Jeder isst sie, jeder liebt sie: Tomaten. Sie stecken in einer Dose Tomatenmark, in der Soße einer Fertigpizza, in Tomatensaft und Ketchup. Und dennoch wissen wir fast nichts über ihre Produktion. Wo, wie und von wem werden die industriell verarbeiteten Früchte angebaut und geernetet? Zwei Jahre lang ist Jean-Baptiste Malet diesen und anderen Fragen nachgegangen. Seine Suche hat ihn von den Grenzen Chinas über Peking, Kalifornien, Sizilien bis nach Ghana geführt. Er hat mit Bauern, Erntehelfern, Genwissenschaftlern und der italienische Mafia gesprochen. Herausgekommen ist eine faszinierende Reportage, die die komplexen Zusammenhänge und erschütternden Verwerfungen des globalisierten Kapitalismus besser erklärt als jeder Roman.
Jean-Baptiste Malet ist französischer Journalist. 1987 in Toulon geboren, gilt er in Frankreich als Nachwuchshoffnung. Er schreibt für Le Monde diplomatique und Charlie Hebdo und hat bereits zwei Bücher veröffentlicht. Für En Amazonie schlich er sich in Wallraffscher Manier bei Amazon ein. Diese investigative Reportage brachte ihm 2014 den Prix lycéen du livre d’économie et de sciences sociales ein.
JEAN-BAPTISTE MALET
Das
TOMATEN
IMPERIUM
Ein Lieblingsprodukt erklärt
den globalen Kapitalismus
Übersetzung aus dem Französischen
von Norma Cassau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die französische Originalausgabe:
»L’EMPIRE DE L’OR ROUGE«
by Jean-Baptiste Malet
© LIBRAIRIE ARTHEME FAYARD, 2017
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anabelle Assaf, Berlin
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
Einband-/Umschlagmotiv: © ADGP
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-5740-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Die rote Industrie kennt keine Grenzen. Rund um den Globus sind Fässer mit Tomatenkonzentrat in Containern unterwegs. Diese Recherche zeichnet die verkannte Geschichte einer globalen Ware nach.
»Die Welt ist unser Feld.«
Henry John Heinz
(1844–1919)
Im Bus sitzen Arbeiter aus der Vorstadt von Wusu im Norden Xinjiangs, einer Stadt auf halbem Weg zwischen Ürümqi – der Hauptstadt des autonomen Gebiets – und Kasachstan. Der Bus legt etliche Kilometer auf gut asphaltierter Straße zurück, dann durchfährt er trostlose urbane Landschaften und schließlich ein kurvenreiches und staubiges Agrargebiet, bis er in einen unbefestigten Weg einbiegt. Der Bus parkt vor einer Maishecke, hinter der sich über 35 Mu, das sind rund 2,3 Hektar, ein Tomatenfeld erstreckt. Die Parzelle, an der bereits mehrere andere Minibusse parken, besteht aus einem Streifen Land, so lang wie drei Fußballfelder hintereinander.
Man steigt zügig aus. Frauen im Laufschritt ziehen ihr keuchendes Kind hinter sich her. In der anderen Hand halten sie ein mit Blumenschnitzereien am Griff verziertes Hackbeil. Alle beeilen sich, um schnellstens an die Pakete mit den großen Plastiksäcken zu kommen und sich über das Feld zu verteilen. Ist der Stapel mit den Säcken leer, bringt ein Traktor mit Anhänger Nachschub für die Ankömmlinge. Auch dieser neue Stapel ist rasch verschwunden. »Wir müssen uns beeilen«, bemerkt ein atemloser Pflücker. Für einen 25-Kilogramm-Sack bekommt er heute 2,2 Yuan, circa 30 Eurocent, also etwas mehr als einen Cent pro gepflücktem Kilo Tomate.
Die Pflücker tauschen sich kurz aus, nie auf Mandarin, sondern immer in ihrem Dialekt, um den Tagesbeginn zu organisieren, sich in Reihen einzuteilen, eine gute Ausgangsposition zu finden.
Ein junges Mädchen, noch keine vierzehn Jahre alt, ächzt unter einer Last, die womöglich ebenso viel wiegt wie ihr magerer Körper. Sie schleppt auf ihrem zierlichen Rücken einen Stapel Säcke. Sie lässt den Ballen fallen, durchtrennt die Schnüre und macht sich an die Arbeit. Auf dem Feld stehen noch andere Kinder und Jugendliche. Die meisten Landarbeiter stammen aus Sichuan, einer armen Provinz im mittleren Westen Chinas, über dreitausend Kilometer weit weg von diesem Feld hier; der Rest sind Uiguren. Die 150 Pflücker teilen sich in Gruppen von zehn bis zwanzig Leuten auf, die in regelmäßiger Entfernung voneinander an die Arbeit gehen. Viele Frauen und Männer arbeiten allein. Sind sie zu zweit, teilen sie sich die Aufgaben.
Hockend heben die einen ihr Messer über Kopfhöhe und kappen mit einem gezielten Schnitt die Pflanze. Die anderen bücken sich nach den belaubten Zweigen mit den reifen Früchten und schütteln sie energisch. Die Tomaten lösen sich und fallen mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde. Nach und nach ist das Feld grün-rot gestreift. Hier die Anhäufung des Grünzeugs, dort lange rote Linien.
Dutzende von Arbeitern zerhacken buchstäblich mit ihrem Beil die Erde und lassen nicht davon ab, solang eine Pflanze hartnäckig Widerstand leistet; die folgenden sammeln die weggerollten Früchte ein, hockend oder auf den Knien, mit der flachen Klinge oder den bloßen Händen. Jetzt geht es ans Befüllen der Säcke. Das üppige Feld verwandelt sich im Laufe der Stunden in nackte Erde.
Um sich vor der Sonne zu schützen, tragen manche Frauen eine Schirmmütze, über die sie sich noch dicke Lagen Stoff wickeln. Nur wenige unterhalten sich. Lediglich das regelmäßige Schlagen der Beile ist zu hören, das Knistern der Säcke, die sich füllen und umhergetragen werden. In der Ferne hebt plötzlich ein ergreifender, melancholischer Gesang an. Einige sehen kurz auf und werfen einen Blick in die Richtung, aus der die Stimme kommt, aber alles, was man sieht, sind arbeitende, gebeugte Gestalten.
Eine Frau trägt ihren Säugling auf dem Rücken. Sie verausgabt sich in der feuchten, extremen Hitze. Andere Kinder, größere, die aber zum Arbeiten noch zu jung sind, spielen auf dem Feld mit Stöckchen oder Steinen. Sie klopfen mit einem liegen gebliebenen Beil auf der Erde herum, wie ihre Eltern, oder stecken sich ungewaschene, mit weißem Pulver bedeckte Tomaten in den Mund – Tomaten mit Rückständen von Pestiziden. Die Sonne brennt so heiß, dass einige mit nacktem Oberkörper arbeiten. Viele kratzen sich. Auf ihren Gesichtern und Händen sind Rötungen und Anzeichen von Hautkrankheiten zu sehen. Dies ist in dieser Saison nicht ihr erster Tag auf dem Feld.
Der Arbeiter mit der schönen, melancholischen Stimme kommt aus der Provinz Sichuan. Lamo Jise ist 32 Jahre alt und gehört zum Volk der Yi, wie seine Frau. »Wir müssten heute um die 160 Säcke Tomaten [circa vier Tonnen] zu zweit schaffen, meine Frau und ich. Dann bekämen wir etwa 350 Yuan.« Umgerechnet wären das 24 Euro pro Person, für einen Tag härtester Arbeit in sengender Hitze, der erst mit Einbruch der Nacht beendet sein wird. »Mit dem Singen mache ich mir Mut«, sagt er mir.
Li Songmin trägt eine rote Schirmmütze und steht am Feldrand, er überwacht die Ernte. Er ist Produzent, er weiß, dass seine Tomaten noch heute Abend per Lastwagen in einer Fabrik des Unternehmens Cofco Tunhe abgeliefert werden. Was darüber hinaus mit seiner Ware nach deren Verarbeitung passiert, das weiß er nicht. Li Songmin hat das Feld gepachtet. Die Pflücker kennt er nicht persönlich. Weder die Arbeiter aus Sichuan, die heute in der Mehrheit sind, noch die Uiguren: Sie wurden von einem »Personaldienstleister« angeheuert. Der Pächter steht lediglich mit Cofco Tunhe in Verbindung. Das Unternehmen diktiert ihm mittels eines Lastenheftes, welche besonders ertragreichen Sorten von Industrietomaten er anpflanzen soll, und liefert ihm die Saat. Es garantiert ihm den Kauf seiner Ernte zu einem verhandelten Preis. Es besorgt jederzeit Pflücker. Es organisiert den Transport der Tomatensäcke in die Fabrik.
Cofco Tunhe ist das größte Unternehmen für die Verarbeitung von Industrietomaten in China. Global gesehen steht es in der Branche an zweiter Stelle. Cofco, Akronym für China National Cereals, Oils and Foodstuffs Corporation, wird vom Fortune-Magazin in seiner Liste der »Global 500« geführt, einem Ranking der weltweit umsatzstärksten, mächtigsten multinationalen Konzerne. Unter dem Dach des gigantischen chinesischen Konglomerats versammeln sich eine sehr große Anzahl von Gesellschaften, die noch zu Mao Zedongs Zeiten gegründet worden sind, als Cofco das einzige chinesische Staatsunternehmen war, das Lebensmittel ein- und ausführen durfte. Tunhe ist eine Tochtergesellschaft von Cofco, die auf Zucker und Industrietomaten spezialisiert ist. Das Unternehmen besitzt fünfzehn Tomatenverarbeitungswerke. Vier in der Inneren Mongolei und elf in Xinjiang, davon sieben im Norden des autonomen Gebiets und vier im Süden.
Cofco Tunhe beliefert mit seinem Tomatenkonzentrat die größten Multis der Nahrungsmittelindustrie: Kraft Heinz, Unilever, Nestlé, Campbell Soup, Kagome, Del Monte, PepsiCo oder auch die amerikanische McCormick-Gruppe, die weltweite Nummer eins für Gewürze, zu der in Europa noch die Marken Ducros und Vahiné gehören. Cofco Tunhe produziert außerdem jährlich 700 000 Tonnen Zucker, der zum Teil an Coca-Cola, Kraft Heinz, Mars Food und Mitsubishi geht sowie an den chinesischen Milchgiganten Mengniu Dairy, dessen Hauptaktionäre Cofco und Danone sind. Zudem ist Cofco Tunhe einer der weltweit größten Hersteller von Aprikosenpüree.
1,8 Millionen Tonnen Frischtomaten verarbeitet der chinesische Gigant für 250 000 Tonnen Tomatenkonzentrat, was einem Drittel der chinesischen Gesamtproduktion entspricht. Auf Tausenden Tomatenfeldern in Xinjiang, die dem in Wusu ähneln, werden die Tomaten gepflückt und als Rohstoff in über achtzig Länder verschickt.
An der Ernte der für ausländische Multis bestimmten Tomaten sind auch Kinder beteiligt. Sind sie unter zehn Jahre alt, arbeiten sie an der Seite ihrer Eltern. Ab dreizehn oder vierzehn Jahren arbeiten sie selbstständig und allein. »Für uns vom Volk der Han ist das nicht gut, Kinder sollten nicht so hart auf den Feldern arbeiten, aber was sollen wir tun … Diese armen Menschen aus Sichuan haben keine Wahl. Sie haben niemanden, der auf ihre Kinder aufpasst, also müssen die mit«, erklärt Li Songmin, der Produzent, dessen Tomaten nicht in China konsumiert, sondern für den internationalen Markt produziert werden, wo sie als Tomatenkonzentrat von einem der Großen der Lebensmittelindustrie gekauft werden. Es sind diese Tomaten, die in Europa für Pizzen und Soßen verwendet werden.
Hohe Schornsteine heben sich vom grauen Himmel ab, es riecht süßlich, nach gekochten Tomaten. Lange Konvois laut brummender Lastwagen fahren über die Zufahrt auf das Gelände des Verarbeitungsbetriebs, beladen mit von der Sonne aufgewärmten Tomaten. Drinnen herrscht ein geschäftiges Hin und Her von Hubwagen, die blaue Fässer transportieren. Der Betrieb von Changji liegt über zweihundert Kilometer entfernt vom Erntefeld bei Ürümqi. Es handelt sich um das größte Werk der Cofco-Gruppe. So abgenutzt, veraltet und chaotisch das Werk in Wusu ist, so prächtig ist es in Changji. Die Anlage wirkt wie neu, Blumen, die von einem uigurischen Gärtner gepflegt werden, schmücken die nähere Umgebung. Hierher bat mich die Presseabteilung von Cofco Tunhe zum Gespräch.
Dass ich hier bin und dem Hin und Her der Lastwagen auf dem Werksgelände zusehen kann, ist das Ergebnis einer langen Reise. Ich stehe im Herzen einer »Weltfabrik«, die man für gewöhnlich gern vor den Augen neugieriger Fremder schützt. Hier wird keine teure Qualitätselektronik produziert, wie bei Foxconn in Shenzhen, hier wird auch nicht das neueste Apple-Modell hergestellt, bevor es in die Welt verschickt wird. Das hier ist keine robotisierte Hightechanlage, auch keine dieser Fabriken, in denen Dinge oder Möbel im Auftrag einer großen westlichen Marke gemacht werden. Nein, das hier ist eine Fabrik der chinesischen Agrarindustrie, eines Sektors, der bislang nur selten im Fokus der Journalisten und Wirtschaftsanalysten stand. Dabei handelt es sich um einen strategischen Branchenzweig, der Anfang der 1980er-Jahre von der chinesischen Führung mit Beginn ihres diskreten wirtschaftlichen Vorstoßes gezielt als solcher aufgebaut wurde.
China ist das bevölkerungsreichste Land der Erde, es muss mehr als 20 Prozent der Weltbevölkerung mit nur neun Prozent der Ackerböden ernähren. Ein Drittel des Erwerbspersonenpotenzials ist im Agrarsektor beschäftigt, der zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Zwar gehört die Eigenversorgung mit Grundnahrungsmitteln seit Langem zu den obersten angestrebten Zielen der chinesischen Führung, jedoch weist die Bilanz des chinesischen Lebensmittelsektors ein Defizit von 32 Milliarden Euro auf, das dem Import von Soja geschuldet ist sowie dem steigenden Fleischkonsum einer zunehmend urbanen Gesellschaft.
Die Landwirtschaft wird aber zu Unrecht gelegentlich als der »Pannensektor« der chinesischen Wirtschaft dargestellt.1 China ist der größte Produzent von Weizen, Reis und Kartoffeln und der zweitgrößte von Mais und Industrietomaten. Seine Getreideproduktion ist im Laufe der letzten fünfzehn Jahre um 40 Prozent angestiegen. Und wer weiß schon, nur um ein paar Beispiele anzuführen, dass China der größte Exporteur von Apfelsaftkonzentrat, Küchenkräutern, getrockneten Pilzen und Honig ist? Innerhalb von dreißig Jahren hat sich der Agrarsektor von einem traditionellen Modell mit Höfen und lokalen Märkten hin zu einem industriellen System intensiver Landwirtschaft entwickelt, deren Struktur von Industriegiganten vorgegeben wird. China exportiert Elektronik, und ebenso führt das Reich der Mitte nunmehr auch niedrigpreisige Lebensmittel aus, die in aller Welt konsumiert werden.
»Unser Betrieb hat eine Produktionskapazität von 5200 Tonnen Tomatenkonzentrat täglich«, sagt Wang Bo, der seit fünfzehn Jahren in der Tomatenbranche arbeitet. Er ist der Assistent der Geschäftsleitung an diesem Standort. »Die Anlage kommt aus Italien, sie wurde 1995 gebaut und 1999 erweitert. Alles beginnt hier mit der Anlieferung des Rohstoffs beziehungsweise dem Reinigungsprozess der Tomaten.«
Arbeiter mit schweißbedecktem Gesicht stehen auf Metallbrücken über der Rampe, an der die Lastwagen stoppen, auf Höhe des Fahrerhauses, in Richtung der Ladefläche. Kraftvoll packen sie die Halterungen, mit denen die Wasserwerfer ausgerichtet werden. Die rote Masse der Früchte auf der Ladefläche gerät in Bewegung und wird unter dem Druck des Wasserstrahls nach unten weggedrückt. Durch eine Klappe an der Ladefläche fallen die Tomaten in ein Rohr. In einem fort beugen und strecken die Arbeiter ihre Arme, um die Tomaten ins Rohr zu manövrieren. Der Haufen wird kleiner. Die Früchte purzeln in den »Fluss«, wo sie gereinigt und in das Werksinnere gespült werden.
»In diesem Werk produzieren wir nur Tomatenkonzentrat im Fass. Die Tomaten werden mithilfe großer Maschinen verarbeitet«, erklärt Wang Bo weiter. »Schale und Kerne werden entfernt, die Tomaten dann erhitzt und zerquetscht. Das Wasser entziehen wir den Tomaten durch industrielle Verdampfung. Ist das geschehen, füllen wir das Konzentrat in einen sterilisierten Behälter, in dem es sich über lange Strecken transportieren lässt. So können wir unser Konzentrat nach Europa, Amerika, Afrika und Asien exportieren.« Am Ende der Produktionsstraße stapelt ein Arbeiter die blauen metallischen Fässer, immer vier, auf Paletten; ein Förderband transportiert sie zur Abfüllstation; ein weiterer Arbeiter nimmt sie in Empfang und kontrolliert sie, bevor er sie füllt. Er stattet jedes Fass mit einem keimfreien Beutel aus, dann befestigt er die Düse des Abfüllroboters am Einfüllschlauch, drückt auf einer Steuertafel einen Knopf und blickt aufmerksam auf einen Bildschirm. Die Maschine kommt aus Italien. Der 220-Liter-Beutel füllt sich in wenigen Sekunden mit Dreifachkonzentrat. Er schwillt an und passt sich der Form des Metallfasses an. Ist der erste Beutel gefüllt, zieht der Arbeiter den Schlauch vom Abfüllroboter wieder ab. Sodann rotiert die Palette automatisch weiter, und der Arbeiter steht wieder vor einem leeren Fass. Er wiederholt diesen Vorgang, bis alle vier Fässer der Palette gefüllt sind, dann fährt er mit der nächsten Palette fort. »Man braucht nur zehn Minuten, um diese Handgriffe zu lernen. Hier an dieser Station macht man den ganzen Tag die gleichen Handgriffe, oder die ganze Nacht, immer«, erklärt der Mann an der Maschine. Sind die vier Fässer voll, wird die Palette auf einem Band die letzten Meter zum Ausgang der Fabrik befördert. Am Ende der Produktionsstraße, draußen, wartet ein Hubwagen, der die vier Fässer anhebt und zur Verpackungsstation fährt. Dort versiegeln Arbeiter die Fässer mit Metalldeckeln. Sie bringen Aufkleber mit der Bezeichnung der Produktqualität an, dem Grad der Konzentration, dem Produktionsdatum und dem Hinweis auf das Ursprungsland: »Made in China«.
Eine Industrietomate enthält fünf bis sechs Prozent Trockenmasse, der Rest ist Wasser. Doppelt konzentriertes Tomatenmark ist eine Paste, die über 28 Prozent Trockenmasse enthält. Dreifaches Konzentrat enthält 36 Prozent. Folglich benötigt man im Schnitt etwa sechs Kilogramm Tomaten für ein Kilogramm doppeltes Konzentrat – in einer modernen, gut ausgestatteten Fabrik, sonst eher mehr. Die großen Unternehmen der Tomatenverarbeitung bieten eine breite Produktpalette an, die von einfachem, nicht konzentriertem Saft ausgepresster und abgekochter Tomaten über wenig konzentrierte Pasten bis zu hochkonzentrierten Produkten reicht. China hat sich auf die hochkonzentrierten Produkte spezialisiert, denn je höher der Anteil an Trockenmasse in einer Paste ist, desto weniger Wasser enthält sie, und umso günstiger sind die Transportkosten im Verhältnis zur ausgelieferten Trockenmasse.
In der Automobil- und Luftfahrtindustrie sowie in der Software- und Elektronikindustrie kennt man die sogenannten »OEM«, Original Equipment Manufacturers. Diese ausgelagerten Produktionsstätten, »Zulieferer« genannt, bleiben dem Konsumenten in der Regel namentlich unbekannt, liefern aber Einzelteile für die Herstellung eines bestimmten Endprodukts. Diese Zulieferer sind an den globalen Markt angebunden und spielen eine wichtige Rolle für die Herstellung der uns umgebenden Konsumgüter. Da sie in ungeheurem Maßstab produzieren, sind sie äußerst wettbewerbsfähig. In der Nahrungsmittelindustrie ist das nicht anders, auch dort gibt es Zulieferer. Sie produzieren, je nach Nachfrage, Rohstoffe für die multinationalen Konzerne der Lebensmittelindustrie und setzen dabei auf Agrarunternehmen.2 Diese produzieren sämtliche Basisprodukte, die man für die Herstellung standardisierter en masse konsumierter Lebensmittel braucht. Ob ein aus Bestandteilen zusammengesetztes Nahrungsmittel, wie etwa Heinz Ketchup, in China, Europa oder Nordamerika »zusammengesetzt« wird, ist ohne Bedeutung. Von Bedeutung sind die kalifornischen, italienischen oder chinesischen Zulieferer, die sich bei den großen Nahrungsmittel-Multis durchgesetzt haben, und unter ihnen besonders die drei größten Hersteller von Tomatenkonzentrat, die den Markt beherrschen. Marktführer sind demnach die USA, China und Italien, noch vor Spanien und der Türkei.
Der Zulieferer Cofco Tunhe hat seinen Hauptsitz in Xinjiang und ist, was man in der Branche einen »Erstverarbeiter« nennt. Das Unternehmen versorgt mit seinem Tomatenkonzentrat fässerweise die großen Player der Lebensmittelindustrie, die Zweitverarbeiter, die wiederum in ihren Fabriken jene Rohstoffe zusammenbringen, die Teil ihrer Produkte sind. Das Tomatenkonzentrat, die Basiszutat, wird also Tausende von Kilometern entfernt von den chinesischen Feldern in Soßen, Pizzen, Suppen und anderen Gerichten verarbeitet.
Einige Hundert Meter entfernt von den Verdampfern des Cofco-Werks in Changji transportieren Arbeiter die blauen Fässer mit dem noch warmen Industriekonzentrat zum Lager. Dort werden die keimfreien Behälter zu hohen Metallmauern aufgetürmt. Andere Arbeiter holen die für den Export bestimmten Fässer ab und verladen sie auf Anhänger. Per LKW wird das Konzentrat zu den Güterzügen befördert, die an den Bahnhöfen der Umgebung warten, von denen aus es dann Tausende Kilometer durch China gefahren wird, meist zum Hafen von Tianjin, einer großen Stadt nördlich von Peking und letztes Etappenziel vor der langen Reise zu den drei Kontinenten.
»Wir arbeiten für zahlreiche große Lebensmittelunternehmen. Heinz gehört zu unseren wichtigsten Kunden. Wir arbeiten seit rund zehn Jahren eng zusammen: Heinz ist weltweit der größte Abnehmer von Industrietomaten«, erklärt Yu Tianchi mir im Gespräch auf dem Gelände des Betriebs in Changji.
Herr Yu ist leitender Manager von Cofco Tunhe und zuständig für die Industrietomatensparte, weswegen er zu den mächtigsten Leuten der global verzweigten Branche zählt. »Die Verarbeitung von Tomaten ist eine Tätigkeit mit geringer Gewinnspanne, darum kauft Heinz unser Konzentrat«, erklärt Yu weiter. »Heinz kann sich auf diese Weise auf Verarbeitungsprozesse und Produktionen konzentrieren, die eine größere Gewinnspanne bieten. Heinz unterstützt uns sehr, ob es um die Tomatensorten geht, an denen wir gemeinsam arbeiten, um unsere Produktion zu optimieren, oder um die Schulung unserer Produzenten.«
Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist Heinz der größte Abnehmer von Tomaten in der Welt und der größte Hersteller von Ketchup. Das multinationale Unternehmen verfügte bereits 1916 über ein agronomisches Forschungszentrum und Versuchsgärten, die sich der Tomate widmeten. 1920 wurde eine große Gruppe von Wissenschaftlern zusammengestellt und an das Forschungszentrum angebunden. Nur kurz darauf begann die Heinz Company mit dem Bau von Fabriken, die ausschließlich der Verarbeitung von Tomaten für Suppen, Ketchup und Soßen auf Tomatenbasis dienten. 1936 liefen auf Initiative des Unternehmens mehrere große Forschungsprojekte an, die sich mit der Tomate befassten: Ziel war, spezielle Sorten zu züchten, mit denen sich der industrielle Verarbeitungsprozess noch optimieren ließe. Dieser Forschungsprozess dauert bei Heinz bis heute an: Inzwischen ist Heinz Seeds die Nummer eins für Industrietomatensaatgut, noch vor HM.CLAUSE, das zur Limagrain-Gruppe gehört, dem viertgrößten Saatguthersteller, oder Bayer CropScience, einer Sparte des Chemie- und Pharmaproduzenten Bayer, der im November 2016 für 66 Milliarden Dollar Monsanto aufgekauft hat. Die gentechnisch nicht veränderten Hybridsorten von Heinz sind in einer sehr großen Zahl von Produkten enthalten, die überall auf der Welt täglich konsumiert werden. Produkte, die nicht zur Marke Heinz gehören. Die Industrietomatensorten von Heinz werden auf der ganzen Welt gezüchtet, auf allen Kontinenten.