Über das Buch
14 nach Christus. Fünf lange Jahre sind seit dem Gemetzel in den Wäldern Germanias vergangen, doch die überlebenden Legionäre haben die Schmach der Niederlage noch immer nicht verwunden. Vor allem der Centurio Tullus ist nur von einem Gedanken beseelt: Rache. Rache an Arminius, dem verräterischen Cherusker. Unter dem Kommando des Feldherrn Germanicus dringen Tullus und seine Kampfesbrüder tief in Feindesland vor und verwüsten zahlreiche Dörfer, um Arminius aus der Reserve zu locken. Doch Arminius ist gerissen, und so beginnt ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Kriegern Germanias und den Legionären Roms.
Über den Autor
Ben Kane wurde in Kenia geboren und wuchs in Irland auf, dem Heimatland seiner Eltern. Bevor er sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete er als Tierarzt. Schon als Kind übte die Geschichte Roms eine große Faszination auf ihn aus, weshalb mit der Veröffentlichung seines Debüts Die vergessene Legion ein lang gehegter Traum in Erfüllung ging. Mittlerweile ist Ben Kane Bestsellerautor und lebt mit seiner Familie in North Somerset, England.
BEN KANE
RACHE DER ADLER
Roman
Aus dem Englischen von
Dr. Holger Hanowell
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Ben Kane
First published as Hunting the Eagles by Preface. Preface is an imprint
of Cornerstone, part of the Penguin Random House group of companies.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Judith Mandt
Textredaktion: Rainer Delfs, Scheeßel
Illustration Karte: Markus Weber, Agentur Guter Punkt, München
Titelillustration: © Arndt Drechsler, Regensburg;
© standby/Thinkstock; Tassel/Thinkstock
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5661-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Selina Walker,
eine der besten Lektorinnen, die es gibt.
Danke!
Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind.
RÖMER UND VERBÜNDETE
Herrscher in Rom nach 9 n. Chr.:
* Augustus (»der Erhabene«; eigentlich Gaius Octavius), Princeps, Imperator Caesar Augustus. Erster röm. »Kaiser« (starb 14 n. Chr.); herrschte über mehr als vierzig Jahre.
* Tiberius Claudius Nero, röm. Kaiser (von 14 n. Chr. bis 37 n. Chr.); von Augustus adoptiert, ab 4 n. Chr. Feldzüge u. a. gegen Germanen, Langobarden und Pannonier.
* Nero Claudius Germanicus (vermutlich ab 4 n. Chr. Gaius Iulius Caesar Germanicus); Großneffe des Augustus, Neffe und Adoptivsohn des Tiberius, röm. Feldherr, kämpfte an der Seite des Tiberius während des Pannonischen Aufstands, hatte das Imperium Proconsulare über beide Rheinarmeen inne; starb 19 n. Chr. Verheiratet mit Agrippina (der Älteren); u. a. Vater des Caligula (»Soldatenstiefelchen«).
Lucius Cominius Tullus, Centurio, früher 18. Legion, jetzt 5. Legion.
* Marcus Crassus Fenestela, Tullus’ Optio.
Marcus Piso, einer von Tullus’ Legionären.
Vitellius, einer von Tullus’ Legionären, Freund von Piso.
Degmar, Stammeskrieger der Marser, Tullus’ Diener.
* Lucius Seius Tubero, römischer Adliger, ehemaliger Militärtribun, inzwischen im Rang eines Legaten, Tullus’ erklärter Widersacher.
Saxa, Soldat des Tullus, Pisos Freund.
Metilius, Soldat des Tullus, Pisos Freund.
Ambiorix, Gallier, Tullus’ Diener.
Septimius, Centurio der 7. Kohorte, 5. Legion, im Rang über Tullus.
Flavoleius Cordus, Centurio, 2. Kohorte, 5. Legion.
Castricius Victor, Centurio, 3. Kohorte, 5. Legion.
Proculinus, Centurio, 6. Kohorte, 5. Legion.
* Publius Quinctilius Varus, Statthalter der Provinz Germania (Legatus augusti pro praetore), ehemaliger Befehlshaber der Legionen am Rhein. Starb 9 n. Chr. in den Wirren des Hinterhalts.
* Lucius Caedicius, ehemaliger Lagerpräfekt in Aliso.
* Aulus Caecina Severus, Legat des Heeres von Niedergermanien (Germania inferior).
* Lucius Stertinius, einer von Germanicus’ Heerführern.
* Calusidius, gemeiner Legionär, der sich gegen Germanicus stellt.
Bassius, Primus Pilus der 5. Legion.
Gaius und Marcus, meuternde Legionäre.
Aemilius, Benignus, Gaius, Legionäre, die mit Piso Glücksspiele spielen.
GERMANEN
* Arminius, ein Stammesführer der Cherusker, Drahtzieher des Hinterhalts, in den Varus’ Legionen gerieten.
* Thusnelda, Arminius’ Frau.
Osbert, einer von Arminius’ besten Kriegern.
* Flavus, Arminius’ Bruder, in römischen Diensten.
* Inguiomerus (Inguiomer, auch Ingomar), mächtiger Anführer der Cherusker, Onkel des Arminius.
* Segestes, Thusneldas Vater, Verbündeter Roms, ein Stammesführer der Cherusker.
* Segimundus, Sohn des Segestes, Bruder der Thusnelda, Priester im Römerlager »apud aram Ubiorum« (»beim Altar der Ubier«).
Artio, Mädchen, das von Tullus in Kampf der Adler gerettet wurde.
Sirona, Gallierin, die sich um Artio kümmert.
Scylax, Artios Hund.
HERBST 12 N. CHR. · ROM
Centurio Lucius Cominius Tullus unterdrückte einen Fluch. Seit dem Gemetzel in den Wäldern vor nunmehr drei Jahren war sein Leben vollkommen anders verlaufen – erbarmungslos und härter als sonst. Ein geringer Anlass genügte, und schon war er in Gedanken wieder in dem versengenden Chaos jener blutigen Tage, als Tausende germanische Stammeskrieger aus dem Hinterhalt angegriffen und drei Legionen ausgelöscht hatten, darunter auch Tullus’ Legion. Diesmal riss ein heftiger Regenschauer in Rom die alten Wunden wieder auf. Der eben noch festgestampfte Boden der nicht gepflasterten Straße verwandelte sich in einen schlammigen Brei, der an Tullus’ Waden spritzte und ihm in die Sandalen lief.
Tullus schloss die Augen und vernahm erneut den dröhnenden, volltönenden Barritus der germanischen Krieger, jenen Schlachtruf, der den römischen Legionären bis ins Mark gegangen war. HUUUUMMMMMMMM! HUUUUMMMMMMMM! Bei dem Klang dieser tief anschwellenden Töne, die die Krieger im Schutz der Bäume angestimmt hatten, hatte die Legionäre jeglicher Mut verlassen. Die Stimmung kippte – wie Milch, die in der Mittagssonne sauer wird.
Wäre es nur dieser Barritus gewesen, den Tullus aufs Neue in Gedanken durchleben musste, so hätte er es ertragen, aber im Ohr hatte er immer noch die Schmerzensschreie der Männer, die in ihrer Todesangst nach ihren Müttern riefen, ehe sie den letzten Atemzug taten. Speere gingen wie Hagel auf die Soldaten nieder, durchschlugen Schilde, bohrten sich ins Fleisch und hinterließen verstümmelte und sterbende Legionäre. Das charakteristische Knacken der Schleudern drang aus den Tiefen der Wälder, die Steine prallten gegen Helme, zertrümmerten Schädel. Die Maultiere brüllten vor Angst. Mit heiserer Stimme hatte Tullus inmitten des Tumults versucht, Ordnung in die Reihen zu bringen.
Tullus blinzelte und sah nicht das geschäftige Treiben auf der Straße, sondern nur den matschigen, aufgeweichten Pfad. Schier endlos schlängelte sich der Weg über Meilen durch Wälder, vorbei an sumpfigem Gelände, in dem man bis zu den Knien versank. Der Weg war übersät von Ausrüstungsgegenständen und Leichen. Überall tote Legionäre. Seine Männer.
Vor dem überraschenden Angriff hätte Tullus jedem Mann vehement widersprochen, der die Ansicht vertrat, eine römische Kohorte – mehr als vierhundert kampferprobte Männer – könne von einem Gegner ausgelöscht werden, der größtenteils mit Speeren angriff. Außerdem hätte er jeden für verrückt erklärt, der behauptete, drei Legionen könnten im Verlauf eines Hinterhalts der Germanen vom Erdboden hinweggefegt werden.
Inzwischen war er klüger und weitaus demütiger.
Die brutalen Erlebnisse – und das Nachspiel – hatten aus Tullus einen verbitterten Mann gemacht. Seine Legion hatte ihren Legionsadler verloren, und deshalb hatte man die Legio XXI aufgelöst. Der 17. und 19. Legion war es nicht anders ergangen. Tullus und alle anderen Überlebenden waren auf die übrigen am Rhenus stationierten Legionen verteilt worden. Die endgültige Demütigung für Tullus war seine Degradierung gewesen: Zuvor hatte er in der 1. Centurie der 2. Kohorte den Rang eines Pilus Prior bekleidet. Nach der schmachvollen Niederlage in den germanischen Wäldern hatte man ihn zu einem rangniederen Centurio herabgestuft. Da er durchaus schon mit dem Ruhestand geliebäugelt hatte, war die Degradierung wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Von da an konnte er seine Karriere vergessen.
Zu allem Unglück war ihm auch noch Lucius Seius Tubero in den Rücken gefallen, jener junge, aufstrebende Tribun, der ihm von Anfang an feindlich gesinnt gewesen war. Einem Emporkömmling wie Tubero hatte Tullus es zu verdanken, dass seine zuvor makellosen Dienstjahre in ein schmachvolles Licht gerückt wurden. Wäre Tubero nicht gewesen, wie Tullus sich in diesem Augenblick vergegenwärtigte, so hätte er womöglich immer noch seine alte Kohorte befehligen können.
»TULLUS!«
Er zuckte zusammen und fragte sich, wer ihn hier in dem Gedränge auf den Straßen erkannt haben mochte, Hunderte von Meilen von den Lagern am Rhenus entfernt.
»TULLUS!«
Obwohl die Straße belebt und die Luft von den alltäglichen Geräuschen erfüllt war – von den miteinander wetteifernden Stimmen der Händler, von dem Knurren zweier Hunde, die sich um einen Bissen balgten, von den Gesprächen der vorübergehenden Menschen – war die schrille Stimme der Frau weithin zu hören.
»TULLUS!«
Er hatte alle Mühe, darauf nicht zu reagieren. Keine Seele in ganz Rom kennt mich, redete er sich zum wiederholten Mal ein. Das stimmte nicht ganz, denn einige wenige wussten, dass er sich hier aufhielt, aber es war unwahrscheinlich, dass ihm ausgerechnet diese Leute über den Weg liefen. Ich bin nichts weiter als ein einfacher Bürger Roms in einem Meer aus Leuten und gehe meinen Geschäften nach. Weder Offiziere noch Magistrate wissen, wer ich bin, und geben einen Dreck darauf, was ich hier in der Stadt zu suchen habe. Selbst wenn mich jemand anspräche, könnte ich mich mit Lügen aus der Sache herauswinden. Ich bin ein Veteran, der Händler geworden ist, und halte mich gemeinsam mit einem alten Kameraden in Rom auf, um den Triumphzug des Tiberius zu verfolgen, mehr nicht.
Tullus war ein gestandener Mann mittleren Alters, und auch wenn die Geschmeidigkeit der Jugend längst verflogen war, hätte man ihn immer noch als gut aussehend bezeichnet. Er hatte eine kräftige Statur und ein markantes Gesicht, das einige Narben aufwies. Das Haar trug er, wie beim Militär üblich, ganz kurz. Gekleidet war er in eine helle Tunika, die bessere Tage gesehen hatte. Der beschlagene Gürtel wies ihn als Soldat aus – als ehemaligen Soldaten, wie er es sich einredete.
Marcus Crassus Fenestela, sein rothaariger Gefährte, bot einen weitaus hässlicheren Anblick, war dünner, aber durchaus drahtig. Auch Fenestelas Cingulum deutete darauf hin, dass er eine militärische Ausbildung durchlaufen hatte.
»Da bist du ja, Tullus!«, rief die Frau. »Wo, beim Hades, hast du bloß gesteckt?«
Tullus schaute sich beiläufig um und nahm die Gesichter der Leute in unmittelbarer Nähe wahr. Der Tullus, dem das Rufen gegolten hatte – vermutlich hatte seine Frau ihn gesucht –, mochte zwar halb so alt wie Tullus sein, war aber viel kleiner und ziemlich beleibt. Seine bessere Hälfte, eine kräftige, rotwangige Frau mit gehöriger Oberweite, stand neben der Theke einer zur Straße hin offenen Taverne.
Tullus entspannte sich und hörte dicht an seinem Ohr Fenestela flüstern: »Schade, dass sie nicht dich gerufen hat, was? Sieh nur, du hättest was zu essen bekommen, und wer weiß, was für Freuden dir dieses Weib noch bereitet hätte.«
»Ach, verpiss dich, du Hund.« Tullus schob seinen Optio fort, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Der Rangunterschied der beiden Männer war in all den Dienstjahren, die sie gemeinsam Seite an Seite gekämpft hatten, nahezu bedeutungslos geworden – die Schrecken, die sie überlebt hatten und die sich nur wenige Menschen überhaupt vorstellen konnten, hatten diese beiden so ungleichen Männer noch enger zusammengeschweißt. Fenestela sagte nur dann »Herr« zu Tullus, sobald andere Legionäre in der Nähe waren oder wenn er wieder mal richtig wütend auf seinen alten Gefährten war.
Die beiden Männer setzten ihren Weg ins Zentrum der Stadt fort. Es war zwar noch früh, aber in den schmalen Straßen herrschte bereits großer Andrang. Rom kannte keine Ruhe. Ob Tag oder Nacht, es war immer etwas los auf den Foren und in den Gassen, wie Tullus inzwischen wusste, doch die Aussicht auf einen Triumphzug zu Ehren des erklärten Nachfolgers des Princeps lockte die Menschen aus ihren Häusern – ob man gehen konnte oder humpeln musste. Junge wie Alte, Reiche wie Arme, Gesunde wie Gebrechliche, Lahme und Kranke, sie alle waren erpicht darauf, Zeuge der mit großem Pomp zelebrierten Militärparade zu werden. Zumal die Machthaber und Veranstalter an einem Festtag wie diesem Speisen und reichlich Wein auf eigene Kosten unters Volk brachten.
Tullus und Fenestela kamen an der Gasse der Bäcker vorbei, in der es nach frisch gebackenem Brot duftete. Dann folgte das Viertel der Handwerker, vor allem der Zimmerleute, die schon zu dieser Stunde sägten und hämmerten.
Tullus blieb einen Augenblick an der Abzweigung zur Schmiedegasse stehen und nahm mit wachen und neidischen Blicken die edlen Schwerter wahr, die dort vor den Essen ausgestellt waren. Den Schreibern, die ganz in der Nähe auf einem kleinen Forum ihre Dienste anboten, mit Stilus und Wachstafeln in der Hand, schenkten die beiden keine Aufmerksamkeit. Denn unweigerlich waren ihre Blicke zu jenen wohlgestalteten Frauen in den besseren Etablissements der Dirnengasse gewandert, aber Tullus und Fenestela gingen weiter.
»Es war Irrsinn, hierherzukommen«, raunte ihm Fenestela zu und schüttelte verwundert und staunend den Kopf, als der imposante Eingang zu den prächtigen öffentlichen Bädern in Sichtweite kam. Vor dem Gebäude ragte die riesige, bemalte Statue des Augustus auf. »Aber wenn ich das hier sehe, bin ich doch froh, dass wir uns auf den Weg gemacht haben. Das ist ja unglaublich!«
»Zum Hades mit dem offiziellen Bann, sage ich«, meinte Tullus und zwinkerte seinem Freund zu. »Wenigstens einmal im Leben muss ein Mann die Stadt aus Marmor gesehen haben – und einen großen Triumphzug. Nach allem, was wir beide durchmachen mussten, haben wir ein Recht darauf, die Stadt mit all ihren Vorzügen zu sehen.«
Er sprach in leicht gedämpftem Ton. Seit Tagen waren sie auf der Hut, genauer gesagt, seitdem sie ihre eigentliche Aufgabe vernachlässigt hatten, Hunderte Meilen nördlich von hier in der Provinz Gallia Narbonensis Rekruten für ihre neue Legion, die Legio V Alaudae, zu finden. Nachdem sie sich einige Tage in den kleineren Siedlungen heiser geschrien hatten, hatte Tullus vorgeschlagen, nach Rom zu reisen, um den Triumphzug zu sehen. Tiberius wurde für seine Siege in Illyricum geehrt, die bereits einige Jahre zurücklagen.
Doch mit der Reise nach Rom vernachlässigten die Freunde nicht nur ihre Pflicht, sondern handelten dem offiziellen Beschluss zuwider, der alle Überlebenden der furchtbaren Niederlage betraf: Ihr ganzes Leben lang durften sie keinen Fuß mehr auf italischen Boden setzen. Aber wie Tullus bereits angemerkt hatte, wer würde je darüber Buch führen, was sie wann in Gallia Narbonensis gemacht hatten? Noch im selben Monat könnten sie in der Provinz wieder Tag und Nacht auf den Beinen sein, um Rekruten zu finden. Solange sie mit der erforderlichen Anzahl junger Männer zum Lager Vetera am Rhenus zurückkehrten, würden sie keine Rechenschaft ablegen müssen.
Es war nicht schwer gewesen, Fenestela dazu zu überreden, Rom einen Besuch abzustatten. Genau wie Tullus hatte auch der Optio weder die Hauptstadt des Reichs noch einen Triumphzug gesehen.
»Kostet von diesem ausgezeichneten Wein!«, rief jemand linker Hand. »Kommt und trinkt auf Tiberius, den Helden und Eroberer!«
Tullus schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam. Der Besitzer der Taverne – vielleicht auch einer der Angestellten – stand auf einem Fass unmittelbar neben dem Eingang und lud die Leute mit ausladenden Gesten ein.
»Auf die Schnelle einen Becher Wein?«, fragte Fenestela und strich über seinen von grauen Haaren durchzogenen Kinnbart.
»Nein«, erwiderte Tullus mit Nachdruck. »Der wird nicht viel besser als Acetum schmecken, das weißt du doch. Außerdem, wenn wir hier herumlungern, bekommen wir keinen guten Platz mehr und sehen nichts vom Triumphzug.«
Fenestela setzte eine reumütige Miene auf. »Und wir müssten alle Nase lang pissen.«
Der Wirt ihrer kleinen Herberge, einer schlichten, drittklassigen Unterkunft am Fuße des Aventin, hatte ihnen den Weg zum Circus Maximus beschrieben. Dort, so hatte der Wirt gesagt, müssten sie sich entscheiden, von wo aus sie die Parade verfolgten. Auf dem Campus Martius, außerhalb der eigentlichen Stadtbebauung, hatte man einen freien Blick auf die triumphale Prozession, die sich dort formierte, aber im Freien bekam man nichts von der aufgeheizten Atmosphäre innerhalb der Stadtmauern mit. Auf dem großen Viehmarkt, dem Forum Boarium, gab es etliche Möglichkeiten, einen guten Platz zu ergattern, aber dafür musste man mit dem ersten Hahnenschrei aufstehen, wenn man noch einen Sitzplatz haben wollte. Weitaus mehr Sitzplätze bot der Circus Maximus, aber die Arena lag weit entfernt von der Stelle, wo der eigentliche Höhepunkt der Parade stattfand. Außerdem kam es auf den Tribünen immer wieder zu Unruhen.
Die beste Aussicht boten sicherlich das Forum Romanum oder der kapitolinische Hügel, andererseits herrschte auf dem Forum oft ein solches Gedränge, dass man um Leib und Leben fürchten musste. Und auf dem kapitolinischen Hügel waren nur geladene Gäste zugelassen.
»Damit will ich nicht sagen, dass ihr keine guten Leute seid«, hatte der Wirt rasch hinzugefügt, »oder dass ihr euch von den Massen und den Taschendieben abschrecken lassen würdet.«
Sowohl Tullus als auch Fenestela wollten den Triumphzug von einem guten Platz aus verfolgen, daher beschlossen sie, zum Forum Romanum zu gehen, zu jenem großen Platz, den sie bereits einen Tag zuvor bei einem Stadtrundgang bewundert hatten.
Es dauerte nicht lange, und sie begriffen, dass die Menge und die Magistrate, die den Streckenverlauf der Parade sicherten, sie daran hinderten, näher an das Geschehen heranzukommen. Womöglich zog Tiberius auf seinem prachtvollen Wagen vorüber, ohne dass die Freunde überhaupt einen Blick auf den Triumphator erhaschen konnten. Tullus war klar, dass sie jemanden brauchten, der sich in den Gassen Roms auskannte.
Kurz darauf sah er einen der Straßenbengel, die sich überall an den Kreuzungen der Innenstadt herumdrückten, immer auf der Suche nach einem kleinen Zubrot. Tullus sicherte sich die Aufmerksamkeit des Burschen mit einem Fingerschnippen.
»Du da! Willst du dir eine Münze verdienen?«
Früher, als junger Mann, war Tullus stets Optimist gewesen, hatte immer das Beste in anderen Menschen gesehen. Von dieser Einstellung war er weit entfernt. Die erschreckende Gewissheit, dass Arminius ein Verräter war, hatte seinen Glauben an das Gute im Menschen erschüttert. Sein ganzes Weltbild war ins Wanken geraten, nicht zuletzt durch den brutalen Hinterhalt, in den Varus’ Legionen geraten waren.
Auch die schmachvolle Behandlung, die Tullus und die überlebenden Kameraden seither über sich ergehen lassen mussten, war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Nach wie vor war es ihm unbegreiflich, dass tapfere, gestandene Soldaten von Legionären anderer Einheiten geschnitten oder gar verhöhnt wurden. Tullus traute niemandem mehr über den Weg, es sei denn, die Person erwies sich durch ihre Taten als zuverlässig.
Daher war er auf der Hut, als er dem Straßenbengel durch das Gewirr aus Gassen folgte, rechnete er doch jeden Augenblick damit, in eine Falle gelockt zu werden. Betrüger oder Halsabschneider könnten in den Schatten dunkler Hauseingänge lauern und nur darauf warten, über Ortsunkundige herzufallen.
Letzten Endes erwies sich ihr kleiner Begleiter als zuverlässig. Der Junge führte sie schnell und sicher durch ein wahres Labyrinth aus Gassen, bis sie eine Straße erreichten, die geradewegs auf die östliche Seite des Forums zulief.
Der Geräuschpegel einige Längen voraus verriet den Gefährten, dass der Junge sie tatsächlich zum richtigen Ort geführt hatte – Menschen jubelten, Trompetenstöße hallten über die Menge hinweg, und aus einiger Entfernung kündigte sich das charakteristische Knarren von großen Wagenrädern an, begleitet vom Stapfen zahlloser Schritte.
Der Bengel warf Tullus einen triumphierenden Blick zu und streckte seine kleine, schmutzige Hand aus. »Mein Geld!«
Tullus reichte dem Jungen die vereinbarte Anzahl Münzen und bedankte sich, doch da war der Bursche schon wieder fort, untergetaucht in jenem Viertel, in dem er sich so gut auskannte.
»Na, der kennt sich aus, was?«, meinte Fenestela.
»Dieser Denarius war gut angelegt.« Tullus ging voraus. »Schauen wir mal, wo der Triumphzug gerade ist, ehe wir uns für einen Stehplatz entscheiden.«
Das Gedränge nahm zu, als sie das Forum betraten. Die beiden Gefährten, die den Platzmangel des Nahkampfs gewohnt waren, bahnten sich ungerührt ihren Weg durch die Menge und scheuten nicht davor zurück, hier und da Schultern und Ellbogen einzusetzen. Sie schreckten nicht einmal davor zurück, den Leuten auf die Füße zu treten, falls es sich nicht verhindern ließ. Nur wenige begehrten gegen diese ruppige Art des Drängelns auf. Und diejenigen, die sich lautstark beschwerten, verstummten im selben Moment, sobald sie Tullus’ bohrenden Blick zu spüren bekamen.
Kurze Zeit später hatten sich die beiden so weit vorgedrängt, dass sie linker Hand einen freien Blick auf den Streckenverlauf hatten. In diesem Moment erreichte die Spitze des Triumphzuges das Forum. Rechter Hand führte der Paradeweg über den großen Platz bis zum kapitolinischen Hügel, auf dessen Spitze sich der herrliche Tempel des Jupiter erhob. An diesem Heiligtum sollte Tiberius’ Triumphzug mit einer Opferzeremonie enden.
Überall sah man Magistrate, Liktoren und andere Amtsdiener, die für den reibungslosen Ablauf der Prozession sorgen sollten. Entlang der Strecke wurden die Massen mit Stöcken daran gehindert, den Weg des Triumphators zu blockieren. Immer wieder sah man Straßenbengel, die sich unerlaubterweise an den Amtsdienern vorbeizwängten, über den Platz hüpften und »Tiberius! Tiberius!« anstimmten. Lachen schwoll an, während sich die entrüsteten Amtsdiener abmühten, die in Lumpen gekleideten, frechen Bengel zurückzupfeifen. Doch letzten Endes wurden die Jungen eingekesselt und mussten ein paar Hiebe mit den Stöcken über sich ergehen lassen, obwohl erzieherische Maßnahmen wie diese nur für kurze Zeit Wirkung erzielten.
Unaufhaltsam wälzte sich der Triumphzug heran und nahm die Aufmerksamkeit der Massen in Beschlag. Auch Tullus und Fenestela hatten nur Augen für die prachtvolle Prozession. Der allgemeine Jubel wurde immer wieder von schrillen Rufen und euphorischem Eifer, aber auch wütenden Kommentaren überlagert. Tullus schnappte Bemerkungen wie diese auf: »Mein ganzes Leben lang wollte ich einen Triumphzug sehen!« – »Du raubst mir die Sicht!« – »Dann such dir doch einen anderen Platz, du elender Drängler! Ich war schließlich vor dir hier!« – »Was ist das da im ersten Wagen?« – »Waffen und Rüstungen!« – »Wo bleibt das Gold und Silber? Deswegen bin ich doch gekommen!« – »Und die Gefangenen – wo bleiben die? Bekommen wir denn gar nichts geboten?« – »Tiberius! Wir wollen Tiberius sehen!«
Tullus war erstaunt, wie aufgeregt er war, aber im Grunde überraschte es ihn nicht. Nach mehr als einem halben Leben in der Armee wäre es für ihn der krönende Abschluss seiner Karriere gewesen, bei einem solchen Triumphzug mitzumarschieren. Es war gar nicht so abwegig, dass er und Fenestela hätten teilnehmen können. Denn zwischenzeitlich hatten sie unter dem Befehl des Germanicus gestanden, des Großneffen des Augustus – damals hatten sie in Illyricum gekämpft.
Tullus’ alte Verbitterung angesichts seiner Situation kam wieder hoch. Nach der Degradierung und dem verordneten Wechsel in eine andere Legion würde sich für ihn keine Gelegenheit mehr auftun, an einem Triumphzug teilzunehmen. Wie tief er doch gesunken war nach jener Schlacht vor drei Jahren in den Wäldern Germanias! Doch er unterdrückte sein Selbstmitleid, fest entschlossen, nach vorne zu schauen. Vergiss, was geschehen ist, redete er sich ein. Genieß das Spektakel.
Seit Hunderten von Jahren waren Triumphzüge die Sensation für das römische Volk gewesen. Den siegreich aus dem Krieg zurückkehrenden Feldherren hatte man auf den Straßen Roms zugejubelt, doch unter dem Prinzipat des Augustus waren die Triumphzüge in Ungnade gefallen. Seit nunmehr gut dreißig Jahren hatte es keinen Triumphzug dieser Größenordnung mehr gegeben. Tullus hätte demnach nie ein solches Spektakel erleben können, selbst wenn er mehrmals nach Rom gereist wäre. Der Grund dafür lag auf der Hand: Jeder wusste, dass allein der Princeps in seiner Machtfülle alle anderen in der Stadt überstrahlen wollte. Nachdem sich Augustus schlussendlich dazu durchgerungen hatte, einen Triumphzug zu gestatten, war es kein Zufall, dass das Spektakel zu Ehren seines erklärten Nachfolgers Tiberius abgehalten werden sollte.
Tullus hatte nichts gegen einen tüchtigen Mann wie Tiberius einzuwenden. Vor fast zehn Jahren hatte er unter diesem Feldherrn in Germania gedient. Tiberius hatte sich als guter Anführer erwiesen, hatte sich um seine Legionäre gekümmert. Mehr konnte man als Soldat nicht verlangen, überlegte Tullus und dachte mit finsterem Herzen an Augustus’ harschen Befehl, allen Überlebenden der Katastrophe des Varus zu verbieten, je wieder einen Fuß auf italischen Grund und Boden zu setzen.
Lautes, metallenes Scheppern kündigte die von Ochsengespannen gezogenen Fuhrwerke an, auf denen die Waffen und die Rüstungen der unterlegenen illyrischen Stammeskrieger lagen. Zu erahnen waren Speere, Äxte, unzählige Schwerter und Messer, hexagonale Schilde und jede Menge Helme. Zuerst brandete Jubel auf, der dann rasch abebbte. Eine Wagenladung war wie die andere. Doch bei den nächsten Fuhrwerken schwoll der Applaus erneut an: Auf großen Tafeln waren die entscheidenden Szenen des Sieges dargestellt. Sklaven hielten überdimensionale Karten hoch, auf dass jeder sehen konnte, welche Gebiete Tiberius in Illyricum erobert hatte. Bildhauer hatten die auf Anhöhen gelegenen Lager des Feindes in kleinerem Maßstab nachgebaut, sodass sich jeder davon überzeugen konnte, wie tapfer die römischen Legionäre gekämpft hatten.
Kaum überraschend, dass die Fuhrwerke, auf denen das Gold, die Silbermünzen und das Geschmeide gehortet wurden, beim Publikum am beliebtesten waren. Dahinter folgten Priester mit den Opfertieren, die ebenfalls gut aufgenommen wurden. Segenswünsche gingen auf die Priester nieder, denn viele ersuchten die Götter, Tiberius zu segnen. Tullus amüsierte sich über manch einen Kommentar der gewitzteren Zuschauer – denn einige Leute überlegten hinter vorgehaltener Hand, welches Stück Fleisch wohl am besten munden würde, wenn die Tiere erst einmal am Altar geopfert worden waren.
Die Aufregung innerhalb der Menge erreichte den Siedepunkt, als die ersten Gefangenen in Sichtweite kamen. Nach und nach holten die Zuschauer verdorbenes Gemüse, Stücke von Dachschindeln und Scherben irdenen Geschirrs, selbst angetrockneten Hundekot aus den Falten ihrer Gewänder, um schließlich einen wahren Hagel aus Wurfgeschossen auf die Gefangenen niedergehen zu lassen, die unweigerlich an den Massen vorbeikommen mussten. Tullus empfand diese Darbietung als abstoßend.
»Das sind Männer, Krieger, keine Tiere«, raunte er Fenestela zu. »Tapfere Männer.«
»Würde ich das je vergessen?« Fenestela zog den Kragen seiner Tunika so weit herunter, dass eine rote, aufliegende Schwiele auf der Brust sichtbar wurde.
»Bei den Göttern, den Tag werde ich nie vergessen. Ein Speer war’s, oder?«
»Genau.« Fenestela warf den Kriegern auf dem Wagen einen mürrischen Blick zu. Trotz des Hagels aus Gegenständen verzogen diese Männer keine Miene, blieben stolz und aufrecht stehen, straften ihre Peiniger gar mit Verachtung. »Aber diese Hurensöhne können trotzdem eine Abreibung vertragen«, setzte er grummelnd hinzu.
Der Eifer der Massen, die Gefangenen zu malträtieren, ebbte allmählich ab, als auf den nächsten Fuhrwerken hilflose Frauen und Kinder zur Schau gestellt wurden. Etliche Zuschauer senkten die Blicke, baten um eine nachsichtigere Behandlung der armen Gefangenen oder murmelten Gebete. Tullus spürte, dass er die Bürger Roms, die in seiner Nähe standen, immer mehr verachtete. Diese Menschen sind Gefangene, dank eines Krieges, der in eurem Namen geführt wurde, dachte er. Wann stellt ihr euch endlich den Tatsachen?
Er vergaß seine Bedenken, als die hochrangigen Gefangenen in Sichtweite kamen, darunter Bato vom Stamm der Desidiaten, einer der Anführer der drei Jahre andauernden Rebellion. Bato, ein breitschultriger, hochgewachsener Mann, stand in voller Kampfmontur auf dem Wagen und reckte die Fäuste empor, sodass die Kettenglieder an seinen Handgelenken rasselten. Die Menge reagierte auf dieses stolze und trotzige Gebaren eines gestandenen Kriegers mit einer Mischung aus Spott und Re spekt.
»Soll er hingerichtet werden?«, wandte sich Tullus an den Mann, der unmittelbar neben ihm stand, einen wohlhabenden Kaufmann, der Kleidung nach zu urteilen.
»Tiberius hat Bato das Leben geschenkt, da er unseren Truppen bei Andretium die Flucht ermöglicht hatte. Er hat sich ehrenvoll ergeben.«
Tullus verbarg sein Erstaunen. »Tiberius ist ein großzügiger Mann.«
»Die Götter segnen ihn und beschützen ihn. Er hat angeordnet, dass Bato fortan bei Ravenna leben wird, mit allen Annehmlichkeiten eines hochrangigen Gefangenen.«
»Hast du das gehört?«, raunte Tullus Fenestela zu, als der Kaufmann längst wieder aufmerksam das Geschehen verfolgte. »Ein verfluchter Barbar wird besser behandelt als wir!«
»Also, mich überrascht langsam nichts mehr«, erwiderte Fenestela und zog eine Grimasse.
Trotz dieser wenig erbaulichen Neuigkeit jubelte auch Tullus wenig später lautstark, als Tiberius in seinem von vier weißen Hengsten gezogenen Wagen vorüberzog. Die allgemeine Begeisterung kannte keine Grenzen mehr. Selbst die Stöße der Hornbläser vermochten das Schreien und Rufen aus abertausend Kehlen nicht mehr zu übertönen.
Der Triumphator, dessen Gesicht rot gefärbt war, trug die purpurne Toga und die bestickte Tunika eines siegreichen Feldherrn. In einer Hand hielt Tiberius ein elfenbeinernes Zepter, in der anderen einen Lorbeerzweig. Als gut aussehend hätten ihn wohl nur die wenigsten beschrieben, denn dafür war seine Nase zu lang, und aufgrund des Doppelkinns schien er keinen Hals zu haben. Trotzdem sah Tiberius an diesem Tag, der ganz allein ihm gehörte, wie ein Herrscher aus. Unmittelbar hinter ihm auf dem Wagen stand ein Sklave, der Tiberius für die Dauer der Prozession die goldene Eichenlaubkrone über das Haupt hielt.
»TI-BE-RI-US! TI-BE-RI-US! TI-BE-RI-US!«, skandierte die Menge.
Es war mehr als unwahrscheinlich, dass Tiberius Tullus vom Wagen aus erkannte, und selbst wenn der Feldherr ihn sähe, würde er Tullus’ Erscheinung in diesem Zusammenhang nicht mit den alten Legionstruppen in Verbindung bringen. Allerdings war Tullus einst dem Feldherrn vorgestellt worden. Dennoch, vorsichtshalber senkte Tullus den Blick, als der Erbe des Princeps in dem Prachtwagen vorbeifuhr.
Als Tullus wieder aufschaute, war er einen Moment überrascht, da Tiberius’ Neffe Germanicus unmittelbar im nächsten Wagen folgte – auch diesem Mann war Tullus einmal persönlich begegnet. Germanicus war groß und stämmig, hatte ansprechende Gesichtszüge und ein markantes Kinn. Schon unter gewöhnlichen Umständen bot der Mann mit dem vollen, braunen Haar einen eindrucksvollen Anblick, doch an diesem Tag wirkte er in seinem golden schillernden Brustpanzer wie ein Gott, der zu den Sterblichen herabgestiegen war.
Ehe sich Tullus richtig bewusst machte, dass er Germanicus anstarrte, veränderte sich die Miene des langsam vorübergleitenden Mannes. Germanicus blinzelte mehrmals und zog die Stirn in Falten. Einen Herzschlag später suchte Germanicus regelrecht Tullus’ Blick und rief: »Dich kenne ich doch!«
Tullus war wie erstarrt und kam sich wie ein Rekrut vor, der von einem Centurio angeschnauzt wird. Zu allem Überfluss geriet ausgerechnet in diesem Moment die ganze Prozession ins Stocken. Germanicus’ Wagen glitt nicht langsam vorüber, sondern blieb ungefähr auf Tullus’ Höhe stehen. Tullus versuchte, sich wegzuducken, wollte weglaufen, aber dazu fehlte ihm die Kraft.
Germanicus war auch Fenestela aufgefallen. Rasch wendete der Optio den Blick zur Seite und zog Tullus am Ärmel der Tunika. »Komm, machen wir, dass wir hier wegkommen!«
Die Berührung am Ärmel holte Tullus in die Gegenwart zurück. Er hatte wieder einen klaren Kopf, doch Germanicus rief ihn erneut an: »Du! Centurio!«
Tullus wirbelten einige Gedanken durch den Kopf. Germanicus hatte ihn direkt angesprochen, da gab es kein Vertun. Tullus konnte nicht vorgeben, nichts gehört zu haben, ebenso wenig durfte er einfach wegschauen und hoffen, dass sich der Triumphzug wieder in Gang setzte. Jeden Augenblick nämlich könnte Germanicus einem der Amtsdiener befehlen, ihn, Tullus, festzuhalten.
Gewiss, er hätte die Flucht ergreifen können wie eine Ratte, die beim Anheben einer Abdeckplatte in einem der Abwasserkanäle dem Sonnenlicht ausgesetzt war. Aber er musste damit rechnen, verfolgt zu werden. Außerdem standen die Zuschauer zu dicht gedrängt, er wäre ohnehin nicht weit gekommen oder sogar von jemandem am Weggehen gehindert worden. Nein, er musste sich der neuen Situation wie ein Mann stellen und Germanicus Rede und Antwort stehen.
Daher achtete er nicht weiter darauf, dass Fenestela ihn mit gedämpfter Stimme zu äußerster Eile anhielt, straffte die Schultern und stellte sich Germanicus’ strengem Blick.
»Meintet Ihr mich, Herr?«, fragte er so beiläufig und unbefangen wie möglich.
»Ganz recht. Du dienst bei den Legionen am Rhenus, richtig?«
»Ihr habt ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Herr«, erwiderte Tullus und wünschte, die Erde würde sich vor ihm auftun und ihn auf der Stelle verschlucken. Falls Germanicus noch wusste, worüber sie einst gesprochen hatten – nämlich über den Hinterhalt des Arminius und die Vernichtung von Varus’ Armeen –, wäre er ein toter Mann. Sich dem Erlass des Herrschers zu widersetzen, kam einem Schwerbrechen gleich.
»Komm, noch können wir verschwinden!«, zischte Fenestela aufgeregt.
»Wir sind uns vergangenes Jahr am Rhenus begegnet«, stellte Germanicus kühl und nüchtern fest.
»Ja, Herr. Ich fühle mich geehrt, dass Ihr Euch meiner erinnert.« Aus den Augenwinkeln sah Tullus, wie sich Tiberius’ prachtvoller Wagen wieder in Bewegung setzte. Lass mich in Frieden, betete er. Ich gehe dich nichts an.
»Ich erwarte, dass du dich bei mir meldest, wenn die Opferhandlungen beendet sind. Vor der Curia.«
»Gewiss, Herr.«
Anfangs glaubte Tullus, er habe vielleicht noch eine Chance, sich vor diesem Treffen zu drücken, aber dieser Gedanke verflüchtigte sich, als Germanicus mit energischer Kopfbewegung zwei Prätorianern den Befehl gab, sich durch die Menge hindurch bis zu Tullus zu begeben. Mist, dachte er. Er weiß also doch, dass ich mich nicht in Italia aufhalten darf, geschweige denn in Rom.
»Lauf!«, raunte er Fenestela zu. »Dich hat er nicht gesehen.«
»Ich lauf doch nicht vor diesen aufgeblasenen Pfauen weg«, gab Fenestela zurück und beäugte die dekorierten Brustpanzer und die Helme der Prätorianer.
»Fenestela …«
Trotzig reckte der Optio das Kinn vor. »Ich bleibe an Eurer Seite, Herr!«, rief er, als hörte die ganze Kohorte zu.
Ich bin ein Narr, dachte Tullus. Ein stolzer, törichter Narr. Und Fenestela ist auch nicht anders. Wir haben alles überlebt, was uns Arminius und dessen Helfershelfer entgegengeschleudert haben, nur um jetzt in Rom von der Garde festgenommen zu werden!
Er malte sich bereits aus, wo man ihr Todesurteil offiziell verlesen würde.
Das Warten außerhalb der Mauern der Curia Iulia zog sich für Tullus’ Empfinden schier endlos in die Länge, dabei waren nicht mehr als zwei Stunden vergangen. Den Triumphzug mit all seinen Facetten hatte er nur noch wie durch einen Schleier wahrgenommen. Man hatte ausgesuchte Gefangene von den Fuhrwerken gezerrt und dann am Fuße des kapitolinischen Hügels hingerichtet. Kurz darauf war Tiberius die Stufen bis zum Heiligtum des Jupiter hinaufgestiegen, gleichsam getragen von den Rufen der Menge. Nach würdevoller Vollendung der Opferzeremonien im Angesicht der Gottheit waren Wein und Brot unters Volk gebracht worden. Tullus hatte zwar die Soldaten wahrgenommen, die hinter Tiberius und Germanicus über das Forum marschiert waren – auf eben jenen Teil des Triumphzuges hatte er sich am meisten gefreut –, aber selbst der Anblick der Parade trug nicht mehr dazu bei, dass sich Tullus’ Laune aufhellte. Im Gegenteil, er war zutiefst betrübt und verfiel in bittere Vorwürfe gegen sich selbst, da er nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seines treuen Freundes aufs Spiel gesetzt hatte. Rastlos schritt er vor der Curia auf und ab und spürte die unnachgiebigen Blicke der Prätorianer, die zu seiner Bewachung abgestellt waren.
Es kam der Moment, da zog er ernsthaft in Erwägung, die Wachen zu töten und die Flucht zu ergreifen. Glücklicherweise hörte er auf seinen Optio, der ihn rasch von diesem Vorhaben abbrachte.
»Du bist nicht mehr ganz bei Verstand. Selbst wenn wir die beiden überrumpelten, was unwahrscheinlich ist, da wir keine Waffen bei uns tragen, hätten wir kurz danach die gesamte Garde am Hals. Glaub mir, dann hätten wir vollkommen ausgespielt. Wir müssen uns gedulden und beten. Das ist unsere einzige Hoffnung.«
Fenestela hatte nie viel aufs Beten gegeben, und genau das führte Tullus vor Augen, wie sehr sich sein Optio vor Germanicus’ Strafen fürchtete.
Letzten Endes fügte sich Tullus in sein Schicksal, hörte auf Fenestelas Rat und schritt weiterhin aufgewühlt auf und ab. Er kam sich vor wie ein Mörder, der auf seine öffentliche Hinrichtung wartete.
Als Germanicus wie aus dem Nichts auftauchte, schreckte Tullus regelrecht zusammen. Der Feldherr hatte lediglich einen berittenen Prätorianer als Eskorte an seiner Seite und musterte Tullus vom Rücken seines stattlichen Pferdes.
Da Tullus nur wenige Schritte von den Reitern entfernt stand, musste er zu Germanicus aufschauen und spürte, dass er sich dem Blick dieses charismatischen Mannes nicht entziehen konnte. Tullus salutierte vorschriftsmäßig, drückte den Rücken durch und zog die Schultern so weit zurück, wie es ging. »Herr!«
»Herr!«, kam es fast zeitgleich von Fenestela, der ebenfalls strammstand.
»Dein Name?«, forderte Germanicus.
»Centurio Lucius Cominius Tullus, Herr. Siebte Kohorte der Fünften Legion.«
»Und wer ist das?« Germanicus musterte Fenestela, ehe er sich mit geschmeidigen Bewegungen vom Rücken des Pferds gleiten ließ.