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Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Michael Lissek

1.

Michael Lissek: Feature und Zimtbasilikum. Von der Notwendigkeit eines Feature-Diskurses.

- Diskussion

2.

Hermann Bohlen: Ein Mann. Ein Wort. Über Sprache in den Feature von Peter Leonhard Braun.

- Diskussion

3.

Tanja Runow: Das Ende des Monologs. Wie Michail Bachtin das polyphone Erzählen (er)fand.

- Diskussion

4.

Helmut Kopetzky: ICH als ICH – Radio in der ersten Person Singular

- Diskussion

5.

Walter Filz: Das kann durchaus circa 20 Minuten dauern. Feature-Rezepte nach Antje Vowinckel

- Diskussion

6.

Antje Vowinckel: Tupper-Mozart. Über Musik im Nicht-Musik-Feature

- Diskussion

7.

Jens Jarisch: Der Abend beginnt ohne jedes Geräusch. Die Entwicklung von Unmittelbarkeit und Stereofonie im Werk Peter Leonhard Brauns

8.

Michael Lissek: Das Gerät funktioniert nicht. Oder: Angezogene Leute. Zur Featureästhetik Sibylle Tamins.

- Diskussion

9.

Christiane Seiler: Das Atelier de Création Radiophonique: Eine Ästhetik der Freiheit.

- Diskussion

Vorwort

Im Dezember des Jahres 2010 trafen sich im Nordkolleg Rendsburg Feature-AutorInnen, -RegisseurInnen, -RedakteurInnen und -HörerInnen, um über das zu sprechen, was sie gemeinsam angeht: das Radio-Feature. Ihr Ziel: einen Diskurs zu etablieren und Texte zu generieren, die sich mit der Geschichte und der Ästhetik eines der zwei genuinen Genres der Radiogeschichte beschäftigen.

Seit (spätestens) 1947 existiert das Radio-Feature in Deutschland; der Versuch des Jahres 2010 aber war neu. Obwohl seit 63 Jahren regelmäßig produziert & ausgestrahlt, hat sich kein wesentlicher Diskurs über das Radio-Feature ausgeprägt. Niemand schreibt darüber, und das Sprechen über die »radiophone Dokumentation« findet im wohlmeinenden Rahmen nationaler Feature-Konferenzen zwischen gleichgestellten, festangestellten, der eigenen Sendeplatz-definition unterworfenen RedakteurInnen statt, bei denen keine Krähe der anderen ein Auge aushackt. International wird das Feature alljährlich auf den großen Preisverleihungen, dem Prix Europa oder Prix Italia, besprochen: Ein babylonisches Schaulaufen, das chronisch die konsensfähigsten und/oder (politisch) korrektesten Stücke als zukunftsweisend entdeckt.

Kritische Texte aber? Analyse von Personalästhetiken von AutorInnen? Entwicklungsstränge ihrer Werke? Ihre Genese und potentielle Intertextualität? Vollständige Werksverzeichnisse wenigstens oder Lebensläufe der wichtigsten Protagonisten des Radio-Features?

Nada.

Und auch »der senderexterne Diskurs« fehlt. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, sind universitäre Abhandlungen über das Radio-Feature zumeist akademische Qualifikationsarbeiten, die in Deutschland nicht publiziert werden. Und Rezensionen von Feature, die es in FAZ, TAZ, SZ oder sogar HÖRZU bis vor einigen Jahren noch (hin und wieder) gab, waren zumeist Inhaltsangaben oder »Hör-Tipps«.

Das Radio-Feature zeichnet eine frappierende Geschichts- und Ästhetikvergessenheit aus.

Die Idee, die hinter dem Konzept des Symposions 2010 stand, war, Feature-AutorInnen nach Rendsburg einzuladen, um sie im Rahmen eines zu kreierenden Feature-Diskurses über ein Thema ihrer Wahl sprechen zu lassen. Die Hoffnung bestand darin, dass eine Autorin/ein Autor mit der Wahl ihres oder seines Themas auch über sich selber sprechen würde. Eine Klappe, zwei Fliegen, sozusagen. Diese Hoffnung hat sich erfüllt.

Dass es gerade AutorInnen waren, die in Rendsburg über das Feature sprechen sollten, fand aber noch in einer anderen Beobachtung seinen Grund. Denn wann immer während der Vorbereitung des Symposions Medien- oder LiteraturwissenschaftlerInnen, Literatur- oder Theater-kritikerInnen gebeten wurden, am geplanten Symposion mit einem Vortrag sich zu beteiligen, war die Freude groß, die Kenntnis hingegen klein. Selbst in einer medien-oder kunstorientierten Fachöffentlichkeit endet in der Regel das vorhandene Wissen über das Feature als Genre, Form und ästhetisch Infragestehendes mit den in die Jahre gekommenen Stücken der 1970er und den ästhetischen Sicht- und Produktionsweisen ihrer redaktionellen Epigonen. Der gerade im Bereich des deutschen Features herrschende Anti-Intellektualismus, der sich tarnt als Virilität oder offenbart als fröhlicher Dilettantismus, hat in Kombination mit der Geschlossenheit der Archive ganze Arbeit geleistet. Kritische Intelligenz ist dem Feature abhanden gekommen. Die ReferentInnen haben mit ihren Vorträgen ganz von vorne beginnen müssen.

*

So Hermann Bohlen. In seinem Vortrag »Ein Mann. Ein Wort« denkt er über die Stücke des Feature-Pioniers Peter Leonhard Braun nach. Braun war es, der Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre die Originaltonaufnahme als Erzählstrategem ins Radio importierte und damit das Feature, wie wir es heute kennen, allererst erfand. Bohlen macht sich Gedanken aber weniger über Brauns revolutionäre Originaltonaufnahmen, als über dessen eigenwillige Sprachverwendung: »Ich höre ein Feature von Peter Leonhard Braun […], höre es gern, aber doch begleitet mich dabei ein lästiges Gefühl von Peinlichkeit.« Es ist das militärisch Knappe an Brauns Sprache, das Bohlen aufhorchen lässt: »In Abgrenzung zum Schwulst des 19. Jahrhunderts […] hatte dieser Stil […] gewiss einmal einen kühnen Klang und etwas Reinigendes. Auf mich heute wirkt er allerdings komisch, lächerlich.« Und doch gesteht Bohlen angesichts Brauns Stück »Hyänen«: »Den Hörer einer Radiosendung dazu bringen, sich mit einem Gnu-Kälbchen zu identifizieren: Das muss man erstmal hinkriegen«.

Auch Jens Jarisch arbeitet sich in seinem Vortrag »Der Abend beginnt ohne jedes Geräusch« am Feature-Pionier Peter Leonhard Braun ab. Die Revolution, die »Braun im Rundfunk angezettelt hat«, so Jarisch, »war […] keine technische, sondern eine erzählerische.« Anders als Bohlen konzentriert Jarisch sich in seinem Vortrag auf Brauns stereofone Originalton-Aufnahmen. Die Verwendung von Atmosphäre, Geräuschen und Außenaufnahmen unterteile »die gesamte Feature-Tradition in ein Vorher und ein Nachher«. Jarisch macht deutlich, welche Widerstände es in den kulturellen Hochburgen des gesprochenen Wortes, den Funkhäusern, Ende der 1960er Jahre gegen eine solche Entwicklung gab: «Außenaufnahmen waren wie der Straßendreck, den man sich bitte von den Schuhen klopfen sollte, bevor man die heiligen Hallen des Rundfunkgebäudes betrat.« Braun sei es gewesen, der dem Funk als erstes eine »Sounddramaturgie« beibrachte, heißt: Durch Geräusche abbildete, wovon der Text nicht spricht/nicht sprechen kann. »Die Revolution bestand in der Entdeckung von Unmittelbarkeit, von akustischer Sinnlichkeit, von einer plötzlichen Unabweisbarkeit von Geschehnissen, mehr noch, deren Erfahrbarkeit.«

Eine ähnliche radiophone Direktheit wurde zur selben Zeit versucht in Frankreich zu erreichen – allerdings mit gänzlich anderen Mitteln, einem anderen intellektuellen Hintergrund und anderen Ergebnissen als in Deutschland. Christiane Seiler schreibt darüber in »Das Atelier de Création Radiophonique: Eine Ästhetik der Freiheit«. Das Atelier, gegründet »im Kielwasser des Mai 68«, war von vornherein »angetrieben von dem Drang, aus der ‚geschlossenen’ Rundfunkanstalt herauszukommen und den radiophonen Raum für die Außenwelt zu öffnen«. Einer seiner Hauptprotagonisten, Rene Farabet, berief sich in seiner Radioarbeit auf Artaud, Deleuze und Derrida. Dem Atelier de Création Radiophonique (ACR) ging es in seinen Dokumentationen auch und gerade darum, »der Linearität ein Schnippchen zu schlagen […] Es sollte etwas erblühen, sich entfalten, die Grenzen der Erkenntnis sollten verschoben werden.« Seiler liest einige Stücke des ACR mit dem Linguisten Roman Jakobson, und sie benennt an ihnen den wesentlichen Unterschied zwischen französischer und deutscher Feature-Ästhetik. In den Werken des ACR war die Originaltonaufnahme nicht als bloßer Repräsentant des (abgebildeten) Objektes, sondern immer schon auf seine poetische Funktion und potentielle Polyvalenz hin gedacht. Die Autoren des ACR verstanden sich als »Ährenleser«, und das »Ährenlesen ist eine achtsame Tätigkeit, die sich dem widmet, was andere vielleicht übersehen haben. Das Gegenteil eines gewaltsamen Zugriffs auf die Welt.«

Aber nicht nur Roman Jakobson kann beim Verständnis dessen helfen, was Feature ist oder sein könnte, sondern auch der russische Formalist Michail Bachtin. Das behauptet zumindest Tanja Runow in ihrem Vortrag »Das Ende des Monologs. Wie Michail Bachtin das polyphone Erzählen (er)fand«. Überrascht entdeckt sie beim Lesen des Bachtinschen Werkes »Probleme der Poetik Dostoevskijs«, dass Bachtin schon 1929 »ein komplett akustisches Vokabular [verwendet], um seine Theorie zu erklären. Als ginge es gar nicht um Romane, sondern um Hörspiele – oder Feature.« Polyphonie: Das ist für Bachtin die seltene Fähigkeit eines Autors, seine Protagonisten nicht zum Sprachrohr seiner eigenen Aussagen zu machen – sondern ihnen eine je eigene zu ermöglichen. Schwer vorstellbar bei einem Romanautor, selbst, wenn er Dostojewski heißt. Runow aber wendet Bachtins Thesen auf das Feature an. Gerade das Feature ist für sie der Ort, an dem polyphones Erzählen zu sich selber kommen kann – weil es »viel Raum für die Protagonisten [lässt], für Uneindeutigkeit, für die Zwischentöne«. Feature ermögliche die Abbildung gänzlich unterschiedlicher Stimmen, auch solcher, die sich dem Autorenwillen entziehen, »weil wir es hier nicht mit einem klassisch-mimetischen Schöpfungsprozess zu tun haben, mit der Abbildung von Wirklichkeit, sondern mit der Befragung von Wirklichkeit. Eine Strategie, die an der Schnittstelle von Journalismus und literarischem Erzählen angesiedelt ist.«

Von Strategien spricht auch Walter Filz in seinem Vortrag »Das kann durchaus circa 20 Minuten dauern«, und zwar von den Arbeitsstrategien der Komponistin, Hörspiel- und Feature-Macherin Antje Vowinckel. Für Filz lauten diese: »Teilen. Schmelzen. Umrühren. Hinzufügen. Abkühlen lassen …« Er behauptet, dass alles, »was Antje Vowinckel tut, nie ganz das ist, als was es deklariert wird.« Sie gehe in ihren Stücken verspielt auf die Suche nach Weltbruchstücken, weil sie weiß, »dass die größere Erkenntnis […] im kleineren Detail [steckt], aber nicht nach dem bekannten Pars-pro-toto-Prinzip, sondern eher im Sinne sachdienlicher Indizienuntersuchung.« Vowinckel spiele mit den Materialien der Welt und umgehe freundlich das Eigentliche: »Aber was ist das Eigentliche? Antje Vowinckel lässt diese Frage nonchalant offen.« Heraus kommt dabei eine gänzlich andere Form des »Dokumentarischen«.

Wie Walter Filz spricht auch Michael Lissek über eine Personalästhetik, von der Ästhetik Sibylle Tamins. Lissek geht dabei von der »Mythologie« der Aufnahmetechnik im Radio-Feature aus: »Die ‚hervorragende Aufnahme’ ist […] bis heute ein Distinktionsmerkmal zu anderen Genres wie der Reportage oder dem gebauten Beitrag geblieben.« Feature-Aufnahmetechnik entwerfe »über den Klang und die Intonation der Stimme eine Körper-Psychologie. Sie ist – in ihren gelungensten Momenten – eine Evokation des Anderen«. Lissek entdeckt im Werk der Autorin Sibylle Tamin allerdings und verblüffenderweise das Gegenteil: Die (quasi impertinente) Verweigerung, »gute Aufnahmen« zu machen. Liegt hier ein Manko vor? Oder injiziert Tamin listig dem Radio-Feature eine gänzlich andersgeartete Ästhetik, eine andere »Schreibweise«, ein Gegengift vielleicht sogar? Und stellt dieses ganz andere Verfahren nicht eventuell Mikrofon, Interviewtechnik und Körperpsychologie des hemdsärmeligen Feature-Genres infrage?

»Vor mir überm Schreibtisch hängen Zettelchen wie die Parolen einer chinesischen Wandzeitung. […]‚ DIESMAL WIRKLICH ICH SAGEN!!’«, berichtet Helmut Kopetzky. In Rendsburg sagte er nun wirklich »Ich«, und zwar mehrfach, in seinem Vortrag »ICH als ICH – Radio in der ersten Person Singular«. Es geht ihm dabei um die Frage, welche Rolle die Persönlichkeit der Autorin/des Autors im Feature einnehmen kann. Um das Spannungsfeld des Dokumentaristen zwischen subjektiver Sichtweise und vermeintlich objektiver Wahrheit. Für Kopetzky hat die Autorin/der Autor eine klar definierte Aufgabe: »Sehen, riechen, schmecken, fühlen (und natürlich hören), wo immer ich bin.« Kopetzkys eigene Emanzipation »zum Ich-Autor« habe viele Jahre gedauert. Nun aber sei ihm klar: »Wie die Dinge stehen, ist das Feature eines der letzten Rückzugsgebiete des Autoren-ICHs. »Ich« sagen, wie es einige von uns immer noch und wieder dezidiert tun, ist […] eine kulturelle Widerstandshandlung.« Diese Widerstandshandlung findet er aber nicht bloß bei sich selbst, sondern auch im Werk Jens Jarischs, an dem er sich in seinem Vortrag intellektuell reibt.

Aber nicht nur über historische Entwicklungen, Personalästhetiken und Erzählstrategien, sondern auch über einige wesentliche Bausteine und Materialien des Features wurde in Rendsburg gesprochen. Antje Vowinckel macht die Musik im Feature zum Thema ihres Vortrages »Tupper-Mozart. Über Musik im Nicht-Musik-Feature«. Musik werde in Feature aus vielen Gründen eingesetzt, unter anderem um ihnen einen »bestimmten Sound, eine Anmutung zu geben«, sowie aus dem »ebenso lapidaren wie ehrenwerten Wunsch, […] Lücken im Wort zu schaffen, […] Nachhörphasen zu sichern.« Das Problem dabei: »An jeder Musik klebt eine Region, eine Zeit, ein Milieu, eine Instrumentierung. Igitt, möchte man da manchmal rufen. Ich will eigentlich nur eine Pause.« Das gelte besonders für Musiken, die ihres [Song-] Textes wegen ausgewählt seien: Da »spürt [man] den Willen nach höherer Ausdruckskraft, der leider gleichzeitig auch den Zweifel an der eigenen mit vermittelt. Es ist ein bisschen wie mit dem Tigermusterpullover, dem man ansieht, dass er bei Karstadt gekauft wurde. Sie müssen damit rechnen, dass sich Ihr Gegenüber Sie damit eher am Wühltisch vorstellt als im Dschungel.« Musik evoziere immer Bilder, aber ob sie unfreiwillig entstünden oder geplant seien, das sei die Scheidemarke zwischen gelungenem und misslungenem Musikeinsatz im Radio-Feature. »Ein einzelner Klavierton wird in einem Feature über Goethe neutral wirken und kann in einem Feature über Obdachlose auf der Straße ausreichen, um die ganze Gegenwelt des gehobenen Bürgertums, also einen Klassenunterschied, mit anklingen zu lassen«. Vowinckel plädiert dafür, selber mehr mit Geräuschpartikeln zu komponieren, und endet mit einem Lobgesang auf Walter Filz’ Stück »Ach, wär die Welt doch ganz vertuppert« von 1993.

*

Die in diesem Buch vorliegenden Texte sind Vortragstexte, die gesprochen worden sind. Die AutorInnen haben sie weitestgehend in der Sprechfassung belassen.

Jeder Vortrag wurde vom Publikum diskutiert. Diese Diskussionen haben Eingang in das Buch gefunden. Wenn Diskurs, dann ein weitestgehend demokratischer, dachten wir. Alle Diskutanten haben ihre Diskussionsbeiträge überprüft und freigegeben. Die Redebeiträge wurden mit den Initialen der Diskutanten kenntlich gemacht. Die Auflösung der Kürzel findet sich im Anhang.

Das Nordkolleg dankt dem Offenen Kanal Schleswig Holstein, ohne deren MitarbeiterInnen die Aufnahmen des Symposions sowie die nachfolgenden Transkriptionen nicht in dieser Form möglich gewesen wären.

Der Herausgeber wiederum dankt dem Nordkolleg Rendsburg, besonders Britta Lange und Kerstin Hädrich, ohne deren unermüdlichen Einsatz es niemals möglich gewesen wäre:

Den Diskurs über das Radio-Feature zu beginnen!

Michael Lissek

VON DER NOTWENDIGKEIT EINES FEATURE-DISKURSES –oder: FEATURE UND ZIMTBASILIKUM

von Michael Lissek

1981, also vor nunmehr 30 Jahren, schrieb der damals scheint‘s junge und damals scheint‘s recht ambitionierte Rundfunkjournalist und Literaturwissenschaftler Jens Brüning in der Rundfunk-Zeitschrift medium folgendes: »Ich will keinem zu nahe treten. Mir selbst auch nicht. Aber festzustellen ist: Das Hörfunk-Feature muss wieder ins Gerede kommen, damit es formal nicht wieder in eine Phase der Stagnation hineingerät. […] Bei der Arbeit (an diesem Heft; ML), habe ich im Radio Ernst Schnabels Feature »Der 29. Januar 1947« gehört. Ich habe mich an das erinnert, was ich im SFB gehört habe in den frühen siebziger Jahren (Hüftplastik, Hyänen etc.) Und ich bin nicht überzeugt davon, dass so etwas heute nicht mehr geht. […] Die Literaturwissenschaftlerin Tamara Auer-Krafka beklagt in ihrer Dissertation über das Radio-Feature das Fehlen von Sekundärliteratur zum Thema, Feature’.« Und Brüning schließt mit dem kämpferischen Ausruf: »Helfen wir diesem Zustand ab! Versuchen wir zusammen, das Thema »Feature« wieder zu hinterfragen und voranzutreiben! Durch diese Diskussion können wir der Verflachung der Hörfunkprogramme am besten entgegenwirken!«1

So Brüning vor 30 Jahren.

Aus diesem Aufruf resultierte im Jahre 1981 ein Feature-Schwerpunkt in der Zeitschrift medium. In diesen Heften publizierte Horst Lindemann über das Nachkriegs-Feature2, Wilfried Nax über »Themen- und Formengeschichte des Features«3, Peter Leonhard Braun über »Mythos und Praxis des Radio-Features«4, Helmut Kopetzky »Über den Umgang mit Original-Ton« 5, Wolfgang Bauernfeind über die Themen »Mit O-Ton schreiben«6 und »Features in Gruppenarbeit«7, Friedrich Schütze-Quest über seine eigene Arbeit8, und Tamara Auer-Krafka über 20 Jahre Feature-Entwicklungsgeschichte9.

Danach passierte, so weit ich das sehen kann, in historischästhetischer Sicht nicht mehr viel. An den Universitäten werden zwar hin & wieder Magister- oder dann Masterarbeiten zum Thema verfasst, aber auch hier beklagen die Studierenden das, was die von Brüning zitierte Tamara Auer-Krafka schon 1981 feststellte: Das Fehlen von Grundlagenliteratur; die beinahe völlige Absenz von Informationen über Feature-AutorInnen. Und vor allem: Die fehlende Möglichkeit, auf Feature aus der nun beinahe 63-jährigen Historie dieses Genres zugreifen zu können, ohne sie – als quasi-kanonische Werke – von Kennern der Szene mehr oder minder inkognito zugespielt zu bekommen.

Ein Diskurs, der allerdings durchaus stattfindet und in all den Jahren auch immer stattgefunden hat, ist ein feature-interner. Denn selbstverständlich sprechen RedakteurInnen mit ihren AutorInnen über das Radio-Feature. Und selbstverständlich sprechen Feature-AutorInnen miteinander über ihr Tun & Lassen. Da werden dann auch CDs über den Tisch geschoben mit besonders gelungenen Beispielen aus der Geschichte des Radio-Features, und es gibt, so vermutlich wie hoffentlich, nur wenige Feature-AutorInnen, die die Namen Peter Leonhard Braun, Helmut Kopetzky oder Ernst Schnabel noch nie gehört haben.

Aus diesem internen Dialog ist eine Monografie entstanden, die erwähnt sein muss, wenn man den Forschungsstand zum Thema Radio-Feature referiert: Das Buch des Autorenduos Udo Zindel und Wolfgang Rein nämlich, das den Titel trägt: »Das Radio-Feature. Ein Werkstattbuch«, erschienen 1997, neu aufgelegt und erweitert 2007.

Interne Gespräche sind wichtig für das Feature-Machen. Ein geschichtlich-ästhetischer Diskurs, wie er mir vorschwebt, wenn ich über die »Notwendigkeit eines Feature-Diskurses« spreche, ist das aber nicht. Genaugenommen ist ein solches Sprechen auch gar kein Diskurs. Denn erstens ist er zumeist nicht notiert, nicht publiziert, also nicht zugänglich. Und zweitens ist er in der Regel wesentlich auf eines ausgerichtet, auf das Machen und Verfertigen nämlich. Dieses interne »Sprechen über …« ist immer schon ausgerichtet auf Verwertung, die Produktion. Nicht auf die Analyse oder Geschichtlichkeit.

Was die geplanten Rendsburger Featuresymposien versuchen wollen, ist eben das: Ein öffentliches Be-Denken eines Genres, das der Reflexion bedarf. Das 2010er Symposion ist das erste von mehreren geplanten, um dieses akustisch-literarisch-dokumentarische Genre, diese »künstlerisch gestaltete Dokumentation«, in den Blick zu bekommen; seine Herkunft abzuklopfen; seine Materialien zu benennen; seine Mythen kennenzulernen und bestenfalls zu unterlaufen.

Worum es meiner Meinung nach in den Symposien nicht gehen soll und – geb’s Gott – auch nicht gehen wird, ist Institutionsgeschichte. Denn genau darin hat sich – meiner Erfahrung nach – das Sprechen über das Radio-Feature oft genug schon erschöpft: In der quasi-anekdotischen Erzählung, auch in dem Lamento über die Institution Radio, die dem Feature, angeblich, nicht wohlgesinnt sei. Und auch der Aufruf Jens Brünings des Jahres 1981 verweist ja schon darauf: Die Aufforderung, das Feature zu bedenken, ins »Gerede« zu bringen, wird als Gegengift zu einer Verflachung der Institution Radio verstanden … Ein solcher Rekurs auf die Institutionsgeschichte ist in der Regel eine Narration reiner Abfolge (und oft genug persönlicher Betroffenheit), deren Eckpfeiler und Wegemarken die jeweils im Amt befindlichen RedakteurInnen sind, die jeweils an der Macht befindlichen Justiziare, Intendanten und Wellenchefs. Es ist eine Erzählung (und oft genug eine Klage) über fehlendes Geld, schlechte Ausstattung, verlorene Sendeplätze, politischen Unwillen, falsch verstandenen Hörerwillen und so weiter.

Es gibt gute Gründe, über Institutionsgeschichte zu sprechen, wenn man über das Radio-Feature spricht – und noch bessere Gründe dafür, es bei Gelegenheit auch einmal sein zu lassen.

Die guten Gründe: Sendeplätze und Sendezeiten; Programman-mutungen; festgelegte Musikanteile; Honorare; technische Voraussetzungen; auch die potentiellen Unfähigkeiten oder Fähigkeiten von RedakteurInnen und ihre jeweiligen ästhetischen Vorstellungen: Sie alle sind wichtig für die Entstehung eines Radio-Features. Die Tätigkeit einer Feature-Autorin oder eines Feature-Autors ist in größerem Maße abhängig von der Institution Radio als die Tätigkeit eines Lyrikers von der Institution Verlag. Ohne Radio kein Feature; ohne Verlage durchaus Lyrik (und sei’s auf Klopapier): So könnte die Kurzformel lauten10.

Der bessere Grund, es auch irgendwann einmal sein zu lassen, das mit der Institutionsgeschichte, lautet kurz und bündig: Radio-Feature sind künstlerische Hervorbringungen. Und künstlerische Hervorbringungen erschöpfen sich nicht in ihren Voraussetzungen.

Ziel unseres Symposions ist es also, über das Genre Radio-Feature nicht aus einer produktionsorientierten Sicht zu sprechen (die wäre mit der Frage markiert: »Wie mache ich das?« oder: »Wie ist das gemacht worden?«) und nicht aus der Institutionsgeschichte heraus (die markiert wäre mit der Frage: »Welche Voraussetzungen haben geherrscht, als …« oder »Welche Voraussetzungen sollen herrschen, damit …«). Vielmehr soll – sofern das möglich ist – aus werkimmanenter Sicht über das Radio-Feature gesprochen werden.

Das heißt: Wir haben, wie der vormalige Leiter der Feature-Abteilung des ORF, Peter Klein, sagen würde: Produkte, oder – wie ich sagen möchte –: Werke von AutorInnen, und diese Werke weisen Handschriften auf. Handschriften, das heißt: Besonderheiten und Kontinuitäten der Schreibweisen; persönliche Idiosynkrasien; Aufnahmemodi, Gesprächs-oder Interviewtechniken; Themenwahlen; unterschiedliche Varianten der Materialanordnung; und so weiter. Diese je eigenen akustisch-dokumentarischen Werke, die Feature genannt werden und einmal (sehr viel schöner und bei weitem sinnvoller) radiophone Dokumentationen hießen, sind durchaus jenseits von Produktionsabsichten und erst recht jenseits der Institutionsgeschichte hörbar und analysierbar. Sie sind – in einem semiologisch-hermeneutischen Sinn –: lesbar. Man kann sie in einen historischen Kontext stellen; in den ästhetischen oder künstlerischen ihrer jeweiligen Zeit; man kann ihre Absichten, Ideologeme, ihre Beschränkungen und Potentialitäten erkennen. Kurz und zusammengefasst: Man kann radiophone Dokumentationen lesen und analysieren, wie man es seit geraumer Zeit beispielsweise mit Dokumentarfilmen tut – und wie man es mit Feature seltsamerweise noch nie getan hat.

Und genau das ist es, was wir während der Rendsburger Featuresymposien tun wollen: Feature lesbar machen, die Zeichen, die das Feature aufnimmt und verändert aussendet, interpretieren, um – ja, wozu eigentlich? Um wie Brüning 1981 der vermeintlichen Verflachung der Institution »Radio« entgegenzuwirken? Um uns selber – als Feature-AutorInnen – zu nobilitieren, weil wir finden, dass viel zu wenig über uns gesprochen wird? Um zu zeigen, wie das geht, das Feature-Machen? Um das zeitgenössische Feature gar besser zu machen?

Lassen Sie mich die Antwort auf diese Frage nach dem Wozu noch einmal kurz aufschieben. Und zuerst die Frage stellen, warum bisher eigentlich so wenig über das Feature und seine Geschichte nachgedacht und publiziert worden ist.

Einer der wichtigsten Gründe hierfür ist vermutlich die Tatsache, dass das Radio-Feature beinahe unauflösliche Einteilungsprobleme aufwirft. Soll heißen: Man ist sich nicht sicher, kann sich nicht sicher sein – zum Glück – was das Feature eigentlich sei. Ist es Kunst? Und wenn ja: Was für eine? Klangkunst? Akustische Erzählkunst? Oder ist das Feature doch nur irgendwie qua Dramaturgie, Regie und Sound aufgepeppter Journalismus?

Was eigentlich ist das Feature?

Mutig könnte man sagen (ohne damit wirklich weiterzukommen): Das Radio-Feature ist seit seiner Etablierung in den ausgehenden 40er Jahren des 20. Jahrhunderts der Kulminationspunkt und die avancierteste Form des dokumentarischen Radioschaffens. Kulminationspunkt, weil in ihm unterschiedlichste Arbeitsweisen und Materialien des »Normalradios« (die Reportage; die Musik; das Interview; der Moderationstext und so weiter) zusammenschießen zu einer »künstlerisch gestalteten Dokumentation«.

Zum Glück hat auf die Frage nach dem, was das Feature definiert, noch niemand eine Antwort gefunden. Definition ist Begrenzung, Definition ist Repression - und es ist (vielleicht) gerade die fehlende Definition, die die Stärke des Features ausmacht. Denn dieses Definitions-Desiderat (oder diese Definitions-Absenz) macht es möglich, dass zum Klingen gebrachte Texte (wie die von Claudia Wolff, Friedrich Schütze-Quest oder Horst Krüger) genauso Feature genannt werden wie die großen Schauspieler-Stücke Ernst Schnabels, die Klanglandschaften Jens Jarischs oder Helmut Kopetzkys, die postmodernen Studio-Versuchs-Anordnungen Martin Burckhardts, die zappaesken Comic-Strips Eberhard Petschinkas oder die Recherchen zu Sprechweisen von Interviewpartnern eines Detlev Michelers.

Solche Vielfalt sorgt für Verwirrung. Und das ist auch gut so.

Worüber allerdings Konsens zu herrschen scheint, ist die Aussage, dass das Feature eine »künstlerisch gestaltete Dokumentation« sei. Das ist vielleicht keine Definition, aber in dieser kaum repressiven Umschreibung steckt viel von dem, was das Feature ist oder sein kann; und sie lässt genügend Raum in alle Richtungen, das heißt: Man kann mit ihr arbeiten.

Diese Umschreibung, mit der zuerst einmal alle glücklich sind, macht sie deutlich, die Einteilungsprobleme, die dafür sorgen, dass sich für das Feature – in analytischer Hinsicht – niemand zuständig fühlt. Denn den MedienforscherInnen, PublizistInnen, denjenigen, die die Terminologie besäßen, über das Thema Dokumentation zu sprechen, ist das Feature zu künstlerisch; den LiteraturwissenschaftlerInnen, TheaterwissenschaftlerInnen, MusikwissenschaftlerInnen: kurz denjenigen, die die Begriffe und das Handwerkszeug besitzen, um die Form (die »künstlerische Gestaltung«) des Features zu beschreiben, denen ist es zu journalistisch. Denn »künstlerische Gestaltung« hin oder her: Das Feature beschäftigt sich mit der realen Welt. Das Feature ist kein Hörspiel, auch wenn es – manchmal – Elemente des re-enactments verwendet. Es ist eine Dokumentation, es arbeitet mit Fakten, mit Themen aus der realen Welt, ebenso wie mit Geschichten und Geschichte. Und nicht zuletzt, seit geraumer Zeit, mit dem Wahrheitsvektor Originaltonaufnahme. Das Feature ist ein Genre der Information.

Und gerade dieser Begriff der Information ist es, der – meines Erachtens – für das Feature wichtig ist. Denn Information wird im Feature – gemeinhin – anders verwendet, anders auch verstanden, als in allen anderen Radioformaten. Legen nämlich die rein journalistischen Radioformate ihr Hauptaugenmerk auf das Signifikat, auf harte Fakten, auf ein »So ist es!«, also auf so etwas wie die Wahrheit – so spielt das Radio-Feature mit den Signifikanten, mit seinen Materialien, um eine andere Form von Wahrheit zu etablieren. Das Feature sagt nicht: »So ist es«. Es sagt: »So könnte es sein«, oder stellt die Frage »Ist es so?«. In seinen allerschönsten Momenten sagt es mit großer Geste sogar: »All das gibt es …« Das tut das Feature, indem es die Phrase, das Gerücht, das vermeintlich Nichtssagende, das mutmaßlich Private, den Klang, die Empfindung; subjektiven Schnitt und Erzählweisen – all diese Existenzzeichen von Welt und Autor eben nicht ausblendet, sondern markiert und zu einem integralen Bestandteil seiner Werkgestalt macht. Das Feature ist ein Genre der Achtsamkeit und der Nuance. Es arbeitet – wenn man so will – in den Zwischenräumen der Information. »Etwas ist da, unüberhörbar, eigensinnig, was jenseits der Bedeutung der Wörter liegt« … (Roland Barthes). Das Feature führt Gespräche, keine Interviews, um an Originaltöne zu kommen; es verwendet – seit es das kann – Mikrofone mit hoher Sensibilität und in minimalem Abstand zur Klangquelle und bringt damit nicht nur Stimmen, sondern gleich ganze Körper zum Klingen; es beinhaltet andere Schnitte als die journalistischen Formate. Und Versprecher, sprachliche Devianzen, dialektale Färbungen bleiben als Authentizitäts- und Wesensmerkmale im verwendeten Tonmaterial hörbar.

Das Radio-Feature ist also zwar dem Dokumentarischen und der Realität verpflichtet, aber es vermag mit Wahrheits- und Wahrnehmungsebenen zu spielen. Und das Feature ist – wiederum in seinen besten Momenten – das einzige Radiogenre, das weiß und markiert, dass die Realität immer schon subjektiv ist.

Wer aber soll über solch ein kompliziertes Genre der Nuance, wer soll über die Information im Zwischenraum der Realitäten sprechen?

Das ist das eine Problem. Das Problem der Einteilungsschwierigkeiten. Aber es gibt noch ein anderes, vielleicht bedeutenderes: Feature sind jenseits des Programms der Radiosender nicht zugänglich. Ich muss Mitarbeiter eines Senders sein und ein wohl gesonnenes Wortarchiv oder eine duldsame Feature-Redaktion zur Verfügung haben, um an Stücke zu kommen, die nicht (mehr) im Programm auftauchen. Oder ich muss – wie einige es gemacht haben, und es sind gar nicht so wenige – über Jahrzehnte meinen Kassettenrekorder, mein Minidisk-Gerät oder meinen Computer eingeschaltet haben, wenn Feature gesendet werden, um mir so – qua Programm und selbstgemachter Aufnahme – ein eigenes kleines Archiv zusammenzustellen. (Das aber immer idiosynkratisch strukturiert sein und je eigene Präferenzen aufweisen wird. Also eigentlich kein Archiv, sondern eine persönliche Audiothek wäre …)

Und doch – dies wäre möglicherweise das dritte Problem – würde selbst eine (durchaus erwünschte) plötzliche ad-hoc-Öffnung der Archive wenig an dem benannten Zustand der Diskursverarmung oder -absenz ändern. Denn wenn man sich aus den ARD-Archiven plötzlich ausleihen könnte, was man wollte (phantasieren wir einmal) – würde meiner Meinung & aller Voraussicht nach, doch nur das ausgeliehen werden, was man kennt – oder zu kennen glaubt. Ich bezweifle, dass ein großer Run auf die Stücke von Karlheinz Knuth, Regina Lessner oder Fritz Mikesch stattfinden würde, auf Marusa Krese, Barbara Denscher oder Karoline Sauer, so sehr sich das auch in vielerlei Hinsicht lohnen würde. Das liegt daran, dass die Feature-Archive auf ganz andere Art erschlossen werden müssten, als sie es bisher sind: Nicht nur alphabetisch nach Autoren, thematisch, chronologisch oder nach beinhalteten O-Ton-Gebern, sondern auch nach anderen, noch zu findenden, vor allem aber ästhetischen Gesichtspunkten, die für das Feature relevant sind.

Und es gibt noch einen vierten Grund, warum vermutlich nur wenig ausgeliehen würde (oder nur das, was man zu kennen glaubt), und dieser Grund liegt nicht an archivtechnischen Fragen und nicht an der mangelnden Erschließung. Der Grund ist, dass die Diskurshoheit über das Feature bisher bei zu wenigen einzelnen Redakteuren gelegen hat. Diese Diskurshoheit ist (erst einmal) keine angemaßte, sondern eine strukturelle. Der Grund, dass Magisterarbeiten und einige wenige Studien über – sagen wir – Peter Leonhard Braun, Helmut Kopetzky, Wolfgang Bauernfeind oder Ernst Schnabel geschrieben wurden, liegt nicht daran (oder vorsichtiger: nicht nur daran), dass diese Autoren die besten, avanciertesten und spannendsten Feature der letzten 60 Jahre gemacht hätten. Es liegt auch daran, dass sie (zum Teil von sich selbst) empfohlen wurden und also irgendwie zugänglich sind. Seit ich selber im Feature-Diskurs mitmische – mit universitärer Lehrtätigkeit, einer Homepage und dort publizierten »Feature-Gesprächen« – sind auch und selbst über meine Stücke Arbeiten verfasst worden. Woran man sieht, dass derjenige gehört wird, der spricht, die Befugnis hat zu sprechen oder sich herausnimmt zu sprechen.

Was ich mir erträume (und jede Forschung muss, denke ich, mit einem Phantasma beginnen) ist ein Diskurs, in dem potentiell alles gehört wird, auch und vor allem von denjenigen, die wir noch gar nicht kennen. Vielleicht reißt hier in Zukunft das Digitale Lücken in die hohen Mauern der Diskurshoheit.

Bleibt einmal mehr die Frage: Warum und zu welchem Ende eigentlich? Vielleicht hat die radiophone Dokumentation die Analyse so nötig wie der Vogel die Ornithologie: gar nicht nämlich. Fliegen, singen, sich nähren und fortpflanzen tut er auch ohne sie. Ich glaube das allerdings nicht. Ich glaube in der Tat, dass dem Feature ein Diskurs Not tut. Warum?

Bevor ich zur Beantwortung dieser Frage eine Abschweifung in das große Reich der Agrikultur wage, möchte ich eine kleine Frage stellen: Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass – anders als in der Literatur, der Musik, dem Dokumentarfilm, dem Hörspiel –: Dass es in Feature eigentlich niemals intertextuelle Bezüge zu schon existierenden Feature, und sei’s des selben Autors gibt?11 Es sieht so aus, als ob Radiofeature-Macher (sogar) hinsichtlich ihres eigenen Schaffens ein Problem mit der Geschichte hätten. Sie begreifen sich scheint’s nicht als solche, die in einem Genre arbeiten, das dreiundsechzig Jahre alt ist. Feature-Autoren begreifen das Vorhergegangene scheinbar nicht als Fundus ihres eigenen Schaffens. Radiofeature-Macher und die, die sie dingen, verstehen sich offenbar zusehends als Produzenten ephemerer Produkten, die sich jedes Mal neu zu erfinden verdammt sind.

Auch das, mit hörbaren Folgen, ist eine der Folgen des fehlenden Diskurses. Meiner Meinung nach.

Lassen Sie mich aber an dieser Stelle, und wenn wir auf der Suche nach der Beantwortung der Frage nach dem »Warum Diskurs?« sind, ein ganz klein wenig anekdotisch, oder sagen wir sogar: metaphorisch werden. Und Sie, ganz kurz nur, ganz woanders hin führen.

Ich bin seit ziemlich genau 17 Jahren recht gut mit einer Frau befreundet, die kümmert sich um etwas vollständig anderes als das akustische Radio-Feature. Sie kümmert sich um historisches Saatgut. Diese Frau sorgt sich – im Auftrag von Bundesministerien, Fördervereinen und Universitäten – um vergangene Pflanzen- und Sortenvielfalt. Die – so die nachweisbare These – langsam aber sicher verloren geht. Oder sogar schon verlorengegangen ist. Bevor 1934 in Deutschland eine Sortenbereinigung beschlossen wurde, blühten auf den Äckern und wuchsen in den Gärten Pflanzen in – sagt man – unüberschaubarer Vielfalt. Jede Region, beinahe jedes Dorf, hatte seine eigene Kartoffelsorte, weil ja schließlich jeder Boden anders ist und überall andere klimatische Bedingungen herrschen. Da gab es von alten Bäuerinnen und gänzlich ohne Gentechnik gezüchtete Samen von ca. 200 verschiedenen Tomatensorten, grüne, gelbe, weiße, Tomaten zum Soßemachen, Tomaten zum Füllen, Tomaten zum Rohverzehr; da wucherte der Zimt- neben dem Zitronenbasilikum, roter Spinat neben »Dottenfelder Dauer«-Lagerkraut, da stand der »Hoher Roter Krauser«-Grünkohl neben dem »Westerländer Winter«. Dann kam eben jene genannte Sortenbereinigung, es durften nur noch Hochleistungssorten gehandelt werden, und binnen weniger Jahre verschwand die Vielfalt zuerst von den Feldern, bald darauf auch aus den Gärten. Nach Weltkrieg 2 dann erfand man den Kunst- und Stickstoffdünger, und fortan wuchs mit chemischer Unterstützung ohnehin alles auf so ziemlich allen Böden. Das Ende der Sortenvielfalt war besiegelt. Die Folge: Eintönigkeit statt Vielfalt.

Und nicht nur das: Nicht nur gab es statt 200 nur noch 5 Tomatensortensamen im Angebot. Mit dieser Einschränkung der Biodiversität gingen innerhalb von zwei Generationen auch jahrhundertealte Kulturtechniken verloren: Welcher Gärtner kann heute überhaupt noch Saatgut vermehren? Und wer käme noch auf die Idee, nach einer Füll-Tomate zu suchen – schließlich füllt überhaupt niemand mehr Tomaten, genauso wenig wie seit Dünger und beheizbarem Gewächshaus irgendwer noch Wintergemüse unter Tonglocken zieht. Es gab aber immer ein paar kleine Initiativen, ein paar – wie soll ich sagen?: Seltsame, Hippies, Freaks, Konservatoren, und es gibt sie auch jetzt noch. Diese Schrate sammeln seit vielen Jahrzehnten altes Saatgut, sie tauschen es, weil man es immer noch nicht verkaufen darf, und wenn man die richtigen Kanäle kennt, dann kommt man auch an Zimtbasilikum und die rot-gelb-gestreifte Füll-Tomate aus der südlichen Steiermark ran. Daneben gibt es nationale Gen-Datenbanken (die deutsche liegt in der Metropole Gatersleben), die versuchen zu bewahren, was sonst schon längst verschwunden wäre. Seit einiger Zeit allerdings ist der Begriff der Biodiversität wieder hoch im Kurs. Denn man hat gemerkt, dass bei dem Versuch, neue Sorten zu züchten, irgendetwas fehlt. Was da fehlt, ist der »Genpool« der alten Sorten. Wenn man immer nur fünf verschiedene Sorten miteinander kreuzt, kommt am Ende nicht viel Neues dabei heraus. Und so bemühen sich heutige Wissenschaftler nach Gatersleben, auf der Suche nach den Genen einer Tomatensorte, die vor 90 Jahren gut mit trockenen Böden klargekommen ist. Und was ebenfalls – und nach Jahrzehnten der Vernachlässigung – deutlich wird, ist: Dass das historische Saatgut, von Menschenhand gekreuzt, gezüchtet, verbessert, modifiziert und den unterschiedlichen Verhältnissen angepasst: Schlicht und einfach Kulturgut ist, unser kulturelles Erbe, das wir beinahe verloren haben.

Vergleiche hinken – immer. Und dieser Vergleich, den ich hier ganz unauffällig mache und gleich explizit machen werde, der hinkt erst recht. Denn Feature kann man nicht essen.

Spräche ich von diesem Stehpult aus zu Ihnen als Feature-Autor, würde ich diese kleine Passage über die Garten-Kultur, die verlorene Vielfalt, die scheint’s erkannte Notwendigkeit der Archivierung und Bearbeitung eines eminent wichtigen Kulturgutes locker und mit eben der leichten Hand, die uns Feature-Autoren so wesentlich ist, stehen lassen und gar nicht weiter erläutern. Dann könnten Sie sich Ihre eigenen Gedanken machen darüber, worauf ich damit wohl hinaus will. Da ich hier aber dezidiert nicht als Feature-Autor, sondern in meiner anderen Profession als Medien- und Literaturwissenschaftler spreche, braucht’s eine Erläuterung, fürchte ich.

Warum wir hier (das heißt ich und die ReferentInnen) über das Radio-Feature sprechen wollen, liegt, denke ich, in einer gelinden Fassungslosigkeit begründet. Diese Fassungslosigkeit ist eine darüber, dass es vor uns noch keiner getan hat. Dass seit 1947 jährlich hunderte von Feature entstehen, ohne dass sich jemals jemand um eine Gesamtschau auf sie gekümmert hätte.

Da gab und gibt es AutorInnen, die hinreißende Texte, lyrische, ausgepichte, auf den Punkt gebrachte Texte geschrieben haben – und niemand kann sie lesen, sie neu bedenken und – eventuell – was auch