Über das Buch
Siehst du die schöne Seite der Dunkelheit? Sie fühlt sich an wie der Kuss eines Schatten. Sie ist eine Berührung, so sanft wie Mondlicht. Sei ganz still, dann fühlst du ihn auch – den Glanz der Dunkelheit. Lias Zukunft könnte so einfach sein. Rafe wünscht sich nichts mehr, als sie zur Königin an seiner Seite zu machen. Doch Lia spürt, dass andere Aufgaben auf sie warten. Sie muss ihrem Heimatland zu Hilfe eilen. Für Morrighan würde sie notfalls auch in die Schlacht ziehen. Während sie Rafe schweren Herzens zurücklässt und einer ungewissen Zukunft entgegenreitet, quälen sie viele Fragen. Kann sie es schaffen, den drei Königreichen Morrighan, Venda und Dalbreck endlich Frieden zu bringen? Wie soll sie im Kampf gegen ihren Gegenspieler, den Komizar von Venda, bestehen? Und wird es für Rafe und sie eine Zukunft geben? Das große Finale der erfolgreichen Saga von Mary E. Pearson.
Über die Autorin
Mary E. Pearson hat bereits verschiedene Jugendbücher geschrieben. Der Kuss der Lüge, Auftaktband der Chroniken der Verbliebenen, ist der erste ihrer Titel, der auf Deutsch erscheint. In den USA hat sie damit in Bloggerkreisen geradezu einen Hype ausgelöst. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in Kalifornien.
MARY E. PEARSON
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Barbara Imgrund
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der englischsprachigen Originalausgabe:
»The Beauty of Darkness«
Teil II
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Mary E. Pearson
Map Copyright © 2016 by Keith Thompson
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Julia Przeplaska, Ingolstadt
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau nach einem Entwurf von Jeannine Schmelzer
unter Verwendung eines Umschlagdesigns by Rich Deas;
© 2016 by Jonathan Barkat
Umschlagmotive: © shutterstock: Nejron Photo | Alessandro Guerriero |
Luis Louro und © CanStockPhoto
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5701-1
luebbe.de
lesejury.de
Für Ava, Emily und Leah
und die Sterne, die ihr berühren werdet
Erzähl eine Geschichte, Gaudrel.
Erzähl eine Geschichte, um sie zu beruhigen.
Der Stamm hält Wache, mit schweren Stöcken als einziger Schutz gegen die Plünderer.
Ich höre den Starken rufen. Er will die Kleine.
Die Kinder weinen und wimmern.
Still!
Kommt zusammen, Kinder.
Hört zu.
Es war einmal ein großer Drache,
Er fauchte und spie Feuer, aber da war auch eine Prinzessin,
Eine Prinzessin wie jede von euch, und sie war stärker,
damals, vor all dieser Zeit …
Damals.
Ein Schritt. Ein Tag. Noch eine dunkle Nacht. Und eine Reise, die uns dorthin führen wird.
Das ist meine Hoffnung, und ich versuche, sie zu der ihren zu machen, denn das ist alles, was ich ihnen geben kann.
Gaudrels Vermächtnis
SCHATTEN TANZTEN über den Weg wie Gespenster, die uns warnen und verjagen wollten. Ich sah in die Bäume hinauf, die uns umringten und deren schwere Äste sich im Wind wiegten, und ich lauschte dem Flüstern der Brise, die durch ihre belaubten Finger fuhr. Ein Zischen.
Doch nichts konnte uns nun noch aufhalten.
Wir waren auf einem Nebenpfad nach Terravin gelangt und hatten die obere Straße gewählt, die zu Berdis Schenke führte. Da Terravin auf dem Weg nach Civica lag, hatten wir beschlossen, dort einen Halt einzulegen. Endlich würden wir ein Bad nehmen und unsere Kleider waschen können; sie stanken nach Rauch, Schweiß und wochenlangem Unterwegssein. Selbst der kleinste Hauch Körpergeruch könnte Aufmerksamkeit erregen, und das konnten wir nicht brauchen.
Doch was noch wichtiger war: Ich schuldete Pauline und den anderen einen Besuch, um sie nach all den Monaten wissen zu lassen, dass es mir gut ging. Auch hatten sie vielleicht Neuigkeiten zu berichten, die nützlich waren – vor allem Gwyneth mit ihrem Netzwerk aus fragwürdigen Kontakten.
Kaden zügelte sein Pferd. »Vielleicht sollte ich mich zurückfallen lassen?«
Ich sah ihn verwirrt an. »Warum jetzt noch? Wir sind fast da.«
Er rutschte unbehaglich auf seinem Sattel herum. »Damit du Pauline sagen kannst, dass ich mitgekommen bin. Du weißt schon – damit sie vorbereitet ist.«
Zum ersten Mal meinte ich, so etwas wie Furcht in Kadens Gesicht zu entdecken. Ich lenkte mein Pferd näher zu ihm. »Hast du etwa Angst vor Pauline?«
Er runzelte die Stirn. »Ja.«
Ich saß verblüfft da und wusste nicht, was ich auf sein Eingeständnis erwidern sollte.
»Lia, sie weiß jetzt, dass ich Vendaner bin, und mit den letzten Worten, die ich zu ihr gesagt habe, habe ich ihr den Tod angedroht – und dir auch. Das hat sie bestimmt nicht vergessen.«
»Kaden, du hast auch Rafe bedroht. Aber vor ihm hast du keine Angst.«
Er sah weg. »Das ist etwas anderes. Rafe konnte ich noch nie leiden und er mich genauso wenig. Pauline dagegen ist unschuldig und …« Er unterbrach sich kopfschüttelnd.
Ja, sie war unschuldig. Und früher hatte sie große Stücke auf ihn gehalten. Ich hatte die Freundlichkeiten gesehen, welche die beiden ausgetauscht hatten, und wie leicht sie ins Gespräch gekommen waren. Zu erleben, wie sich ihre einstige Wertschätzung für ihn in Hass verkehrte, war vielleicht der Tropfen, der für Kaden das Fass zum Überlaufen brachte. Das hatte er bereits bei Natiya durchgemacht, die ihm gegenüber noch immer reserviert, wenn auch inzwischen wieder höflich war. Sie würde niemals den Überfall der Vendaner auf ihr Lager vergessen, und auch nicht, dass er einer von ihnen war. Es sah so aus, als wäre Kaden in derselben Lage wie ich – es gab nur eine Handvoll Menschen auf dem Kontinent, die ihn nicht tot sehen wollten. Ich erinnerte mich an das Entsetzen in Paulines Augen, als Kaden uns ins Gebüsch gezerrt hatte, und dann an ihr Flehen, uns gehen zu lassen. Nein, sie hatte das wohl kaum vergessen, aber ich betete, dass das Entsetzen jenes Tages in all den langen Monaten nicht zu Hass herangewachsen war.
Kaden setzte seine Feldflasche an und trank den letzten Schluck. »Ich will einfach nur keine Szene in der Schenke riskieren, wenn sie mich sieht«, fügte er hinzu.
Doch es war mehr als nur Bedenken wegen eines Tumults, und wir beide wussten das. Seltsam, dass ihn die bloße Vorstellung von der Begegnung mit einem so harmlosen Menschen wie Pauline aus der Fassung brachte.
»Wir gehen durch die Küchentür hinein«, sagte ich, um ihn zu beruhigen. »Pauline ist vernünftig. Sie wird es verstehen, wenn ich es ihr erkläre. Bis dahin werde ich mich zwischen dir, ihr und den Küchenmessern platzieren.« Ich machte diesen Scherz, um ihn aufzuheitern, aber er lächelte nicht.
Natiya schloss zu mir auf. »Und was ist mit mir?«, fragte sie. »Soll ich dir helfen, den ängstlichen Attentäter zu beschützen?« Sie sagte es so laut, dass auch Kaden es hörte, und ihre Augen funkelten vor Schadenfreude. Kaden warf ihr einen warnenden Blick zu, sie möge gut achtgeben, wie weit sie es trieb.
Mein Herz pochte heftig vor Vorfreude, aber sobald die Schenke in Sicht kam, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Angst breitete sich wie ein Buschfeuer unter uns dreien aus. Selbst Natiya spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, obwohl sie noch nie hier gewesen war.
»Was ist los?«, fragte sie.
Es war so leer. Still.
Vor dem Haus waren keine Pferde angebunden. Weder Gelächter noch Gespräche drangen aus dem Schankraum. Es gab keine Gäste, und dabei war es Essenszeit. Unheilvolles Schweigen hüllte die Schenke ein wie ein Leichentuch.
Ich sprang vom Pferd und lief die Stufen zum Eingang hinauf. Kaden war dicht hinter mir und rief, ich solle stehen bleiben, wir müssten vorsichtig sein. Ich stieß die Tür auf – nur um sämtliche Stühle fein säuberlich auf den Tischen aufgestapelt zu sehen.
»Pauline! Berdi! Gwyneth!« Ich durchquerte den Speisesaal mit großen Schritten und öffnete die Küchentür so heftig, dass sie gegen die Wand knallte.
Ich erstarrte. Enzo stand am Hackklotz, ein Beil in der Hand. Ihm stand der Mund so weit offen wie dem Fisch, dem er gerade den Kopf abschlagen wollte.
»Was ist hier los?«, fragte ich. »Wo sind alle?«
Enzo blinzelte und fasste mich ins Auge. »Was machst du hier?«
Kaden zog seinen Dolch. »Leg das Beil hin, Enzo.«
Enzo sah auf das Beil hinunter, das er noch immer in der Hand hielt, zunächst überrascht, dann entsetzt, es dort zu entdecken. Er ließ es fallen, sodass es klirrend auf den Hackklotz traf.
»Wo sind alle?«, fragte ich wieder, diesmal mit drohendem Unterton.
»Weg«, antwortete er und winkte Kaden und mich mit zitternder Hand an den Küchentisch, um es uns zu erklären. »Bitte«, fügte er hinzu, als wir uns nicht rührten.
Wir zogen Stühle heran und setzten uns. Kaden hielt seinen Dolch weiterhin gezückt. Aber als Enzo mit seinen Ausführungen fertig war, stützte ich den Kopf in die Hände und konnte nur noch auf den Holztisch starren, an dem ich so viele Mahlzeiten mit Pauline zusammen eingenommen hatte. Sie war vor Wochen aufgebrochen, um mir zu helfen. Genau wie die anderen. Ich konnte das Ächzen in meiner Kehle nicht zurückhalten. Sie hielten sich im Herzen Civicas auf. Blanke Angst packte mich.
Kaden legte mir die Hand auf den Rücken. »Gwyneth ist bei ihr. Das ist doch schon etwas.«
»Und Berdi«, ergänzte Enzo. Aber beides schien meine Befürchtungen nur zu bestätigen. Pauline war gutgläubig – und wurde wie ich gesucht. Sie konnte bereits verhaftet sein. Oder Schlimmeres.
»Wir müssen zu ihnen«, beschloss ich. »Morgen.« Kein Ausruhen.
»Es geht ihnen gut«, sagte Enzo. »Berdi hat es mir versprochen.«
Ich sah zu Enzo auf. Ich erkannte in ihm kaum noch den trägen Jungen wieder, bei dem man sich nicht einmal darauf verlassen konnte, dass er zur Arbeit erscheinen würde. Sein Gesicht war ernst – ein Ausdruck, den ich noch nie an ihm gesehen hatte.
»Und Berdi hat dir solange die Schenke übertragen?«
Er strich sich eine fettige Strähne aus dem Gesicht und schlug den Blick nieder. Ich hatte mich nicht bemüht, mein Misstrauen zu verbergen. Röte überzog seine Schläfen. »Ich weiß, was du denkst, und ich kann es dir nicht einmal übel nehmen. Aber ja, das hat Berdi getan – mir die Verantwortung übertragen, die Schlüssel und alles andere.« Er rasselte mit dem Schlüsselring, der an seinem Gürtel hing, und ich sah so etwas wie Stolz in seinen Augen. »Wirklich. Sie sagte, es sei längst überfällig, dass ich mich mal zusammenreiße.« Er zuckte und zerknüllte die Schürze zwischen den Händen. »Dieser andere Kerl hätte mich umbringen können. Das hätte er auch fast getan. Er hat mich gehört und …«
Er schluckte, sodass der Adamsapfel in seiner dürren Kehle hüpfte. Er starrte auf meinen Hals. »Es tut mir leid. Ich war’s, der dem Kopfgeldjäger gesagt hat, dass du die obere Straße genommen hast. Ich wusste, dass er nichts Gutes im Schilde führte, aber ich hatte nur Augen für die Münzen in seiner Hand.«
Kaden beugte sich vor. »Du?«
Ich schob Kaden zurück. »Welcher andere Kerl?«, fragte ich.
»Dieser Landarbeiter, der hier abgestiegen war. Er hat mir aufgelauert und gedroht, mir die Zunge abzuschneiden, wenn ich noch einmal jemandem deinen Namen nennen würde. Sagte, er würde sie mir zusammen mit den Münzen in den Rachen stopfen. Ich dachte wirklich, er würde es tun. Ich dachte, wie nah ich …« Er schluckte wieder. »Ich wusste, dass ich nicht mehr viele Gelegenheiten bekommen würde. Das Letzte, was Berdi zu mir gesagt hat, bevor sie weggingen, war, dass sie etwas Gutes in mir sieht und dass ich es endlich auch finden müsste. Ich versuche, mich zu bessern.« Er rieb sich über die Schläfe; seine Hand zitterte immer noch. »Natürlich mache ich das alles nicht halb so gut wie Berdi. Alles, was ich schaffe, ist, die Zimmer der Gäste sauber zu halten, morgens Haferbrei zu kochen und abends Eintopf.« Er deutete auf die Wand am anderen Ende der Küche. »Sie hat mir Anweisungen dagelassen. Für alles.« Wenigstens ein halbes Dutzend Zettel waren an die Wand geheftet. »Ich kann nicht allein Abendessen für den ganzen Schankraum kochen. Aber vielleicht … wenn ich jemanden einstelle.«
Natiya kam in die Küche, das Schwert an der Hüfte, einen Dolch in der Hand; sie stolzierte steif einher, was sonst gar nicht ihre Art war. Sie lehnte sich an die Wand. Enzo warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts. Wir waren wieder da, wo wir angefangen hatten, und ich sah die Sorge in seinen Augen. Er wusste, dass wir ihn als potenzielle Bedrohung betrachteten.
»Du weißt also, wer ich in Wahrheit bin?«, fragte ich.
Flüchtig sah ich ihm an, dass er es abstreiten wollte, aber er schüttelte es ab und nickte. »Berdi hat es mir nicht verraten, aber ich habe von der Prinzessin gehört, die gesucht wird.«
»Und was genau hast du gehört?«, fragte Kaden.
»Jeder darf sie töten, der sie zu Gesicht bekommt, und er erhält eine Belohnung dafür. Und man wird ihm keine Fragen stellen.«
Kaden zischte und stieß sich vom Tisch ab.
»Aber ich werde niemandem etwas sagen!«, fügte Enzo hastig hinzu. »Ich verspreche es. Ich weiß es schon lange und hätte jede Menge Gelegenheiten gehabt, es dem Richter zu sagen. Er ist zweimal hierhergekommen, weil er wissen wollte, was mit Gwyneth passiert ist, aber ich habe nie ein Sterbenswörtchen gesagt.«
Kaden stand auf und fuhr mit dem Finger über die stumpfe Seite seines Dolchs. Er drehte und wendete ihn, sodass sich das Laternenlicht darin fing, dann blickte er zu Enzo. »Selbst wenn der Richter dir eine Handvoll Münzen dafür bietet?«
Enzo starrte auf den Dolch. Auf seiner Oberlippe perlte Schweiß, und seine Hände zitterten wieder stärker, doch er reckte ungewohnt todesmutig das Kinn. »Das hat er schon getan. Es hat nichts an meiner Antwort geändert. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht wüsste, wohin Gwyneth verschwunden ist.«
»Lia? Hast du einen Augenblick?« Kaden wies mit dem Kopf Richtung Gastraum. Wir ließen Natiya als Wache bei Enzo.
»Ich traue ihm nicht«, flüsterte Kaden. »Er ist ein schmieriger kleiner Betrüger, der dich schon einmal für Geld verraten hat. Er wird es wieder tun, sobald wir draußen sind, wenn wir ihn nicht zum Schweigen bringen.«
»Du meinst, ihn umbringen?«
Er antwortete mir mit einem festen Blick.
Ich schüttelte den Kopf. »Er hätte uns nicht sagen müssen, dass er es war, der dem Kopfgeldjäger geholfen hat. Menschen können sich ändern.«
»Niemand ändert sich so schnell, und er ist der Einzige in Morrighan, der weiß, dass wir hier sind. Dabei sollte es auch bleiben.«
Ich ging auf und ab, während ich versuchte, es zu durchdenken. Enzo war ein Risiko, keine Frage, und er hatte seine Unzuverlässigkeit, wenn nicht gar Gier bereits unter Beweis gestellt. Aber Berdi hatte ihm ihr Lebenswerk anvertraut. Und Menschen konnten sich ändern. Ich hatte mich geändert. Kaden hatte es getan.
Und um der Götter willen, Enzo kochte Eintopf. Eintopf! Außerdem wartete im Spülbecken kein schmutziges Geschirr vergeblich darauf, abgewaschen zu werden. Ich wandte mein Gesicht Kaden zu. »Berdi vertraut Enzo. Ich denke, wir sollten das auch tun. Er macht den Eindruck, als hätte ihn die Drohung des Landarbeiters geläutert. Wenn du seine Erinnerung daran ein bisschen auffrischen und mit deinem Dolch herumfuchteln willst, dann tu das.«
Er sah mich an, noch immer wenig überzeugt. Dann endlich stieß er einen langen Seufzer aus. »Ich werde nicht nur damit herumfuchteln, wenn er einen von uns auch nur schief anschaut.«
Wir kehrten in die Küche zurück und trafen Vorbereitungen für die Übernachtung. Natiya und ich wuschen unsere Kleider und hängten sie in der warmen Küche auf, da wir nicht viel Zeit hatten. Wir suchten in der Hütte, in der ich mit Pauline gewohnt hatte, nach unauffälliger Kleidung und förderten zwei weite Arbeitskleider und einige Schals zutage. Ich entdeckte auch Paulines weißen Trauerschal. Natiya würde ihr Gesicht nicht verbergen müssen, solange wir in Morrighan waren, aber ich schon, und nichts würde Argwohn leichter entkräften als der Respekt vor einer trauernden Witwe. Kaden kümmerte sich um die Pferde, und dann plünderten wir Berdis Vorratskammer, um Proviant für die Reise zu horten. Von jetzt an würde es keine Lagerfeuer mehr geben, an denen wir kochen konnten. Als Enzo uns beim Packen half, hörte ich überrascht einen Esel rufen.
»Das ist Otto«, sagte er kopfschüttelnd. »Er vermisst die beiden anderen.«
»Otto ist noch hier?« Ich hüllte mich in den Witwenschal, für den Fall, dass Gäste in der Nähe waren, und lief hinaus zur Koppel.
Ich liebkoste Otto, kraulte seine Ohren und hörte mir all seine Beschwerden an, und jeder seiner schrägen Töne war wie Musik in meinen Ohren. Es erinnerte mich an jenen Tag, an dem Pauline und ich in Terravin angekommen und auf unseren Eseln die Hauptstraße entlanggeritten waren. Wir hatten geglaubt, unser neues Leben hier würde ewig währen. Otto stupste mich mit seiner weichen Schnauze an, und ich musste daran denken, wie einsam er sich ohne seine Kameraden fühlen musste.
»Ich weiß«, sagte ich leise. »Nove und Dieci kommen bald zurück. Versprochen.« Aber ich wusste, dass es ein leeres Versprechen und nur dahergesagt war …
Rafes Worte schnürten mir die Kehle zu wie eine Angelleine, die mich unter Wasser zog, wo ich nicht atmen konnte. Ich habe damals gesagt, was du hören wolltest. Ich wollte dir Hoffnung geben.
Das stieß mir immer noch bitter auf, und ich wandte mich von Otto ab. Rafe hatte mir falsche Hoffnungen gemacht und meine Zeit verschwendet. Ich ging in die Scheune und fasste die Leiter ins Auge, die auf den Scheunenboden führte; dann kletterte ich schließlich hinauf. Es war halbdunkel dort oben, nur ein paar verirrte Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Dachsparren. Noch immer lagen zwei Matratzen auf dem Boden; sie waren nach unserem übereilten Aufbruch nie weggeräumt worden. Ein vergessenes Hemd hing über der Rückenlehne eines Stuhls. Ein verstaubter Wasserkrug stand auf dem Tisch in der Ecke. Am anderen Ende waren Kisten aufgestapelt – und ein leerer Futtertrog. Mein Herz hämmerte, als ich darauf zuging. Schau nicht hin, Lia. Lass es gut sein. Es interessiert dich nicht. Aber ich konnte es mir doch nicht verkneifen.
Ich rückte den Futtertrog ein Stück nach vorn, sodass ich einen Blick dahinter werfen konnte. Da war er, genau wie er gesagt hatte: ein Haufen schmutziger weißer Stoff. Meine Zunge wurde pelzig, und da war ein schaler Geschmack in meinem Mund; plötzlich war es so stickig im Raum, ich konnte kaum atmen. Ich griff nach unten und holte den Stoff aus seinem Versteck. Strohhalme regneten zu Boden. Das Kleid war an mehreren Stellen zerrissen, der Saum war schlammverkrustet. Ziegelrotes Blut befleckte den Stoff. Sein Blut. So hatte er sich die Risse an den Händen zugezogen: als er es aus dem dornigen Gebüsch holte, in das ich es geworfen hatte. Vielleicht hat mich das Kleid aber auch ins Grübeln über das Mädchen gebracht, das es getragen hat. Dasselbe Kleid, das ich mir so hasserfüllt vom Leib gerissen und weggeworfen hatte. Meine Knie versagten mir den Dienst, und ich fiel zu Boden. Ich hielt mir das Kleid vors Gesicht und versuchte, nicht an Rafe zu denken, aber ich sah nur ihn, wie er es aus dem Gebüsch zerrte, in seine Tasche stopfte und über mich nachdachte, so wie ich über ihn nachgedacht hatte. Aber ich hatte nur falsche Dinge gedacht.
Ich hatte ihn mir als feiges Vatersöhnchen vorgestellt. Nicht als …
»Lia? Alles in Ordnung?«
Ich sah auf. Kaden stand oben auf der Leiter.
Ich erhob mich und warf das Kleid wieder hinter den Futtertrog. »Ja, mir geht’s gut«, erwiderte ich, noch immer mit dem Rücken zu ihm.
»Ich habe etwas gehört. Hast du …«
Ich wischte mir über die Wangen und fuhr mit den Händen über das Vorderteil meines Hemdes, bevor ich mich zu ihm umdrehte. »Gehustet. Hier oben gibt’s ziemlich viel Staub.«
Er kam herüber, wobei der Boden unter seinen Schritten ächzte, und sah auf mich herunter. Sein Daumen strich über meine feuchten Augen.
»Es ist nur der Staub«, bekräftigte ich.
Er nickte, schlang seine Arme um mich und hielt mich fest. »Sicher. Staub.« Ich lehnte mich an ihn. Er streichelte mein Haar, und ich spürte den Schmerz in seiner Brust so stark wie meinen eigenen.
*
Es war schon spät. Natiya lag bereits in der Hütte im Bett, Enzo schlief in Berdis Zimmer. Kaden und ich saßen in der Küche, und ich löcherte ihn mit Fragen nach jeder Einzelheit, die er über die Pläne des Komizars wusste. Doch ich spürte, dass er mit den Gedanken woanders war. Ich war ihm dankbar, dass er es nicht angesprochen hatte, aber ich wusste, dass unsere Begegnung in der Scheune auf ihm lastete. Es war nur ein flüchtiger, erschöpfter Augenblick gewesen, in dem er mich auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das war alles. Nach einem Teller Fischsuppe, die überraschenderweise fast so gut wie die von Berdi war, fühlte ich mich gestärkt und bereit weiterzumachen.
Nun ließ Kaden geduldig all die Fragen über sich ergehen, die ich ihm doch schon gestellt hatte. Seine Antworten waren dieselben. Er wusste nur vom Kanzler. Vielleicht waren er und der Königliche Gelehrte die einzigen Verräter im Rat. Aber war das möglich?
Meine Beziehungen zu sämtlichen Ratsmitgliedern konnte man bestenfalls schwierig nennen, vielleicht mit Ausnahme des Vizeregenten und des Jagdführers. Diese beiden hatten normalerweise ein Lächeln und ein nettes Wort anstelle eines ablehnenden Blicks für mich übrig gehabt. Aber das Amt des Jagdführers im Rat war hauptsächlich zeremonieller Natur, ein Relikt aus früheren Zeiten, als das Bestücken der Vorratskammer noch die vordringliche Pflicht des Rats gewesen war. Meistens wohnte er den Ratsversammlungen nicht einmal bei. Der Königlichen Ersten Tochter stand ebenfalls ein Sitz zu, doch meine Mutter, die ja auch eine Erste Tochter war, hatte man selten an den Ratstisch gebeten.
Meine Gedanken wanderten zurück zum Vizeregenten. »Pauline wird als Erstes zu ihm gehen«, erläuterte ich Kaden. »Er war der Einzige im Rat, der immer ein offenes Ohr für mich hatte.« Ich kaute auf meinen Fingerknöcheln herum. Häufige Reisen in andere Königreiche gehörten zu den Aufgaben des Vizeregenten, und ich machte mir Sorgen, dass er auch jetzt unterwegs sein könnte. Wenn das der Fall war, würde Pauline stattdessen zu meinem Vater gehen, ohne seine Reizbarkeit richtig einschätzen zu können.
Kaden reagierte auf nichts, was ich sagte, und starrte nur leer durch den Raum. Plötzlich stand er auf und durchwühlte unsere Vorräte. »Ich muss los. Es ist nicht weit von hier. Nur eine Stunde westlich von Luiseveque im Bezirk Düerr. Wir werden dadurch keine Zeit verlieren.« Er benannte einen Treffpunkt nördlich von hier, an dem er Natiya und mich morgen erwarten würde, und riet mir, einen Weg durch den Wald zu wählen. »Niemand wird euch sehen. Das ist sicherer für euch.«
»Du willst jetzt weg?« Auch ich erhob mich und nahm ihm einen Sack Dörrfleisch aus der Hand. »Du kannst doch nicht nachts reiten.«
»Enzo schläft. Es ist die beste Zeit, ihm zu vertrauen.«
»Du musst dich auch ausruhen, Kaden. Was …«
»Ich werde mich ausruhen, wenn ich dort bin.« Er nahm mir das Dörrfleisch wieder weg und begann, seine Tasche neu zu packen.
Mein Herz klopfte schneller. Das sah Kaden gar nicht ähnlich. »Was gibt es denn so Dringendes in Düerr zu erledigen?«
»Ich muss etwas aus der Welt schaffen, ein für alle Mal.« Die Muskeln an seinem Hals waren gestraffte Seile, er mied meinen Blick. Und da wusste ich es.
»Dein Vater«, sagte ich. »Er ist der Lord von Düerr, oder?«
Er nickte.
Ich trat beiseite, während ich versuchte, mir die Bezirkslords ins Gedächtnis zu rufen. In Morrighan gab es vierundzwanzig von ihnen; die Namen der meisten kannte ich nicht – vor allem nicht die der Lords hier in den südlichen Bezirken –, aber ich wusste, dass dieser Lord vermutlich nicht mehr lange zu leben hatte.
Ich setzte mich auf einen Hocker in der Ecke; es war derselbe, auf dem Berdi damals meinen Hals versorgt hatte. »Wirst du ihn töten?«, fragte ich.
Kaden antwortete nicht sofort. Schließlich zog er einen Stuhl zu sich und setzte sich verkehrt herum darauf. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich wollte nur das Grab meiner Mutter besuchen. Sehen, wo ich früher gelebt habe, den letzten Ort, an dem …« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es einfach nicht auf sich beruhen lassen, Lia. Ich muss ihn wenigstens dieses eine Mal noch treffen. All das ist für mich nicht abgeschlossen, und vielleicht ist dies die letzte Gelegenheit, es zu ändern. Ich kann nicht wissen, was ich tun werde, bevor ich ihn sehe.«
Ich versuchte erst gar nicht, es ihm auszureden. Ich brachte keinerlei Mitgefühl für diesen Lord auf, der seinen kleinen Sohn ausgepeitscht und dann wie eine wertlose Ware an Fremde verschachert hatte. Mancher Verrat ging zu weit, als dass er je vergeben werden konnte.
»Sei vorsichtig«, sagte ich.
Er drückte meine Hand, und der Sturm in seinen Augen tobte noch heftiger. »Morgen«, erwiderte er. »Ich werde da sein. Versprochen.«
Er stand auf und wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal an der Küchentür stehen.
»Was ist?«, wollte ich wissen.
Er drehte sich zu mir um. »Da gibt es noch etwas, was nicht abgeschlossen ist. Ich muss es wissen. Liebst du ihn noch?«
Seine Frage traf mich – ich hatte sie nicht erwartet, obwohl ich das hätte tun sollen. Ich sah sie in seinen Augen; jedes einzelne Mal, wenn sein Blick auf mir ruhte. Als er mich auf dem Scheunenboden umarmte, wusste er, dass ich keinen Staub in die Augen bekommen hatte. Unfähig, ihm ins Gesicht zu schauen, erhob ich mich und ging zum Arbeitstisch, um nicht vorhandene Krümel wegzuwischen.
Ich hatte ja nicht einmal mir selbst gestattet, darüber nachzudenken. Liebe. Sie fühlte sich dumm und selbstvergessen an angesichts all dessen, was gerade geschah. Spielte sie wirklich eine Rolle? Mir fiel Gwyneths bitteres Lachen ein, als ich gesagt hatte, ich wünschte mir eine Liebesheirat. Sie wusste schon, was ich noch nicht begriffen hatte. Es ging nie gut aus, für niemanden. Nicht für Pauline und Mikael. Walther und Greta. Sogar Venda bewies das: Sie war mit einem Mann davongeritten, der sie am Ende tötete. Ich dachte an das Mädchen Morrighan, das man aus seinem Stamm entführt und für einen Sack voll Getreide als Braut an Aldrid den Plünderer verkauft hatte. Irgendwie hatten sie gemeinsam ein großes Königreich errichtet, aber bestimmt nicht auf dem Fundament der Liebe.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht mal mehr sicher, was Liebe überhaupt ist.«
»Aber ist es nicht anders zwischen uns als zwischen dir und …« Er ließ die Frage unvollendet, als würde es ihm zu sehr wehtun, Rafes Namen auszusprechen.
»Doch, es ist anders zwischen uns«, entgegnete ich ruhig. Ich suchte seinen Blick. »Das war es immer, Kaden, und wenn du ehrlich zu dir bist, dann hast auch du das schon immer gewusst. Von Anfang an hast du gesagt, dass Venda an erster Stelle kommt. Ich kann mir nicht genau erklären, wie es gekommen ist, dass sich unsere Leben miteinander verflochten haben, aber es ist nun einmal so – und jetzt machen wir uns beide etwas aus Venda und Morrighan und wollen ihnen das Schicksal ersparen, das der Komizar ihnen zugedacht hat. Vielleicht ist es das, was uns zusammengebracht hat. Schmälere nicht das Band, das uns verbindet. Große Reiche wurden schon auf viel weniger gegründet.«
Er sah mich mit rastlosem Blick an. »Was war das, was du auf dem Weg hierher in den Staub gezeichnet hast?«
»Das waren Worte, Kaden. Nur verlorene, ungesagte Worte, die so etwas wie ein Lebewohl bedeuteten.«
Er holte tief Luft. »Ich versuche, da durchzukommen, Lia.«
»Ich weiß. Ich auch.«
Sein Blick ruhte weiter auf mir. Dann nickte er und ging. Von der Tür aus sah ich zu, wie er davonritt und die mondlose Nacht ihn binnen Sekunden verschluckte. Mir tat weh, dass ich ihm nicht geben konnte, was er sich so sehr wünschte.
Ich kehrte in die Küche zurück und blies die Laterne aus, aber ich konnte diesen Tag noch nicht loslassen. Ich lehnte mich gegen die Wand, die mit Zetteln bedeckt war – Listen, die versuchten, das Leben festzuhalten, für das Berdi vor Jahrzehnten ein anderes hatte ziehen lassen.
Bereust du es, nicht gegangen zu sein?
Ich kann jetzt nicht mehr über solche Dinge nachdenken. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe getan, was ich damals tun musste.
Ich drückte die Hände an die kühle Wand hinter mir.
Was geschehen war, war geschehen.
Ich konnte nicht weiter darüber nachgrübeln.
*
Früh am nächsten Morgen plünderte ich Berdis Schrank, doch ich fand nur einen Teil dessen, was ich brauchte.
»Natiya, bist du gut im Umgang mit Nadel und Faden?«
»Sehr gut«, antwortete sie.
Das hatte ich vermutet. Einen Saum aufzureißen, ein Messer in einem Mantel zu verstecken und alles dann in einigen wenigen kostbaren Sekunden wieder zusammenzunähen hatte noch nie zu meinen Fertigkeiten gehört – sehr zum Kummer meiner Tante Cloris.
Ich bat Enzo um Geld. Das Geld, das Rafe mir gegeben hatte, hatte ich in Turquoi Tra für Boten ausgegeben. Enzo zögerte nicht und zog einen Beutel aus dem Kartoffelfass in der Vorratskammer. Er warf ihn mir zu. Es war nicht viel, aber ich nahm es erleichtert an, steckte es ein und nickte zum Dank. »Ich werde Berdi sagen, wie gut du deine Sache hier machst. Sie wird sehr zufrieden sein.«
»Du wolltest überrascht sagen«, entgegnete er verlegen.
Ich konnte es nicht abstreiten und zuckte die Achseln. »Das auch. Und denk daran, Enzo: Du hast mich nie gesehen.«
Er nickte. Verstehen lag in seinem Blick, und ich staunte wieder über seine Verwandlung. Rafes Drohungen hatten ohne jeden Zweifel Eindruck auf ihn gemacht, aber ich war mir sicher, dass es die Magie von Berdis Vertrauen war, die ihn verändert hatte. Jetzt musste ich nur noch beten, dass diese Veränderung von Dauer war.
Wir stahlen uns davon, so lautlos wie die Nacht, um nur ja keine Gäste aufzuwecken.
*
Die Verkäuferin im Laden freute sich sehr, uns zu sehen. Wir waren die ersten Kunden an diesem Tag – und die einzigen. Ich sah sie blinzelnd durch den durchsichtigen weißen Schleier spähen, der mein Gesicht bedeckte. Ich fragte, ob sie rote Atlasseide habe, und sie versuchte erst gar nicht, ihre Überraschung zu verbergen. Die meisten Witwen hätten nach tristeren, gediegeneren Stoffen gefragt.
Natiya überraschte mich mit ihrer raschen Erklärung. »Meine Tante wünscht, zu Ehren ihres verblichenen Ehemanns einen Wandteppich anfertigen zu lassen. Rot war seine Lieblingsfarbe.«
Ich schluchzte kurz auf und nickte zur Bekräftigung.
Binnen Minuten standen wir wieder auf der Straße, mit einem Meter Extrastoff, den die mitfühlende Verkäuferin uns geschenkt hatte.
Wir hatten noch eine Station vor uns, doch was ich dort brauchte, ließ sich nicht mit der üblichen Währung bezahlen. Ich hoffte nur, dass ich die Währung, die ich benötigte, parat hatte.