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Der neue Sonnenwinkel
– 13 –

Ein Unfall für die Liebe

Das Leben kann so spannend sein

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-313-6

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Gerda Schulz war wie gelähmt. Sie wusste nicht, was es war, was sich da in ihrem Inneren abspielte – waren es Angst und Entsetzen? Sie hatte keine Ahnung, aber eines wusste sie, sie war nicht allein im Haus!

Sie hatte noch das scheppernde Geräusch in ihrem Ohr, das eindeutig das Indiz dafür war, dass jemand etwas unachtsam heruntergerissen hatte.

Sie konnte jetzt nicht schicksalsergeben darauf warten, was nun kommen würde. Sie war eine Kämpferin und war schon durch mehrere Höllen gegangen. Sie riss sich zusammen, schlich sich leise in die Küche, und dort nahm sie vorsichtig eines der beiden Küchenmesser in die Hand. Mit dem Messer bewaffnet lief sie an den Ort, von dem das Geräusch gekommen war, ins Wohnzimmer. Und richtig, eine große Vase war heruntergefallen, die jemand hier im Haus zurückgelassen hatte und die Leonie unbedingt aufgestellt haben wollte.

Um die Vase war es nicht schade, Gerda fand sie hässlich. Aber sie hatte sicher und fest auf einer Anrichte gestanden, und wenn sie nun zertrümmert auf dem Boden lag …

Gerda blickte sich suchend um.

Es war nichts zu sehen, sie ging zur Diele, lief zur Haustür, die war abgeschlossen. Sie inspizierte die Fenster, alle waren geschlossen, keines war beschädigt.

Gäbe es nicht die zertrümmerte Vase, wären ihr jetzt Zweifel gekommen. Die Scherben sprachen eine deutliche Sprache.

Gerda ging ins Obergeschoss, in den nicht möblierten Zimmern war nichts zu sehen, sie inspizierte ihr spärlich eingerichtetes Schlafzimmer, nichts. Jetzt gab es nur das Zimmer von Leonie. Die Tür war nur angelehnt, Gerda machte die Tür ganz auf, ging hinein und blieb wie angewurzelt stehen.

Mitten auf Leonies Bett hatte es sich eine schwarze Katze mit funkelnden grünen Augen bequem gemacht und sah ihr neugierig entgegen.

Gerda verspürte ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung.

Es gab keinen Einbrecher, es gab niemanden, der ihr Böses wollte.

Eine Katze …

Beinahe hätte sie angefangen hysterisch zu lachen, wenn sie daran dachte, welche Angst sie hatte, welches Entsetzen sie beim Klirren des Glases verspürt hatte.

Eine Katze …

Wie war die ins Haus gekommen?

Wahrscheinlich war sie an Leonie vorbeigeschlüpft, als die das Haus verlassen hatte, um zur Felsenburg zu laufen, oder sie war durch die geöffnete Terrassentür geschlüpft, als Leonie im Garten war.

Für Leonie war es noch immer ganz wunderbar, ihre Umgebung zu ergründen, und sie konnte sich an einer vertrockneten Blume freuen, einer Blume in ihrem Garten!

Leonie platzte beinahe vor Glück, weil sie jetzt ein Zuhause hatte, und Gerda versuchte, kein allzu schlechtes Gewissen zu haben, weil sie ihre Tochter jahrelang durch halb Europa geschleppt hatte, immer beseelt von einem Gefühl der Sicherheit für sie beide, ohne daran zu denken, dass ein Kind ganz andere Bedürfnisse hatte, dass es einen festen Platz in seinem Leben brauchte.

Das war Gerda ganz deutlich geworden, als sie das Entzücken, die Verzückung ihrer Tochter bemerkt hatte beim Aussuchen ihres Prinzessinnenzimmers, ihr Glück und ihre Freude darüber, dass sie den Sonnenwinkel entdeckt und das Haus gefunden hatten. Richtig war, dass Leonie es entdeckt hatte und wie besessen gewesen war. Wäre es nach Gerda gegangen, die hätte sich niemals für den Sonnenwinkel und ein Haus dort entschieden. Für sie hätte es immer so weitergehen können, wie es in all den Jahren gelaufen war.

Ein Haus an einem idyllischen Ort …

Warum alles so gekommen war, warum Leonie es entdeckt hatte. Fragen über Fragen, doch darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken, sondern sie musste sich erst einmal um diese schwarze Katze kümmern.

Ganz langsam näherte Gerda sich dem Bett, sprach dabei beruhigende Worte. Die Katze blieb still und unbeweglich sitzen, ließ sie aber nicht aus den grünen Augen.

Als Gerda das Bett erreicht hatte und nach der Katze greifen wollte, sprang die blitzschnell auf und entwischte ihr.

Sie rannte aus dem Zimmer, und Gerda dämmerte, dass es nicht einfach sein würde, das Tier einzufangen.

Ein wenig merkwürdig war schon, dass die Katze es sich in Leonies Zimmer gemütlich gemacht hatte. Und ein wenig bedauerte sie auch, dass Leonie nicht daheim war. Die hätte an der Katze ihre helle Freude gehabt.

Aber diesen Gedanken setzte Gerda besser nicht fort. Die Katze musste weg!

Und sie musste weg sein, ehe Leonie wieder nach Hause kam.

Dieses Haus im Sonnenwinkel war schon eine ziemliche Herausforderung. Sie hatten dafür wenigstens die nötigsten Möbel kaufen müssen, und das allein schon war für Gerda ein Klotz am Bein.

Nun auch noch die Verantwortung für ein Tier übernehmen? Das ging überhaupt nicht!

In ihr gab es da ganz verschiedene Gefühle, zum einen, dass die Katze verschwinden musste, zum anderen sagte sie sich, dass Leonie sich riesig freuen würde. Die hatte sich schon immer ein Tier gewünscht.

Und war es nicht ein Zeichen, dass diese schwarze Katze einfach so ins Haus gekommen war und es sich ausgerechnet in Leonies Zimmer gemütlich gemacht hatte?

Nein, es war kein Zeichen!

Katzen liefen überall draußen herum, und mittlerweile waren es so viele, dass man ernsthaft überlegte, sie kastrieren zu lassen. Und dagegen hatte nicht einmal der Tierschutz etwas, weil Katzen mehrfach im Jahr Junge bekommen konnten.

Doch auch darüber musste sie sich jetzt keine Gedanken machen, sie ging ins Wohnzimmer, öffnete die Terrassentür in der Hoffnung, die Katze würde hinauslaufen.

Das würde sie bestimmt tun. Entweder war es eine Katze aus der Nachbarschaft oder eine von denen, die draußen herumstreunten.

Es war ein hübsches Tier, das musste Gerda zugeben, doch das änderte nichts daran, dass sie sich wünschte, die Katze würde hinauslaufen, und sie würde es für sich behalten und Leonie nichts davon erzählen. Und deswegen musste sie zuerst einmal die Scherben zusammenfegen, und sollte Leonie etwas sagen, dann konnte sie es auf sich nehmen und ihr erzählen, sie sei gegen die Vase gestoßen.

Wo war bloß die Katze?

Ehe Gerda sich an die Scherben heranmachte, unternahm sie eine weitere Untersuchung der Räume.

Wo war bloß die Katze?

Sie schien wie vom Erdboden verschluckt, und ihre letzte Hoffnung, sie könnte sich wieder in Leonis Zimmer zurück­gezogen haben, erfüllte sich nicht.

Gäbe es die Scherben nicht, hätte Gerda jetzt arge Bedenken bekommen. Und dann ausgerechnet auch noch eine schwarze Katze zu sehen, das war in der Psychiatrie ein bedenkliches Merkmal.

Sie holte einen Handfeger und ein Kehrblech, dann fegte sie die Scherben zusammen und brachte sie in den Müll.

Eine Nachbarin von nebenan grüßte freundlich, setzte sich in Richtung Gartenzaun in Bewegung, Gerda ergriff sehr schnell das Weite.

Vermutlich kannte hier jeder jeden und war miteinander vertraut. Das mochte ja sein, doch sie würde sofort ganz klare Grenzen ziehen.

Dieses Haus, der Sonnenwinkel, das war die Welt ihrer Tochter. Ihre würde es niemals werden, und sie hatte, kaum, dass sie hier lebte, das ungute Gefühl, dass sich etwas über ihr zusammenbraute. Und das war gar nicht gut!

Dagegen musste sie ankämpfen, weil es nur in ihrer Fantasie existierte. Ihr konnte nichts passieren, nicht nach all diesen Jahren!

Gerda fröstelte, und deswegen beschloss sie, sich einen Kräutertee zu kochen.

Während sie in die Küche ging, sah sie sich unentwegt um. Von der Katze gab es keine Spur!

Leonie war ganz aufgeregt, als sie den Hügel hinauf Richtung Felsenburg ging. Diese Ruine zog sie magisch an. Vor allem war sie glücklich, dass ihre Mama sich darauf eingelassen hatte, dass sie allein gehen durfte.

Aber da hatte sie ganz schön reden müssen. Ihre Mutter sah sie immer noch als das ganz kleine Mädchen, das unentwegt beschützt werden musste.

Sie war nicht mehr klein, und hier im Sonnenwinkel musste sie keine Angst haben. Hier in diesem Paradies konnte ihr überhaupt nichts passieren. Sie hatte so sehr das Gefühl, dass das hier der Anfang zu etwas ganz Wunderbarem war. Begonnen hatte es auf jeden Fall superschön, da musste sie nur an ihr Prinzessinnenzimmer denken. Wenn man sich in dieses Bett legte, da kam man sich wirklich vor wie eine Prinzessin. Ach, ihre Mami, die war ja sooo lieb!

Ehe Leonie den Weg hinauf zur Felsenburg einschlug, blieb sie für einen Augenblick stehen, um sich die beiden Häuser anzusehen, eines davon war sehr modern und das andere sah so richtig toll aus, es war beinahe ein Schloss.

Schade, dass sie noch so überhaupt nicht wusste, wer da wohnte. Ob das ein Fürst war oder wenigstens ein Graf?

Es machte nichts, sie waren ja gerade erst angekommen, und sie würde alles herausfinden. Darauf freute sie sich jetzt schon.

Sie wollte gerade weitergehen, als jemand von den Häusern mit seinem Fahrrad heruntergebrettert kam.

Leonie erkannte ihn sofort. Es war der Junge, den sie bei ihrem Haus gesehen hatte.

Neugierig blieb sie stehen.

Das tat der Junge mit dem Fahrrad ebenfalls. Und er blickte nicht minder neugierig drein.

»Hi«, sagte er ganz cool. »Du wohnst jetzt also in diesem Haus.«

Leonie sagte ebenfalls »hi« und nannte ihren Namen. »Ja, ich wohne jetzt mit meiner Mama im Sonnenwinkel.«

»Und jetzt? Was machst du jetzt?«, erkundigte er sich. Leonie erzählte ihm, dass sie hinauf zur Felsenburg laufen wollte, was er für keine so gute Idee hielt.

»Warum nicht?«, wollte Leonie wissen. »Ist es verboten, zu der Ruine zu laufen? Haben die Leute, die da oben wohnen, etwas dagegen?«

Manuel schüttelte den Kopf.

»Nein, zu der Felsenburg kann jeder gehen, und die Leute, die da wohnen, das ist meine Familie, da wohnen mein Papa, meine Stiefmutter, meine Geschwister und Oma Marianne und Opa Carlo.«

Für einen Moment war Leonie beeindruckt.

»Und seid ihr so etwas wie Earls oder so?« Sie erinnerte sich, dass sie nicht in England war und korrigierte sich sofort: »Ich meine Grafen oder Fürsten.«

Manuel lachte.

»Also mein Papa und ich, wir heißen einfach nur Münster, und meine Stiefmutter ist eine geborene von Rieding, aber ich weiß nicht einmal, ob sie das von vor ihrem Namen nur so haben oder ob sie auch einen Titel haben. Weißt du, ein Titel hat in Deutschland nichts zu bedeuten. Das wurde abgeschafft, es ist nur noch der Bestandteil eines Namens. Aber sag mal, wie kommst du auf Earl?«

Leonie erzählte, dass sie zuletzt in England gelebt hatte, was ihn total beeindruckte.

»Cool«, sagte er, »ich war gerade mal mit meinen Eltern in der Schweiz, in Holland, und einmal in Spanien, aber das war im Urlaub, und da waren wir meistens im Hotel oder am Strand.«

Der Junge war richtig nett.

Normalerweise war Leonie nicht so, aber jetzt wollte sie doch ein wenig angeben: »In Spanien haben wir auch gewohnt und in England, Frankreich, Portugal, Schottland und Irland. Irland hat mir am besten gefallen.«

Manuel konnte zuerst einmal überhaupt nichts sagen. Wie sie das sagte, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.

»Ist dein Vater Diplomat?«, wollte er wissen.

Leonie schüttelte ihre roten Locken, dass sie nur so flogen.

»Ich kenne meinen Vater nicht, ich war mein Leben lang immer nur mit meiner Mama zusammen.«

»Und sonst hast du keine Familie?«, erkundigte er sich.

So etwas hatte sie noch niemals jemand gefragt, und deswegen hatte sie sich auch noch niemals zuvor Gedanken darum gemacht.

Merkwürdig!

Sie kannte wirklich nur ihre Mama.

Sie war irritiert, und sie hatte keine Lust, jetzt weiter über ein Thema zu sprechen, von dem sie nichts wusste.

»Ich glaube, ich gehe jetzt weiter zur Felsenburg hinauf«, sagte sie, um abzulenken.

Wieder widersprach Manuel.

»Das ist wirklich keine gute Idee, es ist zu spät, gleich ist es dunkel, und da siehst du dort oben überhaupt nichts.«

Er grinste.

»Weißt du, da oben gibt es nämlich keinen elektrischen Strom. Da kann man nicht einfach Licht anknipsen.«

Schon hatte sie eine heftige Erwiderung auf den Lippen, als er wieder ernst wurde.

»Wenn man zum ersten Mal zur Felsenburg geht, dann sollte man viel Zeit mitbringen, und dann sollten die Lichtverhältnisse stimmen. Es gibt so vieles zu sehen, da befinden sich sogar noch die Überreste einer Folterkammer, und es gibt einen Geheimgang, der aber mittendrin zugeschüttet ist. Und die Legende sagt, dass die Seelen früherer Bewohner dort noch herumgeistern. Das sind bestimmt die, die böse waren und nun keine Ruhe finden.«

Leonie sah ihn zweifelnd an. Das mit den herumgeisternden Seelen war ihr nicht neu, so etwas gab es in Irland und Schottland beinahe überall. Aber hier? Und glaubte er daran? Er sah nicht so aus.

»Wenn du magst, können wir gemeinsam die Ruine erkunden, ganz früher, als ich mit meinem Papa hierher kam, hat es Sandra von Rieding getan, die später meine Stiefmutter wurde.«

»Und deine richtige Mama?«

»Die ist tot, die starb, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, und die Erinnerung an sie verblasst immer mehr. Aber sie hat mir Sandra geschickt, denn ehe die in Papas und mein Leben kam, da lebte eine ganz schreckliche Tante bei uns. Die sind wir zum Glück losgeworden. Und jetzt ist alles gut.«

Manuel gefiel ihr immer besser. Sie glaubte auch an so etwas wie Vorbestimmung, auch wenn sie das Wort dafür nicht kannte. Was Manuel da gerade so entwaffnend gesagt hatte, gefiel ihr, weil sie nämlich auch der festen Meinung war, dass irgendwo irgendwer daran gedreht hatte, dass sie hierher in den Sonnenwinkel gekommen waren.

Er hatte wohl auch keine Lust, dieses Thema zu vertiefen, sondern erkundigte sich: »Was ist, machen wir den Ausflug zur Felsenburg gemeinsam?«

Sie wäre lieber sofort hinaufgegangen, aber vielleicht hatte er ja auch recht. Und jemanden an seiner Seite zu haben, der sich auskannte, das hatte auch etwas.

Sie nickte.

»Ja, dann gehe ich mal wieder nach Hause«, sagte sie.

Das fand er nun überhaupt nicht gut. »Wir können noch ein bisschen quatschen, wenn du magst, dann können wir zu mir nach Hause gehen. Meine Mutter hat bestimmt nichts dagegen. Aber wir können uns auch dort drüben auf die Bank setzen. Da habe ich mich immer mit Bambi getroffen.«

»Bambi, du hast dort ein Reh getroffen, und das ist zu der Bank gekommen?«, erkundigte sie sich und hatte ganz große Augen.

Er lachte herzhaft.

»Nö, Bambi ist eine Freundin von mir, wir sind zusammen aufgewachsen.«

»Und jetzt triffst du dich nicht mehr mit ihr? Habt ihr euch verkracht?«

Beinahe hätte Manuel wieder gelacht, aber das war jetzt leider nicht zum Lachen, auch wenn diese Leonie so komische Fragen stellte.