Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau vergewaltigt. Jede 7. Frau ist in ihrem Leben mindesten ein Mal sexualisierter Gewalt ausgesetzt, und die Mehrheit aller Frauen schweigen. Nur 15 Prozent gehen zur Polizei, um ihre Peiniger anzuzeigen, denn die meisten schämen sich, rechnen sich nur geringe Erfolgschancen aus oder versuchen den Vorfall schnell zu vergessen. Die Beweisaufnahme nach einer Tat ist schwierig, die Polizeibefragung gleicht einem Verhör und im Gerichtszahl empfinden sie das Procedere als erniedrigend. »Damit muss Schluss sein!«, fordert Marlene Lufen und beschreibt sehr persönlich anhand vieler Beispiele, warum Frauen schweigen und was sich konkret in der Polizeiarbeit, aber auch in der Gesellschaft ändern muss.
Sympathisch und immer gut gelaunt – so kennen alle Frühaufsteher die Moderatorin Marlene Lufen, die seit 2006 das Sat. 1 Frühstücksfernsehen moderiert. Dass sie fast vergewaltigt worden wäre, verschwieg sie bislang, bis sie in einem emotionalen Post auf Facebook über das traumatisierte Erlebnis berichtet. Selbst erschrocken über die vielen schrecklichen Berichte, die sie von unzähligen Frauen erhält, zeigt Marlene Lufen in ihrem Buch, warum es so wenige von ihnen gelingt, sich Gehör zu verschaffen und ihre Peiniger anzuzeigen.
MARLENE LUFEN
DIE IM DUNKELN
SIEHT MAN NICHT
Warum missbrauchte Frauen schweigen
BASTEI ENTERTAINMENT
Digitale Originalausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
unter Verwendung eines Motivs von © Tomas Rodriguez, Köln
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-5589-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Meinen Eltern, deren bedingungslose Liebe mich stark gemacht hat für das Leben. Und allen anderen Müttern und Vätern, die das ebenso tun.
Ich sitze mit meinen Schulfreundinnen am Küchentisch meiner ersten eigenen Wohnung in Berlin-Steglitz. Es ist das Jahr 1994, unser Abi liegt schon eine Weile zurück. Danach waren wir in alle Winde verstreut: London, Neuseeland, Berlin-Kreuzberg, Ausbildung, Au-pair, Studium. Nun treffen wir uns endlich mal wieder, tauschen uns aus über alles, was im Leben eben so passiert. Wir trinken Wein, genießen eine Vertrautheit, die man vielleicht nur entwickelt, wenn man gemeinsam erwachsen geworden ist. Die Gespräche sind ausgelassen, lustig, immer ehrlicher, plötzlich sehr ernst. Meine Freundin Sabine erzählt uns, wie der Freund ihrer Mutter sie jahrelang befummelt hat. Wir wussten eigentlich schon davon, sie hatte es damals mit fünfzehn einmal angedeutet. Ich erzähle von einem Erlebnis bei einem Fotoshooting. Der Fotograf, selbst noch Student, stürzte sich am Ende der Aufnahmen auf mich, packte mich und zerrte mich aufs Bett. Er war grob, seine Hände und Knie fixierten mich, sein Gesicht sah aus wie von einem Monster. Jahrelang habe ich nicht mehr darüber nachgedacht, viel zu peinlich war das alles. Ich empfand Scham, weil ich das Gefühl hatte, mitschuldig zu sein. Wie sonst hätte so etwas passieren können? Irgendwann später allerdings wächst in mir das Bewusstsein, dass nicht ich falsch gehandelt habe, sondern allein dieser Mann.
Dann meldet sich meine Freundin Ellie zu Wort. Sie trinkt noch einen großen Schluck Rotwein und erzählt uns eine Geschichte, an deren Ende wir alle in Tränen aufgelöst sind. Kurz nach dem Abitur war sie in einen sehr süßen jungen Mann verknallt. Wir kannten ihn von Fotos, ziemlich gutaussehend, sportlich. Sie war schon immer schüchtern, schminkt sich noch heute fast nie und war in Sachen Jungs eher ein Spätstarter. Zu dem Zeitpunkt, als sie sich so unglaublich in ihn verliebte, hatte sie auf jeden Fall noch nie mit einem Jungen geschlafen.
Sie erzählt uns, wie sie sich mit ihm verabredete. Zuerst im Café, dann ein gemeinsamer Spaziergang, alles sehr romantisch. Ein paar Tage später waren sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung, die gleich bei mir um die Ecke liegt. Bei Kerzenschein haben sie ein bisschen gequatscht.
Dann hat er sie vergewaltigt.
Meine Freundin Ellie war noch nicht so weit. Er konnte das nicht verstehen. Sie wollte nur ein bisschen zärtlich sein, er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Und so endete dieser zarte Flirt mit dem Brutalsten, was man sich als junge Frau vorstellen kann. Es war so brutal, dass sie noch Wochen Schmerzen hatte. Sie hatte das Gefühl, mit niemandem darüber reden zu können, nicht mal mit uns, ihren besten Freundinnen. Auch bei ihr war die Scham groß, das Gefühl, sich selbst in diese Situation gebracht zu haben.
Jahre später sind wir nun die Ersten, die sie endlich einweiht. Wir sitzen da und können nicht glauben, was unsere Freundin durchgemacht hat, ohne dass wir etwas davon geahnt haben. Ihrem späteren Mann erzählt sie auch davon, er kann mit der Situation umgehen und sie behutsam überzeugen, dass andere Männer anders sind als dieser. Ihre Eltern hat Ellie bis heute nicht eingeweiht. Zu groß ist die Sorge, dass es ihnen Kummer bereitet …
Als ich mit den Recherchen zu diesem Buch begann, war vom Harvey-Weinstein-Skandal und der #MeToo-Debatte noch keine Rede, und es gab noch keinen Talkshow-Tsunami in Deutschland rund um das Thema »Sexismus« und »Sexuelle Gewalt gegen Frauen«. Bis dahin hatte sich kaum eine prominente Person jemals öffentlich geäußert oder gar an die Seite eines Vergewaltigungsopfers gestellt. Die Reaktionen waren zu diesem Zeitpunkt vorhersehbar und allesamt negativ: Wer es wagte, sich öffentlich an die Seite eines Opfers zu stellen, »vorverurteilte« den Täter und war verblendet, nicht objektiv und wahrscheinlich eine Emanze. Dass damit das Opfer aber stets als mögliche Lügnerin diffamiert wurde, nahm man in Kauf. Das war der Stand im Sommer 2016. Es war der Sommer, in dem Gina-Lisa Lohfink zwei Männern Vergewaltigung vorwirft, mit denen sie zuvor gefeiert hatte. Und wenn Gina-Lisa feiert, dann fließt Wodka, dann trägt sie nicht viel Kleidung am Körper und macht Männern mit voller Absicht heiße Gedanken.
Ihre Geschichte ist ein komplexer Fall, und die allgemeine Meinung lautet, dass er nicht geeignet sei, die Rechte der Frauen einzufordern. Denn Gina-Lisa ist nicht das, was man als Role Model der emanzipierten Frau bezeichnen würde. Und doch oder gerade deswegen empfinde ich die mediale Berichterstattung als unfair. Beim Thema Sexualstraftaten scheint das Bild in den Medien sehr wenig der Realität zu entsprechen. Bei jedem öffentlich werdenden Fall von Vergewaltigung wird stets eine Fifty-fifty-Chance unterstellt, dass das vermeintliche Opfer sich alles ausgedacht haben könnte. Warum nur kenne ich dann in meinem eigenen Umfeld keinen einzigen Mann, dem eine Falschbeschuldigung passiert ist, während gefühlt jede zweite Frau schon einmal sexuell bedrängt, genötigt oder sogar vergewaltigt wurde? Ist vielleicht etwas falsch an dieser Berichterstattung?
Heute kennen wir die Antwort: Jede siebte Frau erlebt mindestens einmal im Leben schwere sexuelle Gewalt. Und für einen Mann ist die Wahrscheinlichkeit erheblich größer, selbst Opfer sexueller Gewalt zu werden, als jemals fälschlich einer Vergewaltigung bezichtigt zu werden.
Am 23. August 2016 entscheide ich mich mit pochendem Herzen, mein Erlebnis beim Fotoshooting von damals auf Facebook öffentlich zu machen. Ich war zum Zeitpunkt des Vorfalls neunzehn Jahre alt, und es lag außerhalb meiner Vorstellung, dass ein charmanter, gutaussehender Mann wie dieser Fotograf plötzlich zur Bedrohung werden könnte. Es gelang mir damals, mich zu befreien und wegzurennen. Ich fuhr direkt zu meinen Eltern und erzählte ihnen die ganze Geschichte. Weder meinen Eltern noch mir kam es in den Sinn, zur Polizei zu gehen und den Mann anzuzeigen.
Jahrelang habe ich mich gefragt, warum ich diesen Schritt nicht mal in Erwägung zog. Offenbar ist es die natürliche Reaktion auf einen solchen Übergriff, erst einmal nichts zu tun. Wenn Anwälte und Journalisten als Argument gegen die Glaubwürdigkeit der Frau immer wieder anführen, sie hätte den Täter direkt anzeigen oder wenigstens beim Arzt Beweise sichern können, zeugt das von großer Unwissenheit. Der erste Gedanke nach einer solchen Tat – das haben unzählige Gespräche mit vergewaltigten Frauen gezeigt – gilt dem Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit. Die Frauen wollen duschen, den Schmutz abwaschen, und dann nur noch Ruhe, sich ins Bett verkriechen, den Schmerz ertragen und schnell verdrängen. Sie empfinden Ekel und Scham. Einem Fremden das Erlebte kurz darauf detailliert zu beschreiben ist für die meisten Opfer das Allerletzte, was sie sich vorstellen können.
Deswegen schreibe ich meine Geschichte auf Facebook. Was dann passiert, überwältigt und überfordert mich schnell. Mein Post wird hundertfach geteilt und kommentiert. Frauen schreiben direkt unter meinen Post über ihre Storys oder deuten an, dass auch ihnen Schlimmes widerfahren sei. Ich erhalte unglaublich viele E-Mails, persönliche Nachrichten, erfahre von rund fünfhundert Schicksalen. Manche Frauen tragen das schreckliche Geheimnis seit ihrer Kindheit mit sich herum, ohne jemals mit irgendjemandem darüber gesprochen zu haben. Andere erleben während ihrer Ehe ein Martyrium, das noch immer anhält. In der Anonymität der elektronischen Kommunikation offenbaren sich Opfer plötzlich mir gegenüber, manche nur in einem Satz, manche in seitenlangen E-Mails. Unter ihnen sind auch einige Männer. Unter ihnen sind Freunde und Kollegen. Viele schreiben davon, dass ihnen ein hohes Maß an Ablehnung entgegengebracht werde, wenn sie davon erzählten. Deswegen schweigen die meisten und machen dieses furchtbare Kapitel ihres Lebens mit sich allein aus. Ich kann das alles gar nicht fassen. Boulevardmagazine wollen Statements von mir und Stellungnahmen zum Fall Gina-Lisa. Vereinzelt wird mir sogar vorgeworfen, ich würde diese alte Geschichte nur hervorholen, um mich wichtigzumachen. Ein klassisches Totschlag-Argument, das immer zieht und Frauen verunsichern soll.
Ich widerstehe dem Wunsch, alles zu löschen, um wieder meine Ruhe zu haben. Stattdessen mache ich etwas ganz anderes: Ich beginne, die Frauen zu kontaktieren, die mir ihre Geschichte erzählen wollen. Und so entsteht dieses Buch.
Auf den folgenden Seiten kommen – stellvertretend für unzählige andere – Frauen zu Wort, deren Leben sonst im Verborgenen stattfindet. Frauen, die ihr Schicksal tragen und versuchen, ein normales Leben zu führen. Einigen gelingt es, vielen gelingt es nicht.
Gemeinsam wollen wir zeigen, in welchen Lebensbereichen Frauen besonders gefährdet und welche Muster erkennbar sind – im Verhalten der Täter, aber auch in den seelischen und körperlichen Auswirkungen auf die Opfer. Wir zeigen, was bei einer Anzeige bei der Polizei passiert, wie eine Gerichtsverhandlung bei Sexualstraftaten verläuft und welche Unterstützung es für die Opfer gibt, welche Therapien gegen das schwere Trauma helfen und wie sich Betroffene selbst helfen können.
Doch zuallererst wollen wir den Menschen klarmachen, dass dieses Problem für Frauen existiert und dass es ein sehr viel größeres ist, als bisher in der Öffentlichkeit dargestellt wurde. Es ist kein Randproblem, es betrifft Frauen aus allen Schichten und Kulturen. Wenn Sie dieses Buch in der U-Bahn lesen oder im Wartezimmer einer Praxis, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass mindestens eine betroffene Frau mit Ihnen im Raum sitzt.
Wenn wir wollen, dass sich an dieser Situation etwas verbessert und die Gefahr, Opfer sexueller Gewalt zu werden, für Kinder und Frauen sinkt, müssen wir Vorurteile abbauen und die Realität aushalten. Das automatische Verunglimpfen der Frauen, so wie es bisher unzählige Male in der Öffentlichkeit stattgefunden hat, muss ein Ende haben. Selbst wenn einige der Fakten und Geschichten schwer zu ertragen sind, sollten wir sie kennen, wenn wir das nächste Mal über das Thema sexuelle Gewalt diskutieren.
Ich wünsche Ihnen starke Nerven beim Lesen, und den vielen Frauen, die sich mir geöffnet haben, danke ich von Herzen.
Ihre Marlene Lufen
Im Frühjahr 2018
»Mit diesem Dreck geht man nicht hausieren.«
Esther Gemsch, Schauspielerin und mutmaßliches Opfer von Regisseur Dieter Wedel
Während der Arbeit an diesem Buch platzt im Herbst 2017 die Harvey-Weinstein-Bombe. In Hollywood werfen erst drei, dann immer mehr Schauspielerinnen dem Regisseur sexuelle Nötigung bis hin zu Vergewaltigung vor. Ein nie da gewesener Skandal kommt an die Oberfläche und bringt das Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen am Arbeitsplatz ins Bewusstsein einer aufgewühlten Gesellschaft. Es beherrscht Gespräche unter Freunden und Kollegen, Talkshows und alle, wirklich alle Nachrichtenmagazine. Hollywood, weit weg und doch so nah. Denn was Gwyneth, Angelina und Uma mit dem feisten Filmproduzenten erlebt haben, das kennen auch Sabine, Stefanie und Hildegard. Und genauso wie die berühmten Schauspielerinnen haben auch hierzulande Frauen jahrelang entschieden, lieber über das Erlebte zu schweigen.
Unvorstellbar zunächst das Ausmaß der Anschuldigungen, doch irgendwann kann auch der letzte Zweifler nicht mehr ignorieren, was hinter vorgehaltener Hand offenbar sehr vielen Menschen bekannt war. Plötzlich wird überall auf der Welt über Sexismus diskutiert und über die Drohgebärden durch Vorgesetzte, denen Frauen im Beruf ausgesetzt sind. Nach Jahrzehnten des stillen Hinnehmens beginnt eine Wahrnehmung und Solidarisierungswelle, deren Fehlen ursprünglich der Anlass für dieses Buch gewesen ist. Bei Twitter und Facebook schreiben Frauen ihre Erlebnisse auf und nutzen den Hashtag #MeToo. Zu den Golden Globes erscheinen fast alle Frauen in Schwarz, Oprah Winfrey hält eine flammende Rede und gilt kurze Zeit als einzig würdige nächste US-Präsidentin. Wir alle diskutieren mit Freunden, Kollegen, mit Männern und Frauen. Wir fragen unsere Mütter und unsere Töchter. Es bewegt sich etwas in unserer Gesellschaft, auch an meinem Arbeitsplatz. Zu einer der Konferenzen des Frühstücksfernsehens bringt unser Chef, nach Wochen leidenschaftlichen und oft kontroversen Diskutierens, eines Morgens eine weiße Rose mit in den Raum. Er stellt sie auf den Tisch und verkündet das Ende der alten Verhaltensmuster und den Beginn einer neuen Zeit, in der sexistische Sprüche und Witze über Frauen nicht mehr geduldet werden. Eine Kollegin bricht am Ende in Tränen aus und sagt, sie habe nicht geglaubt, dass sie das in ihrem Berufsleben noch erleben werde. Dies sei ein historischer Tag! Viele Kollegen sind ähnlich ergriffen.
Zu Beginn meiner Recherchen bin ich der Frage nachgegangen, warum Frauen sich zu einem überwältigend großen Teil entscheiden zu schweigen, wenn ihnen sexuelle Nötigung oder gar Vergewaltigungen passieren. Warum zeigen 95 Prozent der Opfer eine so schreckliche Tat nicht bei der Polizei an? Warum spricht die Hälfte der Betroffenen sogar im privaten Kreis mit niemandem über das Erlebte? Warum ist es offenbar der selbstverständliche Reflex einer Frau, darüber lieber zu schweigen, als offenzulegen, was ihnen passiert ist?
Die Antwort auf diese Frage liefert schon kurze Zeit später der Skandal um den Regisseur Dieter Wedel. Vier Schauspielerinnen berichten nach vielen Jahren des Schweigens über brutalsten Missbrauch, Schikane und Vergewaltigung durch den deutschen Filmemacher. Er soll auf sadistische Art seine Machtposition als erfolgreicher Regisseur ausgenutzt haben und Schauspielerinnen während der Dreharbeiten bedrängt, geschlagen, bespuckt und vergewaltigt haben. Nach Recherchen der Zeitung »Die Zeit« wurden während der Dreharbeiten zum Film »Bretter, die die Welt bedeuten« in den Achtzigerjahren zwei Frauen so schwer verletzt, dass eine die Arbeiten abbrechen musste, eine andere als Folge der Misshandlungen ihr ungeborenes Kind verlor. Sowohl die Produktionsfirma als auch Verantwortliche des öffentlich-rechtlichen Senders, des Saarländischen Rundfunks, wussten von den Vorkommnissen! Es gibt medizinische Gutachten und Atteste, aus internen Unterlagen des SR geht hervor, dass man sich in einem Schriftverkehr darüber austauschte, wie man mit der Situation umgehen solle. Alle Beteiligten kannten zu diesem Zeitpunkt die Machenschaften des Regisseurs und die dramatischen Auswirkungen auf die Gesundheit der Frauen sowie den damit verbundenen finanziellen Schaden für die Produktion. Am Ende stand die Entscheidung fest, wie man weiter verfahren sollte: Man unternahm nichts.
Man ließ die Schauspielerinnen allein in ihrer Situation, sowohl die Gesundheit als auch die Karriere von beiden hat großen Schaden genommen. Dennoch haben weder der Sender noch die Filmfirma ihre Verantwortung wahrgenommen und die Frauen geschützt oder im Nachhinein juristisch unterstützt. Man wollte es sich mit dem erfolgreichen Genie nicht verscherzen und auch in Zukunft gute Einschaltquoten mit ihm erzielen.
Dieser Vorgang liefert die Blaupause für die Antwort auf die Frage, warum so viele Frauen über Jahrzehnte geschwiegen haben. Selbst wenn du Zeugen hast, selbst wenn dir andere glauben, am Ende bist du die Schwächere und deinen Job los. »Jemand, der als illoyal gilt, wird nicht mehr besetzt«, sagte eine andere Schauspielerin, die Dieter Wedel ausgesetzt war. Und was in der Filmbranche gilt, trifft auch auf andere Arbeitsbereiche zu. Diese Frauen so wie Millionen andere haben geschwiegen, weil sie wussten, dass sie sich selbst mit dem Vorwurf das Leben zur Hölle machen würden. Also versuchten sie, einen Haken dran zu machen und zu vergessen. Das ist oft die einzige Entscheidung, die Betroffene selbst fällen können, und eine Form der Selbstbestimmung.
Die Frage, die bleibt: Warum jetzt? Warum sprechen jetzt so viele das aus, was offenbar seit Jahren Praxis in der Arbeitswelt ist? Ist das nicht auch feige, so lange zu schweigen? Und springen jetzt womöglich Frauen auf den Zug auf, die sich einfach nur wichtigmachen wollen? Mag sein, dass das vereinzelt vorkommt. Aber die Vergangenheit zeigt, dass erst eine ungeheure Zahl an Betroffenen den Aussagen Glaubwürdigkeit verschafft. Weit über dreißig Frauen gegen Harvey Weinstein und vier Frauen und zig weitere, deren Namen Redaktionen zum Schutz unter Verschluss halten, gegen Dieter Wedel. Der singuläre Vorwurf einer einzelnen Person hatte nämlich bis jetzt meist nur eine einzige Konsequenz: das Ende der Karriere des Opfers.
Die Diskussion und das Öffentlichwerden der furchtbaren Zustände, der viele Frauen schutzlos ausgesetzt sind, sind wichtig und haben unsere Gesellschaft schon jetzt vorangebracht. Doch noch immer fühlt sich eine unglaublich große Zahl an Frauen allein gelassen mit ihrem Schicksal. Sie sind Gewalt ausgesetzt und befürchten doch, dass niemand ihnen hilft. Sie haben Schlimmstes durchgemacht und werden als Lügnerin dargestellt, wenn sie es aussprechen. Wir brauchen nun Solidarität gegenüber Nachbarinnen und Freundinnen, Müttern, Großmüttern, Töchtern, Kolleginnen.
Wir müssen weiter darüber sprechen. Denn Veränderung beginnt mit Hinhören!