Peter Ripota präsentiert:

(Omega)

Eine Reise durch das Reich
der unendlich großen Zahlen

Books on Demand

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Peter Ripota. 3. Auflage

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN-13: 9783732226191

In der dritten Auflage wurde die Schrift von "Courier New" auf "Times New Roman" umgestellt, ein kurzes Kapitel über physikalische Reisen ins Unendliche, einige mathematische Beweise sowie das Pater-Brown-Märchen "Gabriels Horn" eingefügt.

Webseite des Verfassers:

http://www.peter-ripota.de/mathe/index.php

e-mail-Adresse: tango@peter-ripota.de

Inhalt

Atlas trägt schwer an der Unendlichkeit

Wo liegt die Unendlichkeit?

Das Unermessliche und Unendliche ist für den Menschen ebenso notwendig wie dieser kleine Planet, auf dem er lebt.

Dostojewski

Zwei Dinge waren es, die den Philosophen Immanuel Kant so mächtig beeindruckten. Welche das waren, weiß ich nicht mehr; es ist für dieses Buch auch belanglos. Zwei Ereignisse waren es, die mich mächtig beeindruckt haben: Das eine war die totale Sonnenfinsternis 1999, das andere die Stufenfolge des Unendlichen. Als Jugendlicher bin ich ihr zum ersten Mal begegnet, und diese Begegnung (die Reise von ω nach ε0 ("von omega nach epsilonnull")) hatte etwas Unheimliches, tief Berührendes, beinahe Religiöses. Friedrich Nietzsche hat das Gefühl in seinem Gedicht "Nach neuen Ufern" so schön ausgedrückt: Nur dein Auge - ungeheuer, blickt mich's an, Unendlichkeit!

Über Jahre habe ich dann versucht, die Unendlichkeits-Konstruktionen der Mathematiker zu begreifen, was mir als Nicht-Mathematiker nicht ganz leicht fiel, obwohl mir die mathematischen Grundkenntnisse des studierten Physikers dabei halfen. Und ich wollte auch andere Menschen an diesem Erlebnis teilhaben lassen, deswegen schrieb ich dieses Buch. Vielleicht kann es einen Hauch dessen vermitteln, was Mathematiker, Philosophen, Theologen und Dichter am Begriff des Unendlichen seit jeher so faszinierte oder erschreckte.

Die Hauptkapitel zeigen den Weg von der Null zur höchsten Unendlichkeit, wobei ich mir - am Anfang gelegentlich, später auch mal öfter - eine dezente Kritik an den Grundlagen, nämlich der Mengenlehre, nicht verkneifen werde. Im letzten Kapitel bespreche ich dann eine alternative mathematische Theorie, eine Art Gegenentwurf zur Mengenlehre, über die ich einst eine Dissertation verfasste. Und schließlich erforsche ich das Unendliche auch noch spielerisch, durch eine Detektivgeschichte mit Pater Brown.

Etwas schwierigere mathematische Abhandlungen oder interessante Nebenbemerkungen erscheinen in kleinerem Druck.

In den Zwischenkapiteln werden Erkenntnisse aus den Hauptkapiteln vertieft oder zugehörige Themen abgehandelt, teils in nichtwissenschaftlicher Form durch Gedichte oder Märchen. Natürlich wird jedes Kapitel eingeleitet durch ein Zitat, und auf gute Abbildungen habe ich besonderen Wert gelegt.

Obwohl das Buch nichts Neues bezüglich mengentheoretischer Erkenntnisse liefert, ist doch einiges zum ersten Mal dargestellt, darunter die Definition unerreichbarer Zahlen durch verallgemeinerte Limesbildung; die Zuordnung von Zahlen zu realen Gebilden; einige theologische Spekulationen; der Versuch der Wohlordnung des Kontinuums; sowie bestimmte Abbildungen zur Illustration der Konzepte.

Viel Spaß bei der Reise ins Unermessliche!

Peter Ripota

Vorspiel: Der Berg und der Vogel

Und Gott ließ ihn hundert Jahre lang sterben; dann rief er ihn ins Leben zurück und sprach zu ihm: 'Wie lange bist du hier gewesen?' 'Einen Tag oder den Bruchteil eines Tages', antwortete er.

Koran, II, 261

In einem fernen Land, weit weit weg von jeglicher Zivilisation, erhebt sich ein Berg über die Wolken, größer als jeder andere Berg. Kein Wind rüttelt an ihm, kein Erdbeben verändert ihn, keine Kraft macht ihn kleiner oder größer.

Alle hundert Jahre fliegt ein Vogel zu ihm und wetzt seinen Schnabel an der Spitze des Berges. Wenn auf diese Weise der ganze Berg abgetragen ist, dann ist eine Sekunde der Ewigkeit vergangen.

Teil I: Zählen

Von der 0 zur 1

("Von der null zur eins")

In der Tat hat ja alles, was man erkennen kann, Zahl. Denn es ist nicht möglich, irgendetwas mit den Gedanken zu erfassen oder zu erkennen ohne diese.

Philolaos aus Kroton

Was ist die Grundlage der Mathematik? Für die alten Griechen war es die Geometrie, die Lehre von den Figuren, die man im Sand zeichnen kann. Für die Babylonier war es die Arithmetik, die Lehre von den Zahlen und ihren Manipulationen. Zahlen sind viel abstrakter als Figuren. Sie können auf verschiedene Weise dargestellt werden, und man kommt mit ihnen ganz natürlich ins Unendliche -da, wo wir hin wollen. Aber womit beginnen wir?

Ein umfangreiches Buch über die Entwicklung der Zahlensysteme im Verlauf der Erdgeschichte hat den bezeichnenden Titel "Von der Eins zur Null". Denn die "Null" (0), mit der wir in der Mathematik üblicherweise zu zählen beginnen, bereitete enorme geistige Schwierigkeiten. Wie kann man mit etwas rechnen, das nicht existiert? Die alten Inder verwendeten sie; die Abendländer verboten sie. Aber sie setzte sich durch und machte unser Stellensystem für Zahlen überhaupt erst möglich.

Weil wir hier Mathematik betreiben, fangen wir bei der Null an, wie alle Mathematiker. Das kann gefährlich werden, wie folgende Anekdote des polnischen Mathematikers Waclaw Sierpinski zeigt: Auf einer Reise geriet er plötzlich in Panik, weil er ein Gepäckstück vergessen zu haben glaubte. "Aber Liebling" beruhigte ihn seine Frau, "alle sechs Koffer sind da." "Das kann nicht sein" entgegnete der Gemahl, "ich habe zweimal nachgezählt: null, eins, zwei, drei, vier, fünf."

Das kommt davon, wenn man zu kompliziert denkt - wiewohl Mathematiker auch beim Abzählen tatsächlich mit der Null beginnen. Und der Übergang zur "1" ist wirklich schwierig, denn es ist ein Übergang vom Nichts zum Etwas, vom Chaos zur Schöpfung. Ein solcher Übergang war in früheren Zeiten den Göttern vorbehalten; heute machen das Mathematiker. Dennoch ist die Eins eine ganz besondere Zahl, wie wir später noch sehen werden: Sie ist schwer erreichbar, sie kann nur durch eine Schöpfung des Geistes erzeugt werden, es gibt keinen Prozess, bei dem sie irgendwie erschaffen werden kann. Der mathematische Abstand zwischen 0 und 1 ist zwar gering (nämlich 1), der geistige Abstand dagegen unendlich. Denn aus Nichts entsteht Nichts. So müssen wir denn unsere Zahlenfolge mit der Eins beginnen, die wir - zusammen mit der Null -als gegeben ansehen. Und damit fangen wir im nächsten Kapitel an.

Zwischenspiel:

Von Dorfbarbieren und lügenden Kretern

Ein Mathematiker ist wie ein Blinder, der in einem dunklen Raum eine schwarze Katze sucht, die nicht da ist.

Charles Darwin

Schon die alten Griechen kannten eine Reihe sprachlicher Paradoxien, das sind Ausdrücke, die sich selbst widersprechen und damit zu logischem Unsinn führen. Die einfachste Art liegt in einer Visitenkarte, auf deren Vorderseite steht:

Der Satz auf der Rückseite ist falsch.

Auf der Rückseite lesen wir:

Der Satz auf der Rückseite ist wahr.

Jetzt wird's haarig. Satz (1) behauptet, Satz (2) wäre falsch. Das würde heißen, dass Satz (1) falsch ist, was bedeuten würde, dass Satz (2) doch wahr ist. Dann aber ist Satz (1) wieder wahr, was bedeutet … siehe oben.

Die Griechen formulierten das Paradoxon so: Epimenides behauptet: Alle Kreter sind Lügner. Da er selbst aus Kreta stammt, hat er gelogen. Also sind doch nicht alle Kreter Lügner. Also hat er die Wahrheit gesagt. Also sind alle Kreter Lügner … ad infinitum.

Solche unendliche Schleifen kennen wir auch aus der Datenverarbeitung: Wenn Ihr Betriebssystem wieder mal zusammenbricht, dann meist deshalb, weil es intern in eine unendliche Schleife geraten ist.

Der Mathematiker und Logiker Bertrand Russell formulierte die Sache in der Sprache der Mengenlehre. Das ist ein wenig kompliziert, und darum präsentieren wir hier seine vereinfachte Version. Russell definiert den Dorfbarbier wie folgt: Er rasiert alle Männer, die sich nicht selbst rasieren (Gruppe 1). Männer, die sich selbst rasieren (Gruppe 2) brauchen den Dorfbarbier nicht.

Soweit so klar. Die Schwierigkeit beginnt wieder bei dem, was wir Selbstreferenz nennen, also Selbstbezüglichkeit: In welche Gruppe gehört der Dorfbarbier? Wenn er sich selbst rasiert (Gruppe 2), dann rasiert er sich laut Definition nicht selbst. Wenn er aber sich nicht selbst rasiert (Gruppe 1), dann rasiert er sich laut Definition selbst.

Noch etwas komplexer ist die Sache mit Wörtern. Es gibt Wörter, die sich selbst bedeuten, aber davon finden wir wenige. Das Wort "kurz" ist tatsächlich kurz, und das Wort "Wort" ist selbst ein Wort. Solche Wörter nennen wir autonym. Die meisten Wörter aber bedeuten nicht sich selbst. "Rot" ist nicht rot, und "Mensch" ist kein Mensch (sondern ein Wort). Solche Wörter nennen wir heteronym.

Die Frage "Ist das Wort heteronym selbst heteronym oder ist es autonym?" führt uns wieder in einen unendlichen logischen Kreislauf. Denn wenn es autonym ist, dann bedeutet es sich selbst, und das ist heteronym. Ist es aber heteronym, dann bedeutet es eben nicht sich selbst, also ist es autonym. So oder so, wir kommen nicht weiter. Auch hier kommt das Problem dadurch zustande, dass wir etwas definieren und erst danach die Menge, die der Definition entspricht, in sich selbst einreihen wollen.

Was dann die Mengenlehre wirklich in Schwierigkeiten brachte, war die Sache mit der Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten. Die Argumentation ist die gleiche wie bei den heteronymen Wörtern. Und so führte die Definition einer Menge, die Gottlob Frege (1848 - 1925) ausdrücklich einführte, weil er sie brauchte, zu einem Widerspruch. Im Nachwort des zweiten Bands seiner Grundgesetze der Arithmetik von 1903 hat er darüber geschrieben:

Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als daß ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte.

Und dann hat er seine Arbeiten auf dem Gebiet der axiomatischen Logik aufgrund dieser Entdeckung aufgegeben. Sein Lebenswerk war sozusagen zerstört.

Russell reagierte anders. Er schuf eine Typenlehre, mit der Selbstreferenzen unmöglich wurden. Doch den anderen Mathematikern war das zu kompliziert. Sie lösten das Problem auf elegante Weise: Mengen, die zu Widersprüchen führen, sind keine Mengen (sagen sie), sondern Klassen. Mit anderen Worten: Stolperst du über einen Widerspruch, bringe die entsprechende Menge unter Quarantäne. Dann ist alles gut - bis zum nächsten Widerspruch.

Die Entwickler des λ-Kalküls und der Theorie der Kombinatoren (die wir im letzten Hauptkapitel kennenlernen werden) haben aus der Not eine Tugend gemacht und aus dem lügenden Kreter ein wundersames Instrument entwickelt, den Fixpunktoperator, der aus jeder beliebigen Funktion ihren Fixpunkt extrahiert, also jenen Wert, der sich bei Anwendung der Funktion nicht ändert - und das Ganze ohne Widersprüche, streng konstruktiv, d.h. nachvollziehbar und berechenbar. Der Teufel, sagt man, existiert im Detail; er existiert vor allem in der Vorstellung.

Hier das Russellsche Paradoxon in mathematischer Schreibweise. Man kann Mengen extensional definieren, durch Aufzählung ihrer Elemente. Das gilt beispielsweise für die Menge der natürlichen Zahlen: N = {1,2,3,…}. Die meisten Mengen werden aber intensional definiert, durch Angabe einer Eigenschaft, in der Hoffnung, dass es dann auch Elemente gibt, die diese Eigenschaft haben und nicht zu einem Widerspruch führen. Beispiel: M sei die Menge aller Nullstellen der Riemannfunktion, die nicht auf der Geraden x=1/2 liegen. Nach bisherigen Erkenntnissen enthält M kein einziges Element - aber ob's so ist, wissen wir nicht. So wird die Russellsche Menge R intensional definiert durch:

R:= {x: x∉x} ("R ist die Menge aller x, die sich nicht selbst enthalten").

Dann gilt für alle R:

x∈R wenn x∉x ("x gehört genau dann zur Menge R, wenn es sich selbst nicht enthält - Definition!). Setzt man jetzt x = R, dann ergibt sich:

R∈R wenn R∉R ein offensichtlicher Unsinn!

Von der 1 zu n

("Von der eins zu klein-n")

Am Anfang ist das Zeichen.

David Hilbert

Wie kommen wir ins Unendliche? Wir fangen klein an, ganz klein, mit unseren Zahlen. In meiner Jugend las ich ein Buch von Alexander Niklitschek mit dem Titel "1, 2, 3… Unendlichkeit". Der Titel beschreibt ganz genau unseren Weg ins Unendliche: Von der 1 zur 2, von der 2 zur 3, von der 3 zu n (ein Symbol für eine nicht näher benannte Zahl), und irgendwann kommt dann der Große Sprung. Aber das hat noch Zeit.

Weil wir Mathematik betreiben, sollten wir zweierlei beachten: Erstens muss alles exakt sein, was auch bedeutet, dass wir ganz von vorne anfangen und nichts voraussetzen, außer das, was wir explizit beschreiben oder definieren. Und zweitens sollten wir auch ein paar Symbole verwenden, denn die vereinfachen das Denken.

Also gut: Was ist das Einfachste? Die Zahl 1. Und wie kommen wir weiter? Durch zählen, genauer gesagt: durch weiterzählen. So gelangen wir von der 1 zur 2, von der 2 zur 3,…, von n zu n+1, usw. Diese Fähigkeit des Weiterzählens ist dem Menschen vorbehalten; sie ist eine seiner großen Erfindungen. Zwar können auch Krähen und andere Tiere entscheiden, ob eine Menge 5 oder 6 Dinge enthält. Aber bei dieser Zahl ist's dann zu Ende. Denn die klugen Vögel zählen nicht, sie sehen nur Muster. Und ab 6 (höchstens 7) Elementen werden diese Mengen nicht mehr unterscheidbar. Wir aber können von jeder beliebigen Zahl auf die nächste schließen. Dazu haben wir Notationssysteme entwickelt und auch Namen. Nicht alle Systeme sind gleich gut, aber alle sind irgendwie brauchbar.

Jetzt benötigen wir zweierlei: Erstens ein Symbol für Zahlen; und zweitens ein Symbol für den Prozess des Weiterzählens. Denn der unterscheidet sich vom Ergebnis. Prozess (Operation, Funktion): Zähle von der Zahl 17 um 1 weiter. Wir nennen diesen Prozess auch: den Nachfolger bestimmen. Ergebnis: 18. Die 18 ist der Nachfolger der 17.

Zahlen kennzeichnen wir so, wie es auch die Urmenschen taten. Sie ritzten Kerben in Hölzer oder Knochen. Für uns ist es aber einfacher, Stäbchen hinzulegen oder wegzunehmen. Denn letzteres wird mit eingeritzten Kerben schwieriger.

Die Zahl "1" sieht dann so aus: |;

die "5" so: |||||; die Zahl n schreiben wir dann so: |…|

Diese Schreibweise kennen wir von den alten Römern. Für die galt:

1 = I, 2 = II, 3 = III, 4 = IIII

aber damit war Schluss, weil die Sache sonst zu unübersichtlich wird. Der britische Mathematiker und Computer-Experte Alan Turing (1912 - 1954) verwendete die gleiche Schreibweise bei der Beschreibung seiner Universal-Automaten: Auf ein endloses Band kann die Maschine eine "|" schreiben oder dieses Symbol wieder ausradieren.

Den Prozess des Weiterzählens kennzeichnen wir ganz einfach dadurch, dass wir rechts noch ein Stäbchen dazulegen. Um zu zeigen, dass hier etwas Neues dazukommt, kennzeichnen wir dieses Stäbchen fett. Der Übergang von n zu n+1 (symbolisiert durch den Pfeil) sieht also dann so aus:

|…| → |…||

Auch für den Prozess des Weiterzählens, also für die Nachfolger-Operation, brauchen wir noch ein Symbol. Dafür haben sich die Mathematiker zwei Schreibweisen ausgedacht. Die erste setzt neben die Zahl einfach einen Strich: n' ("n-Strich") ist der Nachfolger von n. Der ' bedeutet also sowohl den Prozess als auch das Ergebnis. Die zweite Schreibweise lehnt sich an die Schreibweise von Funktionen an. Das sieht dann so aus:

NACHFOLGER(x) = NFL(x) → x'

Gelesen: Die Anwendung der Funktion "Nachfolger" (abgekürzt: NFL) auf eine Zahl x liefert die Nachfolgezahl x'.

Mit einer solchen Schreibweise können wir schon einige andere wichtige Operationen durchführen und einfach darstellen. So kann ich ja auch die übernächste Zahl suchen, das wäre dann x'' ("xzwei-Strich"). Mit der Funktionendarstellung sähe das dann so aus:

NFL(NFL(x)) = NFL²(x) → x''

Ausgesprochen: "NFL hoch 2" oder "NFL-Quadrat" oder "NFL, zweimal angewandt". Der Vorteil dieser Darstellung: Statt der "2" können wir wieder eine allgemeine Zahl einsetzen, sagen wir k, und das sieht dann so aus:

NFLk(x) ("NFL hoch k, k-ter Nachfolger von x")

ist also der k-te Nachfolger von x - und das ist nichts anderes als x+k.

Wieso haben wir nicht gleich mit "+" und "-" gearbeitet? Weil wir diese Operationen noch nicht kennen. Die werden wir im nächsten Kapitel einführen. Bisher gibt es nur das Weiterzählen und die ganzen Zahlen, genauer: die positiven ganzen oder natürlichen Zahlen, das sind die Zahlen 1,2,3,…

Jetzt machen wir uns ein paar allgemeine Gedanken. Die erste Frage lautet: Wieviele Zahlen können wir auf diese Weise erzeugen? Unendlich viele? Leider nein, es sind nur beliebig viele, und das ist nicht unendlich. Zwar können wir zu jeder noch so großen Zahl eine größere finden, aber das führt uns noch nicht in die Unendlichkeit. Um das Unendliche echt zu fassen, brauchen wir mehr.

Gibt es zu jeder Zahl einen Nachfolger? Ja, denn Stäbchen zeichnen kostet nichts. Das Gegenteil des Nachfolgers ist der Vorgänger, das ist jene Zahl, die man erhält, wenn man ein Stäbchen wegnimmt. Gibt es zu jeder Zahl einen Vorgänger? Nein, denn bei der "|" können wir noch ein Stäbchen wegnehmen, dann kommen wir zur Null. Aber von der können wir nichts mehr wegnehmen, denn es liegt ja nichts mehr da. Also haben wir schon zwei Erkenntnisse:

(1) Jede Zahl hat einen Nachfolger.

(2) Nicht jede Zahl hat einen Vorgänger.

Was ziemlich banal klingt, wird im Unendlichen spannend: Gelten diese Gesetze dort auch noch? Wenn ja, was heißt das? Wenn nein, warum nicht?

Der Aufbau der Zahlen ist ein Musterbeispiel für die Vorgehensweise der Mathematik. Darum ist es auch so wichtig, diesen Prozess in allen Einzelheiten darzustellen und zu verstehen. Als nächstes werden wir versuchen, allein mit diesen Symbolen und Erkenntnissen die üblichen mathematischen Operationen zu definieren. Dabei beschränken wir uns auf die "aufbauenden" Funktionen Addition, Multiplikation und Exponentiation, denn die liefern immer größere Zahlen - und wir wollen hoch hinaus!

Zusammenfassung

| eine Ziffer; die Zahl "1"

| eine Ziffer wird rechts hinzugefügt (Nachfolger, um 1 weiter zählen)

|…| beliebige Zahl

a → b aus a wird b

n, x, k ganze (natürliche) Zahlen

NFL(x) oder x' Nachfolger von x

NFLk(x) k-ter Nachfolger von x, Abkürzung für NFL(NFL(NFL(…(x)…) (Die Funktion NFL kommt k-mal vor)

Zwischenspiel:

Warum Galilei das Unendliche ablehnte

In der Mathematik ist die Erkenntnis eines Problems schwieriger als dessen Lösung.

Georg Cantor

Im Mittelalter beschäftigten sich gelehrte Denker viel mit dem Unendlichen, meist im Zusammenhang mit Gott. Aber auch rein mathematische Überlegungen führten zu höchst modernen Erkenntnissen. Bereits Roger Bacon (1210-1292) stellte eine Beziehung zwischen zwei ungleichen Mengen her und erkannte, dass die Mengen gleich umfangreich ("gleich groß") sind. Er verband einfach jeden Punkt der Quadratseite mit dem entsprechenden Punkt der zugehörigen Diagonale. Es sind nun gleich viele Punkte (natürlich unendlich viele), und doch sind die Seiten verschieden lang. Bacon folgerte daraus, dass das Unendliche im Bereich der Geometrie nichts zu suchen hatte.

Der Philosoph Albert von Sachsen (1316/1325 - 1390) formuliert diese Erkenntnis erstaunlich modern:

Wenn zwei Mengen sich so verhalten, dass jeder Einheit der einen eine Einheit der anderen entspricht, dann ist die eine weder größer noch kleiner als die andere.

Galileo Galilei