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© 2019 Franz Ernst Poltmann
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7494-9327-2
Eine Redensart sagt, Erinnerungen bleiben.
Nein, auch sie vergehen mit der Zeit wie alles auf der Welt, und tatsächlich sind meine Erinnerungen an meine Kindheit und Kinderzeit immer spärlicher und schwächer geworden.
Nur ein schwacher Nachhall von Ereignissen, Erlebnissen und Empfindungen aus fernen Kindertagen schwingt noch in mir, und der besagt: Wir, meine Schwester Beate und ich, hatten eine schöne und glückliche Kinderzeit, trotz so mancher Widrigkeiten durch den tobenden Zweiten Weltkrieg.
Meine Eltern sind der kaufmännische Angestellte bei der »Bergwerks-AG Ewald-König-Ludwig« in Herten/Westf. Franz Poltmann und seine Ehefrau Margarete, geb. Gruziewski.
Sie kümmerten sich liebevoll um uns, sie waren fürsorglich, beschützten uns und opferten sich für uns auf.
Wir nannten unsere Eltern Mama und Papa, sie gaben uns Liebe und wir liebten sie.
Sie nannten mich liebevoll und zärtlich »Fränzi«.
Sie gaben uns Heimat, Speise und Trank und hielten alle Übel dieser Welt von uns fern.
Sie waren uns warmes Nest und sicherer Hort, zu jeder Zeit in schweren Zeitläuften.
Sie haben uns gelehrt, nach vorne zu streben, immer aufwärts nach oben zu schauen und auf Gott zu vertrauen.
Aber sie forderten auch: »Üb immer Treu und Redlichkeit«.
Sie haben sich selbst immer hintangestellt.
In vollster Hochachtung, mit höchstem Respekt, verneige ich mich vor Euch und danke Euch dafür.
Fränzi
Garbsen, im April 2018
Im Jahre 1934, am 23. April, wurde ich in der HOHEWARDSTRASSE, Haus Nr. 31 in Herten-Süd geboren.
Dort erlebte ich meine Kindheit, dort wuchs ich auf, dort ist meine HEIMAT.
Das Gestrampele und Gebrabbele eines Säuglings in seinem Bettchen ist für alle Eltern immer ein spannendes und freudiges Geschehen, das sie gerne beobachten und an dem sie sich auch immer gerne mit beteiligen, indem sie ihn durch Streicheln mit zarter Hand und mit »Kille, Kille«-Rufen zum Weitermachen geradezu animieren.
Wenn aus dem Gestammele und Gesabbere dann plötzlich zum ersten Male ein schwaches »ma, ma« oder »pa, pa« herausgehört werden kann, ist die Freude besonders groß: Das Baby hat seine ersten Worte gesprochen. Es hat »Mama« und »Papa« erkannt.
So ähnlich soll es auch in meinem Fall gewesen sein, denn früh übt sich bekannterweise, was ein Meister werden will oder soll.
Bis dahin aber ist noch ein weiter Weg zurückzulegen und viel Übung ist erforderlich, bis die Ohren und der Mund eines Kleinkinds aufeinander so abgestimmt sind, dass von den Eltern »Vorgesprochenes« (Gehörtes) fehlerfrei nachgesprochen werden kann.
In späteren Jahren hat meine Mutter mir schmunzelnd erzählt, wie damals meine weiteren Brabbeleien und Sprechübungen verlaufen sind.
Ihre Erzählungen sind die frühesten Erinnerungen, die ich mit meiner Kindheit in Verbindung bringen kann.
Nahm sie z. B. ein »Taschentuch« zur Hand, um mein triefendes (Rotz-?) Näschen zu putzen, dann zeigte ich freudig mit dem Finger darauf und sagte »Tatanusch« dazu, wohl auch um zum Ausdruck zu bringen, dass es mir guttut.
Wenn sie mich aber zum Mittagsschlaf ins »Schlafzimmer« bringen wollte, dann strampelte ich mit den Beinen, zeigte heulend und schreiend mit dem Finger auf die Schlafzimmertür und sagte »Laabzeier«, wohl auch um damit zum Ausdruck zu bringen, dass ich zu diesem Zeitpunkt keinesfalls da hineingebracht werden wollte.
Leider ist mir nicht bekannt, ob es inzwischen ein »Lexikon der Babysprache« gibt, in dem solche Ausdrücke aus der frühesten Phase des Sprechenlernens von Babys gesammelt sind.
Es wäre sicher ein lohnenswertes Forschungsthema in der Linguistik.
Aber ich glaube – heute –, das Sprechen, das Schreiben und das Lesen der deutschen Sprache einigermaßen fehlerfrei erlernt zu haben, auch nach den Regeln des »Duden«.
Kinderkrankheiten und Wehwehchen gab es natürlich auch.
Im Normalfall bekommen Babys ihre ersten Milchzähnchen ungefähr im Alter von ungefähr zehn bis zwölf Monaten, sie zahnen, wobei der heranwachsende Zahn das Zahnfleisch durchbricht.
Das ist einigermaßen schmerzhaft und kann mit Entzündungen im Kieferbereich und Fieberzuständen einhergehen.
Die Babys schreien vor qualvollen Schmerzen, die Eltern sind genervt und gestresst und viele Arztbesuche sind erforderlich, bis es endlich geschafft ist und alle Zähnchen da sind.
So – vermute ich, wird es auch bei mir gewesen sein.
Viele Jahre später – und daran erinnere ich mich genau – fand ich beim zufälligen Stöbern und Schnüffeln in den Fächern und Schubladen des Küchenschranks einen Gegenstand, dessen Sinn und Zweck ich nicht erkennen konnte.
Er hatte in etwa die Form einer breiten, plattgedrückten »Zigarre«, war von weiß-gräulicher Farbe und fühlte sich glatt und plastisch an, als ich draufdrückte.
An einem Ende befand sich eine Lochbohrung, durch die eine Kordel hindurchgeführt und zu einem Ring verknotet worden war.
Die verknotete Kordel mit dem unbekannten Gegenstand daran konnte man wie eine Schmuckkette um den Hals legen.
Auf meine Fragen erklärte mir Mama damals lächelnd, die »Zigarre« sei mein Schnuller gewesen, der mir während der Zeit des »Zahnens« zum Draufbeißen und Kauen gegeben wurde, um die Schmerzen zu mildern, … und es sei eine Veilchenwurzel, die sie aus nostalgischen Gründen zusammen mit einigen meiner Milchzähnchen aufbewahrt habe – wie ein heiliges Relikt.
Aus welchem Material die Beißringe bestehen, die man den Babys heute gibt, weiß ich nicht, ich vermute mal, aus irgendwelchem Plastik.
Später dann, als die Milchzähnchen begannen allmählich auszufallen, war öfter mal ein Besuch beim Zahnarzt Dr. Wierichs erforderlich, um das Wachstum der neuen, kräftigeren »Beißerchen« zu beobachten und zu kontrollieren, ob bei der Ausbildung des Gebisses alles normal verläuft.
Aber auch der HNO-Arzt Dr. Gosepath wurde aufgesucht, wenn es um Husten, Schnupfen, Heiserkeit und Ohrenschmerzen ging.
Dass bei mir keine Komplikationen auftraten, die in heutiger Zeit bei Kindern oft zu beklagen sind (Gebissspange, Atemwegs- und Hautallergien u. a.), hängt möglicherweise mit der »Werksfürsorge« zusammen.
Nach meinem heutigen Wissen war die »Werksfürsorge« eine freiwillige soziale Einrichtung der Zeche Ewald zur medizinischen Betreuung von Werksangehörigen und deren Familien.
Sie befand sich in einem Gebäude an der Ewaldstraße gegenüber der evangelischen Kirche in Herten. Ich erhielt dort »Höhensonne« (Ganzkörperbestrahlung mit UV-Licht) verabreicht und löffelchenweise »Lebertran«, eine ölige, hellgelbe Flüssigkeit, anfangs unbekannt und fremd, später hatte ich mich an den leicht fischigen Geschmack gewöhnt.
Die Bedeutung von Calcium (neben Fluor) und Vitamin D für den menschlichen Knochen- und Zahnaufbau war schon damals bekannt. Die körpereigene Bildung von Vitamin D wird durch UV-Licht unterstützt und im Lebertran ist bekanntlich viel Vitamin D enthalten.
Heute ist es etwas angenehmer und komfortabler. Da erhalten die Kleinkinder »Sanostol«, eine wohl mit Orangensaft verfeinerte Zubereitung von Lebertran, die sie gerne trinken.
Na klar doch: Der Saft ist süß und der fischige Beigeschmack ist weg.
Noch aus einem anderen Grund ist mir die »Werksfürsorge« so deutlich in Erinnerung: Es gab dort eine Bibliothek, sogar eine »Leihbücherei«, die von Mama reichlich benutzt wurde.
Anfangs, solange ich selbst noch nicht lesen konnte, wurden für uns Kinder natürlich nur Bilderbücher ausgeliehen, in denen alles, was es auf der Welt gibt, abgebildet war und in denen wir neugierig und immer wieder staunend herumblättern konnten.
Dann kamen Sagen- und Märchenbücher dazu, aus denen Mama oder Papa vorgelesen haben.
So lernten wir dann die fleißigen »Heinzelmännchen« von Köln kennen, den strubbeligen »Struwwelpeter«, den bis auf die Knochen abgemagerten »Suppenkaspar« und auch den »Zappel-Philipp«, der mit seinem Stuhl nach hinten umkippt, weil er nicht ruhig sitzen will.
Wir lauschten still und andächtig, wenn »Frau Holle« den Schnee rieseln ließ, »Hänsel und Gretel« sich von der bösen Hexe befreiten und »Dornröschen« von ihrem Prinzen wach geküsst wurde.
Papa konnte besonders gut vorlesen, ich hörte ihm immer aufmerksam und gespannt zu, weil er die Dramatik, die in dem aufregenden Geschehen aller Märchen liegt, besonders gut zum Ausdruck bringen konnte.
Dadurch wurde meine innere Anteilnahme an dem geschilderten Geschehen so stark geweckt, dass ich mal »himmelhoch jauchzend«, mal »zu Tode betrübt« war.
Ein Grimm’sches Märchen ist mir in besonderer Erinnerung, bei dessen Anhörung ich immer zu schlucken und zu schluchzen anfing, bis mir schließlich die Tränen an den Backen hinunterkullerten und ich zum Taschentuch greifen musste.
Es war das Märchen von »Brüderchen und Schwesterchen«, das ich immer wieder vorgelesen haben wollte, und es muss irgendwann in der Zeit zwischen 1936 und 1940 gewesen sein, nachdem meine Schwester Beate geboren war und bevor ich selber das Lesen erlernte.
Noch heute frage ich mich, welche tiefenpsychologischen Elemente dahintersteckten, die mich jedes Mal in Tränen ausbrechen ließen, wenn ich die Geschichte hörte.
Sah ich mich in der Rolle von Brüderchen und des verletzten Rehs?
Dann war es möglicherweise nur Selbstmitleid.
Sah ich mehr meine Schwester Beate in der Rolle von Schwesterchen, dann war es ihr Mitleid gegenüber mir, dem verletzten Brüderchen, das ich gerne annahm, vielleicht auch wohlig empfing.
Wahrscheinlich waren beide Elemente beteiligt und sie waren Ausdruck einer sehr tiefen inneren Verbundenheit zwischen uns Geschwistern, zwischen Beate und mir: Geschwisterliebe eben.
Gegenseitiges Mitleid, Empathie, verstärkten die innere Verbundenheit.
Dann, als ich selber lesen und schreiben konnte, öffnete sich mir ein neues Tor zur Erkundung der Welt und zur Befriedigung meiner Neugier und ich wurde eine richtige »Leseratte«.
Jetzt wurden natürlich andere Buchtitel bei der »Werksfürsorge« ausgeliehen, Sachbücher, Reiseberichte, Abenteuer, irgendwann auch Karl May und James Cooper.
Aber eigenartig, ich wundere mich selbst, auch hier ist mir ein Buch bis heute besonders gut in Erinnerung geblieben, es trägt den Titel »Die Höhlenkinder«, der Verfasser ist Alois Theodor Sonnleitner.
Darin wird von der Lebensart und den Lebensumständen eines Geschwisterpaares in vorgeschichtlicher Zeit in einer solch anschaulichen, aufregenden und spannenden Weise erzählt, dass sich meine Begeisterung dafür bis heute erhalten hat.
Die größte Faszination des Buches, die mich so gefesselt hat, liegt aber darin, dass gleichsam im Zeitraffertempo die gesamte Entwicklungsgeschichte der Menschheit von der Steinzeit über die Bronzezeit bis zur Eisenzeit hin dargestellt wird.
Das Buch ist auch heute noch antiquarisch erhältlich, wie ich gerade feststellte.
Mama hat immer gerne Romane, aber auch Lebenserinnerungen und Biographien gelesen, die in der »Werksfürsorge« verfügbar waren. An einen Romantitel kann ich mich noch gut erinnern: »Friedemann Bach«. Sie muss davon sehr bewegt gewesen sein, dass sie mit mir darüber gesprochen hat, anders kann ich mir nicht erklären, dass mir dies heute noch geläufig ist.
Inzwischen weiß ich, dass der Roman über den ersten Sohn Johann Sebastian Bachs, geschrieben im Jahr 1858 von Albert Emil Brachvogel, im Jahre 1941 verfilmt worden war, mit Gustav Gründgens in der Titelrolle.
Wahrscheinlich hatte Mama auch die Romanverfilmung im Kino gesehen und war von dem Hauptdarsteller so begeistert.
Wann ich das erste Mal das Medium »Film« im Kino kennenlernte, weiß ich nicht mehr, es muss aber sehr früh in den 40ern gewesen sein, anfangs sah ich wohl nur Märchenfilme in Begleitung von Mama, an »Dornröschen« und »Rumpelstilzchen« habe ich eine dunkle Erinnerung, deren Geschichten ich schon vom Vorlesen her kannte.
Im Vorprogramm der Filmvorführungen wurde immer »Die Deutsche Wochenschau« gezeigt, eine Zusammenfassung von wichtigen Tagesereignissen aus aller Welt, für mich eine willkommene Zeitung in Bildern.
Die musikalische Eingangsfanfare klang etwa so:
Die Deut – sche Wooooo – chen – schau!
!!! -- -! -- -
Dann erklangen als musikalische Einleitung einige Orchestertakte voller Wucht und Erhabenheit, die mich immer wieder ehrfürchtig erschauern ließen. Heute weiß ich, es war eine Passage aus der Tondichtung »Les Preludes« von Franz Liszt. (https://www.youtube.com/watch?v=sQ-OnjMB-Vc)
Gezeigt wurden überwiegend Kriegsereignisse, Vormarsch der deutschen Wehrmacht an allen Fronten, Panzergeneral Guderian in Russland, Einnahme der Krim mit Sewastopol und Jalta, Rommel in Afrika, Stukas über England, U-Boote im Atlantik … dazwischen: deutsche Landser beim Biwak und Essenfassen und wie freudig sie von der Zivilbevölkerung der besiegten Feinde empfangen und begrüßt wurden, so als wenn die Menschen von etwas befreit worden wären.
Als 8- bis 10-jähriger Junge, der ich damals war, haben die Bilder und die dazu gesprochenen Kommentare mich sehr beeindruckt und begeistert, und natürlich war ich stolz auf unsere Soldaten, die überall gegen böse Feinde kämpften und siegten.
Was das alles bedeutete, war mir aber nicht klar, und ich wartete ja auch nur darauf, dass endlich der Hauptfilm beginnt, den ich eigentlich sehen wollte.
Es ist durchaus möglich, dass der Film »Quax, der Bruchpilot« mit Heinz Rühmann mein erster Spielfilm war, abgesehen von den Märchenfilmen vorher, den ich ohne Mamas Begleitung gesehen habe.
Es könnte aber auch der Film »… reitet für Deutschland« mit Willy Birgel gewesen sein, der fehlerfrei über den schweren Parcours geritten ist und den Sieg für Deutschland erstritten hat.
An den Film »Zirkus Renz« mit René Deltgen und Angelika Hauff in den Hauptrollen erinnere ich mich deshalb sehr gut, weil ich erstmals an der Kinokasse im »Lito«-Theater in einer Schlange anstehen musste, um eine Eintrittskarte zu erlangen.
Dieser Film war eine Sensation und zog ein großes Publikum an, weil er hochdramatische Aktionen zeigte, die man sich gar nicht vorstellen konnte und die ich noch nie gesehen hatte.
In einer Szene springt die Hauptdarstellerin Angelika Hauff, die auf dem Rücken eines trabenden Pferdes steht, mehrmals durch Feuerringe, die mit Membranen aus Papier verschlossen sind.
In einer anderen Szene wird gezeigt, wie bei einem orkanartigen Sturm das Zirkuszelt zerstört zu werden droht und der Hauptdarsteller René Deltgen in peitschenden Regengüssen hoch oben an den schwankenden Masten versucht, dies durch zusätzliche Sicherungsseile zu verhindern.
So spannend und atemberaubend, dass ich es nicht vergessen habe.
Damals gab es in Herten mehrere Kinos. Sie nannten sich meistens Film-Theater.
Das bekannteste war das »Eden«-Theater in der Kaiserstraße, neben der St. Antonius-Kirche, an dessen Rückseite in der Hermannstraße das »Gloria«-Theater. Im Zentrum der Stadt an der »Kranzplatte« gab es das »Post«-Kino, danach »Cinema«-Theater. Später kamen noch zwei weitere Kinos dazu, eines im weiteren südlichen Verlauf der Ewaldstraße zwischen der Konditorei Schütte und der Gaststätte Ennemann das »Capitol«-Theater, ein anderes am Beginn der Herner Straße in Nähe der alten Berufsschule und schräg gegenüber der Gaststätte Brauckmann, das »Rondell«-Theater.
Sie hatten alle ihr Publikum und ihr Auskommen. Warum sie heute fast alle verschwunden sind, ist ja hinlänglich bekannt.
In späteren Jahren erzählte mir Mama, dass sie mit mir wegen Harnverhaltens den Kinderarzt Dr. Niehörster aufsuchen musste. Nach einem kurzen Eingriff wurde mein »Zipfelchen« in Watte gepackt und mit einem Verband umwickelt, der am nächsten Tag wieder entfernt werden sollte.
Wie es dann am nächsten Tag passieren konnte, wusste keiner mehr so richtig zu erklären.
Aber Mama konnte sich ein schelmisches Lächeln nicht verkneifen. Denn kaum hätte Dr. Niehörster den Verband und die Watte abgenommen und begonnen, mein »Zipfelchen« – dicht darüber gebeugt – aus der Nähe zu betrachten, hätte ich in hohem Bogen angefangen zu pinkeln, ihm voll ins Gesicht.
Ich selbst konnte mich an den Vorfall nicht erinnern. Aber es war Dr. Niehörster wohl gut gelungen, die Phimosis – so vermute ich mal – zu beseitigen, die zu meinem Harnverhalten geführt hatte.
Irgendwann später erkrankte ich an einer schweren Gelbsucht, woran ich mich noch gut erinnere.
Ich war am ganzen Körper gelbgrün wie ein Kanarienvogel und musste das Bett hüten, genauer gesagt, ich lag auf dem Ledersofa in der Küche, zugepackt mit Kissen und Decken, es war wohl Winterzeit.
Damals machten die Ärzte noch viel mehr Hausbesuche als heute, meistens waren sie mit dem Fahrrad zu ihren bettlägerigen Patienten unterwegs.
Wie unser Hausarzt Dr. Dyckerhoff (der alte) an mein Krankenlager gekommen war, weiß ich nicht. Ich habe ihn als freundlichen älteren Herrn mit großer und breiter kräftiger Statur in Erinnerung, als er vor mir stand und begann, mich gelbes, krankes »Würmchen« zu untersuchen.
Bauch frei machen, Zunge rausstrecken, aaaah sagen, Augen weit öffnen, Fieber messen … die ganze Prozedur führte zu dem Ergebnis: Gelbsucht.
Nicht die Krankheit an sich ist mir so stark in Erinnerung geblieben, sondern ein ganz anderer Umstand, der damit verbunden war.
Winterzeit und Krankheit, zwei Faktoren, die meine Mutter zu äußerster Vorsicht gemahnten.
Es bedeutete: warm anziehen.
Denn nach der Untersuchung und Diagnose von Dr. Dyckerhoff musste ich sofort lange Winterstrümpfe anziehen.
Lange Strümpfe heißt, dass sie bis über die Oberschenkel hinaufreichten.
Um die Strümpfe zu befestigen, musste ich ein sogenanntes »Leibchen« überziehen, ein Kleidungsstück nicht unähnlich einem Korsett, an dem vorne zwei breite Gummibänder hingen, die an ihrem Ende einen Schlitz hatten.
Waren die Strümpfe angezogen, konnte man sie mit Hilfe eines Knopfs oder Pfennigstücks, die man durch den Schlitz führte, an den Gummibändern des »Leibchens« befestigen.
So weit, so gut. Aber die verflixten, grob gestrickten Wollstrümpfe auf der nackten Haut bis zu den Oberschenkeln hoch haben so vermaledeit gekratzt und gejuckt, dass ich es ein Leben lang nicht vergessen werde.
Viele, viele Jahre später, als ich einem Aufruf des »Roten Kreuzes« zur Blutspende folgte, stellte sich heraus, dass ich wegen der Gelbsucht in Kindertagen als Spender nicht geeignet bin.
Heute grüble und spekuliere ich darüber nach, ob es zwischen meiner Gelbsuchterkrankung und der Verabreichung von Lebertran damals in der »Werksfürsorge« einen Zusammenhang gab.
Leider weiß ich nicht mehr die Reihenfolge der Ereignisse.
War also die Gelbsucht zuerst da und sollte durch Lebertran in irgendeiner Weise beeinflusst, gemildert und behandelt werden?
Oder gab es zuerst den Lebertran, der dann die Gelbsucht verursachte?
Wenn damals trotz des »Warm-Anziehens« eine Erkältung oder Grippe im Anmarsch oder schon ausgebrochen waren, wurde eine Behandlung mit »Hausmitteln« eingeleitet.
Jedoch vermag ich den Unterschied zwischen einer Erkältung und einer Grippe wegen der ziemlich ähnlichen unangenehmen Symptome bis heute nicht zu erkennen, immer sind Husten und Schnupfen, Fieber und Schweißausbrüche dabei, die Nase »läuft«, die Augen »tränen«, der Hals »kratzt«, die Ohren »dröhnen«, der Schädel »brummt« und die Stimme ist »heiser«.
Der Einsatz von »Antibiotika« zur Therapie solcher »harmloser« Kinderkrankheiten wie Husten, Schnupfen und Kratzen im Hals war damals nicht üblich.
Das beste »Hausmittel« bei Erkältungen war ein Hustensaft, der von Mama aus einer Runkelrübe nach altem Rezept selbst hergestellt wurde.
Runkelrüben wurden damals auf den Feldern in großen Mengen angebaut und als Futterrüben bei der Versorgung der Tierwelt (Pferde, Kühe, Schweine) in der Landwirtschaft verwendet.
Sie können so groß wie kleine Kürbisse sein, außen rötlich schimmernd, innen saftig mit weißem, süßlichem Rübenfleisch, auf das die Tiere ganz verrückt sind.
Hier das Rezept für den Hustensaft, das ich viele Jahre später von Mama erhielt:
Zutaten: 1 Runkelrübe, 250 g (oder nach Belieben) brauner Kandiszucker Zubereitung: die gewaschene Rübe wird »enthauptet«, d. h., ein Deckel von ca. 1–1,5 cm Dicke wird von ihrem oberen Teil abgeschnitten, dann wird die Rübe »ausgehöhlt«, d. h., das weiße, saftige Rübenfleisch wird mit Messer und Löffel herausgekratzt, danach wird das zerkleinerte Rübenfleisch mit dem Kandiszucker vermischt und wieder in die Rübe eingefüllt, Deckel darauf und zwei, drei Tage stehen lassen.
Während dieser Zeit entzieht der Kandis dem Rübenfleisch den größten Teil an Flüssigkeit und die darin enthaltenen Wirkstoffe, es entsteht eine braune, köstlich duftende und gut schmeckende Zuckerlösung.
Diese Zuckerlösung ist der Hustensaft, der uns Kindern löffelweise dreimal täglich verabreicht wurde, als Medizin, versteht sich, die wir gerne eingenommen haben, Mäulchen auf und hinuntergeschluckt.
Die »Medizin« war sooo süß, zeigte aber auch Wirkung: Schleim auf den entzündeten Häuten der Atemwege ließ sich leichter abhusten und wir wurden alle wieder gesund.
Heute weiß ich, der Hauptwirkstoff der Runkelrübe ist das »Betain«.
Meine Kindheit fiel in eine unruhige Zeit, obwohl ich davon damals nichts ahnte und nichts wusste. Denn ich wuchs behütet und beschützt im Elternhaus auf, gehätschelt und umsorgt von Vater und Mutter, zusammen mit meiner lieben Schwester Beate als gute Freundin und Spielkameradin.
Was in der großen Welt da draußen brodelte und gärte und drohte und sich später dann zum Zweiten Weltkrieg, zu dieser zweiten großen Katastrophe in der Geschichte der Menschheit, entwickelte, davon hatte ich keine Vorstellung und keine genaue Kenntnis.
Meine kleine Kinderwelt zu Hause in der Familie war ja in Ordnung: Vater ging jeden Wochentag von morgens 8 Uhr bis nachmittags 17 Uhr zum Dienst in die Hauptverwaltung der Zeche Ewald, Mutter war immer daheim und betreute uns Kinder.
Wir hatten ein Dach über dem Kopf und immer genügend zu essen und zu trinken.
Nebenan in der Hohewardstraße gab es das Lebensmittelgeschäft von Julius Mackmann, nach heutiger Diktion ein typischer »Tante-Emma-Laden«, und ein paar Schritte weiter war die Bäckerei Melchers. Dort konnte man alles für den täglichen Bedarf kaufen, wenn man das nötige Geld hatte.
Das war aber besonders am Monatsende oft sehr knapp, weil Mama dann die letzten Pfennige im Geldbeutel zusammenkratzen musste, wenn sie zum Einkaufen gehen wollte.
Doch manchmal konnte sie nicht losgehen, weil der Beutel leer war, und beim Kaufmann »anschreiben« zu lassen, war familienrechtlich sehr riskant.
Dann sind auch Tränen geflossen, weil sie in einer Zwickmühle war und Angst hatte: Angst um ihre Ehe, Angst um ihre Kinder und Angst um ihre eigene Zukunft … als Geschiedene mit zwei unmündigen Kindern … das war ein Makel.
Denn: Wenn eine Ehefrau »anschreiben« ließ = Schulden machte, so war das ein Grund, dass sich der Ehemann von ihr scheiden lassen konnte.
Eine Ehefrau, damals das »Heimchen am Herd«, die ja meistens nicht selbst berufstätig war und kein eigenes Einkommen hatte, sollte mit dem Haushaltsgeld, das ihr der Ehemann zur Verfügung stellen musste, ordentlich wirtschaften und vor allem auskommen müssen. Konnte oder wollte sie dies nicht, so galt das als ein Verstoß gegen die ehelichen Pflichten und war ein Scheidungsgrund.
Eine Scheidung hat Mama ihr Leben lang zu vermeiden versucht. Es ist ihr auch gelungen, weil sie in bedrückenden und schmerzlichen Momenten, die sie manchmal erleiden musste, immer wieder verziehen hat und stets zu Kompromissen und zu einem Neuanfang bereit war, aber sie hat oft geweint – und ich konnte ihr nicht helfen.
Bei Adamy, ebenfalls in der Hohewardstraße, konnte man Kartoffeln und andere Naturalien kaufen.
Bei der Metzgerei Sadowski in der Branderheide gab es frisches Fleisch und Würste aller Art, besonders ostpreußische Grützwurst und westfälischen Panhas, beide nach Originalrezepten aus uralten Zeiten hergestellt und köstlich schmeckend.
Ich erinnere mich an die Rezepturen gut, weil ich manchmal bei Hausschlachtungen, die damals noch erlaubt und üblich waren, zuschauen durfte.
Mit der getrockneten und aufgeblasenen Schweineblase eines geschlachteten Schweins haben wir Fußball gespielt.
In dem Fischgeschäft Hölter in der Augustastraße gab es jede Menge frische Fische, besonders frischen Kabeljau und Salzheringe, die nach dem Wässern sauer eingelegt wurden.
Zusammen mit Bratkartoffeln bildeten die von Papa selbst eingelegten Heringe ein köstliches Festmahl, das ich nie als »Arme-Leute-Essen« empfunden habe. Ich mochte den Fisch gerne. Von Nematoden im Hering war noch nichts bekannt.
Auch die liebe Verwandtschaft, wenn sie zu Besuch war, hat sich bei solchem Festessen oft die Finger geschleckt.
An der Ecke Augustastraße/Branderheide gab es ein weiteres Lebensmittelgeschäft. Es war ein gut sortierter Tante-Emma-Laden und gehörte der Familie Schoppen. Später im Gymnasium war der Bernhard Schoppen ein Mitschüler in der Quinta.
Ebenfalls in der Augustastraße gab es die Großbäckerei Breier. Von dort sind wir täglich mit herrlich duftendem, frischem Brot und anderen Backwaren beliefert worden, per Pferdegespann.
An der noch warmen Brotkruste zu naschen, war köstlich, hat aber oft auch Schimpfe und eine (harmlose) Ohrfeige von Mama eingebracht.
Der Milchbauer Gossmann aus Resse kam jeden Tag mit einem Einspänner vorbei und hat frische Vollmilch, im heißen Sommer auch gekühlte Buttermilch, feilgeboten.
Eisverkäufer mit ihren Wägelchen sind im Sommer auch glöckchenklingelnd durch die Hohewardstraße gefahren, und wir Kinder haben ihre süßen Leckereien gerne geschleckt.
Aber vorher musste man durch gehöriges Quengeln – »Mama, ich will ein Eis« – zunächst einen oder zwei Groschen erbetteln, um den Kauf eines Waffelhörnchens mit der kühlen, süßen Köstlichkeit zu ermöglichen.
Der Getränkehändler Urbisch belieferte mit seinem motorisierten Dreirad den Tante-Emma-Laden Mackmann neben uns mit Sprudelwasser (Selters) der Marke Hellweg-Sprudel und rot und grün eingefärbtem Brausewasser und natürlich auch mit Bier der Marken Dortmunder Union, Ritter-, Actien- und Schlegel- und Wicküler-Bräu.
Der Dreiradwagen mit offener, tiefer Ladefläche war so eine kleine »Nuckelpinne« mit nur wenig PS unter der Haube und musste immer mit einer Kurbelwelle von Hand gestartet werden.
Die Wagemutigen unter uns Kindern auf der Straße haben sich oft den Spaß gemacht, den Urbisch beim Starten zu ärgern und hinten an der Wagenklappe festzuhalten. Er hat dann auf seinem Fahrersitz vorne wild gestikuliert, gedroht, geschimpft und geflucht und musste Vollgas geben, um sich aus der Blockade zu befreien.
Manchmal hat sich das vordere Antriebsrad durchgedreht, und dann, wenn die Kraft der »Anhalter« hinten nicht mehr reichte, ist er mit einem Ruck losgefahren, die Flaschen klirrten und wir haben gejubelt und gegrölt.
Auch ein Schrotthändler (damals Klüngelskerl genannt) kam des Öfteren mit einem Einspänner vorbei und hat Altmaterial eingesammelt, besonders Altmetalle, kaputte Fahrräder, Badewannen (damals aus Zinkblech), Rohre u. a.
An der Seite seines Pferdewagens hing eine große Balkenwaage mit einem großen Zeiger in der Mitte. Damit hat er den Schrott gewogen, und danach hat er tatsächlich – je nach ermitteltem Gewicht – einen entsprechenden Pfennigpreis an den Sammler ausbezahlt.
Damals bekam man Geld für das Sammeln von Altmaterial, man wurde bezahlt … und heute?
Man muss für die Müllabfuhr bezahlen.
Wir Kinder hatten längst herausgefunden, dass der Klüngelskerl ein lustiger Mensch war und nichts übel nahm.
Wir riefen ihm übermütig und spaßeshalber zu: »Onkel, lass dein Pferd mal furzen.«
Oh, dieses Wort aus der Fäkalsprache öffentlich zu benutzen war für Kinder in der damaligen Zeit eigentlich respektlos, heute würde man sagen, ein »No-Go«.
Aber heutzutage – tempora mutantur! – ist solche »Spreche« ja gang und gäbe.
Der Klüngelskerl jedenfalls nahm unser anrüchiges Spiel mit dem Verbotenen und Frivolen auf.
Er schürzte seine Lippen, ließ seine Zunge heraushängen und blies seine Atemluft unterhalb der Zunge nach außen: Das ergab ein Geräusch, als wenn ein Furz aus einem echten Pferdearsch entweichen würde.
Er lachte, wir grölten und alle hatten wir unseren Spaß.
Es sind aber auch Drehorgelspieler (Leierkastenmann) und andere Straßenmusikanten vorbeigezogen, die nach ihren Darbietungen mit Geigen, Trommel und Trompeten und mehr oder weniger lieblichem Gesang um eine Geldspende baten, indem sie ihre Mützen und Hüte den an den geöffneten Fenstern lauschenden Zuhörern entgegenstreckten.
Manchmal kamen auch Photographen vorbei, die mit besonderer Staffage Erinnerungsphotos von Kindern anfertigten, mal auf einem Pony reitend, mal auf einem Esel oder einem Motorrad sitzend. (Bild 6, 7)
Beim Metzger Sadowski musste ich immer meine schönen Zähnchen zeigen, wenn meine Mutter dort einkaufte und mich mitgenommen hatte.
Sie haben mich dann mit einer Scheibe Salami oder Mortadella belohnt, die ich gerne angenommen habe, wie meine Mutter mir später erzählte, denn daran habe ich selbst keine Erinnerung.
Auch daran, dass die älteren Spielfreunde auf der Straße mich zum Bäcker Melchers schickten, um dort für 5 Pfennig »Hau-mich-blau« zu kaufen – sie haben es als Mutprobe bezeichnet –, habe ich nur eine schwache Erinnerung, na ja, der Bäcker und sie haben sich kaputtgelacht, dass sie mich so angeschmiert hatten, einen Blödmann, der wohl allen Ernstes daran glaubte, dass der Bäcker außer Brot und Kuchen und Brötchen auch noch »Hau-mich-blau« zu verkaufen hätte.
Wohl aber erinnere ich mich daran, dass ich später dann für 5 Pfennig beim Bäcker Melchers statt wie sonst nicht »Klümpchen« = Bonbons einkaufte, sondern Backhefe.
Wir waren neugierig und wollten einfach einmal ausprobieren, wie Hefe schmeckt.
Der Test verlief ambivalent: Es entstand keine Vorliebe für dieses »Naschwerk«, keiner hat gekotzt und Bauchschmerzen oder Blähungen bekam auch niemand.
Aber es gab auch Zeiten voller Sonnenschein und Freude, wenn am Sonntag oder an den Feiertagen zu Ostern/Pfingsten Ausflüge in die Umgebung unternommen wurden.
An heißen Sommertagen sind wir, die ganze Familie mit Papa, Mama und ich, mit Schwesterchen Beate, die ich im leichten Kinderwagen vor mir herschieben durfte, in den naheliegenden Katzenbusch gezogen und haben dort unter schattigen Buchen und Eichen Abkühlung gesucht.
Ein beliebter Treffpunkt mit Nachbarn, Freunden und Bekannten war der alte Sportplatz im Katzenbusch, der wohl nur noch für Trainingsspiele benutzt wurde, weil seine Rasenfläche ziemlich ungepflegt und eigentlich nur noch ein trockener, staubiger Lehmacker mit einigen Grasbüscheln war. Rings um das Spielfeld herum aber, wo bei Spielbetrieb die Zuschauer standen, war das Gras zu einem dichten, weichen Teppich zusammengewachsen.
Genau hier breiteten wir unsere mitgebrachten Decken und Kissen aus, nahmen darauf Platz und streckten alle viere von uns für den ersten Augenblick. Dann wurde alle Kleidung bis auf den Badeanzug oder die Turnhose abgelegt und das »Picknick im Grünen« konnte beginnen.
Grillpartys, wie man sie heute bei gleichen Gelegenheiten und Anlässen veranstaltet, kannte man damals noch nicht. Stattdessen wurde serviert, was Mama zu Hause Tage vorher zubereitet hatte: Kartoffelsalat, gekochte Eier, Frikadellen und panierte/gebratene Schnitzel/Koteletts, manchmal war auch eine rote Tomate dabei oder ein grünes Blatt Salat.
Dazu, um den Durst zu stillen, Buttermilch oder selbst gemachte Dickmilch.
Na ja, und Bier aus Flaschen für die Erwachsenen und Sprudel/Brause oder Limo für uns Kinder gab es auch schon, aber an Coca-Cola kann ich mich nicht erinnern.
Hin und wieder, wenn es uns Kindern auf den ausgebreiteten Liegedecken zu langweilig wurde, haben wir auf dem buckligen Lehmacker trotz der brütenden Hitze Ballspiele veranstaltet – Werfen, Schießen, Fußballspielen – bis uns die Zunge zum Hals heraushing.
Dann sind wir nassgeschwitzt und erschöpft zu den Eltern gelaufen und haben jammernd gebettelt: »Mama, ich hab Durst«, und wir wurden mit kühlem Sprudel oder Buttermilch gestillt, köstlich.
Ein anderes Mal gab es einen Ausflug nach »Schloss Berge«. Bei schönstem Sonnenschein sind wir morgens mit der Straßenbahn der Linie 10 nach Gelsenkirchen-Buer gefahren zu einem Spaziergang durch die dortige Gartenanlage und den Stadtwald.
Die gepflegten Blumenrabatten und Beete dort waren damals – und sind es sicherlich auch heute noch, so hoffe ich jedenfalls – eine echte Augenweide und die hohen Buchen spendeten Schatten in flimmernder Sommerhitze.
Ein kleiner Spielplatz mit Klettergerüst und Sandkasten war – wenn ich mich recht erinnere – auch vorhanden. Aber benutzen durften wir ihn nicht, weil wir ja unsere Sonntagskleidung trugen, die keinesfalls dreckig gemacht werden durfte. Ich trug einen schicken Matrosenanzug von Bleyle.
Inzwischen aber hatten sich im Laufe des Tages die vorher hell strahlende Sonne allmählich getrübt und der Himmel mit grauem Dunst bezogen, und aus der Ferne zog ein Gewitter herauf.
Es hat lange Zeit nur mit Donnergrollen gedräut und gegrummelt, und dann, plötzlich, am späten Nachmittag, brach es mit aller Macht los: Als wenn Schleusen geöffnet würden, prasselten die Wassermassen hernieder auf die ausgedörrte Erde.
Schutzhütten wie in den Alpen, in denen man Unwetter überdauern kann, gab es in Schloss Berge nicht. Wir mussten also schnellstens nach Hause kommen und waren gezwungen, uns regelrecht zur Straßenbahnhaltestelle zu flüchten, wo es eine überdachte Wartebucht gab, wenn ich mich recht erinnere.
Ich, vorneweg mit dem Kinderwagen, in dem Schwesterchen Beate saß (Bild 4) und der sich immer schwerer schieben ließ, weil der Untergrund der Wege wegen der herabprasselnden Wassermassen aufgeweicht und immer schlammiger wurde. Dahinter Mama und Papa.
Als wir in dem Wartehäuschen ankamen, war mein schöner Sonntagsanzug zwar nicht dreckig oder schmutzig, weil ich ja nicht auf dem Spielplatz aktiv werden durfte, aber er war total durchnässt, ich spürte jede Faser und Naht auf meiner Haut. Aber auch die anderen waren alle pitschnass und schauten bedröppelt aus ihrer Wäsche.
Regenschirme hatten wir natürlich nicht dabei, wer denkt denn schon daran, wenn morgens die Sonne scheint und es eine Wettervorhersage wie heute, die von den Leuten wahrgenommen wird, noch nicht gab.
Einmal gab es einen Ausflug zur Loemühle nach Hüls. Ich habe keine Erinnerung, wie wir dahin gekommen sind. War es anlässlich eines Besuchs bei Tante Treschen (Theresia), einer älteren Schwester meines Vaters, die in Marl-Drewer wohnte? Mit dem Fahrrad? Mit der Straßenbahn?
In Erinnerung geblieben sind mir einzig die großen »Goldfische«, die unter der Eingangsbrücke in dem großen Wassergraben herumschwammen, silbern schimmernde Fische mit einer rot-orangen Färbung auf dem Rücken, die ich dort zum ersten Male sah.
Damals hat man erzählt, dass man sie auch essen könnte und dass sie in der zugehörigen Gaststätte zubereitet und serviert würden.
Später und bis heute habe ich nie wieder davon gehört, dass Goldfische auf der Speisekarte stehen. Was ist wahr? Was ist Phantasie?
Ein anderes Mal ging es in den »Recklinghäuser Zoo«. Aber »Zoo« zu sagen ist sicherlich stark übertrieben, denn in Wirklichkeit war die Anlage nur ein Park mit einigen Rhododendron-Büschen und dazwischen einigen Drahtkäfigen, in denen ein paar Tiere ausgestellt wurden: Vögel, Affen, Ponys u. a. Ich glaube, ein Braunbär war auch darunter, das Ganze also doch korrekterweise nur ein kleiner »Tierpark«.
Er befand sich damals auf dem sogenannten »Grünen Hügel« an der Dorstener Straße in Recklinghausen, dort, wo wenige Jahre später nach einer gewaltigen Zeitenwende das Festspielhaus für die »Ruhrfestspiele« errichtet wurde.
Mir ist der Besuch des Tierparks um etwa 1940 deshalb in Erinnerung geblieben, weil sich hier ein Vorfall ereignete, der sich leicht hätte lebensbedrohlich entwickeln können, wenn mein Vater nicht schnell eingegriffen hätte.
Vor einem Käfig mit kleinen Äffchen – ich glaube, es waren Kapuziner oder Schimpansen – hatte sich ein größerer Zuschauerstau gebildet, der dazu führte, dass Kindern die Sicht auf das lustige Treiben, das Springen, Klettern und Hüpfen der Äffchen genommen wurde.
Aber gerade doch die Kinder sollten das Treiben in dem Käfig kennenlernen, sich erstaunen und daran erfreuen, und so wurden sie bevorzugt in die vordere Reihe des Zuschauerknäuels expediert, auch meine Schwester Beate und ich.
Sicherlich hat es damals auch schon Warnhinweise gegeben, dass man nicht zu nahe an die Gitterstäbe oder den Absperrdraht herantreten dürfe, aber im Nachhinein war nicht mehr festzustellen, ob dieses Gebot aus eigener Unachtsamkeit übertreten wurde oder seine Missachtung durch das Geschiebe der hinteren Zuschauerreihen verursacht wurde.
Jedenfalls war der Sicherheitsabstand irgendwann nicht mehr gewahrt und die munteren Äffchen, die an den Stäben und Gittern herumturnten und um Futter bettelten, schienen nur darauf gewartet zu haben.
Einer von ihnen nahm seine Chance sofort wahr. Blitzschnell griff er mit einer Hand durch das Gitter und krallte sich mit seinen Fingern im dichten Haarschopf meiner Schwester Beate fest, die wohl diejenige war, die leichtsinnigerweise viel zu nah am Käfig stand.
Obwohl Beate sofort vor Schreck und Schmerz laut aufschrie, hat der Affe nicht losgelassen, im Gegenteil, er hing da im Inneren seines Käfigs am Drahtgeflecht, schaute vollkommen desinteressiert irgendwohin in die Ferne und zog voller Kraft an Beates Haaren, als wollte er sie zu sich in den Käfig ziehen.
Das Ziehen und Schreien haben eine ganze Weile lang gedauert, und Mama, Papa und ich und die anderen Zuschauer haben durch Gestikulieren, Drohungen und zusätzliches Geschrei den Affen zum Loslassen zwingen wollen.
Der aber war gänzlich unbeeindruckt von dem Tumult, der inzwischen entstanden war.
Er schaute weiter wie »Schweinchen schlau« in die Ferne, krallte sich fester in die Haare und zog daran, nein, nun riss er sogar daran, und Beate schrie lauter, und wir alle schrien lauter vor Angst und Verzweiflung, weil wir das Schlimmste fürchteten, nämlich dass Beate irgendwelche gravierende Verletzungen erleiden würde.
Nun musste endlich etwas geschehen, um Beate aus dieser bedrohlichen Lage zu befreien.
Weil alles Schreien und Rufen und Gestikulieren nicht weiterhalf, hat mein Vater, der ja infolge eines Unfalls gehbehindert war, dann plötzlich dem Affen in höchster Not mit seinem Gehstock so kräftig auf den Unterarm geschlagen, dass dieser vor Schmerz laut aufbrüllte, seine haarige Hand öffnete und meine Schwester aus seinem Würgegriff entließ.
Das war wie eine Erlösung, einerseits. Unser Geschrei und das der Besucher vor dem Käfig verebbte allmählich, aber das Geschrei der Affen im Käfig andererseits verstärkte sich umgekehrt proportional, weil sie nun alle mit ihrem Kumpel zusammen schrien, der sich nach den Schlägen auf seinen Arm zu ihnen in den hinteren Teil des Käfigs geflüchtet hatte, ein richtiger Affenzirkus.