Allen guten Geistern, und Hexen

Reglos liegt die schwüle Luft unter grau verhangenem Himmel. Kein Windhauch biegt ein Hälmchen, bewegt ein Blättchen. Nicht eine leise Vogelstimme berührt das Schweigen, das wie eine dunkle Ahnung über dem Lande lastet. Die einzigen Laute, die diese Stille durchdringen, und wie ein leierndes Gejammer von der Landstraße her ertönen, sind der Menschengesang einer Prozession, die sich von Arendsee her auf den Köppenberg zu bewegt.

Gottwohlgefällige Gesänge – unterbrochen von frommen Predigten und Gebeten – geleiten den langen Zug, der wie eine große, bunte, stachelbewehrte Raupe gemächlich vorwärts kriecht.

Den Kopf bildet eine Abteilung der Bürgerwehr. An den gepanzerten, behelmten Männern ragen lange Spieße drohend in die Höhe. Ihnen folgt eine Mutter mit ihren zwei Töchtern. Sie werden von einem Henkersknecht am Strick geführt und sind je von zwei Predigern und sechs wehrhaften Bürgern umzingelt.

Von Vorfreude beseelt, in Erwartung eines erregenden Schauspiels, trottet die Christengemeinde – Kinder und Erwachsene – hinter ihnen her. Das Ende der Prozession bildet, wie den Anfang, eine starke militärische Bedeckung.

Kathrine, und ihre Töchter Susanne und Ilse sehen seit langer Zeit heute zum ersten Mal das Tageslicht wieder. Geblendet von der ungewohnten Helligkeit, und stumm vor lähmender Angst, wanken sie auf den Köppenberg zu. Begonnen hatte ihr Leidensweg, als man sie der Buhlschaft mit dem Teufel beschuldigte, und in den Kerker von Arendsee warf. Dort wurden sie gefangen gehalten, bis sie unter grausamer Folter gestanden, Buhlen des Teufels gewesen zu sein.

Heute, am 5. Mai 1687, liest der Notarius Anton Werneccius das Urteil laut her. Mutter und Töchter sind zum Feuertod verurteilt. Den Töchtern soll, wegen der „gütlichen“ Aussage, Milde zuteil werden; ihnen sollen vor der Verbrennung die Köpfe abgeschlagen werden.

Der Amtmann von Arendsee bricht über die Mutter und ihre Kinder den Stab, und Tische und Stühle werden, zum Zeichen daß ihre Leben vertan sind, umgeworfen.

Der aufrechte Gang der Frauen ist durch die weltliche und kirchliche Gewalt ihrer Folterknechte zu einem gebeugten Taumeln gebrochener Menschen geworden.

Schließlich erreicht die Prozession den Köppenberg. Vor dem großen Scheiterhaufen stellt sich die gottesfürchtige Christengemeinde in einem weiten Kreise auf.

Als erste wird Susanne in dem Kreis herumgeführt. Ihre schaulüsternen Mitbürger stimmen an, das Lied: „Gott der Vater wohn uns bey.“

Mutter und Schwester müssen nun, vor Entsetzen gelähmt, zusehen, wie Susanne der Kopf abgeschlagen wird. Wie der ins Gras rollt, ertönt das Lied: „Nun bitten wir den heiligen Geist“.

Umstellt von der gaffenden Menge, wird Ilse nun im Kreis geführt, zum Scharfrichter gezerrt, und ihre Mutter erlebt, wie Ilses Kopf neben den der Susanne ins Gras fällt.

Mit einer Eisenkette wird Kathrine nun von kräftigen, erbarmungslos willigen Männerhänden um Körper und Hals fest gebunden und rücklings auf den Holzstoß gezerrt. Ihre toten Kinder werden neben sie geworfen, und der Scheiterhaufen, der schon vor vielen Wochen für sie aufgeschichtet worden war, wird angezündet.

Nun heben die sechs Geistlichen an, heilige Lieder zu singen, in die Schulknaben und Schaulustige einstimmen.

Knisternd züngeln erste kleine Flammen im Reisig unter dem Holzstoß. Eilig schlängelt sich eine aufgeschreckte Blindschleiche daraus hervor. Ein derber Stiefel trifft ihr Haupt. Noch lange windet sich ihr zuckender Körper im Todeskampf.

Schwelend quillt gelblich grauer Rauch aus dem immer heftiger knisternden Reisig hervor.

In dem Geäst versteckt, hängt ein faustgroßes, kugeliges Halmengebilde. In seinem Inneren kuscheln sich sieben winzige Zaunkönigskinder an ihre Mutter, die ihre Kleinen, seit es vor ihrer Wohnung zu lärmen begann, nicht mehr verlassen hat. Beißender Qualm dringt in die kleine Kinderstube. Ängstlich drückt sich die winzige Mutter auf ihre Kinder. Japsend atmet sie den heißen Qualm. Zitternd breitet sie die Flügel aus, ihr Köpfchen sinkt auf ihre sterbenden Kinder …

Beißender Qualm weht auch um Kathrines schmerzverzerrtes Gesicht. Gurgelnd hustend bäumt sie sich auf gegen die eiserne Umklammerung der Ketten.

Heftig lodert eine Flamme aus ihren Haaren auf, gellt ein Schmerzensschrei, der in wimmerndem Röcheln erstirbt. Wie mit eiserner Hand, umklammert Todesangst ihren Hals. Ihre Lungen kämpfen gegen das Grauen der Atemnot, bis ein Dunkel über sie flutet, in das sie versinkt.

Hoch über dem lodernden Scheiterhaufen zieht ein Adler, von einer Rabenschar begleitet, ruhig seine weiten Kreise.

Wie aus tiefem Schlaf erwachend, schwebt Kathrine über einem weiten Strom, der sich aus fernen Gebirgen her, durch eine blühende Landschaft windet.

Sachte taucht sie ein, in seine ruhig dahinziehenden Fluten. Wie in einem Traum erlebt Kathrine, daß sein Wasser sie durch ein vergangenes Leben trägt, vorbei an langen Inselketten, die ihr vertraut sind, wie früheres Erleben. Behutsam trägt sie tiefes Wasser immer weiter in ferne Kindheitserinnerungen zurück. An der Mündung des Flusses erlebt Kathrine an einer Sandbank ihre Geburt, eh sie sich in der Weite des Meeres verliert. Es ist wie eine Heimkehr in ihr ursprüngliches Sein.

Um sie her flutet Sonnenlicht, das die Meereswellen in immer neue Farben versprühen, die nur flüchtig aufleuchten, in nie wieder erscheinender Gestalt. In der unendlichen Vielfalt dieses Leuchtens und Funkelns, des Entstehens und Vergehens, erahnt Kathrine das Wunder des Unvergänglichen der Vergänglichkeit; die nie endende Verwandlung in neues Sein …

Wie ein Echo ihres Ahnens, gleitet ein urhafter Fisch auf sie zu. In seinen Augen spiegelt sich uralte Erinnerung an ein früheres Leben im Meer. Wesen des Meeres erscheinen, ziehen vorüber, wie traumhafte Erinnerungen an lang vergangenes Sein. Merkwürdig schwingende, wie aus schweren Wogen steigende Gestalten gleiten mit ihr, über in schwülem Dunst liegendes Land.

Warmer Wind streift ihren Körper, flattert, pfeift und singt in den gespannten Flächen an ihren weit ausgebreiteten Armen, die sich langsam schwingend auf und ab bewegen.

Mit schrillen Freudenschreien antwortet sie auf die Rufe ihrer Gefährten, mit denen sie einem vertrauten Ziel, dem Wohnfelsen der Flugsaurier entgegen fliegt. Dabei erlebt Kathrine, wie sie ins flutende Licht der tiefstehenden Sonne sinkt, deren Strahlen sie zu den Sternen tragen.

Sie fühlt sich weit und frei und erlebt, von staunender Liebe getragen, daß sie Teil des Universums ist.

Und wie in dieser unendlichen Weite die Seelen einer winzigen Mutter und ihrer sieben Kinder sie finden, und sanft berühren, daß sich eine schuppig glitzernde Kinderseele zärtlich an sie schmiegt.

Ein nie gekanntes Glücksgefühl trägt ihre Seele, die nun auch die Seelen der Schlange und der Zaunkönige in sich vereint, aus der Weite des Alls zur Erde zurück.

Lange schwebt Kathrine über dem Adler und der Rabenschar. Sie sieht in die dunklen Augen der Raben, und die gelbleuchtenden Augen des Adlers. Sie spürt die Wildheit in den schwarzleuchtenden Rabenaugen. Und die unauslotbare Liebe. Und das geheimnisvolle Wissen ihrer uralten Seelen.

Kathrine sieht sich tiefer und tiefer in die Vogelaugen hinein und nähert sich dem großen Vogel, dessen gelb leuchtende Augen auf wundersame Weise ihre eigenen werden, und Kathrine nun zu Kaji wird …

Dabei lösen sich acht kleine Vögel und eine Schlange aus ihrer Seele, gleiten auf die Raben zu, und tauchen in deren Augen ein.

Mit schwerem Flügelschlag fliegen die Raben in die Weite des Himmels, auf ferne Hügel zu.

Kaji weiß nicht mehr, daß sie einmal ein Mensch gewesen war, der in den Flammen seinen Tod gefunden hat.

So, wie ein Schmetterling sich wohl kaum daran erinnern mag, daß er früher einmal als schwerfällige Raupe grüne Blätter abgeweidet hat. So, wie die Raupe durch ihre Verwandlung ein luftiges Wesen wurde, lebt Kaji jetzt in einer völlig anderen Welt. Der Schmetterling trinkt Nektar in buntem Blumenmeer, badet schwebend in duftender Sommerluft und atmet Sonne auf schillernden Flügeln ein. Beschwingte Freude durchflutet seinen zarten Körper, der tanzend über Blumen schwebt.

*

Kaji gleitet hoch über das weite Land. Sanft streichelt ein steter Wind ihr Gesicht, der die Federn ihrer Schwingen vibriert und leise Klänge um ihren Körper webt. Aus einer Symphonie von Klängen besteht das weite Land. Von fernher tönen Wolken und Wetter, Berge und Täler, Wiesen und Wälder, Bäche und das ferne Meer – Klänge, in denen sie sich geborgen fühlt.

Und bedrohliche Geräusche, aus einer Stadt tief dort unten, die sich hineingefressen hat ins Land, aus der staubige Wunden ins Grüne wachsen, auf denen sich zweibeinige Pelzköpfige, die in Gebäuden aus Stein und totem Holze leben, schwerfällig hin- und herbewegen.

Aus all den Klängen heraus hört Kaji eine Stimme, die sie freudig erregt. Sie antwortet ihr mit einem durchdringenden Kjiii, und wie ein Echo tönt es aus den Wolken zurück. Ein großer Vogel löst sich aus dem Grau, sinkt langsam zu ihr herab. Still schweben sie umeinander kreisend, lassen sich vom Aufwind in die Wolken tragen, und fliegen, vom Grau umhüllt dem Klingen der Landschaft folgend, auf einen fernen Felsen im Meere zu.

Neblig umfließen die Wolken sie, bis tief unten das Meer aufleuchtet, dessen Brandung einen weißen Gürtel um eine große Insel legt. Weiß leuchten auch die Felsen, die vom dunkelgrünen Kiefernwald auf ihrem Rücken, steil zerklüftet zum Meer abfallen.

Kajis Adleraugen schauen über Insel und Meer und erblicken selbst den kleinen Wasservogel, der sich weitab auf den Wellen wiegt. Ihre Augen sehen scharf bis in weite Fernen, doch sieht sie auch mit den Ohren, mit ihrem ganzen Sein. Sie hört das leise Rauschen der Luft, die durch den Kiefernwald streicht, die Stimmen der Waldvögel, die Schreie der Möwen, den Klang der Felswand und des Meeres.

Das alles ist Musik für ihre Ohren und geheimnisvollen Sinne, die ein zweites Bild wahrnehmen, das sich einfügt in ihr Bild der Augen; das manches sichtbar macht, was ihren Augen verborgen bleibt. Sie fühlt, daß von einer Stelle hoch in der Wand, Klänge wie Wellen der Sehnsucht sie berühren.

In schnellem Flug streicht sie über Wald und Klippen, kreist über dem Meer und schaut, im Aufwind schwebend, zur Felswand hin.

  Auf einem Vorsprung, unter einem Überhang, ist der riesige Reisighaufen aufgetürmt, in dessen weich ausgepolsterter Mulde ein Schatz sicher ruht. Schwebend landet Kaji auf dem Rand ihrer Nestburg, faltet die Schwingen zufrieden an ihren Körper, schüttelt den Flugwind aus ihrem Federkleid und betrachtet ihren Schatz: zwei länglichrunde Gebilde strahlen ihr entgegen. Behutsam wendet sie diese mit ihrem gewaltigen Schnabel und lässt sich vorsichtig auf sie nieder.

Von ihrer Burg überblickt sie die Felsen, den Strand und das Meer. Sie sieht, wie ihr Gefährte aus gleitendem Flug ins Wasser greift, sich mit einem glänzend zappelnden Fisch in den Fängen aus den Wellen erhebt und zu ihr hochfliegt.

Sachte landet er neben ihr auf dem Nestrand, beginnt saftige Stücke aus dem Fisch zu reißen, die er Kaji mit zärtlichen Lauten reicht. Dankbar gurrend nimmt sie seine Liebesgaben entgegen und verzehrt sie ohne Hast. Dabei erzählt sie Goldauge von leise fiependen Stimmen unter ihrer Brust, von winzigen Stimmen, die nach ihr rufen.

Goldauge sieht Kaji eine Weile an, breitet seine Schwingen aus und fliegt zum Meer zurück. Dort greift er sich wieder einen Fisch, trägt ihn aber diesmal auf eine Klippe, wo er nun auch seinen Hunger stillt.

Kaji und ihr Heim auf der Felsenburg sind durch die steilen Wände, und ein Felsdach vor jedem Feinde sicher. Selbst umherstreunende Pelzkopfbanden können ihr keinen Schaden zufügen, auch mit ihren zischend fliegenden kleinen Holzstangen nicht, die schon oft auf ihr Heim zugeflogen, die aber bald umgekehrt, und zu ihnen zurück gefallen sind.

Einmal, als einer dieser Pelzköpfigen in den Felsen herumkroch, und ihrer Burg zu nahe kam, hatte sie sich auf ihn herabgelassen und ihre Fänge in seinen Rücken gegraben. Er heulte fürchterlich, als er in die Tiefe stürzte, und an einer Klippe hängenblieb.

Für eine Krähenfamilie war sein Kadaver ein Festschmaus, an dem sie sich viele Tage bediente, bis dort nur noch Stofffetzen und Knochen herumhingen.

In einem der Eier unter Kajis Brust, fiepst und rumort es jetzt immer mehr. Als sie erst schabende, dann knackende Geräusche hört, erhebt sich Kaji um nachzuschauen, was da geschieht.

Das Ei scheint lebendig geworden zu sein; es schaukelt, wackelt und knackt, wobei ein kleines Loch in die Länge zu wachsen beginnt, bis sich ein Stück Schale hebt, unter der ein Köpfchen erscheint, aus dem zwei Augen verwundert blinzelnd hervorschauen. „Fiep! Fiep!“ „Zu dir! Zu dir!“

Mutter Kaji nimmt die Eierschale vorsichtig mit ihrem Schnabel von dem puscheligen, weißflaumigen Köpfchen und vergrößert das Loch im Ei, bis ihr Kind endlich herauskrabbelt.

Als Goldauge mit einem Fisch auf dem Nestrand landet, sieht er gerade noch wie sich Kaji behutsam auf das Daunenbällchen legt. Das Kleine ist jetzt so erschöpft, daß es sich erst einmal ausruhen muss.

Papa Goldauge wartet geduldig, bis sich Mama wieder erhebt. Fiepend öffnet sich nun ein überraschend großer Schnabel, in den sie Fischstückchen gibt, die dem kleinen Adler gut zu schmecken scheinen. Dann legt sich Kaji wieder wärmend über ihr Vogelkind.

Als die blaudunkle Sternennacht über dem Horizont grünlich-orange zu leuchten beginnt, und eine glutrote Sonne aus dem Meer steigt, die ihren Schein wie eine funkelnde Lichtstraße über das Wasser breitet, hört Kaji endlich auch aus dem zweiten Ei das leise aber dringende Fiepen: „Zu dir! Zu dir!“ Als ihr zweites Kind begonnen hat, die Schale seines Eies aufzubrechen, hilft Kaji nun auch ihm sich aus der Enge zu befreien.

*

Wie die Vogelmutter ihre beiden Kinder nun so nebeneinander liegen sieht, kommt ihr der Anblick irgendwie vertraut vor, obwohl sie zum ersten Mal Mutter geworden ist. Dabei fühlt sie sich einfach nur wohl und kommt gar nicht auf den Gedanken, daß es eine vage Erinnerung an ihr früheres Leben sein könnte. Sie weiß nichts mehr von dem was war, als sie mit ihren beiden Töchtern in einem Häuschen am Waldrand wohnte.

Die kleine Familie hatte glücklich zusammengelebt mit einer Kuh, einer Ziege, Hühnern und einem Raben. Sie lebten von den Früchten des Gartens und Beeren, Nüssen, Pilzen und Kräutern des Waldes.

Kathrine wurde oft an ein Krankenbett gerufen, oder zu einer Frau, wenn die Wehen begannen. Sie half so manchem Menschenkind auf die Welt, linderte Schmerzen und heilte Kranke mit Kräutern und ihrer liebevollen Pflege.

Eines Tages wurde Kathrine in das Haus des Bürgermeisters gerufen. Seine Frau lag mit hohem Fieber zu Bett. Ihr Hals war geschwollen, daß sie kaum noch atmen konnte, und man um ihr Leben bangen mußte.

Kathrine kochte einen Kräutertee, und ließ nach ihrer Tochter Susanne schicken, die ihr heilende Erde bringen sollte. Susanne kam mit der Heilerde, rührte einen Teil mit heißem Wasser zu einem Brei, den sie auf ein Tuch löffelte, und legte ihn der Kranken um den Hals. Alle zwei Stunden erneuerte sie den Umschlag, und ging erst gegen Mitternacht nach Hause, indes ihre Mutter die Nacht hindurch bei der Kranken wachte.

Als Susanne am frühen Morgen wiederkam, um die Krankenpflege zu übernehmen, ging es der Frau schon etwas besser. Endlich konnte Kathrine nach Hause gehen.

Ohne Kathrines Tee und die Umschläge hätte die Frau ihre Krankheit wohl kaum überlebt. Daß es ihr aber so bald besser ging, hatte sie auch der liebevollen Zuwendung von Mutter und Tochter zu verdanken.

Susannes unbefangene Art, zärtliches Mitgefühl zu zeigen, erweckte die ermatteten Lebensgeister der Leidenden zu neuem Leben. Noch halb im Fiebertraum, empfand sie Susannes Gegenwart wie einen sonnigen Frühlingstag der sie sanft entrückte, aus ihrer eintönig tristen bürgerlichen Welt in ein blühendes Land, wo ein duftender Windhauch sie zärtlich streichelte. Sie erlebte diese, für sie ganz neuen Empfindungen, mit einem seltsamen Glücksgefühl. Es war, als ob in ihr Blumen in einer wundersamen Schönheit erblühten.

Eines Tages, als Susanne in den Schuppen ging, um Holz für den Herd zu holen, folgte ihr der Bürgermeister.

Sein lüstern verlangender Blick, schien ihren Mädchenkörper verschlingen zu wollen, als er sie um ein heimliches Schäferstündchen bat. Susanne, sprachlos entsetzt, wand sich wie ein aufgeschrecktes Tier an ihm vorbei, lief ins Haus zu der Bürgermeisterin und sagte: „Gute Frau Bürgermeister, du bist ja gottlob fast wieder gesund, aber mir ist ganz unwohl geworden. Darum bitte ich dich um Urlaub, damit ich heimgehen kann.“

„Was ist denn geschehen?“, sagte die Frau, mehr zu sich selbst. Und indem sie Susanne besorgt fragend ansah: „ Geh nur Kind, erhole dich, und hab Dank für alles, was du für mich getan hast.“

Als Susanne nach Hause kam, erzählte sie ihrer Mutter, was geschehen war. Die nahm sie in die Arme und sagte: „Viele Männer sind leider so. Beruhige dich nun, du brauchst nicht wieder zu den Bürgermeisters hin.“

*

Als der Bürgermeister zu seiner Frau ins Zimmer trat, fragte er sie, wo denn Susanne sei.

„Die ist nach Hause gegangen, ihr war nicht wohl.“

„Das nimmt mich nicht wunder, das freche Ding hat mich im Holzschuppen verführen wollen, das elende Luder. Ich hab sie hinausgejagt. Und sie kann dem Herrgott danken, daß ich sie nicht noch geschlagen hab.“

Die Bürgermeisterin glaubte ihm kein Wort, und dachte sich ihren Teil.

„Das will ich nicht glauben, Mann! Susanne ist ein so liebes unschuldiges Kind! Wie ist es überhaupt dazu gekommen, daß ihr zusammen im Holzschuppen wart!?“

„Ich war im Garten, nach dem Rechten sehn. Da hörte ich ein Geräusch aus dem Schuppen. Als ich hineinging, um nachzusehen was da wohl sei, sah mich aus dem Dunkel eine schwarze Katze mit glühenden Augen an. Sie war so groß wie ein Kalb! Die Haare standen mir zu Berge und ich schlotterte am ganzen Leib vor Angst.

Dann verschwand die Katze, und Susanne erschien an ihrer Stelle. Ihre Augen glühten noch, wie die der Katze, als sie auf mich zukam und mich katzenhaft umschmeichelte.

Ich sage dir, dieses Weib ist eine Hexe, und ich will nicht, daß sie oder Kathrine noch einmal mein Haus betritt.“

Die Bürgermeisterin sah ihren Mann an, als ob ein Gespenst vor ihr stünde und sagte: „Ja, Mann, Susanne kann Menschen verzaubern, aber ganz anders, als du mir weismachen willst! Und jetzt geh, ich möchte allein sein!“

Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich, als er zur Tür ging und im Hinausgehen mürrisch vor sich hinbrabbelte.

Mit Tränen in den Augen starrte die Frau noch lange auf die Tür, die krachend hinter ihm ins Schloss gefallen war. Dann legte sie sich ins Bett und schloss die Augen. Sie fühlte sich krank und elend. Ein finsterer Abgrund hatte sich aufgetan zwischen ihrem Mann und ihr. Aus dem Gefühl tiefer Enttäuschung wurde Zorn, bis sie für ihren Mann nur noch Verachtung empfand.

Es war wie die Befreiung von unsichtbaren Fesseln, wie ein Aufatmen, beim Erwachen aus quälendem Traum. Sie dachte an Susanne und die Tage, die sie bei ihr gewesen war. Sie empfand eine tiefe Zuneigung zu diesem Kind. Es hatte ihr so viel Nähe und Wärme geschenkt. Und bei dem Gedanken, daß Susanne nie mehr zu ihr kommen würde, versank sie in schwermütige Traurigkeit.

Als das Hausmädchen mit dem Abendbrot zu ihr hereinkam, erschrak es. Die Herrin lag wieder leidend im Bett.

„Mädchen“, sagte sie. „mir ist nicht nach essen, bring alles wieder raus. Ich möchte nur einen Becher Wasser, Tinte, Feder und Papier.“

Das Mädchen brachte Wasser und Schreibzeug und fragte: „Herrin, kann ich noch etwas für dich tun?“

„Ja, Du kannst Dich zu mir ans Bett setzen, während ich schreibe.“

Die Frau begann zu schreiben. Es wurde ihr Testament. Darin vermachte sie eine Hälfte ihres Vermögens dem Hausmädchen, die andere ihrer Freundin Susanne.