Spitze Ungehorsamkeiten
»Wenn die Seele sich mit der Natur
verbindet, erblüht die Phantasie und
trägt der Geist Früchte.«
Henry David Thoreau
Geleitwort
I.
Walden
II.
Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat
III.
Tagebücher und Essays
Die Natur und der Genius im Menschen
Der Mensch unter Menschen
Kunst und Philosophie
Editorische Notiz
»Um Thoreau zu verstehen, ist jeder
reich genug, der fähig ist, sich seines
Menschseins bewußt zu werden.«
Gerhard Gutherz
Henry David Thoreau galt vielen seiner Zeitgenossen als Sonderling: sein Aussehen, seine Ausstrahlung, sein Verhalten, die Art mit seinen Mitmenschen umzugehen. Er wählte für sich einen Lebensweg, der keinem üblichen entsprach. Seine tiefe Naturverbundenheit, die Weigerung sich unkritisch den Gesetzen des Staates zu beugen, seine Art zu leben mussten in der damaligen Gesellschaft als unkonventionell und nonkonformistisch angesehen werden.
Ebendies spiegelt sich in einem Notizbucheintrag des Schriftstellers Nathaniel Hawthorne vom 1. September 1842 wider, in dem er die Eindrücke seiner ersten Begegnung mit Henry David Thoreau notiert hat: »Mr. Thoreau aß gestern mit uns zu Abend. Er ist eine einzigartige Erscheinung – ein junger Mann, in dem noch viel von der wilden, ursprünglichen Natur zu finden ist; und soweit er über Kultiviertheit verfügt, so ist sie von einer ganz eigenen Art und Weise. Er ist hässlich wie die Nacht – lange Nase, schiefer Mund – und legt ein ungeschliffen-rustikales, aber doch zuvorkommendes Betragen an den Tag, das gut mit seiner Erscheinung harmoniert. Aber seine Hässlichkeit ist von einer ehrlichen und liebenswürdigen Art, und steht ihm viel besser als Schönheit. Soweit ich weiß, hat er in Cambridge studiert und ist zuvor in derselben Stadt zur Schule gegangen; aber seit zwei oder drei Jahren lehnt er es ab, sich auf herkömmliche Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen und scheint dazu geneigt, eine Art Indianerleben unter zivilisierten Menschen führen zu wollen – mit Indianerleben meine ich das Fehlen jeglicher planmäßiger Bemühungen um ein Einkommen. Mr. Emerson unterhielt ihn einige Zeit als Mitbewohner, und als Gegenleistung verrichtete Thoreau Gartenarbeiten und andere Aufgaben, die ihm lagen.
Mr. Thoreau ist ein begeisterter und feinfühliger Beobachter der Natur – ein wahrhafter Beobachter – was, wie ich meine, genauso selten ist wie ein wahrhafter Poet; und die Natur scheint ihn zum Dank für die ihr entgegengebrachte Liebe als ihr sonderliches Kind adoptiert zu haben und weiht ihn in Geheimnisse ein, derer teilhaft zu werden sonst nur wenigen anderen erlaubt ist. Er ist vertraut mit Tieren, Fischen, Federvieh und Reptilien und hat einige merkwürdige Geschichten von Abenteuern und freundlichen Begegnungen mit diesen niederen sterblichen Brüdern auf Lager. Kräuter und Blumen, ob sie nun in Gärten oder in freier Natur wachsen, sind gleichermaßen seine Freunde. Er ist außerdem ein intimer Vertrauter der Wolken und kann die Vorzeichen eines Sturms deuten. Ein charakteristischer Zug seiner Persönlichkeit ist, dass er große Achtung für das Andenken der Indianerstämme hat, deren wildes Leben so gut zu ihm gepasst hätte; und sonderbarerweise läuft er selten über ein gepflügtes Feld, ohne dass er einen Pfeil, eine Speerspitze oder ein anderes Relikt der Indianer findet, so als ob ihre Geister ihn zum Erben ihres einfachen Reichtums auserkoren hätten.«
Wie Hawthorne andeutet, ließ sich der Sohn eines Bleistiftfabrikanten am Harvard College in Klassischer Philologie ausbilden und verdingte sich danach gelegentlich als Lehrer, Landvermesser oder Handwerker – aber nie länger als ein paar Wochen am Stück. So blieb ihm immer genug Zeit, um dem nachzugehen, was Thoreau längst als seinen wahren Beruf erkannt hatte: Das, »was die von keinem anderen Gedanken als dem nach Geld und gesellschaftlichen Ehren geplagte Welt mit Geringschätzung Nichtstun nennt, und das bei Menschen von inneren Entwicklungsmöglichkeiten in Wirklichkeit erst ernste Tätigkeit bedeutet. Dieses Nichts-Marktgängiges-Tun ist ganz allein der Boden, auf dem sich die wahrhaft bedeutenden Taten des Geistes entfalten. Er widmete sich jener Muße, die er dem verödenden Hasten und Jagen nach fiktiven Werten entgegenstellt. Er wird nicht müde, sie in den leuchtendsten Farben zu preisen und auf die ungeahnten Reichtümer hinzuweisen, die sie in ihrem Schoße birgt.« (Gutherz)
Henry David Thoreau war niemand, der mit dem Strom schwamm. Er ging seinen eigenen Ideen und Überzeugungen nach – und die verliefen abseits der rasant vorwärtsschreitenden Industrialisierung, des Konsumwahns und der Besitzanhäufung hin zu einem bewussten Leben im Einklang mit der Natur. Vor allem aber fand der Naturphilosoph, Bürgerrechtler und Schriftsteller, dass ein Denker nicht nur Theorien aufstellen und über sie reden, sondern diese auch praktisch anwenden und leben sollte. Thoreau machte dies vor, indem er sich mit 28 Jahren am 4. Juli 1845 aufmachte, um für zwei Jahre in den einfachsten Verhältnissen am Waldensee, in der Nähe seiner Geburtsstadt Concord zu leben. Er zog sich auf ein Waldgrundstück seines Freundes zurück, des Philosophen Ralph Waldo Emerson, um dort in einer selbstgebauten Hütte naturnah und weitestgehend ohne gesellschaftliche Zwänge zu leben – »ein Experiment«, wie er es nannte. Das Ergebnis war sein bekanntestes Werk Walden – ein Plädoyer für ein selbstbestimmtes Dasein und ein Leben im respektvollen Einklang mit der Natur.
Schon früh begann Thoreau seine Beobachtungen und Wahrnehmungen zu verschriftlichen, in Form von Tagebüchern, Essays, Artikeln – und im Falle von Walden in Form eines knapp 500-seitigen Berichts: Inspiration und gedanklicher Anstoß für viele Teilzeit-Aussteiger. Während seiner Zeit am Waldensee lebte Thoreau gemäß seiner wichtigsten Maxime – »Einfachheit« –, ohne Überfluss und Luxus, ohne die zahlreichen technischen Neuerungen, ohne aufwendig hergerichtete Mahlzeiten und andere Bequemlichkeiten – und findet sich zufrieden, ist Herr seiner selbst, jagt nichts hinterher, was keinen wahren Wert darstellt. Stundenlang kann er dasitzen und Pflanzen und Tiere beobachten. Nach kürzester Zeit lernt er die Vorgänge und Zyklen der Natur kennen und sich an ihrer natürlichen Schönheit zu erfreuen. Die Aufenthalte im Freien sind seine Inspirationsquelle: »Die Menschen schränken mich ein. Die Natur aber ist Freiheit« (Thoreau). Thoreau-Kenner Gerhard Gutherz schreibt dazu: »Der Boden, in dem Thoreaus Fühlen und Denken wurzelt, die Kuppel, die sich über seinen Tagebüchern wölbt – und was für die Tagebücher gilt, gilt im großen und ganzen für alle seine Schriften – ist die Natur. ›Natur‹ ist das Wort, das auf jeder Seite wiederkehrt, das immer und immer wieder an unser Ohr schlägt, kräftig betont und flüchtig vorübergleitend, in tausend Verbindungen […]. Obgleich er von ihr mit der größten Zärtlichkeit spricht und in dem vollen Herzen, das für sie schlägt, Worte von so innigem Klang findet, daß neben seinem eines jeden anderen Hymnus und Preis auf sie wie dürre Rhetorik klappert, ist doch in seinen Ausdrücken nichts von knabenhafter Schwärmerei zu spüren. Seine Beziehung zur Natur ist die Liebe eines Mannes, der seine Liebe erwidert weiß. Er hat es nicht nötig, sich nach ihr zu sehnen, denn sie wohnt so selbstverständlich in ihm, wie er in ihr.« (Gutherz)
Thoreaus schillernde, aufmerksame Gedanken zur Natur sensibilisieren und entschleunigen. Sie treten unverstellt, aufrichtig und eindringlich aus seinem Innern aufs Papier und dem Leser vor Augen: »Die einzige Möglichkeit, wahr zu sprechen, ist: mit Liebe sprechen. Der Intellekt sollte nie sprechen; er bringt keinen natürlichen Ton hervor.« (Thoreau)
Thoreau hat die Gabe, »die drückende Welt des Alltäglichen in den Garten Eden zu verwandeln« und den Leser »für einen glücklichen Augenblick den Zauber der Wirklichkeit« wieder spüren zu lassen (Gutherz).
Seine Prämisse, die eigenen Überzeugungen nicht nur Theorie sein zu lassen, sondern ihnen im Handeln Folge zu leisten – denn seiner Ansicht nach müssen Leben und Gedanken eines Menschen eine Einheit bilden – setzte Thoreau auch in politischer Hinsicht um. Er weigerte sich, die Kopfsteuer zu zahlen, weil er sich nicht als Untertan des Staates sah, ihm keine Unterstützung zukommen lassen wollte und die ungerechte Art und Weise seines Operierens entschieden ablehnte. Er unterstützte 1859 öffentlich den Abolitionisten John Brown, der aufgrund seiner unerbittlichen Einsätze und Kämpfe für die Abschaffung der Sklaverei letztlich zum Tode verurteilt wurde. Er kritisierte den Konsumwahn, die sinnlose Fixierung auf Materielles, das unkritische, passive Unterstützen der Regierung, die Versklavung der Menschheit durch Arbeit. Thoreau wurde v. a. durch seine Schrift Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat zum Vorreiter der gewaltfreien Proteste und Verfechter des zivilen Ungehorsams. Sein Denken beeinflusste den gewaltlosen Widerstand Mahatma Gandhis, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, die Hippie-Bewegung, das Aussteigertum und den Minimalismus. In seiner Gesellschaftskritik ist er bis heute vielzitiert und hochaktuell.
Obwohl Thoreaus Ideen solch immense Bedeutung und wertvolle Inspiration in sich tragen, fand sein Werk erst nach seinem Tod eine gebührende Anerkennung – Walden ist heute zum Klassiker avanciert und der Inhalt von Thoreaus Schriften zum festen Bestandteil des amerikanischen Gedankenguts geworden.
Der amerikanische Schriftsteller und Pädagoge Amos Bronson Alcott drückte 1859 in seinen Journals seine Bewunderung für Thoreau und dessen bemerkenswerte Fähigkeiten aus: »Ich halte ihn für einen geborenen und genialen Naturalisten – wie ich sonst niemanden kannte –, der, auf seinen Instinkt vertrauend, sieht und urteilt. An Thoreau finde ich bemerkenswert, dass er die Dinge individuell und für sich erkennt, nie kollektiv oder als Gruppe, als ein Ganzes, so wie es ein Künstler tut. Die Natur existiert für ihn gesondert und individuell. Er theoretisiert nie; er sieht bloß und beschreibt; gewissermaßen mythologisch, mit einem ihm eigenen siebten Sinn, der ihm die Gedanken aus seiner Stirn springen und jede seiner Seiten eine Schöpfung werden lässt. Seine Fantasie ist immer die Ergänzung seines Verstandes und vollendet sogar die Natur in ihrer Bedeutung.« Und so muss man sich bei der Lektüre von Thoreaus Schriften vor Augen halten, dass er sich nie zum Ziel gesetzt hat, seine Anschauungen in starre Schemata zu pressen und zu definieren – Thoreau war kein Theoretiker. Seinen intuitiven Beschreibungen haftet immer der Hauch dessen an, was er gerade sah oder tat. Thoreau erreicht in seiner direkten und ehrlichen Art jeden. Denn was er zu Papier bringt, sind seine eigensten Empfindungen und Erlebnisse: »die Blüten eines Menschendaseins« (Gutherz).
Dies sollen die hier ausgewählten und zusammengetragenen Gedankensplitter, Aphorismen und Aussprüche aus seinen Tagebüchern, Essays und Walden deutlich machen.
Henry David Thoreau hat sich von seinen Träumen leiten lassen und fordert seine Leser auf, dasselbe zu tun.
Anna Schloss
Die meisten Menschen, selbst in unserm verhältnismäßig freien Land, sind aus lauter Unwissenheit und Irrtum so sehr durch die unnatürliche überflüssige, grobe Arbeit für das Leben in Anspruch genommen, daß seine feineren Früchte von ihnen nicht gepflückt werden können.
Tatsächlich hat der arbeitende Mensch Tag für Tag keine Muße zu einer wahren Integrität; er kann die Zeit nicht aufbringen die menschlichsten Beziehungen zu den Menschen zu unterhalten; seine Arbeit würde auf dem Markte im Werte sinken, er hat keine Zeit etwas anderes zu sein als eine Maschine.
Die schönsten und feinsten Eigenschaften unserer Natur können, wie der duftige Hauch, der auf den Früchten liegt, nur durch die zarteste Behandlung erhalten bleiben.
Die öffentliche Meinung ist, mit unserer eigenen Privatmeinung verglichen, ein schwächlicher Tyrann. Das, was der Mensch von sich denkt, das bestimmt sein Schicksal oder weißt ihm den Weg.
Als ob man die Zeit totschlagen könnte, ohne die Ewigkeit zu verletzen.
Die große Masse der Menschen führt ein Leben voll stiller Verzweiflung. Was man so Resignation nennt, ist bestätigte Verzweiflung.