Stadt der Finsternis
STUNDE DER MACHT
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Bernhard Kempen
Für Kate und Curran ist es so weit: Sie genießen die Freuden der Elternschaft in vollen Zügen und verwöhnen ihren kleinen Sohn, wo sie nur können. Alles scheint in geregelten Bahnen zu laufen. Mit ihrem Vater Roland hat Kate einen zerbrechlichen Frieden geschlossen. Sie weiß, dass dies nicht von Dauer sein wird, aber sie nutzt den Moment zum Durchatmen. Doch als sie eines Nachts von Teddy Jo, einer Reinkarnation des griechischen Gottes Thanatos, zu einem Tatort gerufen wird, ist sich Kate sicher, dass es mit den ruhigen Zeiten vorbei ist: In einem verlassenen Vorort von Atlanta entdecken sie die Überreste von Menschen, die offenbar zu Tode gekocht wurden. Selbst Kate, die bereits viel gesehen und viel erlebt hat, kommt dabei an ihre Grenzen. Es stellt sich heraus, dass sich ein Feind aus uralter Zeit erhoben hat, mächtiger noch als alles, was Kate je kannte, und er ist bereit, die Welt mit allem, was auf ihr lebt, zu zerstören. Ihr läuft die Zeit davon, und jedes Quäntchen Magie ist nötig, um das Böse aufzuhalten … auch wenn das bedeutet, dass sich Kate mit ihrem Vater verbünden und gleichzeitig dessen schändlichen Plänen Einhalt gebieten muss. Es brennt an allen Fronten, und auf Kates Schultern lastet nicht nur das Schicksal Atlantas, sondern auch das all derer, die ihr am Herzen liegen …
Der Schmerz breitete sich von meiner Hüfte in den ganzen Körper aus und zog meine Knochen auseinander. Ich knirschte mit den Zähnen. Er verzerrte mich, bis ich glaubte, ich würde daran zerbrechen und dann aufgeben. Ich ließ mich zurück ins Wasser sinken.
Andrea tupfte mein Gesicht mit einem kühlen Lappen ab. »Fast geschafft.«
Curran drückte meine Hand. Ich drückte zurück.
Über uns an der Decke spiegelten sich die hellen Wellenmuster des Wassers. Hübsch …
»Bleib bei uns«, sagte Doolittle zu mir.
Ich hätte die Augen gern für eine Minute geschlossen. Nur für eine Minute. Ich war so müde.
»Dauert es immer so lange?«, blaffte meine Tante.
»Manchmal«, sagte Evdokia, deren Hand auf meinem Bauch lag.
»Bei mir hat es nie so lange gedauert.«
»Bei jeder Frau ist es anders«, erklärte Andrea ihr.
Eine Wehe erfasste mich. Ich biss die Zähne zusammen. Es fühlte sich an, als würden meine Knochen gespalten. Es ging vorbei, und ich sackte zurück.
»Es sind jetzt schon sechzehn Stunden«, knurrte meine Tante. »Sie ist erschöpft und hat Schmerzen. Tut etwas. Gebt ihr welche von diesen Pillen, von denen eure Zivilisation so begeistert ist.«
»Sie darf keine Pillen nehmen«, erwiderte Evdokia mit ruhiger Stimme. »Dazu ist es zu spät. Das Baby kommt.«
»Gib ihr die Pillen, oder ich töte dich, Hexe.«
»Wenn du ihr irgendetwas gibst, wird es dem Baby schaden«, sagte Andrea.
Das Baby. Ich kehrte aus dem Nebel in die Realität zurück. Wir befanden uns im Hexenwald, in der Höhle mit der magischen Quelle. Ich konnte spüren, wie draußen die Zirkel arbeiteten. Sie hatten die Höhle in eine Decke aus undurchdringlicher Magie gehüllt. Solange sie hielt, würde mein Vater uns nicht finden. Zumindest gingen wir davon aus. Um mich herum schwappte das Wasser der magischen Quelle. Ich lag in der glatten Mulde des Steins, den Kopf erhoben, die Füße in Richtung des Teichs gestreckt. Evdokia stand zwischen meinen Beinen, bis zu den Hüften im Wasser. Doolittle wartete zu meiner Rechten. Es waren viel zu viele Leute hier.
Ein weiterer Krampf erschütterte mich. Der Schmerz fraß an mir.
»Pressen«, sagte Doolittle. »Pressen. Ja, genau so, gut … gut.«
»Du schaffst das«, sagte Curran zu mir. »Komm schon, Baby.«
Ich packte seine Hand und presste. Ein greller Schwall aus Höllenqualen schoss durch mich hindurch, und dann war es plötzlich leichter.
»Noch einmal«, sagte Doolittle.
»Pressen«, drängte Evdokia. »Du kannst es schaffen.«
»Pressen! Noch einmal!«
Ich hatte keine Kraft mehr, aber irgendwo fand ich doch noch welche, presste erneut, und auf einmal fühlte sich mein Körper so leicht an. Der Schmerz breitete sich in mir aus, heiß und beinahe tröstend. Ich blinzelte.
»Glückwunsch!« Evdokia hob etwas aus dem Wasser, und ich sah meinen Sohn. Er war rot und runzlig, mit einem dunklen Haarschopf, und er war das Wunderschönste, das ich jemals gesehen hatte. Er holte tief Luft und schrie.
Curran grinste mich an. »Du hast es geschafft, Baby.«
Meine Tante glitt ins Wasser, wie ein durchscheinender Schatten. Evdokia zerschnitt die Nabelschnur und hielt ihr meinen Sohn hin. Erra nahm ihn entgegen, trug ihn mit reiner Magie, die ihre geisterhaften Arme erfüllte. Ein Machtimpuls schoss durch sie hindurch und dann in das Baby. Für eine Sekunde glühte mein Sohn.
»Er ist von wahrem Blut.« Stolz vibrierte in Erras Stimme. »Seht den Prinzen von Shinar und wisset, dass er vollkommen ist!«
Magie brach über uns aus. Ich spürte es sogar durch die Barriere. Sie zielte wie eine Nadel auf den Schild der Hexen. Mein Vater kam.
Meine Tante zerfiel zu einer Wolke aus reiner glühender Magie. Die Wolke umwirbelte meinen Sohn. Er schwebte im Kokon aus Erras Macht, wurde durch ihre Essenz abgeschirmt.
Die Magie meines Vaters krachte in die Hexenbarriere. Einen qualvollen Sekundenbruchteil lang hielt sie, doch die Nadel grub sich immer tiefer hinein, drückte immer fester. Jeden Augenblick würde er sie durchdrungen haben.
Er würde unseren Sohn nicht bekommen.
Macht schoss in einem konzentrierten Schmerzstrom aus mir hervor. Ich legte all meine Kraft hinein. Meine Macht traf auf die eindringende Magie. Das Wasser des Teichs erhob sich in langen Strähnen und hing dann über dem trockenen Grund in der Luft.
Machtworte kamen von meinen Lippen. »Nicht heute. Niemals.«
Wir rangen miteinander, die Magie vibrierte zwischen uns, die Ströme der Macht wanden sich, als wären sie lebendig.
Die magische Nadel drang weiter vor, angetrieben von Rolands ganzer Kraft.
Ich schrie, aber es war kein Schmerz in meiner Stimme, sondern nur Zorn. Magie strömte in mich, als das Land mir die Energie gab, die ich brauchte, dann stieß ich damit gegen den Eindringling.
Die Nadel zerbrach.
Das Wasser fiel in das Höhlenbecken zurück.
Ich ließ mich sinken. Mein Vater war gescheitert.
Ich war erledigt, völlig erledigt.
Curran sprang ins Wasser. Erra ließ unseren Sohn frei, und Curran fing ihn auf. Meine Tante verwandelte sich wieder. Etwas flog zwischen ihr und Curran hin und her, ein seltsamer Blick, aber ich war zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen.
Curran legte unseren Sohn auf meine Brust. Ich drückte ihn an mich. Er war so winzig. Unglaublich winzig. Ein Leben, das Curran und ich gemeinsam geschaffen hatten.
Curran umfasste mich mit den Händen und hob uns beide zu sich hoch.
»Benenne das Kind«, sagte Erra.
»Conlan Dilmun Lennart«, sagte ich. Der erste Name bezog sich auf Currans Vater. Der zweite kam von Erra. Es war der Name eines antiken Königreichs, und sie hatte gesagt, dass es ihn beschützen würde.
Conlan Dilmun Lennart wand sich auf meiner Brust und weinte. Auf der ganzen Welt gab es keinen schöneren Klang.
13 Monate später
Dumpfe Schläge rissen mich aus dem Schlaf. Ich war mit dem Schwert in der Hand aufgesprungen und in Bewegung, bevor mein Gehirn verarbeitet hatte, dass ich stand.
Ich hielt inne, Sarrat erhoben.
Ein schmaler Strahl aus wässrigem Morgenlicht fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen herein. Die Magie war aktiv. Links von mir, im kleinen Kinderzimmer, das Curran von unserem Schlafzimmer abgetrennt hatte, stand Conlan in seiner Krippe. Er war hellwach.
Außer mir und meinem Sohn war niemand im Zimmer.
Bumm-bumm-bumm.
Jemand pochte gegen meine Haustür. Die Uhr an der Wand verriet mir, dass es zehn vor sieben war. Wir gingen spät zu Bett und standen spät auf, wie es für Gestaltwandler üblich war. Alle, die ich kannte, waren sich dessen bewusst.
»Oh-oh!«, sagte Conlan.
›Oh-oh‹ trifft es genau. »Warte auf mich«, flüsterte ich. »Mami muss sich um etwas kümmern.«
Ich lief aus dem Schlafzimmer, bewegte mich schnell und leise und schloss die Tür hinter mir.
Bumm-bumm-bumm.
Immer langsam mit den jungen Pferden, ich komme ja schon! Und dann bist du mir eine gute Erklärung schuldig.
Ich brauchte zwei Sekunden, um die lange Treppe vom zweiten Stock bis zur verstärkten Vordertür hinunterzusteigen. Ich packte den Hebel, schob ihn zur Seite und öffnete die Metallklappe vor dem kleinen Fenster. Ich blickte in Teddy Jos braune Augen.
»Was zum Teufel machst du hier? Weißt du, wie spät es ist?«
»Öffne die Tür, Kate«, zischte Teddy Jo. »Es ist ein Notfall.«
Es war immer ein Notfall. Mein gesamtes Leben war eine lange Abfolge von Notfällen. Ich entriegelte die Tür und zog sie auf. Er stürmte herein, an mir vorbei. Sein windzerzaustes Haar stand ihm vom Kopf ab. Sein Gesicht war blutleer, und seine Augen blickten wild. Er war mit Höchstgeschwindigkeit hergeflogen.
Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Teddy Jo war Thanatos, der griechische Todesengel. Es war schon einiges nötig, um ihn zu verschrecken. Aber ich fand, dass es in letzter Zeit ohnehin zu still gewesen war.
Ich schloss die Tür und verriegelte sie wieder.
»Ich brauche Hilfe«, sagte er.
»Ist irgendwer in diesem Moment in Gefahr?«
»Sie sind tot. Alle sind tot.«
Was auch immer geschehen war, war bereits geschehen.
»Du musst mitkommen und es dir ansehen.«
»Kannst du mir sagen, worum es geht?«
»Nein.« Er griff nach meiner Hand. »Du musst sofort mitkommen.«
Ich betrachtete seine Hand auf meiner. Er ließ mich los.
Ich ging in die Küche, nahm einen Krug mit Eistee aus dem Kühlschrank und schenkte ihm ein großes Glas ein. »Trink das und versuch dich zu beruhigen. Ich werde mich anziehen und einen Babysitter für Conlan organisieren, und dann gehen wir.«
Er nahm das Glas. Der Tee zitterte.
Ich stürmte nach oben, öffnete die Tür und wäre fast mit meinem Sohn zusammengestoßen. Conlan sah mich grinsend an. Er hatte mein dunkles Haar und Currans graue Augen. Er hatte auch Currans Humor, was mich in den Wahnsinn trieb. Conlan hatte früh laufen gelernt, mit zehn Monaten, was normal für Gestaltwandlerkinder war, und jetzt konnte er schon sehr schnell rennen. Zu seinen Lieblingsspielen gehörte es, vor mir davonzulaufen, sich unter verschiedenen Möbelstücken zu verstecken und Sachen von horizontalen Flächen zu werfen. Umso besser, wenn sie dabei kaputtgingen.
»Mami muss arbeiten.« Ich zog das lange T-Shirt aus, das ich als Nachthemd benutzte, und holte mir einen Sport-BH.
»Baddaadada!«
»Tja, ich wüsste auch gern, wo dein Papa ist. Wahrscheinlich auf einer seiner Expeditionen.«
»Baba?« Conlan horchte auf.
»Noch nicht«, sagte ich und griff nach meiner Jeans. »Er müsste morgen oder übermorgen zurückkommen.«
Conlan stapfte durchs Zimmer. Abgesehen von frühen Laufversuchen und einer recht beängstigenden Kletterfähigkeit waren bei ihm keine Anzeichen zu erkennen, dass er ein Gestaltwandler war. Bei der Geburt hatte es keine Gestaltwandlung gegeben, und er hatte sich bis jetzt noch nie verändert. Mit dreizehn Monaten sollte er sich eigentlich regelmäßig in ein kleines Löwenbaby verwandeln. Doolittle hatte Lyc-V in Conlans Blut gefunden, sogar in großer Menge, aber das Virus war inaktiv. Wir hatten gewusst, dass es eine Möglichkeit war, weil mein Blut den Immortuus-Erreger innerhalb von Sekunden zum Frühstück verspeiste. Curran hatte jedoch gehofft, dass unser Sohn ein Gestaltwandler sein würde. Genauso wie Doolittle. Eine Weile hatte der Heilmagier des Rudels verschiedene Strategien ausprobiert, um die Bestie hervorzulocken. Er wäre immer noch damit beschäftigt, wenn ich dem keinen Riegel vorgeschoben hätte.
Vor etwa sechs Monaten hatten Curran und ich die Festung besucht und Conlan für etwa zwanzig Minuten mit Doolittle allein gelassen. Als wir zurückkehrten, lag Conlan heulend am Boden, während drei Gestaltwandler in Kriegergestalt ihn anknurrten und Doolittle zuschaute. Einen hatte ich durchs Fenster geworfen, einem anderen den Arm gebrochen, bevor Curran mich bändigen konnte. Doolittle versicherte mir, dass unserem Sohn keine Gefahr drohte, und ich teilte ihm mit, dass er sofort damit aufhören würde, unser Baby zu seinem Vergnügen zu quälen. Ich hatte meinen Standpunkt unterstreichen können, indem ich Conlan mit einer Hand an mich drückte und mit der anderen Sarrat schüttelte, die mit meinem Blut bedeckt war. Anscheinend hatten meine Augen geglüht und die Festung des Rudels gebebt. Also wurde gemeinschaftlich entschieden, dass weitere Tests unnötig waren.
Ich brachte Conlan weiterhin zu den vereinbarten Terminen zu Doolittle; auch dann, wenn er hinfiel oder nieste oder irgendwelche anderen Babysachen machte, die mich um sein Leben fürchten ließen. Trotzdem behielt ich alle Anwesenden die ganze Zeit im Auge.
Ich schnallte meinen Gürtel um, schob Sarrat in die Scheide auf meinem Rücken und band mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Und jetzt schauen wir mal, ob deine Tante für ein paar Stunden auf dich aufpassen kann.«
Ich hob ihn auf und nahm die Treppe nach unten.
Teddy Jo ging wie ein Tiger im Käfig vor unserem Hauseingang auf und ab. Ich schnappte mir die Schlüssel für unseren Jeep und marschierte zur Tür hinaus.
»Ich werde dich hinfliegen«, sagte er.
»Nein.« Ich marschierte über die Straße zum Haus von George und Eduardo. Ich würde George eine Torte kaufen müssen, weil sie uns in letzter Zeit so oft als Babysitterin ausgeholfen hatte.
»Kate!«
»Du hast gesagt, dass niemand in unmittelbarer Gefahr schwebt. Wenn du mich hinfliegst, werde ich in mehreren hundert Metern Höhe an einer Spielplatzschaukel hängen, die von einem hysterischen Todesengel getragen wird.«
»Ich bin nicht hysterisch.«
»Gut, dann von einem sehr aufgewühlten Todesengel. Du kannst vorausfliegen und mir den Weg zeigen.«
»Fliegen ist schneller.«
Ich klopfte an Georges Tür. »Willst du meine Hilfe oder nicht?«
Er stieß einen frustrierten Laut aus und stapfte davon.
Die Tür schwang auf, und George erschien. Die hellbraunen Locken umschwebten ihren Kopf wie ein Heiligenschein.
»Tut mir furchtbar leid«, setzte ich an.
Sie breitete die Arme aus und nahm Conlan entgegen. »Wer ist mein Lieblingsneffe?«
»Er ist dein einziger Neffe.« Nachdem Currans Familie gestorben war, hatten Mahon und Martha, die Alphas des Schwer-Clans, ihn wie ihren eigenen Sohn aufgezogen. George war ihre Tochter und Currans Schwester.
»Unwichtig.« George hob ihn mit ihrem gesunden Arm auf. Der andere Arm war ein Stumpf, der wenige Zentimeter über dem Ellbogen endete. Inzwischen war der Armstumpf schon zwölf Zentimeter länger geworden. Doolittle schätzte, dass er sich in drei Jahren vollständig regeneriert haben würde. George ließ sich durch den halben Arm in keiner Weise beeinträchtigen. Sie drückte Conlan einen Schmatzer auf die Stirn. Er rümpfte die Nase und nieste.
»Tut mir wirklich furchtbar leid, aber es ist ein Notfall.«
Sie winkte ab. »Geh nur, geh nur …«
Ich drehte mich um und ging zu Dereks Haus.
»Was jetzt?«, knurrte Teddy Jo.
»Ich hole mir Rückendeckung.« Ich hatte das Gefühl, dass ich welche brauchen würde.
*
Ich lenkte den Jeep über eine überwucherte Straße.
»Er sieht aus, als hätte ihm jemand ein Wespennest in den Arsch geschoben«, stellte Derek fest.
Über uns flog Teddy Jo voraus und drehte ständig scheinbar ziellos in diese und jene Richtung ab. Seine Schwingen waren aus Mitternacht gemacht, so schwarz, dass sie alles Licht schluckten. Normalerweise war sein Flug ein überwältigender Anblick, aber heute bewegte er sich, als würde er versuchen, unsichtbaren Pfeilen auszuweichen.
»Irgendwas hat ihn wirklich sehr aufgeregt.«
Derek verzog das Gesicht und rückte das Messer an seiner Hüfte zurecht. Während seiner Zeit beim Rudel hatte er immer einen grauen Jogginganzug getragen, aber seit er sich offiziell von den Gestaltwandlern Atlantas losgesagt hatte, führte er das normale Leben eines Stadtbewohners. Jeans, dunkles T-Shirt und Arbeitsstiefel waren jetzt seine Uniform. Sein einstmals hübsches Gesicht würde nie mehr wie früher sein, und er gab sich große Mühe, die Rolle des ewig mürrischen und stoischen einsamen Wolfs aufrechtzuerhalten, obwohl der alte Derek immer wieder zum Vorschein kam. Gelegentlich sagte er etwas, und alle lachten.
Im Moment war mir nicht nach Lachen zumute. Alles, was Thanatos aufregte, konnte nur schlimm sein. Ich kannte ihn jetzt seit fast zehn Jahren. Er hatte ein paarmal die Nerven verloren. Zum Beispiel als er einem schwarzen Wolchw ins Gesicht geschlagen hatte, weil man ihm sein Schwert gestohlen hatte. Aber das hier spielte sich auf einem ganz anderen Niveau ab. Er war völlig außer sich.
»Das gefällt mir nicht«, stellte Derek leise fest.
»Glaubst du, das Universum interessiert sich für deine Meinung?«
»Nein, aber es gefällt mir trotzdem nicht. Hat er gesagt, wohin wir fahren?«
»Serenbe.« Ich wich einem Schlagloch aus.
»Nie davon gehört.«
»Eine kleine Siedlung südwestlich von Atlanta. Früher war es ein protziges Wohnviertel für Wohlhabende, das sich selbst als ›urbanes Dorf‹ bezeichnete.«
Derek sah mich blinzelnd an. »Was zum Teufel ist ein urbanes Dorf?«
»Das ist eine hübsche, architektonisch geplante Trabantenstadt in einem malerischen Wäldchen für Leute mit zu viel Geld. Für Typen, die sich ein Millionen-Dollar-Haus bauen, es als ›Hütte‹ bezeichnen und nach draußen spazieren, um mit der Natur eins zu sein. Und dann eine halbe Meile fahren, um zehn Dollar für eine Tasse ganz besonderen Kaffee zu bezahlen.«
Derek verdrehte die Augen.
»Während der letzten paar Jahrzehnte sind alle reichen Leute aus Sicherheitsgründen zurück in die Stadt gezogen, und jetzt lebt da draußen eine Farmergemeinschaft. Die meisten Häuser stehen auf etwa zwei Hektar Land, das als Acker oder Garten genutzt wird. Es ist ganz nett. Wir waren zum Pfirsich-Festival im Juni dort.«
»Ohne mich.«
Ich bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Du wurdest eingeladen. Aber wie ich mich erinnere, musstest du dich ›um etwas kümmern‹, was du dann stattdessen getan hast.«
»Dann muss es sehr wichtig gewesen sein.«
»Hast du schon mal darüber nachgedacht, in einen Umhang oder Mantel zu investieren? Das wäre sehr praktisch, wenn man bedenkt, wie oft du in der Stadt herumrennst und das Unrecht bekämpfst.«
»Ich bin nicht der Mantel-und-Degen-Typ.«
Der Jeep rollte über die Wellen, die von dicken Wurzeln unter dem Pflaster aufgeworfen wurden, wahrscheinlich von den hohen Eichen, die die Straße säumten. Vor der Wende hätten wir ungefähr eine halbe Stunde für diese Strecke gebraucht. Jetzt waren wir schon fast zwei Stunden unterwegs. Wir waren über die I-85 gefahren, was mit dem Verkehr und anderen Problemen etwa neunzig Minuten gedauert hatte, und nun arbeiteten wir uns auf dem South Fulton Parkway nach Westen vor.
»Er landet«, gab Derek bekannt.
»Na prima.«
Vor uns schoss Teddy Jo herab. Für einen Moment hing er als Schattenriss vor dem hellen Himmel, die schwarzen Flügel weit ausgebreitet, die Füße nur wenige Meter über der Straße, ein dunkler Engel, der in einer Zeit geboren war, als die Menschen von ihrem Blut opferten, um ihren Verstorbenen eine sichere Passage ins Jenseits zu erkaufen.
»Angeber«, murmelte Derek.
»Grün steht dir nicht so gut.«
Teddy Jo setzte auf der Straße auf. Er faltete die Flügel zusammen, die sich in einer schwarzen Rauchwolke auflösten.
»Weißt du, was er ist, wenn er fliegt?«, fragte Derek.
»Nein, erhelle mich.«
Derek lächelte. Es war ein sehr kleines Lächeln, das lediglich die Kante eines Reißzahns entblößte. »Er ist eine schöne große Zielscheibe. Man könnte ihn einfach abschießen. Wo will er sich verbergen? Er ist einen Meter achtzig groß und hat die Flügelspannweite eines kleinen Flugzeugs.« Derek gluckste leise.
Man konnte einen Wolf aus der Wildnis holen, aber er würde für immer ein Wolf bleiben.
Ich parkte neben Teddy Jo und öffnete die Tür. Ein Lärmschwall vom Zauberwassermotor schlug mir entgegen.
»Lass ihn laufen«, schrie Teddy Jo im Krach.
Ich schnappte meinen Rucksack und verließ den Jeep. Derek stieg auf der anderen Seite aus und bewegte sich mit geschmeidiger Anmut. Wir ließen den fauchenden Jeep stehen und folgten Teddy Jo nach rechts in eine Nebenstraße.
Die Bäume beschatteten den Weg. Normalerweise war es im Wald still, aber es war der Sommer der siebzehnjährigen Zikaden-Paarung. Alle siebzehn Jahre tauchten die Zikaden in großer Zahl auf und sangen. Der Chor war so laut, dass er alle sonstigen Waldgeräusche übertönte, und er verzerrte Vogelgesang und Eichhörnchengezwitscher zu seltsam erschreckenden Lauten.
Ein behelfsmäßiges Schild am Straßenrand verkündete: BETRETEN VERBOTEN. ANWEISUNG DES SHERIFFS VON FULTON COUNTY.
Darunter stand geschrieben: COY PARKER, WENN DU NOCH EINMAL DIESE LINIE ÜBERSCHREITEST, WERDE ICH DICH PERSÖNLICH ERSCHIESSEN. SHERIFF WATKINS.
»Wer ist Coy Parker?«
»Ein jugendlicher Draufgänger aus der Gegend. Ich hatte mal ein Gespräch mit ihm. Er hat nichts gesehen.«
Etwas an der Art, wie Teddy Jo das sagte, verriet mir, dass Coy Parker seine Nase nicht noch einmal in diese Scheiße stecken würde.
»Warum hat man keine Wachen aufgestellt?«, fragte Derek.
»Personalmangel«, sagte Teddy Jo. »Sie haben fünf Leute für das gesamte County. Und es gibt nicht viel zu bewachen.«
»Worum geht es hier überhaupt?«, wollte ich wissen.
»Du wirst sehen«, sagte Teddy Jo.
Der Weg bog nach rechts ab und brachte uns zu einer langen Straße. Auffahrten zweigten davon ab und führten zu Häusern auf etwa zwei Hektar großen Grundstücken. Hohe Zäune schirmten die Häuser ab, manche aus Holz, manche aus Metall, mit Stacheldraht bewehrt. Hier und dort erlaubte ein gusseiserner Zaun einen Blick in einen Garten. Nachdem die Versorgungsketten durch die Wende zusammengebrochen waren, legten viele Menschen wieder Gärten an. Kleine Farmen wie diese schossen überall rund um Atlanta aus dem Boden, teilweise in der Stadt, aber häufiger noch am Stadtrand.
Es war still. Zu still. Zu dieser Tageszeit hätte man die üblichen Geräusche des Lebens hören müssen: schreiende und lachende Kinder, bellende Hunde, fauchende Zauberwassermotoren. Doch die gesamte Straße war in Stille gehüllt, abgesehen von den lüsternen Zikaden, die um die Wette sangen. Unheimlich.
Derek atmete ein und ging in die Hocke.
»Was ist los?«, fragte ich.
Seine Oberlippe zitterte. »Ich weiß nicht.«
»Such dir ein Haus aus«, sagte Teddy Joe mit ausdruckslosem Gesicht.
Ich wandte mich der nächsten Auffahrt zu. Derek rannte los, in einer Geschwindigkeit, die für ihn einem entspannten Dauerlauf entsprach, für die meisten Leute jedoch ein unglaubliches Tempo war. Ein Wolf konnte seine Beute aus fast zwei Meilen Entfernung wittern. Ein Gestaltwandler prägte sich im Laufe seines Lebens Tausende von Duftsignaturen ein. Wenn Derek irgendeiner Spur folgen wollte, würde ich mich ihm nicht in den Weg stellen.
Ich musterte das Haus. Gitter vor den Fenstern. Solide Wände. Ein guter Nachwendebau: sicher, gut zu verteidigen, ohne Schnickschnack. Ein schmaler Spalt trennte den Rand der stabilen blauen Tür vom Türrahmen. Unverriegelt. Ich drückte mit den Fingerspitzen dagegen, und die Tür schwang an gut geölten Scharnieren auf. Der Gestank von verfaultem Essen hüllte mich ein. Ich trat hinein. Teddy Jo folgte mir.
Das Haus hatte eine offene Raumaufteilung. Die Küche ging nach links ab und ein Wohnzimmerbereich nach rechts. Hinter der Küche und der Kochinsel stand ein Tisch, auf dem jemand die Reste seines Frühstücks zurückgelassen hatte. Ich kam näher. Eine Glasflasche mit Ahornsirup und Teller mit etwas, das Waffeln gewesen sein könnten, waren mit Flaum überzogen.
Keine sprichwörtlichen Anzeichen eines Kampfes. Kein Blut, keine Einschusslöcher, keine Krallenspuren. Nur ein leeres Haus. Eine Straße voller leerer Häuser. Ich hatte ein ungutes Gefühl.
»Sieht es hier überall so aus?«
Teddy Jo nickte. Er war im Türrahmen stehen geblieben, als würde er sich nicht in den Raum wagen. Das Ganze hatte etwas Verstörendes, als wäre die Luft selbst still und fest. Es war ein Todeshaus. Ich wusste nicht, woher ich es wusste, aber ich spürte es genau. Seine Bewohner waren gestorben, und mit ihnen war auch das Herz des Hauses gestorben.
»Wie viele?«
»Die gesamte Trabantenstadt. Fünfzig Häuser. Zweihundertdrei Personen. Ganze Familien.«
Verdammt!
Was konnte so etwas bewirken? Hatte etwas sie genötigt, den Essenstisch zu verlassen und einfach nach draußen zu gehen? Verschiedene Kreaturen konnten Menschen unter ihren Bann zwingen, die meisten von ihnen auf Wasserbasis. Ein brasilianischer encantado konnte wahrscheinlich eine ganze Familie beschwören. Ein starker menschlicher Magier mit telepathischen Fähigkeiten könnte in der Lage sein, vier Menschen unter Kontrolle zu halten, und sie zwingen, seinen Befehlen zu gehorchen. Angenommen, jemand hätte diese Leute aus ihren Häusern geführt. Was dann?
Draußen nahm ich einen tiefen Atemzug. Derek kam herübergeschlendert.
»Was hast du mit dieser Geschichte zu tun?«, fragte ich.
»Ich wurde gerufen«, sagte Teddy Jo.
Aha. Eine griechische Familie hatte zu ihm gebetet, ihm vermutlich ein Opfer dargebracht. In den alten Zeiten wäre es ein Sklave gewesen. Jetzt vermutlich ein Hirsch oder eine Kuh.
»Ich habe das Blut getrunken«, fügte er hinzu.
Ein Pakt war besiegelt worden. Er hatte ihr Opfer angenommen, und das verpflichtete ihn zu einer Gegenleistung.
»Was wollten sie von dir?«
Seine Stimme klang dumpf. »Sie fragten mich, ob ihr Sohn tot sei. Er sollte am vergangenen Sonnabend heiraten. Aber er und seine Verlobte tauchten nicht auf. Die Familie machte sich Sorgen und schaute am Sonntag nach ihnen. Dabei fanden sie das hier vor. Die Familie rief die Sheriffs. Sie kommen heute, um den Tatort zu inspizieren. Deshalb war es nötig, dass wir vor ihnen hier sind.«
»Was ist mir ihrem Sohn?«, fragte Derek.
»Alek Katsaros ist tot«, sagte Teddy Jo. »Aber ich bin nicht in der Lage, seinen Verwandten seine sterblichen Überreste zu übergeben.«
»Warum?« Denn das war seine Aufgabe. Wenn ein Mensch seines Glaubens oder von griechischer Abstammung starb, wusste Thanatos genau, was aus seiner Leiche geworden war.
»Ich werde es unterwegs erklären.«
»Bevor wir gehen«, warf Derek ein, »möchte ich dir noch etwas zeigen.«
Ich folgte ihm zur Rückseite des Hauses. Hinter dem gusseisernen Zaun lag ein pelziger brauner Körper. Ein Schaft ragte aus dem Auge des toten Hundes.
»Fast alle hier hatten Hunde«, sagte Derek. »Und es ist mit allen dasselbe. Mit einem Schuss erledigt.«
Mit Pfeil und Bogen zu schießen war eine erworbene Fähigkeit, die eine Menge Übung erforderte. Einem Hund einen Pfeil ins Auge zu schießen, und das aus einer Entfernung, die groß genug war, dass der Hund nicht beim Anblick oder Geruch eines Fremden ausrastete, war so gut wie unmöglich. Es müsste schon ein einmaliger Meisterschuss sein. Andrea, meine beste Freundin, war dazu in der Lage, aber sonst kannte ich niemanden, der dazu imstande war.
Durch das Tor im Zaun kehrte ich auf das Grundstück zurück. Erdbeerbüsche in ordentlichen Reihen mit den letzten Beeren der Saison, dunkelrot und überreif. Ein kleiner Holzwagen mit einer Puppe darin. Mein Herz zog sich zu einem festen, schmerzenden Klumpen zusammen. Hier hatten kleine Kinder gelebt.
Derek hüpfte über den fast zwei Meter hohen Zaun mit Stacheldraht, als wäre nichts dabei, und landete neben mir. Sein Blick richtete sich auf die Puppe. Ein blassgelbes Feuer legte sich über seine Augen.
Ich ging vor dem Hund in die Hocke, eine große zottige Promenadenmischung mit dem albernen Gesicht eines Labradors. Fliegen umschwärmten den Kadaver und sammelten sich auf dem Blut, das aus der Wunde sickerte und an dem Schaft in der linken Augenhöhle klebte.
Es war kein Armbrustbolzen, sondern ein Pfeil mit Holzschaft und hellgrauer Befiederung. Alte Schule. Pfeile waren keine Kugeln. Ihre Flugbahn war viel stärker gekrümmt. Der Pfeil erhob sich ein kleines Stück und fiel dann, und in Anbetracht der Reaktionszeit des Hundes musste der Schütze etwa dreißig Meter entfernt gewesen sein … mehr oder weniger.
Ich drehte mich um. Hinter mir breitete eine große Eiche gleich außerhalb des Zauns ihre Äste aus.
Derek folgte meinem Blick, nahm quer durch den Garten Anlauf, sprang und verschwand zwischen den Ästen der Eiche. Wenig später kehrte er zurück.
»Menschlich«, sagte er. »Und noch etwas anderes.«
»Was?«
»Ich weiß es nicht.«
Die Haare an seinen Armen sträubten sich. Was auch immer es war, es roch nicht richtig.
»Was für eine Art Geruch ist es?«
Er schüttelte den Kopf. »Eine falsche Art Geruch. So etwas habe ich noch nie zuvor gewittert.«
Gar nicht gut.
Ich warf einen Blick zu Teddy Jo. »Hast du mir noch mehr zu zeigen?«
»Folge mir.«
Wir verließen die Trabantenstadt und liefen zum Jeep zurück. Teddy Jo stieg auf den Beifahrersitz. »Fahr den Parkway weiter.«
Ich tat es.
Die Bogenschützen hatten zuerst die Hunde getötet. Das war das wahrscheinlichste Szenario. Sofern sie Hunde nicht einfach aus irgendeinem merkwürdigen Grund hassten, hatten sie es getan, damit die Tiere nicht bellten. Das passte weniger zu meiner Theorie einer geistigen Beeinflussung. Ein Wesen oder ein Mensch mit der Fähigkeit, den Willen anderer zu bezwingen, hätte sich vermutlich nicht weiter um die Hunde gekümmert.
Ein Kitsune könnte auf seltsame Weise Sinn ergeben. Die Meinungen gingen auseinander, ob Kitsune tatsächlich magische Tiere, Fuchsgeister oder Gestaltwandler waren, aber alle waren sich darin einig, dass sie Ärger bedeuteten. Sie stammten aus Japan, und je älter sie wurden, desto mehr verstärkte sich ihre Macht. Sie konnten Illusionen heraufbeschwören und Träume beeinflussen, und sie hassten Hunde. Aber Kitsune waren körperlich gesehen Füchse und hatten deren unverkennbaren Geruch sogar in menschlicher Gestalt.
»Hast du Füchse gerochen?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete Derek.
Also konnte ich auch diese Theorie vergessen.
Vor uns schnitt eine Straße von rechts durch einen niedrigen Hügel und mündete in den Parkway.
»Bieg hier ab«, sagte Teddy Jo.
Ich bog ab. Der Jeep rollte schlingernd über die Dellen in der alten Straße. Voraus erhob sich ein großes Gebäude, bleich und fensterlos. Im Dach klaffte ein Loch.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Ein altes Auslieferungslager von Walmart.«
Derek riss die Tür auf seiner Seite auf und sprang aus dem Jeep. Ich trat auf die Bremse. Am Straßenrand beugte er sich vor und würgte.
»Was ist los?«, brüllte ich.
»Der Gestank«, stieß er hervor und würgte erneut.
Ich stellte den Motor ab. Die plötzliche Stille war ohrenbetäubend. Ich konnte nichts Ungewöhnliches riechen.
Stille. Wo zum Teufel waren die Zikaden?
Derek kam zum Jeep zurück. Ich warf ihm ein Tuch zu, damit er sich den Mund abwischen konnte.
»Hier entlang.« Teddy Jo lief über die Straße auf das Lagerhaus zu.
Wir holten ihn ein. Er zog eine kleine Dose mit Mentholsalbe aus der Tasche und hielt sie mir hin.
»Du wirst es brauchen.«
Ich rieb mir etwas davon unter die Nase und gab die Dose zurück. Teddy Jo bot sie Derek an, der nur den Kopf schüttelte.
Etwa sieben Meter vor dem Lagerhaus überwältigte mich der Gestank: ölig, scheußlich, mit einer Spur Schwefel, der Gestank von etwas Grässlichem und Verfaulendem. Er drang durch den Mentholgeruch, als wäre die Salbe gar nicht da. Ich hätte mir fast die Hand auf den Mund gedrückt.
»Scheiße.« Derek blieb stehen und würgte trocken.
Teddy Jos Gesicht war eine Maske aus Stein.
Wir gingen weiter. Der Gestank war jetzt unerträglich. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde ich Gift inhalieren.
Wir umrundeten das Gebäude. Eine glänzende Pfütze breitete sich vor uns aus, groß genug, um als Teich durchzugehen. Das Zeug war durchscheinend und gräulich-beigefarben und überflutete den gesamten Parkplatz auf der Rückseite. Irgendeine Flüssigkeit … nein, keine Flüssigkeit. Geleeartig wie eine Schicht aus Agar. Und wo die Sonne im richtigen Winkel auftraf, schimmerte sie leicht, verdunkelt von Klumpen aus etwas Festem.
Ich ging daneben in die Knie.
Was zum Teufel sah ich hier? Etwas Langes, Strähniges …
Dann wurde es mir klar.
Ich wirbelte herum und rannte. Ich schaffte etwa fünf Meter, bevor die Kotze aus mir hervorbrach. Wenigstens war ich weit genug entfernt, um den Tatort nicht zu kontaminieren. Ich würgte alles aus und hustete dann noch ein oder zwei Minuten lang. Endlich ließen die Krämpfe nach.
Ich drehte mich um. Von dieser Stelle aus konnte ich ihn immer noch sehen, den Klumpen innerhalb des festen Gels. Menschliche Kopfhaut, das braune Haar zu einem Zopf geflochten und mit einem rosafarbenen Gummi zusammengebunden. Wie Kinder es trugen.
Die dünne Maske, die Teddy Jo menschlich machte, riss auf. Flügel brachen aus seinen Schultern hervor, und als er den Mund öffnete, erkannte ich Fangzähne. Seine Stimme erweckte in mir das Bedürfnis, mich ganz eng zusammenzurollen. Ich wurde von alter Magie durchflutet und mit schrecklicher Trauer erfüllt.
»Irgendwo da drinnen sind Alek Katsaros und Lisa Winley. Seine künftige Ehefrau. Ich kann ihn spüren, aber er ist über das Ganze verteilt. Ich kann ihn nicht zu seiner Familie zurückbringen. Er ist verloren. Sie alle sind in diesem Massengrab verloren.«
»Das tut mir furchtbar leid.«
Er wandte sich mir zu, seine Augen waren pechschwarz. »Ich kann mit einem Blick die Todesursache erkennen. Das ist meine Natur. Aber das hier verstehe ich nicht. Was ist das?«
Dereks Gesicht sah schrecklich aus. »Ist das Erbrochenes? Hat etwas sie alle gefressen und dann wieder ausgewürgt?«
Ich hatte das ungute Gefühl, dass ich genau wusste, was es war. Ich ging am Rand der Pfütze entlang. In der Mitte, wo es im unebenen Parkplatz eine Mulde gab, die durch Regen und Vernachlässigung eingesunken war, schien sie etwas mehr als einen halben Meter tief zu sein. Ich brauchte vier Versuche, die Pfütze zu umkreisen, hauptsächlich, weil ich immer wieder anhalten und trocken würgen musste. Ich schaute mir die Haarklumpen und einzelnen Fleischstücke an.
Ich hatte schon viel Gewalt und Blut gesehen, aber das hier war etwas ganz anderes. Es stand sehr weit oben auf der Liste der Dinge, von denen ich mir wünschte, ich hätte sie nie gesehen. Vom bloßen Anblick hatte ich Schmerzen in der Brust. Ich schluckte Galle hinunter.
»Wonach suchst du?«, fragte Thanatos mich mit seiner obskuren Stimme.
»Es geht um das, was ich nicht finde. Knochen.«
Er starrte auf das Gel. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Er öffnete den Mund und schrie. Es war ein Laut, den kein Mensch von sich geben konnte, ein scharfes Kreischen, irgendwo zwischen einem Adler, einem sterbenden Pferd und etwas, das ich noch nie zuvor gehört hatte.
Derek fuhr zu mir herum, in seinem Gesicht stand eine Frage geschrieben.
»Es ist nicht das Erbrochene von irgendeinem Monster«, erklärte ich ihm. »Jemand hat sie gekocht.«
Derek zuckte zurück.
Ich brachte kaum die Worte heraus. »Sie wurden gekocht, bis das Fleisch von den Knochen fiel, die man herausgenommen hat, bevor die Brühe hier ausgekippt wurde. Und was auch immer in diese Flüssigkeit gegeben wurde, ist entweder magisch oder giftig. Hier gibt es keine Fliegen und keine Maden. Hier sind nirgendwo irgendwelche Insekten. Ich höre keine einzige Zikade. Alles von diesen Menschen und ihren Kindern ist da drin.«
Derek ballte die Hände zu Fäusten. Er stieß ein raues Knurren aus. »Wer? Warum?«
»Genau das werden wir herausfinden müssen.« Und wenn ich wusste, wer dafür verantwortlich war, würden die Übeltäter sich wünschen, sie wären stattdessen selbst gekocht worden.