Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

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© 2020 Birgit Gurtner

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7526-7769-0

Manchmal sehen GestalterInnen im kreativen Entwurfsprozess vor lauter

Wald keine Bäume mehr: diese Publikation soll mögliche Wege zeigen.

Reduktion ist ein Grundprinzip guter Gestaltung.

Reduktion auf die Essenz, inhaltlich wie formal. Weglassen von alldem,
was der Kommunikation nicht dient. Nicht gemeint ist formalistischer

Reduktionismus, der Gestaltung verkopft. Dekoratives, das der emotionalen

Wirkung dient, ist explizit Teil guter Gestaltung.

Inhaltsverzeichnis

„Der Meister war nicht anwesend. Bloß eine Haushälterin öffnete die Tür, als der berühmte Maler Apelles zum spontanen Besuch erschien. Er wollte einen Kollegen treffen, den Maler Protogenes. Die Alte riet ihm, später am Tag wiederzukommen, und fragte, wen sie denn melden dürfe? Statt ihr seinen Namen zu sagen, nahm Apelles einen Pinsel und zog auf einer leeren Leinwand freihändig eine sehr feine Linie. Als Protogenes nach seiner Heimkehr diese Linie sah, war ihm klar, wer dieser Besucher gewesen sein musste: So kriegt das nur der große Apelles hin. Er nahm einen noch feineren Pinsel und zog mitten auf dieser Linie eine zweite. Dann verließ er das Haus wieder. Am Nachmittag erschien Apelles erneut und schaffte es, diese beiden Linien mit einer dritten zu spalten, ohne für eine vierte Platz zu lassen.

Die von Plinius in seiner „Naturalis historia“

überlieferte Anekdote wurde zum Muster für

unser Verständnis von einem gelungenen

Kunstwerk:

Meisterwerke entstehen durch Reduktion.“

Nils Minkmar (2016)

„Die Reduktion gehört zur hohen Schule der Gestaltung. Es kommt darauf an, gekonnt zu dezimieren und zu kondensieren: formal und inhaltlich. Damit die Botschaft intensiviert wird.

... Reduktion minimiert. Komprimiert. Und intensiviert. Und macht aus dem Wenigen, das

bleibt, ein Maximum. Aus weniger wird mehr.“ Tom Moog (2013)

Reduktion: Methode & Intuition

Die Wahrnehmung von Information hat sich in den letzten Jahrzehnten durch die Kommunikationstechnologien und ein Überangebot an Medien stark verändert: sie ist flüchtiger geworden. In immer kürzerer Zeit müssen immer mehr Informationen aufgenommen, organisiert und verarbeitet werden. Entscheidungsprozesse sind komplexer geworden. Komplexe Wirklichkeiten erfordern die Reduktion von Information auf das Wesentliche, sollen sie erfasst und verstanden werden. Diese Publikation befasst sich mit der Strategie der Reduktion in Entwurfs- und Gestaltungsprozessen des Visuellen Kommunikationsdesign. Reduktion im Entwurfsprozess bedeutet, sich mit dem Herausarbeiten von spezifischen, inhaltlichen und visuellen Merkmalen zu beschäftigen. Komplexe Informationen werden auf das Wesentliche reduziert und in der visuellen Darstellung entsprechend abstrahiert, mit dem Ziel, das Relevante sichtbar zu machen. Unwesentliche Informationen werden eliminiert. Die Komplexität der Information bleibt dabei erhalten, es wird nicht vereinfachend banalisiert, sondern das Relevante wird exemplifiziert. Ziel ist, zu gewährleisten, dass die wesentliche Information vom Rezipienten aufgenommen, verstanden und damit behalten wird – trotz visueller Informationsüberflutung. Eine Strategie, die der Arbeitsweise unseres Gehirns entspricht! So untersucht die Publikation neue Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften sowie der Wahrnehmungspsychologie auf ihre Relevanz für das visuelle Kommunikationsdesign. Das Verstehen der grundlegenden Arbeitsweise unseres visuellen Systems ist die Arbeitsgrundlage für den Gestaltungsprozess und damit für das Gelingen von Visueller Kommunikation.

„Less is more.“ Ludwig Mies van der Rohe (1947)

Basierend auf Erfahrungen der kreativ-künstlerischen Praxis und Lehre sowie auf Erkenntnissen der Hirnforschung sind mögliche systematische Wege der gestalterischen Ideenentwicklung und Umsetzung beschrieben. Explizit nicht ausgeklammert ist dabei das Gegenüber der Methode: die Intuition – Bauchgefühl und innere Stimme. Intuitives Gestalten scheint sich im kreativen Prozess dem Verstand und der Logik zu entziehen, ist aber eigentlich nur eine andere Art des Denkens und Wahrnehmens. Intuition folgt oft auf einen intensiven methodischen Prozess, in dem mit Leidenschaft nach einer Problemlösung gesucht worden ist. Intuition ist ein Raum, der sich unter bestimmten Bedingungen öffnet, häufig verbunden mit dem erfüllenden Gefühl von „Flow“ – dem innigen Verbundensein mit dem Tun. Intuition ist nicht Gestalten ohne Plan. Spiel und Experiment (auch methodisch!) lassen Ideen entstehen, die man lediglich als mögliche Lösungswege erkennen muss.

„Was wirklich zählt, ist Intuition.“ Albert Einstein

„Form follows Content“

Das aktuelle Medien- und Kommunikationsdesign folgt der Maxime „form follows content“, eine Weiterentwicklung des Bauhaus-Credos „form follows function“, dessen radikaler Reduktionismus in der Branche häufig als nicht mehr zeitgemäß kritisiert wird. Die Frage ob Gestaltung rein funktional auszurichten sei oder inwieweit dekorative Elemente eine Existenzberechtigung besitzen oder nicht, soll hier nicht beantwortet werden. Reduktion als Stilpraxis ist immer gekennzeichnet durch eine zeichenhafte Formgebung und klare Komposition sowie einer geschickten Inszenierung visuell wahrnehmbarer Elemente in Fläche oder Raum. Ausgangspunkt ist etwas Materielles oder ein gedankliches Konstrukt, das zu etwas neuem Sinnhaften verdichtet und attraktiv eingekleidet wird.

„Minimalismus ist das Streben nach der Essenz der Dinge, nicht nach dem Aussehen. Minimalismus ist jenseits der Zeit. Er ist zeitlos.“ Massimo Vignelli

Minimalismus im Kommunikationsdesign bedeutet die Verwendung einer überschaubaren Anzahl von Gestaltungselementen: wenige unterschiedliche Schriftarten und Schriftgrößen, ein reduziertes Farbspektrum mit einer oder zwei Signalfarben, Vakatflächen, starke Ordnung in der Komposition der Elemente z.B.: durch ein Rastersystem, sowie ein hoher bildlicher Abstraktionsgrad der Dargestellten. Ursprünglich galt der Minimalismus im Kom.design, wie z.B. der Stil der Schweizer Grafik, als effiziente Methode des Entwerfens, Produzierens und Reproduzierens. Die Einfachheit des Prozesses führte jedoch zu einer Austauschbarkeit und Verwechselbarkeit seiner Produkte. Mit einer begrenzten Formenvielfalt ist es schwer, Individualität und Persönlichkeit zu kommunizieren, wenn der Funktionalismus im Vordergrund steht und nicht der Ausdruck. Grundkonzept des Minimalismus in der Kunst war die Entpersönlichung und Objektivierbarkeit, die visuelle Strategie die Klarheit und Einfachheit.

Reduktion als gestalterisches und kommunikatives Prinzip, wie es hier verstanden wird, mündet nicht in ein minimalistisches Kommunikationsdesign, sondern in eine Art der Informationsvermittlung, die klar, logisch, prägnant und dennoch unverwechselbar und von besonderer emotionaler Charakteristik ist.

Abstraktion oder: was Einstein und Picasso verbindet

Der Begriff „Abstraktion“ beschreibt einen Prozess der Vereinfachung mit dem Ziel der Reduktion auf das Wesentliche. Nicht relevante Details werden zugunsten der Prägnanz bestimmter Informationen eliminiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden in Physik und Kunst parallele Entwicklungen statt, indem beide Disziplinen neue, nämlich abstrahierte Formen der Wirklichkeitsbeschreibung entdeckten: Die Physik entwickelte die Erkenntnis, dass, entgegen dem ursprünglichen Atommodell, keine dingfesten Objekte auf definierten Bahnen zirkulieren, sondern dass sich Atome und ihre Teilchen in anderen energetischen Beziehungen zueinander bewegen. Visuell beschreibbar ist diese Erkenntnis nur als „Gewoge von Energie“ in „symmetrischen Formen“.

„Bildlich ließe sich dieser physikalische Tatbestand so ausdrücken, dass die Dinge in Wirklichkeit gar keine Dinge, sondern Formen sind. Und diese Einsicht hilft, das tiefe Geheimnis zu lüften, das die Kunst seit Anfang des 20. Jahrhunderts umhüllt. Warum malen moderne Künstler abstrakt? Die Antwort: weil die Wirklichkeit so ist.“ E.P. Fischer (2005)

Künstlern wie Wassily Kandinsky und Vincent van Gogh ging es nicht mehr um die naturgetreue Nachbildung der Wirklichkeit, sondern darum, das subjektiv Wahrgenommene für den Betrachter nachvollziehbar zu machen. Sie versuchten die „Essenz der Wirklichkeit zeitgemäß“ (Fischer 2005) einzufangen und sichtbar zu machen, was nicht unmittelbar sichtbar ist. Ziel war nicht mehr die Reproduktion, sondern die Wirklichkeit auf eine transzendente, und damit abstrahierte Ebene zu heben. Van Goghs spirale Strukturen zur Beschreibung des Himmels in „Sternennacht“ (1889) spiegeln beispielsweise nicht Geistesverwirrtheit wider, sondern die jüngste astronomische Entdeckung der Spiralgalaxien im Kosmos. (vgl. Fischer 2002) Auch die Werke der Kubisten, wie von Pablo Picasso, spiegeln in ihrem geometrischen Aufbau aus Kreisen, Vier- und Dreiecken eine naturwissenschaftliche Errungenschaft wider, nämlich die Haltung Albert Einsteins, alles sei eine Frage der Geometrie. Eine Aussage, mit der die Einsichten der Einstein’schen Relativitätstheorie zusammengefasst werden können. Auch die Begriffe von Zeit und Raum fließen in die kubistischen Werke ein: Ein Bild ist nicht mehr Repräsentant eines bestimmten Zeitpunktes oder einer bestimmten Perspektive, sondern verschiedene Zeitpunkte, Zeitsequenzen und verschiedene Räume sind in einem Werk zusammengefasst und parallelisiert. Das Aufkommen des Mediums Film, der Zeit und Raum durch Schnitt und Montage in ihrer Absolutheit relativiert, förderte diese neuen Ausdrucksweisen. Auch im Tanz gab es zeitgleich Bestrebungen, die Komplexität von Bewegungen zu reduzieren, in dem das tänzerische Repertoire geordnet und im Ausdruck klassifiziert wurde. So entwickelt Oskar Schlemmer sein Triadisches Ballett oder seinen Stäbetanz, bei dem Tänzer und geometrische Formen verschmelzen. (vgl. Fischer 2005)

Bildliches Abstrahieren meint inhaltliches Abstrahieren

Bildliches Abstrahieren bedeutet, dass komplexe Inhalte und Beziehungen auf einfache bildliche Ausdrucksformen reduziert werden. Ziel ist, die kommunikative Botschaft von überflüssigem visuellem Ballast zu befreien, um das Wesentliche konzentriert sichtbar zu machen. Nicht die einfachsten Formen unterstützen dabei die Wahrnehmung, sondern die eindeutigsten. Die Vereinfachung, z.B. durch Schematisierung oder Aufbau auf einem Raster, unterstützt den Gestalter sowohl in seiner Wahrnehmungserfahrung im Prozess des Entwerfens, als auch in der Visualisierung: das Wahrgenommene wird geordnet und die wesentlichen visuellen Elemente und ihre Beziehungen zueinander erkannt. Unter Bildlichem Abstrahieren wird dementsprechend nicht die „Malerische Abstraktion“ verstanden, die die „absolute“, von Inhalten freie Gestaltung meint. Nicht der Prozess zu einer formalistischen Ästhetik ist Inhalt, sondern alleine die Reduktion inhaltlicher und visueller Information auf das kommunikativ Relevante. Abstraktion und Reduktion, im Sinne von Vereinfachung (und keinesfalls Banalisierung!), dienen der Prägnanz. Gekonnt umgesetzt konkretisieren sie die Bildbotschaft und unterstützen die Informationsaufnahme.

Piktogrammserie von Florian Nothegger „Tiere und ihr Nachwuchs“.

Michelangelo antwortete auf die Frage, wie er aus einem simplen Marmorblock eine so beeindruckende Skulptur wie David erschaffen konnte, David sei schon immer in dem Marmorblock gewesen, er habe ihn darin gesehen und nur befreit. Seinen kreativen Arbeitsprozess beschreibt Michelangelo als Freilegen, als Reduzieren von dem, was nicht relevant ist, was nicht zu David gehört. Er sei immer wieder zurück getreten, um den David zu finden, und je mehr Stein er weggenommen habe, desto deutlicher und konkreter sei die finale Skulptur für ihn sichtbar geworden. (Quelle unbekannt)

Visuelles Denken

Das bildliche Abstrahieren ist einerseits eine Visualisierungsmethode, andererseits eine Methode um über das visuelle Denken – über die kreative Praxis – eine Idee zu entwickeln bzw. um einen Inhalt so zu verdichten, dass eine konzentrierte Aussage und damit eine neue Bildidee entsteht. Aber was ist eine Idee? Die „Big idea“ ist kein Musenkuss, sondern harte Arbeit. Gute Ideen zu finden, ist keine göttliche Gabe, sondern Training. Mario Pricken und zuvor schon Werner Gaede und Edward de Bono haben versucht die Prozesse und Denkmuster zu entschlüsseln, die zu einer guten Idee führen können. Intuition oder Kreativtechnik? Das Ergebnis: Es braucht Beides.

Unter ‚visuellem Denken‘ ist der Prozess des Experimentierens mit visuellen Ausdrucksformen zu verstehen, mit dem Ziel in den entstehenden Artefakten eine Idee zu „sehen“, zu erkennen und damit zu finden. Im Dekonstruieren, zeichnerischen Analysieren, im Neu-Kombinieren, Verschieben, Verdrehen und Ausprobieren mit verschiedenen Materialien sowie Werkzeugen werden Hand, Kopf und Herz herausgefordert, neue Inhalte, Bezüge oder Botschaften und damit Ideen zu entdecken.

Kreativtechniken wie Analogiebildungen oder das Herstellen von Paradoxien, die ein Durchspielen verschiedener Denkmuster sind, können diesen systematischen, praktischen Weg der Ideenfindung unterstützen.

Denkmuster: Ad-Absurdum, Analogie und Wortwörtlich („Der Apfel fällt nicht weit von Stamm“).

Bauch über Kopf

Im gestalterisches Prozess werden sehr viele Entscheidungen intuitiv und unbewusst getroffen, vieles auch auf Basis von Automatismen. Der Hirnforscher Ernst Pappel schätzt, dass der Mensch täglich 20 000 Blitzentscheidungen trifft; ich vermute, dass bei kreativ tätigen Menschen diese Zahl noch weit übertroffen wird. Unzählige Mini-Entscheidungen sind zu treffen. Ein Millimeter mehr oder weniger dort, eine Farbnuance heller oder dunkler … das sind noch die einfachsten Entscheidungen. Die Komposition, der Kontrast, das Material, die Botschaft, der Stil usw. erfordern hochkomplexe Entscheidungsprozesse. Die Angst vor Fehlern bzw. die Angst davor, mit dem Entwurf nicht ein bestimmtes Ziel zu erreichen, bringt den kreativen Prozess häufig auf eine falsche Fährte. Auftraggeber, Vorgesetzte und Kollegen wollen zufrieden gestellt werden. Der Kreative will es sich selbst und allen anderen recht machen und wird unklar. Er schwankt zwischen verschiedenen Möglichkeiten hin und her, häufig auch noch bepackt mit Selbstzweifeln: Kopf und Bauch befinden sich im Kriegszustand. Diese Unklarheit öffnet die Tür zu Beeinflussungen und Vorgaben, die dem Kreativpotenzial des Projektes schaden. Statt klare - vielleicht auch polarisierende - Entscheidungen zu treffen, wird ein Kompromiss gesucht. Meist werden die Entwürfe heruntergekocht auf das, was allen recht ist, aber nicht auf das, was als Lösung einer Problemstellung funktionieren könnte. Der Kreative selber kann sich ab diesem Moment zurück lehnen, denn die Verantwortung über das Gelingen oder Scheitern liegt jetzt bei den Anderen. Der Chef trägt die Schuld oder der Auftraggeber ist ein Angsthase.

Das Dilemma von Entscheidungen im Entwurfsprozess ist, dass sie die Zukunft betreffen, die im Augenblick, im Setting des Entwerfens, oft im Nebel liegt.

Um eine gute Entscheidung zu treffen, braucht es das Zusammenspiel von Kopf, Herz und Bauch.

Neurowissenschaftler und Bewusstseinsforscher António Damásio: bei Entscheidungsprozessen sind „somatische Marker“ aktiv, die Szenarien als „gut“ oder „schlecht“ bewerten und entsprechende Reaktionen auslösen: sich einlassen, weitermachen oder stoppen, andere Wege gehen. Das kann ein endloses Suchen sein, das zu immer verwascheneren Ergebnissen führt und Entscheidungen unmöglich macht. Die Kunst im Kreativprozess ist es, zu erspüren, wann ein Weg der Richtige ist und für diesen Weg dann auch eine klare Entscheidung zu treffen - mit allen Konsequenzen. In diesem Entscheidungsprozess bringt das Zusammenspiel von Kopf, Bauch und Herz die besten Ergebnisse. Je komplexer man dabei an eine Problemstellung herangeht, desto besser kann man das Problem lösen. Einseitige Entscheidungen sind meist die schlechtesten. Kopflastigen Entwürfen fehlt der Zugang zu Bauch und Herz des Betrachters.

Das Drehkreuz „Ratio – Intuition – Methode – Emotion“: Das Spannungsfeld im kreativen Prozess.

Die Einflussbereiche, denen GestalterInnen in Prozessen des Wahrnehmens und Gestaltens unterliegen. (vgl. Wagner 1981)

Die visuelle Wahrnehmung:
zur Physiologie und Psychologie des Sehens

Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der visuellen Informationsverarbeitung und um die physiologischen wie psychologischen Funktionsweisen von Auge und Gehirn sind, als theoretische Basis für gestalterische Arbeit, von elementarer Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Wahrnehmungspsychologie, Kognitions- und Neurowissenschaften unterstützen das Verstehen der eigenen Wahrnehmungsmechanismen im gestalterischen Prozess. Die eigene Wahrnehmung wird dadurch sensibilisiert: Unbewusstes Sehen wird zum bewussten, differenzierten Schauen. Darüber hinaus hilft theoretisches Wissen in der praktischen Anwendung Reaktionen des Rezipienten besser verstehbar und ergo eher vorhersehbar zu machen. Wahrnehmung – und somit auch Gestaltung – ist nicht länger spekulativ-intuitiv, sondern wissenschaftlich argumentierbar und nachvollziehbar.

„Um zu sehen, muß man zuerst wissen“ … eine der Hauptthesen des Wissenschaftstheoretikers Ludwig Fleck (1947)

„Wenn man etwas begründen kann, sind die Kunden zufrieden. Das Wichtigste ist nicht der Inhalt, das Wichtigste ist die Begründung dafür.“ (Damm 2004)

Auf den folgenden Seiten sind einige Aspekte der wissenschaftlichen Forschungen um die visuelle Wahrnehmung und ihre Bezüge zum kreativen Schaffensprozess exemplarisch dokumentiert. Es wird gezeigt, dass Reduktion von Information eine Strategie des visuellen Wahrnehmungssystems ist.

„Der Mensch sieht nicht mit dem Auge, sondern mit dem Gehirn.“ (Hubel 1995)

Die Wahrnehmungsforschung geht von unterschiedlichen Ansätzen aus: der physiologische Ansatz stellt die neuronale Informationsübertragung und die genaue Untersuchung der Rezeptoren in den Mittelpunkt. Im psychophysischen Ansatz wird die physikalische Reizinformation betrachtet und wie sie sich, je nach Situation, verändert. So etwa wird das Phänomen des Simultankontrastes untersucht. (siehe Kapitel „Der Kontrast“)

Für den Bereich der Gestaltung ist der kognitive Ansatz von besonderer Bedeutung: Kognitionspsychologen untersuchen die mentalen Prozesse, die die Wahrnehmung beeinflussen wie Erfahrungen, Meinungen, Haltungen, Erwartungen oder Erlerntes. Sie beschreiben Wahrnehmung als Konstruktionsprozess: Das menschliche Gehirn besitzt beispielsweise die Fähigkeit zur Zukunftsplanung d.h. zur mentalen Simulation unterschiedlicher möglicher Wege zu einem Ziel. Dieses Entwerfen von Szenarien als Basis für eine Entscheidungsfindung hat sich evolutionsbiologisch bewährt. Durch das komplexe Zusammenspiel des Episodengedächtnisses, einem riesigen Archiv aus autobiografischen Artefakten, mit anderen Hirnregionen werden Erinnerungen, Erfahrungen, Wissen und aktuelle Wahrnehmungen so miteinander verknüpft, dass die Zukunft in einer Art „mentalen Zeitreise“ konstruiert werden kann. Frühere erfolgreiche Lösungen werden mit dem aktuellen Problem abgeglichen, indem gespeicherte Episoden zerlegt und neu zusammengesetzt werden. Verschiedene Lösungsmöglichkeiten werden zirkulär in Gedanken durchgespielt. Diese Vorgänge, die Vergangenheit und mögliche Zukunft miteinander verknüpfen, laufen unbewusst ab. Sie bilden die wesentliche Basis für kreatives Schaffen.

Vom visuellen Reiz zur Informationsverarbeitung im Gehirn

Die visuelle Wahrnehmung eines Objektes beginnt damit, dass Licht einer bestimmten Wellenlänge vom Objekt ins Auge reflektiert wird. Das visuelle System transformiert dieses Licht als elektromagnetischen Reiz in neuronale Informationen, die umkodiert werden und zum Erkennen des Objektes führen, z.B. zum Erkennen einer bestimmten Form und Oberflächenstruktur. Im visuellen Cortex, dem Bereich des Gehirnes, in dem visuelle Informationen verarbeitet werden, sind zwei Verarbeitungswege für visuelle Reize feststellbar: Lokalisation und Bewegung laufen über den „dorsalen Pfad“, der „ventrale Pfad“ ist zuständig für die Objekterkennung. Eine Vielzahl von Neuronen, die jeweils in Modulen organisiert und auf spezifische Aufgaben spezialisiert sind, verarbeiten die einströmenden Informationen parallel, damit eine schnelle Reaktion erfolgen kann. Die Leistungskapazität dieser Module ist jedoch begrenzt: Den spezialisierten Arealen müssen klar definierte Aufgaben gestellt werden. Diese Eingrenzung bedeutet, dass vorab wesentliche Informationen von unwesentlichen unterschieden und selektiert werden. Diesen Ausleseprozess leistet die Aufmerksamkeit. Auch muss die Verarbeitung koordiniert und synchronisiert werden, z.B. bei der Erkennung eines Objektes in Bewegung: Nicht nur das Objekt muss identifiziert werden, sondern auch die Art seiner Bewegung, d.h. es sind unterschiedliche Verarbeitungsareale aktiviert und miteinander verbunden.

Das Auge als Außenstelle des Gehirnes: Datenübersetzung für die Wahrnehmung.

In der Abbildung ist der physiologische Prozess des Sehens illustriert: Licht wird von einem Objekt reflektiert und fällt auf die Netzhaut. Der Ort des schärfsten Sehens ist die Fovea mit einem verdichteten Bereich von Zäpfchen, die für das Farbensehen zuständig sind. Allerdings sieht der Mensch nur bei entsprechend heller Beleuchtung scharf; für das Helligkeitssehen sind die Stäbchen zuständig. Erstaunlich ist, dass diese Lichtsinneszellen (120 Mio. Stäbchen und 5 Mio Zäpfchen) in nur 1 Mio Ganglienzellen konvergieren, die den Sehnerv bilden und die Informationsleitung zum Gehirn darstellen. Die Anzahl der Pixel einer hochwertigen Digitalkamera (ca. 12 Mio) ist weitaus höher. Es scheint bereits bei der Übertragung der retinalen Information zum visuellen Kortex ein Filter eingebaut zu sein d.h. es findet eine Reduktion der Information bzw. eine Verdichtung der Information statt. (vgl. Karnath, Thier 2012)

Informationsverarbeitung – und damit Erkennen und Verstehen, basiert auf Datenselektion und Datenkompression, auf Vergleichen, Einordnen und Speichern, sowie auf Abrufen und Ergänzen. Grundprinzip der Informationsverarbeitung ist die Reduktion auf möglichst wenig Daten: nur einige wenige Daten – nämlich die relevanten – werden wahrgenommen und gespeichert; nur einige wenige Daten aus dem Wahrnehmungssystem reichen wiederum aus, um diese komprimiert gespeicherten Daten als unbewusste Erinnerung abzurufen und zum Erkennen zu ergänzen. So ist es möglich, aus einer Anordnung von gezeichneten Flächen auf Papier, ein dreidimensionales Objekt abzuleiten, wie einen Würfel. Entscheidend dabei ist allerdings, in welchem Kontext wahrgenommen wird. Der Kontext, d.h. die Situation, in der wahrgenommen wird, hat Einfluss darauf, was an Gedächtnisinhalten und Assoziationen abgerufen wird. Bei einem Würfel ist das bei allen Menschen relativ gleich; bei komplexeren Inhalten kann es zu großen Unterschieden in der Interpretation kommen. Unter Umständen sieht jeder Mensch etwas anderes. Das sollten GestalterInnen natürlich vermeiden: ihre Botschaften sollten klar und unmissverständlich sein. Oder man setzt Doppeldeutigkeiten und unterschiedliche Assoziationsmöglichkeiten ganz bewusst ein, um die Aufmerksamkeit zu lenken.

Komplexes räumliches und bildliches Erkennen trotz Datenreduktion. Links: Vielfalt von Interpretationen möglich.

Bei der Abbildung links könnte vermutet werden, dass sich ein Tier hinter der schwarzen Fläche befindet. Je nach Kontext der Wahrnehmung können aber auch andere Gedächtnisinhalte abgerufen werden, z.B. kann ein Wecker erkannt werden, wenn man gerade noch müde in der Vorlesung sitzt. Automatisch generiert unser Gehirn aus der reduzierten bildlichen Information einen komplexen Sachverhalt. Das „Gesehene“ wird mit „Gehirnmüll“ angereichert: mit Assoziationen, Erfahrungen, kurz zuvor Erlebtem, Orten, Stimmungen, mit der aktuellen Uhrzeit, dem zufälligen Nachbarn. Der Kontext der Wahrnehmung beeinflusst die Interpretation des Gesehenen. Dieses Abrufen von Gedächtnisbildern verläuft vorbewusst und kann willentlich nicht gesteuert werden.

Diese effiziente Funktionsweise des Gehirnes hat dem Menschen in seiner Evolution einen Überlebensvorteil verschafft: Er konnte äußerst schnell auf mögliche Gefahren reagieren. Schon das Entdecken eines Säbelzahntiger-Ohres im dichten Dschungel löste eine Fluchtreaktion aus. Das Detail konnte zum Ganzen interpretiert werden und zwar in Bruchteilen von Sekunden.

Es liegt nahe, dass sich GestalterInnen in der Informationsgestaltung an der Funktionsweise des Gehirnes orientieren sollten – und zwar im Bewusstsein sozialer Verantwortung: GestalterInnen schaffen Medien und damit Möglichkeiten der Erfahrung für RezipientInnen, für Erwachsene wie für Kinder. Jede Erfahrung führt im Gehirn zu einer Veränderung – mehr oder weniger intensiv und nachhaltig. Die synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen, die am häufigsten und am intensivsten genutzt werden, verstärken sich, indem sie Impulse wiederholt weiterleiten: es bilden sich Gedächtnisspuren. Man bezeichnet diese Anpassung der neuronalen Struktur an ihren Gebrauch als Neuroplastizität (auch: Neuronale Plastizität). Die Wege, die nicht genutzt werden, geben entsprechend immer schwächere Impulse weiter. Viel befahrene Wege werden also breiter und tiefer – sie werden faktisch zur Autobahn –, weniger befahrene Wege wachsen mit der Zeit zu. Sprechen, Denken, Lernen, Vergessen, das gesamte Wissen eines Menschen wird so gebildet.

Empirische Untersuchungen belegen eindeutig, dass zwischen hohem TV-Konsum, der verflachte, verarmte Erfahrungen der Realität bietet, und schulischen Problemen bei Kindern ein direkter Zusammenhang besteht. Auch wurde festgestellt, dass Gewalt in Computerspielen „nicht nur passiv konsumiert, sondern aktiv trainiert wird“. (Spitzer 2005) Jede Art von Informationsverbreitung, so auch Werbung, kann Spuren im Gehirn hinterlassen: auch beim „mündigen“ Konsumenten, der sich theoretisch entziehen kann und ganz bewusst unbeeinflusst Kaufentscheidungen treffen möchte. Werbung wirkt – leider – auch dann, wenn man ihr gegenüber kritisch eingestellt ist. (vgl. Spitzer 2005) Das, was einmal gespeichert ist (z.B. weil es häufig gesehen d.h. gelernt wurde), kann durch einen Auslöser abgerufen werden: wurde z.B. durch Werbung ein Produkt „gebrandet“, d.h. dem Konsumten als Gedächtnisbild indoktriniert, kann dies Einfluss auf seine Kaufentscheidung haben: er „erkennt“ das Produkt im Supermarkt, es ist ihm „vertraut“ – und er kauft, weil er es wiedererkennt. Das was er nicht kennt, das was nicht vertraut ist, hat weniger Chancen in den Einkaufswagen zu wandern. In diesem Beispiel sind komplexe Abläufe zwar sehr simplifiziert dargestellt, es beschreibt dennoch ein typisches Konsumverhalten.

Auch die Neurowissenschaft belegt, dass Reaktionsmuster quasi auf Zellebene eingraviert werden. Es sind Neuronenpfade (Gedächtnisspuren) gebildet, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine frühere Reaktion auf einen Auslöser noch einmal und immer wieder in ähnlicher Art wiederholt wird. Die Reaktion auf eine schon einmal erlebte Erfahrung ist der ersten Reaktion sehr ähnlich. Sie läuft gewohnheitsmäßig wie in einem Autopilot-Modus ab und blendet individuelle Unterschiede relativ unreflektiert aus. (vgl. Karnath, Thier 2012)

Selektive Aufmerksamkeit: Regulation der Datenmenge

Unser visuelles Aufmerksamkeitszentrum reduziert durch Fokussierung die einströmende Informationsmenge und reguliert so den Informationsfluss. Es wird dabei unterschieden zwischen der Aufmerksamkeit auf den Raum, bzw. auf die Fläche, und der Aufmerksamkeit, die sich auf spezifische Objekte bezieht. Kemma (2003) führt als Beispiel das aufgeschlagene Buch an: Betrachtet man den Satz- und Seitenspiegel, d.h. die Gesamtheit der bedruckten und unbedruckten Fläche, also den Raum, ist es nicht möglich, ein Wort zu lesen. Richtet man seine Aufmerksamkeit auf den Text, auf die Wortobjekte, sind diese lesbar, der Raum bleibt jedoch im Gesichtsfeld erhalten, wenn auch nicht dominant. Bei tiefer gehender Konzentration alleine auf den Text und dessen Inhalt geht auch die bewusste Wahrnehmung der Umgebung verloren. (vgl. Kemma 2003) Diese beiden zu trennenden Aspekte von räumlicher und objektbezogener Aufmerksamkeit sind bei der Gestaltung zu beachten: Ein Plakat fesselt die Aufmerksamkeit einerseits durch die Wirkung seiner gesamten Fläche (Bildkomposition), andererseits durch spezifische Objekte (Key Visual) wie eine Illustration, ein Schmuckelement, ein Fotomotiv oder eine Headline. Visuell überladene Medien sind meist nur auf die objektbezogene Aufmerksamkeit ausgerichtet, indem eine möglichst große Vielzahl von einzelnen Elementen – oft ohne visuellen oder inhaltlichen Bezug zueinander – in eine Fläche hineingepackt sind; der räumliche Aspekt ergibt sich oft zufällig und ist nicht bewusst gestaltet, was informationsstrategisch problematisch sein kann: Zwischen den einzelnen Formen oder durch ihr visuelles Zusammenspiel können sich übersummenhaft Botschaften entwickeln, die nicht gewünscht sind. (siehe Kapitel „Die Gestaltprinzipien“: das Gesetz der Übersummenhaftigkeit) Häufig werden inhaltlich und visuell überladene Medien als „unprofessionell“ und damit als unglaubwürdig wahrgenommen, was sich auf die Rezeption der wesentlichen Botschaft negativ auswirken kann.

Im Prozess des visuellen Wahrnehmens wird häufig auch unterschieden zwischen der analytischen und der synthetischen