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© 2016 Bernd Oberhoff

Coverfoto: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth – Zustiftung Wolfgang Wagner.

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH

ISBN: 978-3-7412-8674-2

Inhaltsverzeichnis

  1. Die Briefe nach Königsberg
  2. Der Fliegende Holländer
  3. Eine Pilgerfahrt zu Beethoven
  4. Ein wehrhafter Protagonist tritt auf der inneren Bühnenach vorn
  5. Lesehilfe für die Schrift Das Judentum in der Musik
  6. Die Vielstimmigkeit in Wagners Kopf
  7. Tristan und Isolde
  8. Ein Engel schwebte vom Himmel herab – Mathilde Wesendonck
  9. Parsifal
  10. Schluss: Wie Viele war Richard Wagner?

Einleitung

Benötigen wir für Richard Wagner
eine Gebrauchsanweisung?

Einiges von dem, worüber Wagner mit niemandem sprach, aus Angst, für verrückt erklärt zu werden, das vertraute er – für uns Nachgeborene zum Glück – seiner „ersten und einzigen Liebe“ Mathilde Wesendonck an. Die Briefe an diese verehrte Freundin sind anders als alle anderen Briefe. Hier fühlte Wagner sich frei, über ansonsten streng geheim gehaltene Eigentümlichkeiten seiner Person zu sprechen. So heißt es im Brief vom 10.08.1860: So ein Lebenslauf, namentlich wie der meinige, muss den Zuschauer immer täuschen; er sieht mich in Thaten und Unternehmungen, die er für die meinigen hält, während sie mir im Grunde ganz fremd sind; wer gewahrt oft den Widerwillen, der mich dabei beseelt?“1

Derartige Fremdheitsgefühle gegenüber eigenen Handlungen hängen bei Wagner damit zusammen, dass er nicht Herr im eigenen Haus war, sondern von vehementen Protagonisten auf seiner inneren Bühne bedrängt und oftmals überwältigt wurde. „Ich bin anders organisiert“2, das war ihm bewusst. Es scheint an der Zeit, diese Selbstbeschreibung einmal ernst zu nehmen und sich damit zu befassen, wie „anders“ Wagner organisiert war, und vielleicht gelingt es dadurch, einiges Rätselhafte an seiner Person – und an seinen Schöpfungen – besser als bislang zu verstehen.

Das Vorhaben dieses Buches, von den Dramen auf Wagners innerer Bühne zu berichten, ist etwas tollkühn, da die Sicht auf diese Bühne keineswegs unverstellt ist. Es gab in der Person Wagner widerstreitende Kräfte, die unablässig damit beschäftigt waren, den Vorhang auf-, aber auch schnell wieder zuzuziehen. Ein bestimmter Wagner kannte diese Dramen nicht und wollte sie auch nicht kennenlernen. Doch die Protagonisten auf seiner inneren Bühne haben keine Ruhe gegeben und immer wieder aufs Neue auf sich aufmerksam gemacht. Und wenn der innere Vorhang verschlossen war, so sind sie dazu übergegangen, sich unbemerkt unter die Darsteller auf der äußeren Opernbühne oder gar auf der Lebensbühne zu mischen. So ergab sich die paradoxe Situation, dass Wagner seine inneren Dramen sorgsam verborgen hielt und sie doch unablässig in Szene setzte.

Nun ist es nicht unbedingt ein Vergnügen, noch eine zweite Bühne im Innern zu besitzen. Den meisten Menschen reicht es, in der sichtbaren Welt in Dramen verwickelt zu sein. Doch dieses Glück war Wagner nicht beschieden. Das Schicksal hatte ihn zu diesem Zwei-Bühnenmodell bestimmt. Entsprechend hat er gelitten, aber auch unglaublich großartige Musikwerke geschaffen, sodass er selbst, wie auch wir, nicht mit Gewissheit sagen können, ob nicht das eine das andere bedingt hat. So wird es von Vorteil sein, die Protagonisten auf der inneren Bühne näher kennenzulernen, um das Genie und seine Schöpfungen in seinem vollen Facettenreichtum zu würdigen. Dass sich die inneren Darsteller so dominant eingemischt haben, hat Biographen wie auch Musikliebhaber zu allen Zeiten immer wieder irritiert, teilweise verstört. So ist dem Wagnerbiographen Martin Gregor-Dellin schließlich der Stoßseufzer entwichen: „wie soll die Welt mit einem Mann auskommen, für den sie eine Gebrauchsanweisung benötigt?“3

Nun, hier ist sie, eine (mögliche) Gebrauchsanweisung für Richard Wagner. Sein Zwei-Bühnenmodell nennen Psychotraumatologen eine „dissoziative Persönlichkeit“. Mit „dissoziativ“ ist das Phänomen einer in Teile zersplitterten Persönlichkeit gemeint, von der gesagt werden muss, dass sie sich in vielerlei Hinsicht von einer normal entwickelten, integrierten Person unterscheidet. Wir haben es im Falle einer dissoziierten Persönlichkeit mit verschiedenen Ich-Zuständen zu tun, die mitunter den Status von relativ eigenständigen Innenpersonen einnehmen, deren Eigenschaften und Umgangsweisen untereinander nicht immer leicht zu erkennen sind und oftmals rätselhaft bleiben. Um die Funktionsweise solch eines Menschen annähernd zu begreifen, ist die für normal integrierte Personen entwickelte Psychologie nur bedingt tauglich. Hier herrschen andere Gesetzmäßigkeiten psychobiologischer Art vor, für die eine ganz eigene Psychologie zu entwickeln und in Anwendung zu bringen ist, worum sich Wissenschaftler und Therapeuten des noch jungen Forschungsgebietes der Psychotraumatologie und der Traumatherapie seit einigen Jahrzehnten bemühen. Ihre Publikationen haben mir viele Anregungen für mein Forschungsanliegen geliefert, Struktur und Dynamik von Wagners Zwei-Bühnenmodell genauer zu verstehen.

Ich habe mich im vorliegenden Buch bemüht, mit so wenigen Fachausdrücken wie möglich auszukommen, um meine Darlegungen allgemeinverständlich zu halten. Und gern hätte ich auch den Begriff „Dissoziation“ vermieden, weil mit dieser Chiffre eine unübersehbare Fülle an Phänomenen bezeichnet wird, angefangen von „Abschalten“, „Sich-Wegbeamen“, „Ohnmacht“, „Betäubung“ bis hin zum Vorgang des Abspaltens von Persönlichkeitsanteilen und des strukturellen Ergebnisses dieses Abspaltungsprozesses. Deshalb meine Empfehlung an die Leser: Versuchen Sie nicht zu angestrengt, dem Sinn dieses Wortes auf den Grund zu gehen. Die Bedeutung wird Ihnen immer einmal wieder entschwinden. Dies liegt nicht an Ihnen, sondern daran, dass wir mit Trauma und traumabedingter Dissoziation einen Raum betreten, der irgendwie anders ist. Es handelt sich um einen Raum, wo das Eine auch schon mal das Andere sein kann. Und insofern kann der Begriff Dissoziation wiederum durchaus nützlich sein, weil er dabei hilft, uns mit dieser andersartigen Logik des Geschehens auf der inneren Bühne ganz allmählich und in aller Ruhe vertraut zu machen.

Damit ist alles Notwendige gesagt, um für den Abstieg auf Wagners innere Bühne gerüstet zu sein. Wo bietet sich ein Zugangsportal zum „tief geheimnisvollen Grund“?

I Die Briefe nach Königsberg
Ein erster Protagonist betritt die innere Bühne

Wagners Qualen:
Das Getrenntsein von der Geliebten

Während seines ersten beruflichen Engagements als Kapellmeister am Magdeburger Theater im Sommer 1834 lernte Wagner die junge Schauspielerin Minna Planer kennen. Musiktheater und Schauspiel waren in den Sommermonaten nach Bad Lauchstädt ausgelagert, wo Richard und Minna wie zufällig im gleichen Haus wohnten, sodass Kontakte nahezu unvermeidlich waren. Es blieb der „Ersten Liebhaberin“ des Schauspielensembles nicht verborgen, dass dieser junge Kapellmeister sein Handwerk verstand. Wagner war anerkannt und tat sich zudem als talentierter vielversprechender Opernkomponist hervor. Das beeindruckte die junge Schauspielerin und Wagner genoss es, dass seine Hausgenossin ein so deutliches Interesse an ihm zeigte. Seinem Freund Apel gegenüber prahlte er damit, dass er es gewesen sei, der sie zur Liebe verführt habe. In jugendlichem Übermut zeigte er sich sogar bereit, die junge Liebhaberin großmütig an ihn abzutreten. Sich fester zu binden, war also zunächst nicht seine Absicht, zumal er noch in einer anderen Beziehung engagiert war. Doch irgendwann wurde aus Tändelei Ernst. Es wird berichtet, dass Wagner im Dezember 1834 wieder einmal an Gesichtsrose litt. Minna soll sich sehr fürsorglich um den Kranken gekümmert haben, ihm sogar trotz des Ausschlags einen Kuss auf seinen Mund gegeben haben. Diese (oder eine vergleichbare) Erfahrung, dass da ein weibliches Wesen ist, das sich um seine Gesundheit sorgt und ihn fürsorglich pflegt, muss es gewesen sein, die in Wagner eine tief gegründete Sehnsucht nach liebevollem Umsorgtwerden hat hochschießen lassen und ihn unmittelbar elektrisierte.

Nun war es um ihn geschehen. Das Liebesfeuer war entfacht und zwar so vehement, dass es ihn zu verzehren drohte, wie der erste überlieferte Brief, den er an Minna Planer aus einem Kurzurlaub schrieb, deutlich macht. Er beginnt mit den Zeilen:

„Mein liebes, liebes einziges Mädchen, schon über vierundzwanzig Stunden von Dir, nachdem ich vorher so oft nach einer Minute geizte. Wie soll das werden! Ich bin durch und durch voll Wehmuth und Thränen, und kann mich über nichts freuen, über nichts, – nichts! Du bist mir zu lieb geworden, – das empfinde ich wol, Du feinstes, liebes Kind! Wie soll ich mich sobald an die Trennung von Dir gewöhnen, wie könnte es mir möglich sein, Dich zu missen! Du bist ein Stück von mir geworden, und ich fühle in allen meinen Gliedern eine Verstümmelung, wenn Du mir fehlst! – Ach, wenn Du nur halb meine Wehmuth theiltest, so wärest Du ganz Liebe und Andenken an mich.“

Sein Wunsch nach ausschließlicher Zuwendung ihrer Liebe gewinnt in der Mitte des Briefes an Dramatik.

„…ich glaubte auch oft, Du liebtest mich doch nicht, – aber ich glaube es jetzt, – ja, als ich Dir den letzten Kuß gab, – da drang all‘ Deine Liebe doppelt u. tausendfach in mich! – O mein Leben, – vergiß mich nie, – verrathe mich nie, – halte treu an mir, – bleib‘ meine Minna, und wenn Du je Liebe empfandest, so wende Alles mir ganz zu, – und laß mich nie mit jemand theilen, – Du hast ja selbst mein ganzes Herz! – Hörst Du? Hörst Du? Verrathe mich nie!“

Und in gleicher Eindringlichkeit schließt der Brief:

„…o, komm‘ bald hierher, daß ich Dich sehe u. mich überzeuge, – ob Du mich noch liebst! – Schreib‘ mir umgehend, ob Du mich liebst, ob Du an mich denkst! Schreib! Schreib! und stärke mich, mein Engel! Bald mehr! Bald mehr! Adieu! Adieu! Gedenke mein, gedenke Deines Richards.“1

Solch ein exaltierter Überschwang der Gefühle, solch eine Mixtur aus Liebeslust und Bangigkeit ist sicherlich vielen Liebesverhältnissen zueigen, zumal wenn es sich – wie bei Richard und Minna – um noch junge Leute handelt. Wagner ist zu diesem Zeitpunkt 22, Minna 26 Jahre alt. Doch das Pendel zwischen Lust und Angst beginnt sich bei Wagner zunehmend auf die Angstseite zu schlagen. Es verfolgen ihn nächtliche Albträume, die zum Inhalt haben, dass Minna ihn verlässt. Im Brief vom 25. Mai berichtet er von solch einem Traum:

„…Ich träumte da noch einmal recht lebhaft von Dir, ich sah Dich wieder, sah Dich aber auch fortgehn; – immer weiter, immer weiter, weiter, – mir wurde so bang, u. mit einem Angstseufzer wachte ich auf!“2

Aus Bangigkeit wird schließlich schiere Verzweiflung, als Minna am 4. November zu einem Gastspiel nach Berlin abreist. Noch am gleichen Tag schreibt er ihr:

„Minna, mein Zustand ist nicht zu beschreiben, Du bist fort, und mir ist das Herz gebrochen; ich sitze hier da, meiner Sinne kaum mächtig u. weine u. schluchze wie ein Kind. Heiliger Gott, was soll ich anfangen; wie u. worin soll ich Trost u. Ruhe finden! – Als ich Dich fortfahren sah, da brachen alle Gefühle u. Empfindungen schmerzvoll in mir los; der Morgennebel, in dem ich Dich dahinrollen sah, zitterte in meinen Thränen; Minna, Minna, – es wollte mir auf einmal schrecklich gewiß werden, dieser Wagen entrisse Dich mir für immer u. ewig. O Mädchen, Du begehst eine furchtbare Sünde, wenn Du es gewiß machst. Ich hänge an Dir mit hunderttausend Ketten, u. so ist es mir, als ob Du mir diese um den Hals würfest u. mich damit erwürgtest. – Minna, Minna, was hast Du aus mir gemacht! – Ich sitze nun auf meiner Stube, die Gedanken schwirren mir umher; – eine Leere, die gräßlich ist, – nichts als Thränen, Jammer u. Elend. – Wie ist es Dir wol jetzt? – Eine große schöne Stadt, ---- oh – ich kann nicht weiter!“3

Wagner erlebt Minnas Aufenthalt in Berlin offenbar wie einen bereits eingetretenen Verlust der Geliebten. Natürlich beunruhigt ihn auch, wie Minna es mit der Treue zu ihm hält: „O Minna, ich sehe es im Geist, welche Nachstellungen Du in Berlin hast; – o halte Dich brav, woran ich oft zweifeln muß, wenn Du mir auch gar nicht schreibst.“4 Solcherlei Phantasien waren bei der hübschen Aktrice durchaus angebracht, die sich über genügend Aufmerksamkeit von Seiten sowohl junger Männer wie auch älterer Herren nicht beklagen konnte.

Wie selig ist Richard als dann nach einer Woche Leidenszeit endlich ein Brief von Minna eintrifft. Dieses Lebenszeichen reicht aus, um ihm eine leichte Beruhigung zu verschaffen. Es stellen sich wieder hoffnungsfrohe Gedanken und Bilder ein. Postwendend lässt er sie an seinem Glücksgefühl teilhaben: „Minna, Minna, – wie glücklich werden wir sein, wenn wir uns wieder haben werden, wenn wir uns nie, – niemehr lassen werden!“ Und er schließt: „Oh, vor Freude u. Wollust springen mir die Adern, wenn ich Dein u. Deines Besitzes denke! – Komm‘ bald, komm‘ bald zu Deinem Richard.“5

Wenn man Wagners neun Berlin-Briefe liest, so möchte man meinen, dass Minna endlose Zeiten von ihm getrennt war. Doch in Wirklichkeit waren es gerade einmal 14 Tage, die ihr Gastspiel gedauert hat. Auf sein Drängen hin, verzichtete Minna auf ein ihr angebotenes Fortsetzungsengagement. Beruhigt und stolz berichtet Wagner Freund Apel: „Sie hat Sensation in Berlin gemacht, mehr als 4 Parthien, die sich ihr augenblicklich darboten hat sie ausgeschlagen. O Teufel, das rührt einen!“6

Minna kehrte zurück nach Magdeburg, die Zeiten der Trennung waren überstanden. Endlich Ruhe vor den inneren Stürmen. Doch die eingetretene Beruhigung sollte nicht lange währen. Im Frühjahr 1836 erreichte Minna ein ehrenvolles Angebot von Anton Hübsch, dem Intendanten des Theaters in Königsberg für ein dreimonatiges Gastspiel mit Aussicht auf Verlängerung, das ihr in der unsicheren Situation am Magdeburger Theater gerade recht kam. Und als jener Hübsch auch dem jungen Wagner vage Hoffnungen auf eine zukünftige Übernahme des Musikdirektorenamtes am Königsberger Theater machte, gab es für Minna absolut keinen Grund mehr, diesem Angebot nicht Folge zu leisten. Am 17. Mai reiste sie nach Berlin, um einen Tag später von dort die Kutsche nach Königsberg zu besteigen. Zwei Tage und drei Nächte war sie unterwegs.

Auch Wagner trat eine Reise an. Nachdem mit Ende der Spielzeit sein Engagement in Magdeburg auslief (Frühjahr 1936) wandte er sich an eben jenes Königstädter Theater in Berlin, wo Minna kurz zuvor so große Erfolge gefeiert hatte. Karl Friedrich Cerf, der Direktor und Mitbegründer dieses Theaters hatte ihn mit der Aussicht auf eine Kapellmeisterstelle nach Berlin gelockt. Doch diese Versprechungen waren schon bald nichts mehr wert, da das Königstädter Theater wegen Geldmangels schließen musste.

Noch schlimmer als diese Enttäuschung war jedoch das neuerliche Getrenntsein von Minna. Wagner spürte die enorme Entfernung, die zwischen Berlin und Königsberg lag und dementsprechend waren seine Leidenszustände. Eigentlich hätte er wissen müssen, in welche inneren Turbulenzen ihn die Abwesenheit der Geliebten versetzt. Doch, was sollte er machen. Minna war gezwungen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und musste allein schon aus diesem Grund dem Königsberger Angebot ihre Zustimmung geben. Darüber hinaus genoss sie natürlich auch das Umjubeltwerden auf der Theaterbühne. Wer wollte ihr das vergönnen?

Wagner fügte sich in das Unvermeidliche, bat aber Minna flehentlich darum, ihm jeden Tag einen Brief zu schreiben. Minna wird diesem drängenden Wunsch nur unzureichend entsprechen. Es sind gerade einmal drei Briefe, die Minna in der Zeit vom 21. Mai bis 21. Juni 1836 an den Geliebten schreiben wird. Diese Briefe sind leider nicht erhalten, wohl aber diejenigen Wagners. Da er nahezu täglich einen ausführlichen Brief verfasst, bildet seine Korrespondenz eine Art Tagebuch über sein Befinden in dieser Zeit des Getrenntseins. Ich erachte diese Briefe als ein wichtiges Lebenszeugnis, das uns einen aufschlussreichen Blick in Wagners Persönlichkeit erlaubt. Und da sich in diesem „Tagebuch“ zugleich eine frühe seelische Verwundung zurückmeldet, sollten wir diesen Lebensdokumenten die ihm gebührende Aufmerksamkeit schenken und uns in sie vertiefen. Um den Leser vor Wagners Weitschweifigkeit zu bewahren, habe ich den Wiederabdruck seiner Briefe auf jene Stellen beschränkt, in denen der junge Kapellmeister seine inneren Gefühlszustände schildert. Denn nur diese sind für unser Anliegen von Belang. Vielleicht gelingt es dem einen oder anderen Leser, die Briefzeilen mit „Mitleid und Anteilnahme“ zu lesen, eine zwischenmenschliche Haltung, die Wagner zeitlebens von großer Wichtigkeit war und die er von seinen engsten Freunden immer wieder dringlich eingefordert hat. Also, versuchen wir einmal in die Fußspuren Parsifals zu treten und „durch Mitleid wissend“ zu werden.

Wir befinden uns im Jahre 1836. Wagners erster Brief nach Königsberg beginnt mit den folgenden Zeilen:

Den 21sten Mai

„Meine arme, arme Minna! – O könntest Du den Ausdruck fühlen, mit dem ich Dir diese Worte zurufe! Sieh, die Thränen überströmen mein Auge, vor Wehmuth ist meine ganze Mannheit gebrochen! – So weit, so weit, so weit bist Du, unter fremden, rauhen Menschen, und das Alles ist ein Opfer für mich! Ich lese Deine Briefe durch, die Du mir damals aus Berlin schriebst, u. sehe Alles, Alles. Ja, es ist ein Opfer für mich! Minna, wenn ich Dich nicht einmal noch sehr glücklich machen kann, so bin ich Deiner kaum werth! So weit, so weit, ach, der Gedanke zermalmt mich, wenn mich die Hoffnung verlassen sollte! Du bist mir jetzt Alles, Alles auf der Welt, – Du weißt es, Du hast ein großes Recht an mir! Aber Minna, was könnte mich auch dessen vergessen machen? Was könnte mich bewegen u. zwingen, Dich nicht mehr zu lieben, – Dich – zu verlassen? – Noch einmal schwöre ich Dir, wenn uns das Schicksal nach Süd u. Norden trennte, so würde ich doch nur einen Gedanken haben, – wie ich diese Trennung vernichten könnte! […]

Meine Minna, Minna, Minna! – Ich weine fortwährend, u. schäme mich wahrlich meiner Thränen nicht; – es ist kein gewöhnlicher Zustand, in dem ich mich befinde, – es ist alle Wehmuth meines Lebens die sich in dem Gedanken vereinigt; es ist ein gutes, liebes, herrliches Mädchen, das um mich leidet! – - Minna, mein armes Kind, gieb mir einen Trost, eine Labung! […]“7

Den 23sten Mai

„Gestern war mein Geburtstag, – das war ein übler garstiger Tag. Keinen, keinen theilnehmenden Menschen! Ach Minna, es ist doch recht elend, – ich wüßte nicht, was aus mir werden sollte, wenn mir der Himmel meine Vereinigung mit Dir noch lange vorenthalten sollte. Ich bin stumpf für Alles, mein Inneres verzehrt sich, u. ich sehe mehr als jemals ein, – nur ein glückliches Leben mit Dir kann mir meine Kraft wiedergeben; […]“

Den 24sten Mai.

„Nie hatte ich einen so unruhigen Schlaf als jetzt; es peinigt mich früh aus dem Bett heraus, das mich in seiner Einsamkeit nie mehr erquicken kann. Ich kann sagen, ich träume nur von Dir, aber immer beängstigende Träume. Wie wird es werden? […]

Das Liebste aber wäre mir doch, wenn ich gleich nach Königsberg kommen könnte; […] Ach, meine Minna, – dürfte ich Dich denn auch solange allein lassen, könnte ich es denn auch? – Du weißt, wie unentbehrlich Du mir bist, – Du weißt, was ich ohne Dich bin, – ein trostloser, verlassener u. unglücklicher Mensch, dem Athem, Luft u. Alles fehlt, wenn Du ihm fehlst. Und das ist keine hole Redensart, – das weißt Du wohl, wie wahr, wie natürlich das ist! – O meine Minna, meine Minna! Bist Du jetzt froh, oder leidest auch Du? […]“

Wagner fühlt sich nicht nur einsam und verlassen, sondern er leidet psychisch und körperlich. Die Angst, Minna könnte sich von ihm abwenden, peinigt ihn Tag und Nacht.

Den 27sten Mai

„Heute muß wol ein Brief kommen; – o mein Gott, wie peinlich! Gestern las ich in der Königsberger Zeitung vom 21sten: »Dem Theaterfreunde die freudige Nachricht, daß Fräulein Planer, die liebenswürdige Schauspielerin, die von Magdeburg für die hiesige Bühne gewonnen ist, hier eingetroffen.« Ach, diese Nachricht hat mich höchst unangenehm berührt. Ich sehe Dich schon fern, fern von mir, als das Eigenthum fremder, roher Menschen betrachtet, Du kommst mir gleich gar nicht mehr wie meine Minna vor. Ich sehe, wie sich Alle Deiner freuen, u. misgönne Allen diese Freude, ich will mich ja nur allein Deiner freuen! Du hast jetzt einen schlimmen Stand bei mir, Minna; – vielleicht, wenn es Dir mit dem besten Willen nicht möglich sein sollte, mir augenblicklich das Königsberger Engagement zu verschaffen, werde ich nun doch argwöhnisch, u. glaube, Du wolltest mich nicht bei Dir haben. Du wirst Dir am Ende recht gefallen, u. vergißt mich, denkst nicht mehr an mich! – - Nein, Minna, – das ist wohl nicht möglich, das kann ja wohl gar nicht mehr sein, daß wir uns noch vergessen könnten? […] Du liebst mich ja, Du bist mir wenigstens herzlich gut; – u. dafür danke ich Dir Zeit meines Lebens! – Mein Engel! – […]

Ich bleibe nun solange in Berlin, bis Du mich mit der Freuden-Nachricht aus meiner Verbannung erlösest, daß ich zu Dir eilen darf. [… ] Ach, sieh, ich weine wieder und werde kleinmüthig, – all meine Kraft zerbricht wieder, ich flehe Dich an, ich umfasse Deine Kniee, – mach‘ es möglich, biete Alles auf, strenge Alles an, um mich bald nach K., zu Dir, zu Dir zu bringen, – ich trage es nicht, ich kann es nicht tragen, – ich fürchte im Ernst eine Gemüthskrankheit, ich halte es nicht aus, ich muß zu Dir. […]“

Aus anfänglichem Liebeskummer wird zunehmend ein quälendes, nahezu unaushaltbares Leiden. Wagner wird krank, gemütskrank.

Den 29sten Mai

„Ach, ach – Minna, – ich könnte laut aufschreien vor Jammer u. Weh, – welch ein Tag war das gestern, nachdem ich den Brief an Dich abgeschickt, u. welch‘ eine Nacht war diese! Ich bin so erregt, daß ich kaum mehr in der Gesellschaft von Menschen bleiben kann. In der Oper ergriff mich jeder Ton, jeder Moment, daß ich weinend in mich zusammensank. Eine Wehmuth hat sich meines ganzen Wesen‘s bemächtigt, die ich fast Verzweiflung nennen möchte. Gedanken, Gedanken! Minna, – wenn Du mir stürbest, eh‘ ich Dich wiedersehe! Mir ist jetzt die ganze Gegenwart wie Tod, ich verabscheue das Leben ohne Dich. – Bin ich denn nicht von Allen, Allen verlassen, – ich kenne keine Banden der Natur mehr, – um Deinetwillen habe ich Allem entsagt u. mit Freude von mir geworfen. Aber nun habe ich Dich nicht einmal! Was kann meinem Zustand gleichen! – Dich noch 3 Monate zu entbehren, ist rein unmöglich. – Denn wo ist die Möglichkeit, daß ich ertragen könnte? Entweder Du mußt zu mir, oder ich zu Dir kommen… Darum beschwöre ich Dich nochmals, biete Alles auf, daß ich bald zu Dir kommen kann, – daß wir uns bald heirathen u. diesen Zustand der Qual enden können! […]“

Den 31sten Mai

„Nimmt denn das Elend kein Ende? Was war das für ein Monat, Minna! Das war mein Geburts-Monat, – giebt es noch irgend ein menschliches Gefühl, das nicht diesen Monat durch mein Herz gezogen wäre? – Ich liege hier nach der eigentlichsten Bedeutung des Wortes auf der Folter, – ich sehe wieder blaß u. elend aus. O der gewaltige Eindruck Deines Briefes, der unsre Liebe u. unsre Trennung so scharf gegenübersetzte, hat mich noch nicht freigelassen. Nur die letzte Stelle erfüllt mich mit Hoffnung, daß ich vielleicht bald zu Euch kommen könnte […]

Mein Herz ist mir immer beklommen, ich fühle immer, es wird mir brechen; will man mich zum Lachen zwingen, so weine ich, – ach, u. die Unruhe der Nacht, jeden Morgen treibt es mich wie mit einem Herzkrampf aus dem Schlaf auf, durch den Kopf schwirren Gedanken, hundert Vorstellungen, als ob ich einen ganzen Tag schon gewacht hätte. Minna, so verzehren wir unsre Jugend! Ende, ende diesen Zustand, ich habe schon zu viel gelitten! […]“

Den 1rsten Juni

„Wenn mir nur mein Herz nicht bricht, – ich will ja gern standhaft sein, – ich will mir ja alle Mühe geben, – ich will mich Dir nicht mehr so weich zeigen, – - wenn es nun aber doch nicht geht? – Minna, – das Schicksal ist mehr als grausam, – es handelt empörend mit uns, – mit uns, – die Alles rings um vergessen, um sich ganz gehören zu können; – ist es nicht, als verlache es unsre Liebe? – Und unsre Liebe, – was gleicht ihr denn? – O jetzt, jetzt, Dich bei mir haben, Dich zu fühlen, in Deinen Blick mich versenken, mit Deinem lieben Körper mich zu vermählen, – alle meine Leiden in wundersüßer Umarmung aufzulösen! – - Minna, – was hält mich, – ich komme zu Dir, – mag werden, was da will […]

Diese Zeilen müssen schnell fort, – sie brennen mir unter den Händen! O sage mir, sage mir, – soll ich kommen, soll ich? – Schnell, schnell antworte Deinem Richard.“

Wagners sehnsüchtige Hoffnung auf ein Ende der Trennung und ein baldiges Wiedersehen in Königsberg sollen sich leider nicht erfüllen. Minna hält ihre Liaison mit dem Kapellmeister Wagner in Königsberg weiterhin geheim, vielleicht auch, um als ungebundene „Erste Liebhaberin“ für das männliche Publikum attraktiv zu bleiben. Ein Engagement Wagners ans Königsberger Theater ist erst einmal nicht in Sicht.

Den 4ten Juni

„Deinen Brief, mein süßes Kind, das Einzige, worauf ich noch in dieser trüben Zeit hoffte, habe ich erhalten, u. Alles wohl hundertmal gelesen. Es soll also nicht sein, ich soll noch von Dir – - getrennt bleiben […]

Ich muß Dir gestehen, mein Engel, daß ich noch bis auf den letzten Moment gehofft habe, – es würde sich so machen, daß ich schon sehr bald kommen könnte, – ich habe es gehofft, wie der arme Sünder, der auf das Schaffot geführt wird, bis zum Todesstreich noch auf Begnadigung hofft; – - u. soll ich Dir meine Schwachheit eingestehen? Ich hoffe noch jetzt, – noch jetzt, ganz heimlich in meinem Innern, es würde vielleicht irgend etwas schnell eintreten, das mich noch jetzt erlösen soll! – […]“

Den 5ten Juni

„Ach, mein liebes süßes Mädchen, meine Minna, mein Engel, mein Alles, – - welch eine schreckliche Gegenwart! Glaube mir, ich werde nie froh werden, nie nur einen frohen Moment haben, bis ich Dich inbrünstig in meine Arme schließen kann. Sieh, ich suche jetzt Alles hervor, um meinen Schmerz zu betäuben, das heißt, – ich arbeite anhaltend, – es geht aber nicht, immer sinkt meine Kraft wieder zurück, mein Herz erbricht sich in tausend Thränen, u. ich verzweifle manchmal heute, ob ich den morgenden Tag noch erleben werde, – denn es ist mir immer, als müsse einmal mit einem plötzlichen Krach Alles in mir zusammen brechen, und ich nicht mehr existiren.

[…] Du Grausame! – Ich bin zu unglücklich, ich kann mich in Gesellschaft von Leuten, die ich in der Regel nur bei Tisch treffe, nicht beherrschen, ich kann nicht sprechen, ich bin stumm u. in mich gekehrt, u. nun denken die Unglücklichen, wie Hr: Schwabe, nach, sie wollen mich durch Neckereien erheitern, u. verletzten mich dabei auf das schmerzlichste. Mir gegenüber, bei Tisch hängt eine Charte von Deutschland, ich sehe immer darauf, u. denke Dir, – Königsberg ist gar nicht mehr darauf zu finden; – da brechen mir nun oft die Thränen aus den Augen, es ist mir, als wenn Du aus der Welt heraus wärst, u. wir könnten uns nie wieder treffen! […]“

Den 8ten Juni

„Ich bin gestern den halben Tag tüchtig gelaufen, ich wollte durch eine körperliche Ermüdung meinen aufgeregten Zustand betäuben; – meine Nächte sind fürchterlich, – Du kennst ja diesen aufgeregten Zustand, meine Minna, in dem ich mir u. Dir den Schlaf der Nächte raubte, – es war damals bei meiner Oper, die Unruhe, das Fantasiren, der furchtbare Schweiß. So sind jetzt alle meine Nächte, u. wie mich damals meine Oper beschäftigte, um wie viel mehr beschäftigt mich nicht der Gedanke an Dich u. an unsre Trennung! […]

Wie gräßlich allein stehe ich nun während dieser Trennung da! Ich habe außer Dir ja nun nichts mehr, woran ich mich mit heißer Liebe festschließen könnte. Ich stehe ganz allein! – O, ich bin ein viel zu weicher Mensch, ich hänge mit zu viel tausend Banden an Dir, als daß ich mein Unglück mit Ruhe u. Festigkeit tragen können sollte! […]

ach, mein Engel, erlöse mich, u. rufe mich bald zu Dir, ich gehe sonst unter – - willst Du mich denn nicht haben? […]“

Der Verlassene versucht sich mit imaginierten Bildern von einer schönen und glücklichen Zukunft als verheiratetes Paar zu beruhigen. Doch auch die schönsten Vorstellungsbilder vom bräutlichen „weißen Atlaskleid“ können nicht verhindern, dass das Ausbleiben des angstvoll ersehnten Briefes von Minna ihn in eine immer drängendere Unruhe versetzt.

Den 9ten Juni

„Sag‘ mir, mein liebes angebetetes Geschöpf, werde ich Dir nicht lästig mit meinem vielen Schreiben? Ich kann Dir ja nichts anderes als von meinen Empfindungen, meinen Schmerzen u. Qualen schreiben, sonst erlebe ich ja nichts. […]

Du glaubst nicht, mein süßes Kind, mit welcher wahrhaften innigen Seeligkeit ich jetzt unsrer Vermählung gedenke, – ganz neue, süße Vorstellungen darüber ziehen mir immer durch den Kopf! – Wie werden wir damit eilen, liebe Minna, wenn wir nur erst beisammen sind! – Ich stelle mir Dich nun zu lieb vor im einfachen weißen Atlaskleid, mit dem kleinen Kranz im Haare, – o, meine Fantasie malt sich alles, selbst das Kleinste, lebhaft aus; – - ach, mein liebes Kind, – wenn wir nun das erstemal früh aus unserm Bett aufstehen, uns nicht zu scheuen brauchen; – u. dann die süße Ruhe, die unsre armen Herzen athmen werden, die soviel gelitten u. geblutet haben. Wir werden zuerst noch einfach leben müssen, wir werden unser nächstes Glück allein darin finden, daß wir uns nun unzertrennlich ganz, ganz haben, – wir können dann mit Sicherheit u. Ruhe unsrem neuen Leben entgegengehen, das sich dann immer schöner u. glücklicher gestalten wird. […]“

Den 11ten Juni

„Minna, lieb Minna, warum habe ich denn noch keinen Brief? Sieh, die letzten leeren Stellen dieses Bogen‘s beschreibe ich nun schon, u. noch immer habe ich keinen Brief zu beantworten. Das beunruhigt mich. Minna, wenn Dir nun irgend ein Unglück begegnet, u. ich bin nicht bei Dir – das wäre entsetzlich. O, mein Engel, diese lästige, böse Gegenwart, – wie viel schöner wird nicht die Zukunft sein? […]“

Aus der Unruhe über den ausbleibenden Brief der Geliebten wird schließlich schiere Verzweiflung. Immer wieder wird die Gegenwart als „böse“ und „zu fürchterlich“ erlebt und es stellen sich körperliche Leiden in Form von Brustkrämpfen ein.

Den 13ten Juni

„Ach, heute muß ich einen Brief bekommen! O, Du liebes, böses Mädchen, wüßtest Du, welchen Kummer Du mir machst! Ich habe schon keine Ruhe mehr, mein Herz schlägt mir so gewaltig! Minna, meine Minna, wie wird Dir‘s jetzt vielleicht ergehen; – vielleicht bist Du jetzt recht unglücklich, u. willst mir‘s nicht schreiben; – Du gutes, liebes, süßes Herz, – mein Weib, mein holdes Weib, – wie lange soll das währen! Weiß Gott, ich halte es nicht aus; – o, Du hast keinen Begriff, was ich leide, – diese Gegenwart ist doch zu fürchterlich; es giebt nicht ein Leiden, nicht einen Kummer, der mich nicht schwer darniederdrückt, u. meine Brust krampfhaft gepackt hält.[…] Gebe Gott, daß ich noch heute einen lieben Brief von Dir erhalte, damit ich nur einen Trost habe! […]“

Den 16ten Juni

„Minna ich bin außer mir, – ich habe noch keinen Brief von Dir! Mir vergehen ganz u. gar die Sinne, ich bin ganz bewußtlos. Mein guter Gott, wenn es diesmal nur eine Nachlässigkeit von Dir sein sollte, so behüte Dich der Himmel, daß Du sie nie wieder begehen mögest, denn ich bin mehr todt als lebendig. Was um des Himmelswillen fange ich an, wenn ich heute noch keinen Brief bekomme! Ich kann vor Betäubung kaum einen Gedanken fassen. – Minna, Minna, Du quälst mich fürchterlich! Ach, diese Vorstellungen, diese Ideen u. Ahnungen, die meinen armen Kopf durchkreuzen! – Hilf Gott, ich kann nicht weiter! – Ich will schnell Deinen letzten Brief lesen, u. mir einbilden, ich hätte ihn eben bekommen, um mich nur selbst zu betrügen […]“

Den 18ten Juni

„Nein, Minna, das ist mehr, als ich ertragen kann!! – Ich habe gestern von früh an bis 5 Uhr Abends das Zimmer nicht verlassen, indem ich von jeder Minute einen Brief von Dir erwartete. Es kam keiner. – Ich ging zu Sch[wabe]: er suchte mich zu trösten; – es kam die Dämmerung, – wir gingen in den Thiergarten spatziren. Wie mir da das Gefühl von Dir überströmte, – wie da Vergangenheit, Gegenwart u. Zukunft durch mein Herz zog!! Minna, Minna, – es ist nicht möglich Dir zu beschreiben, welcher Art die Empfindungen sind, die mein ganzes Wesen beherrschen, – es ist nicht möglich, daß sich Worte finden ließen, die Dir den Zustand meiner Seele schildern könnten; nur dieß eine laß mich hoffen, daß Du sie verstehst, wenn ich sie Dir auch nicht in Worte fassen kann. Du mußt es ahnen, Du mußt es fühlen. Die Entfernung möge noch größer sein, die uns trennt, – Dein Geist, Dein Herz muß diese heiligen Schmerzen- Schauer fühlen, die jetzt meine ganze Existenz ausmachen. – O – mein Kind, sieh, ich weine heftig, während ich Dir dieß schreibe, – ist denn nicht vielleicht Alles nur ein böser Traum, – ist mein Leben ein böser Traum, oder sind meine schönen Träume mein eigentliches Leben. – O sieh, – mein Geist ist so zerstört, daß ich Wachen u. Träumen nicht mehr unterscheiden kann. […]“

Und dann kommt jener Punkt, an welchem die Kontinuität des Seins einen Riss erfährt, alle Hoffnung auf ein Wiederherstellen der Verbundenheit dahin ist, weil das Leiden die Grenze dessen, was die Seele auszuhalten in der Lage ist, überschritten hat. Der Schreiber erlebt sich als „krank bis zum Tod“. Das Verlassensein erscheint ihm wie ein Seelenmord. Und er selbst fühlt sich schuldig daran.

Den 20sten Juni

„Also, es ist wahr, Du verläßt mich. Auch Du, Minna! – Auch Du! O das ist hart, das ist sehr hart. Mein Schmerz war bis jetzt ein Kampf, der mich den ganzen gestrigen Tag u. die ganze Nacht zusammengeschnürt hielt; jetzt löst er sich in einem Strom heißer bittrer Thränen, u. jetzt finde ich auch erst Worte! – Du hast mich verlassen, verlassen, – Minna, – weißt Du auch, was dieß heißt, – mich, einen armen Unglücklichen, den eben schon Alles, Alles verlassen hat, der das ganze Gewicht seines Lebens nur noch an Deinem Besitz festklammerte, der nur Dich, nur Dich noch hatte, – den verlässest auch Du jetzt!! – Ja ja, es muß mal so sein, – ich bin wol die Schuld an Allem, – ich liebe Dich zu sehr, – ich muß auch diesen Schmerz noch erfahren, um einzusehen, wie lächerlich Alles war, was ich bis jetzt gelitten habe! – Du hast mich vergessen, Du verlässest mich; – - wer bin ich denn auch, daß Du mich nicht vergessen könntest, könnte ich Dir denn je das sein, was Du mir bist! – […]

Es war am 31sten Mai, da schriebst Du mir Deinen letzten Brief, – es ist heute der 20ste Juni, u. jener Brief ist immer noch Dein letzter. – O Gott, o Gott, – welch ein klägliches, jammervolles Leben! Nichts mehr, als Du allein lebtest noch in mir, – stirbt dieses Bild, so lebe auch ich nicht mehr! – Aber, daß Du mich gerade jetzt verlässest, – jetzt wo uns endlich der Hoffnungsstern aufgeht, – jetzt, wo wir bald glücklich sein könnten. – Ach, es war ja wol Alles nur Spaß, – oder war es Ernst, sag‘ mir doch, – war es Ernst, waren wir wirklich schon glücklich u. unglücklich zusammen? – O mein Gott, ich leide sehr! – War es Dein letzter Brief?![…]

Meine Seele ist krank bis zum Tod, – u. so kalt, so eisig kalt ist Alles um mich her […] Verlässest Du mich, Minna, wendest Du Dich kalt von mir, so mordest Du mich, – denn wenn ich auch fortlebe, so hast Du doch mein Herz u. meine Liebe für ewig in Besitz genommen, u. nimmer kehrt es mehr in mich zurück; ich würde fortan als ein herzloser, kalter Mensch noch durch das Leben wandern, das ich verächtlich von mir stoße. Ich bin mit zahllosen Banden an Dich gefesselt, – zerschneidest Du diese Banden, so werden sie blutig zurückschnellen u. Du wirst einen Menschen, dem Du sein Edelstes geraubt u. getötet hast, jämmerlich dahinschwinden sehen. O mein Gott, mein Gott, nein, Du wirst auch einen Körper morden, – denn jede Ader Blutes in mir fließt für Dich, – jede Nerve, jede Sehne meines Leibes gehört Dir, – Minna, – wir sind blutsverwandt, bedenke, daß unser gegenseitiges Blut gemischt in unsern Adern fließt, – - bedenke auch diesen Mord, der Dir zu Gebote steht, – u. versuche es, mich zu vergessen, mich zu verlassen! […]“

Und dann kommt er doch noch, jener Brief der Geliebten, der auf Richards „düstere Verzweiflung herabschwebt“. Eigentlich zu spät. Aber er wird wie ein Strohhalm ergriffen, weil er eine Befreiung aus qualvollem Leiden bedeutet und vielleicht eine Rückkehr ins Leben möglich macht.

Den 21sten Juni

„Jetzt bekomme ich eben einen Brief von Dir, – Gott, wie schlägt mir das Herz, ich habe ihn noch nicht erbrochen! –

Ich habe ihn gelesen! […] ich kann Dir jetzt noch nicht seinen Eindruck schildern, – ich bin noch zu ergriffen, – nur soviel, er war ein Engel des Lichtes, der über meine düstre Verzweiflung herabschwebte. – O mein Weib, mit welchem Worte wäre es möglich, Dir ausdrücken zu können, wie ich Dich verehre, wie ich Dich anbete! Es ist mir eine religiöse, eine heilige Empfindung, Deiner zu gedenken, – jeder Theil Deines Wesen‘s ist mir ein Gott, zu dem ich inbrünstig bete! – Dieß für heute, laß mich Deinen Brief noch 100mal lesen, dann ein Weiteres! Minna mein holdes Weib, lebwohl! – Dein tiefgerührter Richard.“

Wer ist der Autor dieser Briefe?

Man fragt sich unwillkürlich: Wer spricht hier? Das kann doch unmöglich der erwachsene Richard Wagner sein. Von einem 23jährigen Kapellmeister darf man erwarten, dass er die beruflich bedingte Abwesenheit seiner Geliebten für einen überschaubaren Zeitraum auszuhalten in der Lage ist und nicht derartig dekompensiert, wie das der Autor dieser Briefe tut. Auch das Ausbleiben von erhofften Briefen macht nicht plausibel, warum Wagner in derartig qualvolle Verzweiflungszustände gerät. Also: Was ist geschehen, dass der erwachsene Wagner verschwunden und eine gequälte und verzweifelte, kindlich anmutende Seele an seine Stelle getreten ist?

Wagner selbst legt eine Fährte, indem er äußert: „ich sitze hier da, meiner Sinne kaum mächtig u. weine u. schluchze wie ein Kind“. Wie alt mag dieses Kind sein, das da so schluchzt? Auf jeden Fall ein sehr kleines Kind, denn es werden Zustände ausgedrückt, wie wir sie bei ganz jungen Erdenbürgern finden, die verzweifelt nach der Mutter schreien. Ist die Mutter nicht da, so befindet sich der Säugling in einem Alarmzustand, der mit zunehmender Dauer der Abwesenheit der Mutter an Bedrohlichkeit zunimmt. Es stellen sich seelische Qualen ein („ich könnte laut aufschreien vor Jammer u. Weh“) wie auch körperliche Symptome (Herzkrampf, Brustkrampf, andauernde Übererregung) und schließlich nächtliche Albträume („die Unruhe, das Fantasiren, der furchtbare Schweiß. So sind jetzt alle meine Nächte“). Und diese Albträume haben nur ein Thema, nämlich, die Angst von der so existentiell wichtigen Mutter verlassen zu werden („ich sah Dich fortgehn; – immer weiter, immer weiter, weiter“).

Die Vehemenz, Dramatik und angstgesteuerte Kindlichkeit, die sich hier äußert, lässt den Anfangsverdacht aufkommen, dass Wagner nicht einfach nur auf kindliches Verhalten regrediert, sondern ausgelöst durch das Getrenntsein von Minna ein bis dahin verborgenes inneres Kind nach vorne getreten ist und in diesen Wochen die Steuerung über die Gefühle und Verhaltensweisen Wagners übernommen hat. Wir erleben in diesen Briefzeilen ein Kleinstkind, das – wie die Bindungsforscher sagen würden – einen Bindungsschrei ausstößt. Ein Bindungsschrei ist zunächst einmal ein Trennungsschrei, welcher die existenziell bedrohliche Tatsache einer eingetretenen Trennung anzeigt und zum anderen ist dieser Schrei darauf gerichtet, die abwesende Mutter herbeizurufen, damit sich der ersehnte und vertraute Zustand der Bindung wieder herstellt. Die Briefe an die im fernen Königsberg weilende Minna sind solch ein nicht zu beruhigender Bindungsschrei, der das erregte Signal einer eingetretenen Trennung aussendet, und alles Sinnen und Trachten des Schreibers ist ausschließlich von einem einzigen Gedanken erfüllt, nämlich, „wie ich diese Trennung vernichten könnte!“

Wie wenig die Briefzeilen mit der Situation einer kurzzeitigen Getrenntheit zweier erwachsener Menschen und wieviel sie mit einer frühen Trennungssituation zwischen Mutter und Säugling zu tun haben, mögen noch einmal die folgenden Satzfragmente verdeutlichen. Wenn ein Säugling über seine erlittene frühe Trennungserfahrung sprechen könnte, so würde er sicherlich solche oder ähnliche Worte verwenden, wie sie der Briefschreiber an Minna richtet:

Dass sich ein kleinkindhaftes Bindungsschrei-Ich der Schreibfeder bemächtigt hat, wird auch daraus deutlich, dass dieses Ich zwischen Minna und der eigenen Mutter nicht unterscheiden kann. Das Jammern gilt einer Person, mit der es sich wie mit einer Nabelschnur verbunden fühlt. Aber nur für die leibliche Mutter, nicht aber für eine Geliebte besitzt die Aussage Gültigkeit: „jede Ader Blutes in mir fließt für Dich […], wir sind blutsverwandt, bedenke, daß unser gegenseitiges Blut gemischt in unsern Adern fließt…“ (20.6.36).

Wenn ein inneres Kind mit solch einer Vehemenz die Exekutivkontrolle des gesamten Erlebens und Verhaltens übernimmt, so liegt die Annahme nahe, dass es in der Kindheit dieser Person ein Trauma gegeben hat, womöglich ein frühes Trennungstrauma. Wenn diese Annahme zutrifft, so hat die Trennung von der Geliebten dieses Trennungstrauma wiederbelebt und das heißt, es haben sich die Qualen von damals wieder eingestellt, und zwar in genau gleicher Weise.

Wagner wird nicht bewusst gewesen sein, dass ein inneres Kind die Verhaltenssteuerung an sich gerissen hat. Und solange ein aufgeschrecktes traumatisiertes inneres Kind nicht als solches erkannt ist, äußert es sich vornehmlich in Gestalt von traumaspezifischen Symptomen. Wenn also die Annahme einer frühen Traumatisierung Wagners und das Nach-vorne-Treten eines traumatisierten Innenkindes während der Zeit der Trennung von Minna zutreffend sein sollte, so müssten traumaspezifische Symptome auffindbar sein. Und dies ist in der Tat der Fall. Die Briefe offenbaren etliche solcher traumabedingter Symptome. Ich möchte nur die offensichtlichsten benennen.

Da sind zunächst einmal die nicht zu übersehenden Anzeichen von Übererregung. Dazu zählen Wagners Schwierigkeiten, sich auf die Alltagsaufgaben zu konzentrieren, die dauernde Unruhe im Körper, der Verlust der Gefühlskontrolle (plötzliches oder lang andauerndes Weinen) sowie die nächtlichen Panikattacken mit Schweißausbrüchen. In der Zeitspanne vom 12. Mai bis 21. Juni befindet sich Wagner, wie er selbst feststellt, in einem Ausnahmezustand („es ist kein gewöhnlicher Zustand, in dem ich mich befinde“), der Anzeichen einer traumaspezifischen Alarmstimmung aufweist.

Als ein weiteres Symptom ist zu erkennen, dass die Wahrnehmung der gegenwärtigen Realität nicht angemessen gelingt. Dass eine zeitlich überschaubare Trennung wie ein lebensbedrohliches Verlassenwerden erlebt wird, deutet daraufhin, dass die Gegenwart durch die Brille eines traumatisierten Kleinkindes gesehen wird. Dieses innere Kind hat nur soviel wahrgenommen, dass eine Situation der Trennung entstanden ist und das reicht aus, um aufgeschreckt in die Spirale des Leids von damals hineingezogen zu werden. Dieses innere Kind bewegt sich gleichsam „im alten Film“ und erlebt das Getrenntsein von Minna als Wiederholung bzw. als Fortsetzung der in frühester Kindheit erlittenen traumatischen Trennung von der Mutter. Der Traumatherapeut Van der Kolk (2000, S. 33) bemerkt dazu: „Die Opfer bleiben in dem Trauma wie in einer gegenwärtigen Erfahrung eingeschlossen, anstatt es als etwas akzeptieren zu können, das der Vergangenheit angehört“. So könnte man sagen, dass Wagner in der Trennungszeit von Minna von einer „Tyrannei der Vergangenheit“ (ebd.) heimgesucht wird, die er als eine unerträgliche Gegenwart missdeutet. Das macht verständlich, warum in den Briefen die Gegenwart als so überaus unerträglich beschrieben wird. Immer wieder heißt es: