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Einführung

Miniaturen sind eine künstlerische Darstellungsform, die im Mittelalter ihren Höhe-und eigentlich auch Schlusspunkt erreichte. Es gibt eine ganze Reihe weltbekannter mittelalterlicher Apokalypse-Editionen, die das Herz jedes Bibliophilen höher schlagen lassen, wie die Paris-Apokalypse, die hispanische Gulbenkian-Apokalypse, die Nuneaton-Apokalypse, die Queen-Mary-Apokalypse, die Edelstein-Apokalypse, die Pepys-Apokalypse, die Cloisters-Apokalypse, die Canon-Apokalypse, die Harley-Apokalypse, die Berry-Apokalypse oder die Alba-Bibel. England und Frankreich, von dem im hohen Mittelalter ein großer Teil zu England gehörte, waren in der Produktion von Pracht-Apokalypsen tonangebend; in den deutschsprachigen Landen kann allein die Deutschordensapokalypse beanspruchen, unter die allerersten illustrierten Handschriften gezählt zu werden.

Die wenigsten mittelalterlichen Handschriften sind heute in Privatbesitz, sondern im Besitz demokratischer Staaten und stehen der Wissenschaft und den Kunstfreunden zur Verfügung. Die mit Steuergeldern finanzierten Bibliotheken stehen in der Pflicht, der Bevölkerung etwas zurückzugeben. Einst waren die Prachtbände ein nur für Wenige unerreichbarer Luxus, wofür hunderttausende armer Bauern, Tagelöhner und Handwerker ausgesaugt wurden; heute hat prinzipiell jeder Nutzer (bei der notwendigen Hartnäckigkeit) die Chance, einmal einen Jahrhunderte alten Prachtband in den Händen halten zu dürfen. Vorbildlich sind hier die deutschen Bibliotheken, in denen sich die Zugänglichkeit relativ einfach gestaltet, während die Französische Nationalbibliothek einen elitären Habitus pflegt, der eigentlich der Grande Nation unangemessen ist: Benutzer sind dort nicht erwünscht, Englisch ist als Wissenschaftssprache unbekannt, und immer mehr Regularien und Sonderregelungen erschweren die Benutzung.

Umso erfreulicher ist es, dass es in über zehn Jahren gelungen ist, hier die wertvollsten und erlesensten mittelalterlichen Miniaturen in einem Band zu vereinen, wo sie bewundert, miteinander verglichen und analysiert werden können. Die meisten Bibliotheken wurden zwischen 1995 und 2005 persönlich aufgesucht, um die Werke per Autopsie in Augenschein zu nehmen, darunter: New College Library (Oxford), British Library (London), Fitzwilliam Museum (Cambridge), Universitätsbibliothek Lüttich, Bodleian-Bibliothek (Oxford), Bibliothèque royale de Belgique (Brüssel), Pepys Library (Cambridge), Metropolitan Museum of Art (New York), Magdelene College (Cambridge), Bibliothèques municipales de Besançon, Morgan Library (New York), Bibliothèque municipale de Lyon, Bibliothek Sainte-Geneviève, The Morgan Library & Museum sowie schließlich die National Széchényi Library (Budapest).

Paris-Apokalypse (1245–1255)

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Innerhalb eines kurzen Zeitraumes entstanden in England – gemessen an mittelalterlichen Verhältnissen – massenweise Apokalypsehandschriften. Darunter sind bekannte Exemplare, wie etwa die Apokalypse Douce de Oxford oder die Apokalypse von Abingdon, aber auch relativ unbekannte Pretiosen. Warum gerade in England innerhalb eines Zeitraumes von einer Generation derart viele Apokalypsen entstanden sind, bleibt ein Rätsel. Der Markt war jedenfalls gesättigt, so dass die Preise fielen und die Qualität der Kopisten sich verringerte. Einige der Exemplare konnten ins Ausland, vor allem Frankreich, verkauft werden, doch das Gros ist noch heute in englischen Bibliotheken zu finden.

Damals soll europaweit angenommen worden sein, dass 1260 das Weltenende bevorstünde, was dann auf 1284 und schließlich auf 1290 verschoben wurde. Dass man aber, wenn man vom Ende der Welt überzeugt war, noch Apokalypsenhandbücher anfertigte, ist keine zwingende Folge dieser Annahme. Zudem erschienen im ganzen Mittelalter wie auch später fast jedes Jahrzehnt neue Ankündigungen eines bevorstehenden Weltuntergangs.

Eine der frühen englischen Apokalypsen wird „Paris-Apokalypse“ bezeichnet, da sie sich heute unter MS fr. 403 in der Französischen Nationalbibliothek in Paris befindet. Entstanden ist die Apokalypse in altfranzösischer Sprache mit einem Kommentar eines anonymen Verfassers zwischen 1245 und 1255 in Salisbury, in Nähe der damaligen königlichen Residenz Clarendon. Dem namentlich nicht bekannten Illustrator hat man den Notnamen „Sarum-Meister“ gegeben. Es ist eine außergewöhnlich schöne Apokalypse in außerordentlicher Farbenpracht. Die Darstellung des Himmlischen Jerusalem auf Folio 41r (und in Abwandlung auf Folio 42r) sowie auf Folio 41v wurde stilbildend für viele weitere, jüngere englische Apokalypsehandschriften. Folio 41r und 42r zeigen ein gestaffeltes, kompaktes Himmlisches Jerusalem mit klaren Linien. Das Jerusalem auf der Miniatur dazwischen ist mit roten und blauen Edelsteinen überzogen. Es steht auf einem Fundament aus mehreren Stufen in verschiedenen Farben, und grenzt nach oben mit einer abwechslungsreichen Dach- und Turmlandschaft ab.

L’Apocalypse en français au XIIIe s. 2 Bdd., Paris 1900.

Die lateinische Vorlage des altfranzösischen Apokalypsenkommentars des 13. Jahrhunderts, Münster 1960.

An English Fourteenth Century Apocalypse version with a prose commentary. Edited from MS Harley 874 and ten other MSS by Elis Fridner, Copenhagen 1961.

Fensterrose (1250–1300)

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Die Schrift MS Hamilt. 390 der Staatsbibliothek zu Berlin entstand zwischen 1250 und 1300 in Verona, als Sammlung moralisch-didaktischer Schriften in lateinischer und altvenezianischer Sprache. Eine Fensterrose auf Folio 2v versinnbildlicht göttliche Macht im Himmel und auf Erden. Das Neue Jerusalem befindet sich dort ganz zuoberst. Es besteht aus mehreren Toren und ist von drei Kuppeln überwölbt. Durch Kreuze sind diese als Kirchen markiert. Auf der linken Seite steht Petrus vor der Stadt, in seiner Rechten den Bischofsstab, in seiner linken den Stadtschlüssel.

Richard Salomon: Opicinus de canistris, London 1936.

Helen J. Dow: The rose-window, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 20, 1957, S. 248–297.

Ham. 390, in: Helmut Boese: Die lateinischen Handschriften der Sammlung Hamilton zu Berlin, Wiesbaden 1966, S. 184–185.

Daniela Goldin: Scrittura e figura negli ‚Exempla’ Hamiltoniani, in: Medievo e rinascimento Veneto con altri studi in onore di Lino Lazzarini, Padova 1979, S. 14–34.

Concordanze della lingua poetica Italiana della origini, a cura di D’ Arco Silvio Avelle, Milano 1992.

MS D 65 (um 1260)

Die Handschrift MS D 65 aus der New College Library in Oxford steht, was die Darstellung des Neuen Jerusalem angeht, einerseits mit der spanischen Beatustradition, andererseits mit der Trinity College Apokalypse aus England in Beziehung. Der Handschrift nach zu urteilen, dürfte der anglonormannische Apokalypsentext mit Kommentar an der englischen Hofschule um 1260 entstanden sein und war später im Besitz der böhmischen Königin Johanna von Rosental (gest. 1475). Wegen der Ausstattung mit zum Teil goldenen und silbernen Miniaturen zählt MS D 65 zu den prächtigeren Apokalypseausgaben. Insbesondere die rhythmische, symmetrische Ausführung der Jerusalemsdarstellung (fol. 78v und 81v) mit einem inneren Quadrat aus zwölf Rahmen und einer feingliedrigen Mauerdarstellung erzeugt einen kontemplativen Effekt vornehmer Harmonie und Ausgewogenheit.