die Tür wieder geöffnet, und Ferun stellte sich unter den Türstock, mit einer Axt in Händen. Sie sah den Mann böse an und plötzlich tauchte auch Freki, der große, graue Hund in der Pforte auf. Der Krieger wandte sich der Tochter der Ulla zu, blickte kurz auf die Waffe, sah auf den Hund, und sprach dann zu Ulla: „Jarl Alwara will dich sehen. Folge mir nach Sørhamna!“
„Jarl Alwara!“ Ulla sah ihre Tochter an und grinste. „Sie ist jetzt also unser Jarl wie es scheint.“ Dann wandte sie sich dem Krieger zu, der es nicht einmal für nötig befunden hatte seinen Namen zu nennen. „Oh, das tut mir leid, aber heute ist es schlecht“, sprach Ulla grinsend. „Aber sobald ich die Zeit dazu finde, werde ich der Alwara einen Besuch abstatten!“ Überrascht sah der Krieger die einstige
Jarlsgattin an, dann fiel sein Blick wieder auf Ferun und den Hund. Ein kurzer Blick fiel auf den Griff seines Schwertes, doch Ferun hatte dies bemerkt. „Greife danach, und meine Axt streckt dich nieder. Den Rest erledigt dann der Hund!“ Da nickte er zögernd. „Das wird Alwara aber nicht freuen“, sagte der Mann, und schwang sich auf sein Pferd. „Nein, das wird sie ganz bestimmt nicht freuen!“ Er lachte auf und schlug seinem Pferd die Hacken in die Flanke, sodass es sofort davon preschte.
Und es erfreute Alwara wirklich nicht. War der Krieger von der Weigerung der Ulla noch beeindruckt gewesen, musste er nun Schimpf und Schande über sich ergehen lassen.
Doch die Reaktion der Ulla sprach sich in der Siedlung schnell heran, und sie erntete dafür meist Bewunderung, denn nur wenige wagten es noch, der jähzornigen Jarlsgattin zu widersprechen.
Drei ganze Tage ließ Ulla die Alwara schmoren, dann begab sie sich mit sechs kräftigen Männern, ihrer Tochter und dem Hund Freki nach Sørhamna. Und nun rächte sich Alwara und ließ die einstige Jarlsgattin ihrerseits warten. Doch diese war davon wenig beeindruckt, und als sie endlich in die Jarlshalle gerufen wurden, konnte sie sich eine Spitze nicht verkneifen. Sie sah Alwara stolz auf dem Hochstuhl sitzen, und sprach: „Sei gegrüßt, Alwara! Wie ich sehe ist Jarl Thorsti beschäftigt. Nun ja, er hat ja so seine Vorlieben, und wie man hört, hält ihn wenig in der Halle. Soll ich später noch einmal kommen?“
Mit einem süßsauren Lächeln sah Alwara die Ulla an, und antwortete: „Ich war es die dich gerufen hat, und ich hätte erwartet, dass du sofort erscheinst!“
„So?“, tat Ulla erstaunt. „Ich konnte nicht wissen, dass dein Anliegen so wichtig ist!“ Sie wandte sich zu ihrem Gefolge, um ihre Tochter anzusprechen. „Das konnte ich ja nicht wissen!“
„Nein, das konntest du nicht wissen, Mutter“, antwortete Ferun, und musste sich ein Lachen verkneifen. „Du siehst, Alwara. Aber nun bin ich ja hier. Wie kann ich dir behilflich sein?“
Böse sah Alwara die Ulla an, erhob sich, und zeigte mit dem Finger auf die Witwe des Jarl Oyvind. „Du neidest mir meine Stellung, und versuchst mich zu töten!“
„Was redest du da?“, empörte sich Ferun lautstark, doch ihre Mutter bat sie zu schweigen. „Wie kommst du dazu, mir so etwas vorzuwerfen, Alwara?“, sprach Ulla in aller Ruhe. „Nichts möchte ich weniger, als den Hochstuhl von Tautra! Odin selbst ist mein Zeuge!“
„Pah! Und warum vergiftest du mein Wasser?“, keifte die Jarlsgattin da. „Doch sicher um uns alle zu töten! Dafür sollte ich dich hinrichten lassen!“ Da trat plötzlich Thorsti in die Halle. Der Schönling hatte sich in den letzten Jahren verändert. Sein Bart war lang und ungepflegt, und ein kleiner Bauch spannte seine Tunika. „Wen willst du hinrichten1?“, fragte er fast beiläufig.
„Dieses Weib wollte uns alle vergiften“, antwortete Alwara zornig. Thorsti hob erstaunt seine Augenbrauen. „Ist das wahr, Ulla?“ Er wandte sich der Stiefmutter des Einar zu.
„Ich weiß nicht wovon dein Weib spricht!“ Kurz verzog Thorsti sein Gesicht, als Ulla von Alwara als seinem Weib sprach. Dies war für den Jarl von König Grjotgards Gnaden wie ein Peitschenhieb. Dann wandte er sich an Alwara. „Ich glaube dir, Ulla!“ Er sah die Alwara an, und wiederholte: „Ich glaube Ulla!“
„Das interessiert mich nicht! Ich will, dass sie bestraft wird!“ Alwara wurde nun immer lauter, sodass der Sven, ihr junger Liebhaber in die Halle trat, um zu sehen was vor sich ging. Dies tat er aber schweigend.
„Ihre Schuld ist noch nicht einmal bewiesen, und du verlangst ihren Kopf?“ Thorsti wurde nun böse. Er hatte schon lange nicht mehr der Alwara widersprochen, meist war er ja auch betrunken. Aber nun ging es um das Leben der Ulla, die er eigentlich sehr mochte.
„Ja, das verlange ich! Ich bin die Gesippin des Königs, und verlange, dass man meine Befehle ausführt!“, rief sie laut in die Halle, in der Hoffnung die Wachen würden herantreten und die Ulla festsetzen. Doch die Männer bewegten sich nicht.
Dafür zeigte plötzlich Thorsti, dass er doch noch nicht von ihr entmannt worden war. „Jetzt ist Schluss, Weib! Runter von meinem Stuhl, noch bin ich der Jarl!“
Mit großen Augen sah Alwara den Thorsti an, um dann ihre Augen fordernd auf Sven zu richten. Und dieser verstand, zog sein Messer und trat vor. Doch unerwartet erwachte der Krieger in Thorsti. Er zog sein Schwert, und hieb es dem Sven mit aller Gewalt auf den Kopf. Bis zur Wurzel der Nase war die Klinge in den Kopf gefahren, und hatte das Leben des Liebhabers schnell beendet. Während Alwara wie wahnsinnig aufschrie, wandte sich Thorsti an Ulla und grinste seelenruhig: „Das hätte ich längst tun sollen. Bei Odin, ist das ein gutes Gefühl!“
Alwara war von dem Hochstuhl aufgesprungen, und lief schreiend aus der Halle, in den hinteren Teil des Gebäudes, wo die Kammern waren. Thorsti sah ihr nach. „Soll sie laufen!“ Dann wandte er sich den Wachen zu. „Räumt das hier fort!“Er zeigte auf den Leichnam des Sven, und die Männer gehorchten ohne zu zögern. Sie packten den Toten und trugen ihn aus dem Langhaus. Da schritt Thorsti die Stufen des Podestes hinauf und nahm auf dem Hochstuhl Platz. „Ich sitze nicht oft hier“, grinste er, und wurde dann wieder ernst. Es wird sicher nicht lange dauern, bis Alwara zu alter Stärke zurückfindet. Ich rate euch, seid vorsichtig. Ich glaube nicht, dass sie Ruhe geben wird. Notfalls schickt sie Boten nach Lade, um diesen Borkell, den Kettenhund des Königs, hierher zu holen!“
Ulla nickte, und dankte dem Jarl. „Wenn ich dir einen Rat geben darf, Jarl Thorsti. Töte dein Weib, oder sie tötet dich.“ Dann verließen sie die Siedlung und kehrten nach Nordbuktavik zurück.
*
Zwei Monde zuvor segelte der Wellenwolf an der Küste des Frankenreiches entlang durch das aufgewühlte Nordmeer.
„Hast du dich nun endgültig entschieden, wohin uns der Weg führen wird, mein Geliebter?“, fragte die schwarzgelockte Alma den Mann der neben Kjelt, dem Steuermann, auf dem Heckstand hockte.
„Ich glaube, es gibt nur einen Ort an dem wir sicher sind“, antwortete Einar nachdenklich. „Wir suchen Breka im Land König Ragnars! Also werden wir nach Ranrike oder ins Götaland segeln?“
„Zu den Dänen willst du segeln?“, fragte Kjelt ein wenig erstaunt. Da nickt Einar und sah zu dem Steuermann auf.
„Ja, zu den Dänen! Gefällt dir das nicht?“
„Nun ja, man weiß ja nicht, wie sie uns empfangen werden, die Dänen“, zweifelte der große Mann. Da erhob sich Einar von den Planken des Wellenwolfes. „Sie werden uns freundlich empfangen, glaube ich“, sagte Einar grinsend. „Wir müssen nur das Reich König Ragnars finden, also segeln wir ins Kattegat12!“
Und so war es geschehen! Sie hatten das Meer zwischen dem Frankenreich und Britannien durchsegelt, hielten Kurs nach Norden. Entlang des Reiches König Horiks13 segelten sie hinauf nach Nordjütland14 und dann östlich, hinein in das Skagerrak15. In den Lagern die sie für die Nacht errichteten, blieben sie unbeachtet. Bis auf einmal an der Küste der Franken, da mussten sie fliehen.
Der Sommer blieb lange in diesem Jahr, zog sich bis in den Frühherbst hinein. So war das Wetter meist angenehm, dass die Reise ohne größere Stürme verlief, und Ran16 die Reisenden verschonte. Und bald schon erreichten sie das Kattegat!
Sie segelten nun wieder Richtung Süden und suchten an Backbord nach der Mündung der Götaälv. Dem Fluss der Ranrike und Götaland trennte. Dort würden sie dann den Weg in den Vänern finden. Und so war es auch!
Nach dem sie die Wasserfälle umschifft hatten, öffnete sich vor ihnen, wonach sie suchten. Immer breiter war der Fluss geworden, bevor er in den Vänern mündete.
Ein riesiger See, einem Meer gleich, tat sich vor ihnen auf, als sie eine Flussbiegung und ein Dorf am Ufer hinter sich gelassen hatten. Gleichmäßig tauchten die Ruderpinne in das dunkle Wasser des Sees, und sie trieben die Schnigge voran. „Und nun? Wohin?“, rief Kjelt über das Schiff, denn Einar stand mit Bogtyr am Vordersteven. Dieser wandte sich um, und rief zurück: „Nordufer! Wir müssen zum Nordufer! Irgendwo dort muss König Ragnars Reich beginnen!“ Sie holten die Ruderpinne ein, und zogen das Segel auf. Kjelt gab ein Zeichen, dass er verstanden hatte, und legte sich gegen die Ruderstange. So brachte er das Segel in den Wind, und der Wellenwolf nahm schnell Fahrt auf. Nach einer Weile steuerte Kjelt die Schnigge17 nach Backbord, dort wo das Ufer eine Biegung machte. Und bald schon sahen sie die Mündung eines Fjordes. Oder besser zweier Fjorde, die sich nach links und rechts teilten. „Dort, rüber!“ Jarl Einar zeigte auf die breite Einfahrt in den linken Fjord. „Das muss der Svanefjord sein. Dort ist Ragnars Königsstadt Älvsborg!“
„Woher weiß er das?“, wandte sich Kjelt an Olaf, der nun neben ihm stand. „Woher schon? Borka wird es ihm erzählt haben, oder Ragnar selbst!“ Da nickte Kjelt, denn er wusste, dass der Gautenjarl schon des Öfteren versucht hatte Jarl Einar nach Ranrike zu locken. Und nun war es ihm wohl, mit der Hilfe des Sachsenkönigs Cobbo, tatsächlich gelungen. Die Frage war noch, was würde König Ragnar dazu sagen? Doch das würden sie sicher bald erfahren! Sie hielten sich nah an der Küste, und segelten vorbei an schilfbewachsenen Böschungen, Feldern und Wiesen mit mehr oder weniger großen Baumgruppen.
Nur sahen sie Kiesstrände, meist waren es flache Felsen die das Ufer säumten. Kühe grasten auf fetten, grünen Wiesen, und manchmal sah man auch Menschen, die ihrer Arbeit nachgingen. Und dann endlich sahen sie die Dächer einer Stadt. Einer Stadt, nicht so groß wie Lade, aber sicher dreimal so groß wie Sørhamna auf der Insel Tautra.
Schon von Weitem hörten sie das Hornsignal, das ihre Ankunft ankündigte. So griff auch Thoke zu dem Horn, das an einem Nagel am Mast hing, und blies kräftig hinein. Dies sollte den Anwohnern als Zeichen dienen, dass sie in friedlicher Absicht kamen. Und doch waren unter den Menschen, die an den Anlegesteg kamen, auch einige Bogenschützen. Diese hielten sich aber zurück!
Der Hafen der Königsstadt war groß, und es lagen viele Schiffe in der Bucht vor Anker.
Die Bewohner kamen neugierig herangelaufen, um die Ankömmlinge zu inspizieren. Vielleicht brachten sie ja begehrte Waren mit sich. Junge Männer auf dem Steg fingen die Seile und befestigten sie an den Pollern des Steges, der in die Bucht ragte. Vier lange Anlegestege gab es in dem Hafen.
Auf dem Schiff waren einige damit beschäftigt, das eingerollte Segel an die Rahe zu binden und diese auf die dafür vorgesehenen Gestänge zu legen. Mit den hölzernen Ruderpinnen taten sie das gleiche. Andere begannen mit den Leuten zu sprechen, doch niemand verließ das Schiff!
Und dann betrat eine Gruppe von Männern den Steg. Unter ihnen der König selbst. Zuerst sah er noch misstrauisch auf die Ankömmlinge, aber dann erkannte er Einar, und begann zu grinsen. „Jarl Einar!“ Es schien als sei Ragnar tatsächlich erfreut den Jarl ohne Gau wiederzusehen. „Was treibt dich hierher, mein Freund?“ Nun grinste auch Einar. „Eigentlich nichts Gutes, aber meine Freude dich zu sehen, ist trotzdem groß!“
„Dann kommt an Land, und seit unsere Gäste!“, rief der König. „Du musst mir erzählen was geschehen ist, mein Freund!“
Es war nun Frühherbst im Jahr 832 n. Chr., und sie hatten es tatsächlich geschafft ihr Ziel zu erreichen. Einar sprang über die Reling und trat vor den König. Dieser trat näher und umarmte Einar wie einen alten Freund. „Egak was geschah“, sagte Ragnar, „ich danke den Göttern dafür!“
„Nun, wir sind Heimatlose auf der Suche nach Land. Ich war Graf einer Burg im Saxland, doch da ich den Christenglauben ablehnte, schickte der Herzog seine Krieger.“
Da legte Ragnar ihm seine Hand auf die Schulter, und sprach: „Lass uns später darüber reden. Wir werden sicher eine Lösung finden. Ich bin schließlich der König von Dalsland und Vermland.“ Wieder rief er Befehle, und man half den Ankömmlingen ihr Schiff zu verlassen. Erst jetzt sah Ragnar in welch schlechter Verfassung sie waren.
Besonders die Frauen und Kinder an Bord. So befahl der König sie gut unterzubringen und zu versorgen, damit sie wieder zu Kräften kommen würden. Jarl Einar und sein Weib Alma kamen in einer Kammer der Königshalle unter. Auch die Sächsin war schwer gezeichnet, denn der Kampf und die Flucht hatten ihr alle Kraft abverlangt. Es war ihre erste Schlacht, an der sie kämpfend teilgenommen hatte. Und sie hatte sich bewährt, hatte tapfer gekämpft und unverletzt überlebt.
Die Wunden der Reisenden wurden versorgt, sie konnten sich reinigen, sie aßen, schliefen, und am folgenden Tag sah die Welt schon besser aus.
Zur Mittagszeit erschien dann Ragnar, und nun stand auch sein Weib Lagertha mit ihrem kleinen Sohn Björn, dem einstigen Jarl von Tautra gegenüber. Und diesmal zeigte sich die Königin und Schildmaid erfreut und war sehr freundlich zu Einar.
Sie trug ein dunkelrotes Kleid mit einem langen, weißen ärmellosen Mantel darüber. Dieser wurde mit einer silbernen Kordel an der Hüfte zusammen gehalten. Die Königin hatte ihren schönsten Schmuck angelegt, und ihr blondes Haar war kunstvoll frisiert worden. Ja, sie wollte die Gäste beeindrucken, dass sah man sofort. „Einar! Oder soll ich besser Wulfger sagen?“, fragte sie schnippisch, lächelte dabei aber verführerisch. „Nein, den gibt es nicht mehr“, antwortete der Jarl. „Ich bin Einar, ein Trøndner und der einstige Herr über die Insel Tautra im großen Fjord von Lade! Ich grüße dich Königin Lagertha.“
Lagertha nickte freundlich. Seit dem sie wusste, dass Einar ihr Landsmann war, hatte sich ihre Abneigung gegen ihn in Zuneigung gewandelt. Dass die Königin ihn verführt hatte, dies verdrängte Einar, denn ihm war die Freundschaft zu Ragnar sehr wichtig, auch wenn diesen die Affären seines Weibes nicht zu stören schienen. Er hatte selbst genug davon!
Doch Einar war wenig stolz auf das Geschehene. Es beschämte ihn zutiefst und er wollte es schnell vergessen. Lagertha sah Ragnar an, und sprach: „Du bist doch darauf bedacht treue Jarls um dich zu scharren, mein Gemahl.
Dieser hier wäre sicher gut geeignet!“ Sie wandte sich ab, stieg auf das Podest und nahm auf dem Stuhl der Königin Platz. Den kleinen Sohn setzte sie auf ihren Schoß.
Der König lächelte und legte dem Einar seine Hand auf die Schulter. „Komm“, sagte er ruhig, und führte seine Gäste an einen der Tische, wo sie Platz nahmen.
Er sah zuerst Alma mit seinen klaren, blauen Augen an, und wandte sich dann dem Einar zu. „Lagertha hat Recht, mein Freund. Ich könnte dir einen Gau zur Verwaltung geben. So wie ich es mit Borka tat.“ Er sah sein Gegenüber eindringlich an. „Du wirst mir die Abgaben zahlen und mir den Gefolgschaftseid schwören.“ Einar sah Alma an, und diese nickte leicht. War dies die Lösung? Sie hatten keine Heimat mehr, soviel stand fest, und Ragnar als König war Einar in jedem Fall lieber, als dieser hinterhältige Grjotgard.
„Ich werde mein Gefolge befragen, ob sie damit einverstanden sind. Ich bin immer noch ihr Anführer, aber ich werde nicht über ihre Köpfe hinweg entscheiden“, antwortete Einar. „Doch ich danke dir für dein Angebot, es ehrt mich sehr, König Ragnar!“ Der Mann mit dem dicken geflochtenen Zopf, der ihm am Hinterkopf hinab hing, schlug Einar gegen die Schulter und grinste. „Tue das, mein Freund! Tue das!“ Er wandte sich um, und rief nach einer Magd, die etwas zu trinken bringen sollte. Dann sah er wieder seine Gäste an. „Im Nordosten des großen Sees, grenzt mein Land an jenes des Gauten Hrotger“, wieder begann der König zu grinsen. „Wie ich hörte, ist dir König Hrotger kein Unbekannter.“
„Ja, wir hatten bereits mit ihm zu tun“, nickte Einar dem König zu. „Und wie ich auch hörte, ging es um Silber. Um viel Silber!“ Einar nickte. „Ja, es ging um Hrotgers Silber. Nur leider segelte ich damals für den falschen Mann!“
„Dann ist das Gerücht also wahr?“ Der König sah seinen Gast eindringlich an, und Einar bestätigte das Wissen des Dänen, der zu einem norwegischer Kleinkönig geworden war.