Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Zitat
  8. Teil 1
    1. Venedig, 1786
    2. Venedig, Gegenwart
    3. 1873
  9. Teil 2
  10. Teil 3
    1. Hongkong, 1873
    2. Chinesisches Meer und Pazifik, 1873
  11. Teil 4
    1. New York, Gegenwart
    2. New York, 1873
    3. Danach

Über dieses Buch

In achtzig Tagen um die Welt – sieh zu, dass du nicht zu langsam bist. Willst du gewinnen? Dann mach keinen Fehler. Scheiterst du? Dann wird es kein Entrinnen geben. Neue Herausforderungen für Anna und Sebastiano! Ein Unbekannter hat die Zeitmaschine entwendet und droht, die ganze Menschheit ins Chaos zu stürzen. Rund um die Welt entstehen plötzlich Zeitdurchgänge. Diese führen aber nur in die Vergangenheit und nicht ohne Weiteres zurück – unzählige Menschen drohen so, für immer in der Kolonialzeit zu stranden! Während Anna und Sebastiano noch versuchen, diese Durchgänge zu versiegeln, stellt sich Anna ein unheimlicher Mann in den Weg. Er fordert sie zu einem Spiel auf, für das Anna und ihre Freunde von der Time School eine historische Reise rund um die Welt machen müssen. In achtzig Tagen! Gewinnen sie, bekommen sie die Zeitmaschine zurück. Scheitern sie, ist nicht nur das Spiel verloren. Dann muss auch Sebastiano sterben … Der zweite Band der erfolgreichen Jugendbuch-Reihe von Eva Völler.

Über die Autorin

Eva Völler hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem verdiente sie zunächst als Richterin und Rechtsanwältin ihre Brötchen, bevor sie die Juristerei endgültig an den Nagel hängte. »Vom Bücherschreiben kriegt man einfach bessere Laune als von Rechtsstreitigkeiten. Und man kann jedes Mal selbst bestimmen, wie es am Ende ausgeht.« Die Autorin lebt mit ihren Kindern am Rande der Rhön in Hessen.

Eva Völler

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Time School

Für Leonie

Die Zeit mag, was noch dunkel ist, erhellen.
Heim bringen steuerlos manch Boot die Wellen.

(William Shakespeare, Cymbeline)

Teil 1

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Venedig, 1786

Ich finde, er sieht viel besser aus«, sagte Fatima. »Und jünger.«

»Jünger und besser als wer?«, wollte Ole wissen.

»Als er selbst natürlich.«

»Wie kann jemand jünger und besser aussehen als er selbst?«

»Er sieht jünger und besser aus als er selbst auf dem Bild«, gab Fatima ungeduldig zurück.

»Pst!«, mischte ich mich ein. »Ihr fallt mit eurem Gerede schon auf!«

Tatsächlich hatten sich bereits einige Köpfe in unsere Richtung gewandt. Fatima und Ole störten eindeutig die feierliche Stimmung, und das war gar nicht gut. Denn es gehörte zu unserem Job als Zeitwächter, bei unseren Einsätzen nicht aufzufallen. Wenn wir auffielen, konnte alles Mögliche schiefgehen. Und da wir bei diesem Einsatz im Jahr 1786 keinem Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe persönlich das Leben retten mussten, konnten wir gar nicht vorsichtig genug sein.

Der Festakt, den wir gerade beobachteten, war ein sehenswertes Ereignis mit einem Aufzug aller möglichen venezianischen Würdenträger in historischen Gewändern. Gefeiert wurde eine siegreiche Seeschlacht gegen die Türken, mit denen Venedig über Jahrhunderte hinweg im Krieg gelegen hatte.

»Ich finde nicht, dass er besonders beeindruckend und berühmt aussieht«, fuhr Ole fort, ohne auf meine Ermahnung zu achten. »Nicht halb so eindrucksvoll wie zum Beispiel der da.« Er zeigte auf eine prunkvolle Barke, die im Kanal vor der Kirche angelegt hatte. Der da war der Doge höchstpersönlich, der soeben über eine mit Teppichen ausgelegte Brücke an Land schritt. Umhüllt von einem schleppenverzierten Talar und mit der goldenen, wie ein nach hinten wachsendes Horn geformten Kappe auf dem Kopf stach er tatsächlich ins Auge, genauso wie die vielen Adligen mit ihren pompösen bodenlangen Gewändern und den wallenden blonden Lockenperücken. Gemessenen Schrittes zogen sie der Reihe nach zur Kirche.

»Diese Männer sehen wahrlich prächtig aus«, erklärte Ole mit Bewunderung in der Stimme.

»Das zeigt nur wieder, wie unterentwickelt dein Modegeschmack ist«, kritisierte Fatima.

Insgeheim stimmte ich ihr zwar zu, aber es war weder der richtige Ort noch die passende Zeit, um über Mode zu streiten, zumal die beiden sich bei diesem Thema sowieso nicht einig werden konnten. Als waschechter Wikinger aus dem zehnten Jahrhundert stellte Ole keine großen Anforderungen an sein Outfit. Hauptsache, die Sachen waren bequem und rochen gut. Dagegen besaß Fatima, die aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammte, ein unbestechliches Auge für guten Stil. Sie hatte sich nach ihrem Wechsel in die Gegenwart blitzschnell den aktuellen Modeströmungen angepasst und kannte sich mit allen angesagten Looks und coolen Accessoires bestens aus, während man bei Ole aufpassen musste, dass er nicht aus Versehen mit seinem alten Lederharnisch und der Streitaxt am Gürtel aus dem Haus ging.

An diesem Tag trug er einen etwas zu engen Gehrock und dazu ein Paar grobe Stiefel, die mindestens zweihundert Jahre zu alt für diese Zeit waren. Die feineren Schnallenschuhe, die ich ihm für den heutigen Einsatz herausgesucht hatte, waren ihm suspekt, seiner Ansicht nach zogen so etwas nur Frauen an.

»Dieser Job ist langweilig«, beschwerte sich Fatima, die mit ihrem federgeschmückten Hütchen und dem figurbetonten Seidenkleid aussah, als sei sie gerade dem schicksten Modejournal des ausgehenden Rokokos entstiegen. »Es passiert überhaupt nichts. Wir stehen die ganze Zeit nur herum.«

Wir standen tatsächlich schon seit über einer halben Stunde hier auf dem Vorplatz der Kirche und warteten. Das Dumme war – es konnte noch länger dauern. Im ungünstigsten Fall mussten wir bis zum Ende des Tages an der Sache dranbleiben. Oder vielmehr: an unserer Zielperson Goethe.

Der Dichterfürst stand ganz in unserer Nähe und betrachtete mit interessierter Miene die Prozession der Würdenträger. Ab und zu machte er sich Notizen. Wie ich aus den für diesen Einsatz zusammengestellten Unterlagen wusste, hatte er über seine gesamte erste Italienreise der Jahre 1786 bis 1788 akribisch Buch geführt, auch über den heutigen Tag. Dummerweise hatte die Zeit genau an der Stelle einen Knick (eine Falte, eine Krümmung, eine falsche Abzweigung, ganz egal, wie man es sich vorstellt), die ihn das Leben kosten konnte. Es war unsere Aufgabe, diese gefährliche Alternativentwicklung zu verhindern. Allerdings hatten wir aus den Bildern unseres magischen Weissagungsspiegels nur den ungefähren Zeitraum des schädlichen Ereignisses herauslesen können, nicht die exakte Uhrzeit. Manchmal funktionierte es eben nicht genauer.

Sebastiano schob sich quer durch die Menge der Zuschauer und trat neben mich. Bei seinem Anblick weitete sich meine Brust, und ich spürte meinen Herzschlag. Obwohl wir uns schon so lange kannten, konnte ich gegen diese Reaktion nicht das Geringste ausrichten – und wollte es auch gar nicht, denn es zeigte mir, dass unsere Liebe viel stärker war als die Zeit. Zwischen uns gab es nichts Flüchtiges und Vergängliches. Sebastiano bildete in meinem Leben die Basis, er war der Anker, an dem sich alles festmachte – mein Alltag, meine Gefühle, meine Hoffnungen. Und das Gute war, dass es ihm genauso erging.

Bei uns beiden hätte wirklich alles perfekt sein können, wenn es nicht diese Schatten gegeben hätte, die auf unserer gemeinsamen Zukunft lagen. Wir wussten, dass im Hintergrund Feinde lauerten, die nur auf ihre Gelegenheit warteten, und einige von ihnen hatten es auf uns persönlich abgesehen. Wir hatten keine andere Wahl, als extrem vorsichtig zu bleiben.

Doch an diesem sonnigen Herbsttag im Venedig des Jahres 1786 mussten wir einfach nur unseren Job erledigen und uns um Goethe kümmern, damit der Faust und andere bahnbrechende Werke noch das Licht der Welt erblicken konnten.

Was Goethe genau passieren würde, wussten wir nicht – der Spiegel hatte uns nur verraten, dass es ein Sturz sein würde, den es zu verhindern galt.

Sebastiano hatte die Umgebung des Platzes gecheckt und nichts Ungewöhnliches entdeckt. Er beugte sich zu mir und flüsterte es mir ins Ohr, und bei der Gelegenheit küsste er mich auch unauffällig auf den Hals. »Hab ich dir schon gesagt, dass du in diesem blauen Samtkleid toll aussiehst?«, raunte er.

Das hatte er, aber ich hörte es mir gerne noch mal an. Er selbst sah auch toll aus, aber das tat er sowieso fast immer. Über seinem dunkelgrünen Brokatwams trug er einen leichten Mantel und ein seidenes Halstuch, dazu eine perfekt sitzende Kniebundhose, feine Strickstrümpfe und elegante Schuhe. Ganz der Venezianer von Welt – der er ja auch war, schließlich war Venedig seine Heimatstadt, nur dass er genau wie ich im zwanzigsten Jahrhundert geboren war.

Ole wandte sich zu uns um. »Fatima und ich haben uns was überlegt«, sagte er. »Damit der Einsatz nicht so langweilig ist.«

»Ich bin für jeden Vorschlag dankbar«, versicherte ich. »Außer, es hat was mit einem Einkaufsbummel zu tun.« Eigentlich hatte ich Shopping gesagt, aber die Sprachumwandlung, die bei allen Zeitreisen in die Vergangenheit aktiv wird, hatte es in ein passenderes Wort abgeändert. Das geschah immer, wenn Einheimische in der Nähe waren, die unsere Unterhaltungen aufschnappten.

»Gute Idee«, sagte Fatima. »Aber eigentlich haben wir uns überlegt, diesen Goethe kennenzulernen und den Tag mit ihm zu verbringen. Dabei können wir gleichzeitig auf ihn aufpassen.«

»Es wäre auch deutlich praktischer, als ständig hinter ihm herzutrotten«, führte Ole aus. »Zumal es ihm sonst irgendwann komisch vorkommen muss, wenn wir dauernd an ihm kleben. Da können wir auch genauso gut mit ihm gemeinsam um die Häuser ziehen und gleichzeitig viel besser verhindern, dass es passiert. In dem Moment, wenn wir mit dem Einsatz fertig sind und zurückspringen, sind wir sowieso aus seinem Gedächtnis gelöscht.«

»Hm«, machte Sebastiano. »Das hat was für sich. Klingt sinnvoll. Was denkst du, Anna?«

Ich nickte begeistert, denn ich fand den Vorschlag nicht bloß sinnvoll, sondern fantastisch. Ich meine – Johann Wolfgang von Goethe! Höchstpersönlich!

Sebastiano sah mich scharf an. »Vielleicht ist es doch keine so gute Idee. Du hyperventilierst.«

»Kein Stück!« Ich schüttelte atemlos den Kopf. »Ehrlich, ich schwöre, dass ich kein Sterbenswörtchen über den Faust sage!«

»Und auch nicht über Götz von Berlichingen«, verlangte Sebastiano.

»Aber der ist doch schon erschienen«, widersprach ich. Eifrig fügte ich hinzu: »Was ist mit dem Werther? Den kennt jeder! Und Goethe würde sich doch hinterher auch gar nicht mehr dran erinnern!«

»Kein Wort, oder wir lassen es.«

Was sollte ich machen?

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Tatsächlich war Goethe hocherfreut, uns kennenzulernen. Er hatte uns schon bemerkt und sich gefragt, woher wir wohl kamen, und als Fatima ihm scheinbar aus Versehen ein Taschentuch vor die Füße fallen ließ, das er aufhob und ihr reichte, war das Eis sofort gebrochen. Einem gemeinsamen Spaziergang durch die Stadt stand nichts mehr im Wege.

Bei der gegenseitigen Bekanntmachung hielten wir uns an unsere abgestimmte Legende – wir legten uns vor unseren Zeitreisen immer einen passenden persönlichen Background zurecht. Sebastiano spielte einen venezianischen Seidenhändler und ich seine treusorgende Gattin. Ole war Sohn und Erbe eines norwegischen Pelzhändlers, der sich schon vor Jahren in Venedig angesiedelt hatte. Fatima war die Tochter eines hiesigen Patriziers und zugleich meine Cousine.

Vor dem Einsatz hatte es Streit über Fatimas Rolle gegeben, sie wollte lieber eine berühmte Tänzerin sein oder eine illegitime Zarentochter. Aber auffallende Rollen mussten die Ausnahme bleiben, und für diesen Fall konnten wir keine brauchen.

Goethe war ein lebhafter, humorvoller Zeitgenosse, er sprühte nur so vor geistreichen Gesprächsbeiträgen und stellte viele kluge und interessierte Fragen, bei deren Beantwortung wir allerdings manchmal improvisieren mussten, nämlich immer da, wo wir unsere Legende vorher nicht allzu detailliert ausgearbeitet hatten und deshalb aus dem Stand einiges hinzuerfinden mussten. Aber Fatima und Ole machten ihre Sache sehr gut, ich war richtig stolz auf meine Schüler.

Wir selbst fragten Goethe kaum etwas. Das meiste wussten wir ja sowieso schon, wozu gab es schließlich Wikipedia. Er hatte in Deutschland auf der Höhe seines Erfolgs alles hinter sich gelassen und war überstürzt nach Italien abgehauen – ein ziemlich klarer Fall von Burnout.

Die erste Zeit seiner zweijährigen Italienreise hatte er inkognito verbracht, weil er seine Ruhe haben wollte, aber je länger er unterwegs war, desto einsamer war es um ihn geworden. Hier in Venedig kannte er praktisch niemanden. Als er von zu Hause aufgebrochen war, um zu seiner früheren Kreativität zurückzufinden, hatte er in einem dichterischen Tief festgesteckt, das er aber inzwischen längst hinter sich gelassen hatte. Wenn er nach Hause zurückkehrte, würde er mit neuer Schaffensfreude wunderbare Werke vollenden.

Wir unterhielten uns auf Italienisch – das heißt, Goethe sprach Italienisch; er hatte es schon als Kind gelernt und beherrschte es sehr gut, während wir anderen in unserer jeweiligen Muttersprache redeten, ohne dass er es merkte. Wie immer funktionierte die automatische Sprachumwandlung perfekt.

Nach einem gemeinsamen Mittagessen – Goethe bestand darauf, uns einzuladen – bummelten wir durch San Marco. Rund um den Dogenpalast herrschte ein reges Treiben. Zahllose Menschen spazierten in ihrem Sonntagsstaat von der Riva degli Schiavoni zum Markusplatz, wo sie die Kaffeehäuser bevölkerten und unter den Arkaden der Prokuratien flanierten.

Goethe verstrickte mich in eine anregende Unterhaltung über ein Theaterstück, das er am Vorabend besucht hatte. »Leider war es über alle Maßen langweilig«, berichtete er. »Gewisse Versformen eignen sich einfach nicht für die italienische Sprache.«

»Die elfsilbigen Jamben sind für Deklamationen sehr unbequem«, stimmte ich zu.

Goethe musterte mich verdutzt. »Genau dasselbe wollte ich auch gerade sagen! Tatsächlich hatte ich es mir sogar bereits mit ebendiesen Worten notiert!« Ein Strahlen verklärte sein Gesicht. »Wie wohltuend, in der Fremde auf einen verwandten Geist zu stoßen! Diese Ähnlichkeit der Gedanken, diese Übereinstimmung der Meinung! Sie sind fürwahr eine äußerst bemerkenswerte junge Dame, Signora Anna!«

Oh, oh! Schwerer Fehler. Sebastianos verärgertes Räuspern sprach Bände, ihm war es auch nicht entgangen. Ich hatte zufällig genau die Stelle wiedergegeben, die Goethe als Kommentar zu diesem Theaterstück in sein Reisetagebuch geschrieben hatte. Welches mir natürlich in allen Einzelheiten bekannt war. Ich musste schlucken und konnte mich nur damit trösten, dass er es sowieso vergessen würde. Zeitreisende blieben nur Eingeweihten im Gedächtnis.

Für Goethe gab es jetzt kein Halten mehr, er meinte, in mir eine Seelenverwandte gefunden zu haben und wollte über die Feinheiten des jambischen Versmaßes reden. »Gestatten Sie, Signor«, sagte er zu Sebastiano, dann hakte er mich unter und setzte sein Gespräch mit mir voller Begeisterung fort. Gefolgt von Sebastiano und unseren beiden Schülern schlenderten wir in Richtung Mole. Zahlreiche Gondeln tanzten dort an der Anlegestelle. Die Sonne blitzte auf dem Wasser und tauchte die Silhouetten von San Giorgio Maggiore und Santa Maria della Salute in ein durchscheinend helles Licht. Ich rief den Inhalt von diversen Vorlesungen ab (wozu hatte ich Literatur mit Schwerpunkt Lyrik studiert – wie praktisch, dass ich es jetzt wenigstens mal anwenden konnte) und glänzte mit allen möglichen Basics zu diversen Versformen. Aber mein Spaß an unserem Auftrag änderte sich schlagartig, als wir die Mole fast erreicht hatten. In meinem Nacken breitete sich der Anflug eines Juckens aus, ein ganz schlechtes Zeichen. Mein Nacken juckt nämlich nur bei bevorstehender Gefahr. Es war so weit. Besorgt wandte ich mich zu Sebastiano um.

Goethe kam unterdessen enthusiastisch auf den gereimten Fünfheber mit Zäsur nach der vierten Silbe zu sprechen und suchte nach Beispielen. Mir fiel spontan eins ein, das ich zitieren konnte, während das Kribbeln in meinem Nacken immer deutlicher wurde. Wir standen jetzt dicht am Kai, wo man von der Piazzetta aus den schönsten Blick über die Einfahrt zum Canal Grande hatte.

»Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n, im dunkeln Laub die Goldorangen glüh’n«, deklamierte ich mechanisch. »Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht …« Ich brach ab und schlug mir die Hand vor den Mund.

Goethe hatte mich losgelassen und zerrte sein Notizbuch aus der Tasche seines Umhangs. »Wo habe ich nur den vermaledeiten Stift?«, rief er. »Diese Worte – was für eine wundersame Schönheit ihnen innewohnt! In der Tat gleichen sie jenen, die mir schon selbst durch den Sinn gingen! Welchem Gedicht haben Sie dieses Beispiel entnommen? Können Sie es zu Ende rezitieren?«

Natürlich hätte ich das gekonnt, und kein Wunder, dass er das Gedicht toll fand, denn er hatte es selbst geschrieben. Nur würde es dummerweise bis zur Veröffentlichung noch etliche Jahre dauern.

Ungeduldig trat Goethe einen Schritt zurück, um mehr Armfreiheit für die Suche nach seinem Stift zu gewinnen. Dabei übersah er eine Frau, die gerade in eine Gondel steigen wollte. Sie hatte ein Hündchen unterm Arm und war tief verschleiert, weshalb sie vermutlich auch nicht bemerkte, dass Goethe direkt hinter ihr stand. Und der sah wiederum sie nicht, weil er in seinen Taschen wühlte.

Im nächsten Moment war es auch schon passiert, es ging alles unglaublich schnell. Der Hund sprang der Frau vom Arm und geriet Goethe zwischen die Beine. Er stolperte, versuchte sich irgendwo festzuhalten und erwischte den Schleier der Frau. Der bot ihm aber keinen Halt, sondern riss unter seinem Griff entzwei, worauf die entrüstete Frau ihm einen heftigen Schubs versetzte, der ihn geradewegs über die Mole in das dunkle, tiefe Wasser des Bacino di San Marco beförderte.

»Das glaube ich jetzt nicht«, sagte Sebastiano zutiefst entnervt. Doch er zögerte keine Sekunde, sondern sprang dem versinkenden Dichter sofort hinterher. Ich konnte nur hilflos dabei zusehen, wie er mit einem eleganten Kopfsprung in den schmutzigen Fluten verschwand.

»Das war also der Sturz«, sagte Ole, während er neben mich trat. Erstaunt schüttelte er den Kopf. »Wer hätte das gedacht! Ich jedenfalls nicht.«

Ich auch nicht. Die Symbolik des Spiegels war manchmal vertrackt, man konnte bei der Deutung der gezeigten Ereignisse Fehler begehen und Abläufe falsch einschätzen. Wir hatten zwar gewusst, dass das gefährliche Ereignis ein Sturz sein würde, denn auf den Bildern hatten wir Goethe fallen sehen. Doch mangels Tiefenschärfe war keine Umgebung zu erkennen gewesen – wir waren einfach alle davon ausgegangen, dass er aus einem Fenster oder von einem Gebäude stürzen würde. Stattdessen sank er jetzt dem Grund der Lagune entgegen. Und mit ihm Sebastiano.

Ich konnte vor Entsetzen kaum atmen. Sebastiano war ein guter Schwimmer und konnte prima tauchen. Fragte sich nur, wie tief. Das Jucken in meinem Nacken hatte kein bisschen nachgelassen.

Fatima drängte sich zwischen ein paar sensationslüsternen Gaffern durch, die sich am Rand der Mole versammelt hatten und sehen wollten, was los war. Die aufgeregten Rufe der Umstehenden übertönten ihre Stimme, aber ich verstand sie trotzdem.

»Du hast das Ereignis herbeigeführt!«, sagte sie mit großen Augen zu mir. »Du hast etwas zu ihm gesagt, das ihn zu diesem ungeschickten Verhalten gebracht hat!«

Zu meinem Schrecken hatte sie völlig recht! Ich war drauf und dran, Sebastiano hinterherzuspringen, um ihn da rauszuholen. Wenn der arme Goethe ertrank, war das entsetzlich, und ich wusste jetzt schon, dass ich mir das nie verzeihen würde. Aber ich konnte nicht ohne Sebastiano leben. Lieber starb ich selbst bei dem Versuch, ihn zu retten.

Gerade, als ich zum Sprung ansetzen wollte, durchstießen nacheinander zwei Köpfe die dunkle Wasseroberfläche – zuerst tauchte Goethe auf, dann Sebastiano.

Ich brach vor Erleichterung in Tränen aus. Ringsum erhob sich Jubel, die Leute klatschten Beifall.

»Bravo!«, riefen sie. »Bravissimo!«

Goethe wurde in ein Boot und von dort an Land gehievt. Wasserspuckend und hustend rang er nach Luft und fluchte zwischendurch über den venezianischen Müll, der aus allen Kanälen in die Lagune geschwemmt werde und das Wasser eintrübe, sodass man, wenn man einmal hinein- und unter die Oberfläche geraten sei, das Oben nicht vom Unten unterscheiden könne. Alles in allem schien er das unfreiwillige Bad jedoch ohne besondere Beeinträchtigungen überstanden zu haben.

Ich warf mich Sebastiano in die Arme, nachdem er von helfenden Händen ebenfalls auf den Kai gezogen worden war. »Es tut mir so leid!«, stammelte ich.

Er trat einen Schritt zurück und wischte sich mit beiden Händen die stinkenden Algen aus dem Gesicht. »Warum? Du kannst doch nichts dafür.«

Da war ich mir nicht so sicher. Von José, dem Chef unserer Crew und Mitgründer der Zeitreise-Akademie, hatte ich zwar gelernt, dass manche Einsätze zwangsläufig von einer Art Self-fulfilling-Prophecy-Phänomen begleitet sind (was in etwa bedeutet, dass gewisse Ereignisse, die man verhindern will, überhaupt erst dadurch stattfinden, dass man es versucht), und er hatte auch schon mehrmals beteuert, dass das einen Einsatz nicht weniger wichtig mache. Das anzuzweifeln sei völlig sinnlos, so unergiebig wie die Frage, was zuerst da war – die Henne oder das Ei.

Dennoch ließ sich das nagende Gefühl, durch eigene Fehler ein Eingreifen erst nötig gemacht zu haben, mit dieser Logik schlecht wegdiskutieren.

»Wenigstens ist der Einsatz jetzt vorbei«, sagte Ole. »Dieses Gerede über Gedichte war die reinste Folter. Wie können Verse Füße haben?«

Zum Glück hatte Goethe das nicht gehört. Wir begleiteten ihn auf schnellstem Weg in sein Hotel, wo er sich umzog und seine nassen Sachen in die Wäscherei gab. Sebastiano kaufte einem Hoteldiener, der in etwa seine Größe hatte, einen Satz Männerkleidung ab und ließ ihm dafür seine durchweichte Kluft da.

In seinem überschwänglichen Dank wollte Goethe zum Abschied von uns wissen, wo wir wohnten, weil er sich unbedingt noch erkenntlich zeigen wolle. Sebastiano nannte ihm eine Fantasieadresse, die Goethe sich so leicht merken konnte, dass er sie sich nicht notieren musste.

Sobald wir in unsere eigene Zeit zurücksprangen, würde er uns und den Sturz ins Wasser vergessen. Er würde sich ein wenig ausruhen, seine Eindrücke von der Dogenprozession niederschreiben und danach auf die Giudecca übersetzen, um sich bei Nacht den Tasso anzuhören, den traditionellen Gesang venezianischer Schiffsleute und Gondolieri.

Und irgendwann würde er das Gedicht über die Zitronen und Orangen schreiben, das berühmte Mignon-Lied – womit sich unweigerlich wieder die Frage nach der Henne und dem Ei erhob. Goethe konnte das Gedicht nicht von mir haben, da ich es von ihm hatte. Außerdem konnte ich überhaupt nicht dichten. Und er hatte mich und unsere ganze Begegnung längst vergessen. Ich sollte einfach aufhören, darüber nachzudenken.

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