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© 2019 Falk Teichert
Titelabbildung: Gemäldeausschnitt von »Liegende Quellnymphe«, 1518 von Lucas Cranach d. Ä.
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783750453999
Für Gudrun
Seit Stunden lag der Himmel wie eine Bleiplatte auf der Stadt. Doch es wollte und wollte nicht regnen. Die Luft im Transporter konnte man schneiden, obwohl die Seitenscheiben ganz heruntergekurbelt waren. Der Fahrtwind war kaum zu spüren. Brandmann schwitzte aus jeder Pore seines massigen Körpers. In kurzen Abständen tupfte er sich die Schweißperlen von der Stirn und lüftete das klebrige Hemd am Bauch. Unter normalen Umständen hätte er an so einem Tag keinen Finger gekrümmt, aber er stand unter Termindruck. Handkes Geburtstagsfeier im Turm-Eck hatte ihn zwei volle Tage gekostet, bis er wieder klar denken konnte.
»Sie haben ihr Ziel erreicht«, sagte ihm die Stimme des Navigationsgerätes. Brandmann parkte den Wagen vor einem grau verputzten Siedlungshaus und legte sich mit verschränkten Armen auf das Lenkrad. Aus den Augenwinkeln betrachtete er enttäuscht das verwahrloste Gebäude. Der Jägerzaun, der den verwilderten Vorgarten vom Bürgersteig trennte, war windschief und verspakt. Efeu wucherte an der rissigen Fassade bis unter den Dachfirst. Von den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab. Rechts vom Haus führte ein schmaler Weg aus Waschbetonplatten zum Seiteneingang. In den Fugen wuchs Gras, das durch die monatelange Hitze braun geworden war. Hier war für ihn nichts zu holen. Wieder einmal würde er sich mit dem zuvor verhandelten lausigen Festpreis begnügen müssen. Das Mobiliar, das ihn hinter der trostlosen Fassade erwartete, konnte er gleich zur Deponie bringen. Er nahm die an ihn adressierte Versandtasche aus dem Handschuhfach, öffnete die Fahrertür und wälzte seine hundert Kilogramm nach draußen.
Brandmann fühlte einen dumpfen Schmerz an der Hüfte und drehte sich einmal um die eigene Körperachse.
»Hey, keine Augen im Kopf?!«
Wie er wenig später feststellte, hatte ihn der Lenker eines Rennrades erwischt. Der Radfahrer war nach einigen Schlenkern und einer Vollbremsung etwa dreißig Meter von ihm entfernt zum Stehen gekommen. Brandmann ging, während er sich die schmerzende Hüfte rieb, schuldbewusst auf den Radfahrer zu. Eine Anzeige wäre das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. In dieser Stadt waren Fahrradfahrer inzwischen fast heilige Kühe geworden. Wie oft hatte er in letzter Zeit Zettel von ihnen mit üblen Beschimpfungen hinter dem Scheibenwischer gefunden, wenn er auf Radwegen geparkt hatte, um seiner Arbeit nachzugehen. Mehrmals war er sogar empfindlich zur Kasse gebeten worden, weil aufgebrachte Radfahrer die Polizei hinzuholten. Hätte nur noch gefehlt, dass man ihn vor Ort lynchte. Brandmann war auf alles gefasst. Dieser Radfahrer schien aber keinen Ärger machen zu wollen. Er war inzwischen abgestiegen und erwartete Brandmann mit einem Lachen, das den starken Raucher verriet. Der Mann war um die siebzig und braungebrannt. Er trug beige Shorts zu einem Khaki-Hemd. Sein schlohweißes Haar quoll unter dem Fahrradhelm hervor. Er fingerte eine Schachtel Marlboro aus der Brusttasche, klopfte gekonnt zwei Zigaretten heraus und hielt eine davon Brandmann entgegen, der sie dankend annahm.
»Da sind wir ja beide mit dem Schrecken davongekommen«, stellte der Radler noch immer lachend fest. »Ich wohne hier gleich um die Ecke. Wischnewski, Kurt Wischnewski, ich bin früher mal Sechs-Tage-Rennen gefahren«, fügte er hinzu und sah Brandmann dabei an, als erwarte er von ihm, um ein Autogramm gebeten zu werden. Ehe dieser etwas entgegnen konnte, war der Mann Richtung Lieferwagen gegangen und stand nun rauchend vor dem Schriftzug an der Seitenwand des zerbeulten schwarzen Ford.
Horst Brandmann
Entrümpelungen & Haushaltsauflösungen
50678 Köln
»Wird aber auch Zeit, dass endlich was passiert mit dem Haus. Vergammelt, alles vergammelt!«, ereiferte sich der Radler und wies mit einer ausladenden Geste zum Siedlungshaus. »Steht seit Monaten leer. Als die alten Grondts noch gelebt haben, war das alles immer picobello. Ihr Sohn hat es dann wegen seiner Krankheit nicht mehr pflegen können. Im Garten tummeln sich schon die Ratten. Der Familie ist das alles völlig egal. Die hat sich hier nie sehen lassen. Nicht mal zur Beerdigung ist sie gekommen. Den Gernot hat sie hier regelrecht verrecken lassen. Wer hat es denn gekauft?«
Brandmann zuckte mit den Schultern. Die drückende Schwüle ließ ihn nach Luft schnappen.
»Keine Ahnung. Auftrag kam per Telefon. Soll die Bude entrümpeln. Hab` den Schlüssel per Post bekommen. Leg` jetzt auch besser mal los«, japste Brandmann im Telegrammstil, weil er fand, dass er mit dem Marlboro-Mann schon genügend Zeit vertrödelt hatte. Im Abwenden wedelte er mit der Versandtasche.
»Frohes Schaffen, man sieht sich«, verabschiedete sich der Radler.
»Ich hoffe nicht«, murmelte Brandmann und schnippte die Zigarette ins Beet.
Als er vor der Tür stand und den Schlüssel ins Schloss steckte, fielen die ersten Regentropfen. In der Ferne konnte man ein Grollen hören. Die Haustür war verzogen, sodass er sein volles Körpergewicht dagegenstemmen musste, damit sie aufging. Zuerst wehte ihm ein Schwall abgestandener, fauliger Luft entgegen. Das nächste, was er wahrnahm, war ein beißender Geruch von Urin, der sich sofort in seiner Nase festsetzte. Dieser Geruch erinnerte ihn an seine vielen deprimierenden Entrümpelungen in Pflegeheimen und Altenwohnungen. Er konnte sich gut vorstellen, welches hoffnungslose Dasein hier ein alter Mann vor nicht allzu langer Zeit gefristet haben musste. Brandmann dachte kurz an seine eigene Situation. Seit der Scheidung vor acht Jahren lebte er allein. Seine Frau war mit ihrer gemeinsamen Tochter in den Norden gezogen und hatte den Kontakt völlig abgebrochen.
»Werd` nicht sentimental«, dachte er und verscheuchte die dunklen Gedanken. Er machte in allen Räumen das Licht an, zog die Jalousien hoch und öffnete die Fenster. Dass es hereinregnete, machte nichts, hier konnte nichts mehr kaputt gehen.
»Schrott, nur Schrott«, entfuhr es ihm, als er sich im Wohnzimmer umschaute. Wie erwartet war die Einrichtung ärmlich. Ein paar ausgetrocknete Zimmerpflanzen, ein fadenscheiniger mit Flecken übersäter Teppichboden, ein Nussbaum furnierter Spanplattenschrank und Regale voll mit Nippes und Reader`s-Digest-Büchern. Im Barfach standen eine halbvolle Cognac-Flasche und einige Sperrholzkistchen mit ausgetrockneten Zigarren. Neben einem speckigen Ohrensessel saß auf einem kleinen Mosaiktisch ein beleuchtbarer Porzellanfalke, der einmal als Rauchverzehrer gedient hatte. Wenn er die vergilbten Tapeten betrachtete, war der Vogel nicht sehr erfolgreich gewesen. Als er die anderen Räume inspizierte, stieß er auf einen Standaschenbecher aus Chrom und eine intakte Messinglampe aus den 50er Jahren mit drei beweglichen Armen und Schwanenhalstüten. Auch mit den antiken Massivholzrahmen, die leider nur billige Drucke enthielten, ließ sich etwas anfangen.
Alles zusammen, überschlug Brandmann, ergäbe mit etwas Glück 500 Euro, die zu seiner Entrümpelungsprämie hinzukämen. Seine Stimmung hob sich schlagartig. Kleinvieh machte auch Mist. Das wertlose Mobiliar würde er morgen mit Handke vor Ort transportgerecht zerlegen und mit dem LKW entsorgen. Die Asbachuralten Elektrogeräte aus Küche und Keller würden auf der Ladefläche auch noch Platz finden. Bevor er den unerfreulichen Ort verlassen konnte, musste er nur noch einen Blick auf den Dachboden werfen. Brandmann öffnete die Dachluke, zog die Scherentreppe herunter und stieg die Blechstufen hinauf, die sich unter seinem Gewicht gefährlich bogen. Mit Mühe zwängte er sich durch die schmale Bodenöffnung. Seine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Draußen rauschte der Regen. Da er keinen Lichtschalter finden konnte, knöpfte er seine Stablampe vom Gürtel. Dann ließ er den Lichtkegel durch den Raum wandern. Von den Dachbalken hingen Stromkabel wie Luftschlangen herab. Zwischen den Sparren klemmten löchrige Matten aus Steinwolle, die sich an manchen Stellen wieder gelöst hatten. Offensichtlich hatte es vor langer Zeit den Versuch gegeben, den Bodenraum zu isolieren und zu beleuchten. Bis auf wenige Gegenstände war der Dachboden leer. Brandmann schob einen alten Mantel beiseite, der nach Mottenpulver stank, tauchte unter einigen tief gespannten Wäscheleinen hindurch und nahm eine schwarze Holzkiste in Augenschein, die an der Schornsteinwand stand. Er entfernte Staub und Spinnweben und kippte den Deckel nach hinten. Zuoberst lagen zwei Wolldecken, in die Motten Löcher gefressen hatten. Danach förderte er einen mit Fell bespannten Wehrmachttornister, einen Affen, zu Tage, auf dem mehrere Sammelalben von Olympischen Spielen und Schellackplatten lagen. Brandmann legte alles neben die Kiste. Auch dafür würden sich Abnehmer finden. Mehr schien sie nicht zu enthalten. Als er den Deckel wieder schließen wollte, glitt ihm die Stablampe aus der schweißnassen Hand. Sie schlug mit einem merkwürdigen Geräusch auf dem Kistenboden auf.
»Ein Hohlraum!«, schoss es ihm durch den Kopf. Er holte sein Schweizer Messer aus der Tasche und es gelang ihm, eine dünne Sperrholzplatte damit zu lösen, die auf einem gezimmerten Rahmen aus schmalen Leisten stramm auflag. Im Schein der Lampe sah er jetzt auf dem Kistenboden ein flaches Paket liegen. Er hob es heraus. Sein Inhalt war mehrmals mit Wachspapier und Tüchern umwickelt und mit Paketband verschnürt. Brandmann fluchte lautstark vor sich hin, während er versuchte, den Knoten mit seinen kurzen wulstigen Fingern zu lösen. Schließlich verlor er die Geduld und zerriss das Band. Das Paket barg eine Ledermappe und zwei Holztafeln, die er an die Kiste lehnte. Dann ließ er ganz langsam den Lichtkegel der Stablampe über die Tafeln gleiten.
Er stieß einen Pfiff aus und rieb sich mit der Hand übers Gesicht.
Er fuhr stadtauswärts am Rhein entlang Richtung Rodenkirchen. Wie immer um diese Zeit staute sich der Feierabendverkehr. Das gestrige Wärmegewitter hatte keine Abkühlung gebracht, trotzdem nahm er die Hitze und die Blechlawine gelassen. Heute würde er ein gutes Geschäft machen. Auf dem Beifahrersitz lag eine der Holztafeln. Er hatte sie sorgfältig mit Luftpolsterfolie verpackt und mit Gewebeband verklebt. Nächste Woche würde er die zweite aus dem Hut zaubern. Einzeln ließen sich Gemälde besser verkaufen. Im Radio spielten sie Oldies. Brandmann bewegte zu Honky Tonk Women seinen Oberkörper im Takt der Musik. Nach einer halben Ewigkeit erreichte er endlich den Speckgürtel Kölns und lenkte seinen Transporter in das noble Villenviertel von Marienburg, das er immer dann besuchte, wenn er bei seinen Haushaltsauflösungen auf etwas gestoßen war, was den Auktionator interessieren könnte. Er parkte den Transporter wie gewünscht etwas weiter entfernt in einer Seitenstraße. Er hatte sich frisch rasiert und die Haare mit Gel in Form gebracht. Das weiße Hemd trug er über der Hose. Es zeichnete trotzdem seine Wülste ab.
Als er auf die Jugendstilvilla zuging, überkam ihn wie jedes Mal ein Gefühl von Neid. Er drückte den Klingelknopf, der in eine breite Messingplatte eingelassen war, auf der in verschnörkelter Schrift der Name »Gladeck« stand. Ein Summen ertönte und Brandmann öffnete das schmiedeeiserne Tor. Er ging vorbei an den blühenden Inseln mit Hortensienbüschen im akkurat gestutzten Rasen und dem runden Wasserbecken mit der Marmorskulptur. Der Weg war noch feucht vom Wässern. Dann stand er vor der Villa, die mit den weißen Einfassungen der Türen und Fenster, den Balkonen und Türmchen aussah wie ein kleines Schloss. Unter dem Carport stand ein weißer Porsche Cayenne. Gladeck erwartete ihn auf der obersten Treppenstufe des Hausaufgangs und sah mit seinem kantigen Schädel, auf dem das graue Haar schon schütter geworden war, auf ihn herunter. Er trug einen schwarzen Seidenanzug mit Stehkragen. Seine nackten Füße steckten in schwarzen Lederslippern.
»Brandmann, schön Sie wieder einmal zu sehen«, begrüßte ihn der Hausherr. Die Hand gab er ihm nicht, das hatte er noch nie getan. In der geräumigen Diele war es angenehm kühl. In der Einrichtung dominierte Weiß. An den Wänden hingen großformatige Kunstwerke. Darunter waren Nagelbilder von Günther Uecker. Noch immer fand Brandmann sie schrecklich. Diese Art von Kunst würde er mit ein paar Zimmermannsnägeln, Spanplatten und einem Eimer weißer Wandfarbe auch hinbekommen. Da gefiel ihm das bunte Gemälde am Treppenaufgang schon besser. Den Namen der Berliner Malerin hatte er vergessen.
»Dann lassen Sie mal sehen, was Sie mir Schönes mitgebracht haben«, sagte Gladeck und lotste Brandmann ins Arbeitszimmer. Während dieser die Verpackung löste, holte er eine Flasche Whisky und zwei Gläser.
»Ein schottischer Single Malt von 1993 aus der Bladnoch Distillery. Den mochten Sie beim letzten Mal doch so gerne.«
Mit diesen Worten füllte er die Gläser fingerbreit und schenkte seinem Besucher dabei ein joviales Lächeln.
»Auf was auch immer«, sagte er, stieß mit Brandmann an und schielte dabei auf das Tafelbild, das jetzt auf dem Schreibtisch lag. Als Gladeck sich endlich bequemte, das Bild genauer anzusehen, beobachtete ihn Brandmann angespannt. Der Auktionator schien es nicht für notwendig zu erachten, es in die Hand zu nehmen.
»Schwülstig, Brandmann, schwülstig, Ende 19. Jahrhundert. Wer hängt sich so was heute noch hin? Erotika laufen nicht mehr so gut. Für das Auktionshaus ist das jedenfalls nichts.«
Gladecks offensichtliches Desinteresse am Bild kam wie ein Faustschlag. Brandmann hatte gehofft, einen Schatz gefunden zu haben wie damals, als er hier mit einer Mappe, prall gefüllt mit Grafiken, aufgetaucht war, die er aus einem Seniorenstift in Siegburg hatte. Um 4000 Euro war er reicher geworden, als er die Villa verlassen hatte. Bis jetzt war er mit Gladeck immer gut gefahren.
»1500!«, warf dieser plötzlich in den Raum und riss ihn aus seinen Gedanken. Das war zwar nur ein Bruchteil dessen, was er sich erhofft hatte, aber was sollte er machen. Eine Expertise erstellen zu lassen, war viel zu kostspielig. Schon einmal hatte er Lehrgeld bezahlen müssen, als man ihm im Gutachten offenbarte, dass das vermeintliche Barockgemälde auf eine alte Holztür aus dem 19. Jahrhundert gemalt worden war. Eine geniale Fälschung, die nur einen geringen Liebhaberwert darstellte. Gladeck hatte ihm das Bild für die Summe abgekauft, die ihn das Gutachten gekostet hatte. Handeln konnte man mit dem Auktionator nicht. Brandmann nickte resigniert. Gladeck entnahm seiner Sakkotasche ein Bündel Geldscheine, das von einem silbernen Clip zusammengehalten wurde, und zählte ihm fünfzehn Hundert-Euro-Scheine in die Hand.
Als Brandmann wenig später das Tor hinter sich zuzog und noch einmal zur Villa zurück sah, stand Gladeck regungslos hinter einem der Rundbogenfenster und blickte ihm nach.
Dr. Martin Gladeck, der bei der Anrede auf »Gladeck, einfach nur Gladeck« bestand, um damit seinem Titel mehr Bedeutung zu verschaffen, war ein obsessiver Sammler zeitgenössischer Kunst. Er war permanent verschuldet und vertrat die Meinung, dass man einen Sammler, der sich nicht beim Kunstkauf über die Grenzen seiner Möglichkeiten verschulde, nicht ernst nehmen könne.
Gladeck war süchtig nach Fluxus, Concept Art, Minimalismus und abstraktem Expressionismus und hortete in seiner Villa Polke, Uecker, Merz, Richter und andere große Namen. Nur seiner Frau zuliebe fanden sich an den Wänden ihrer Villa auch einige farbenfrohe gegenständliche Bilder. Ruth Gladeck teilte, sehr zu dessen Leidwesen, nicht den Kunstgeschmack ihres Mannes. Sie fand die meisten Werke seiner Sammlung langweilig, hässlich und schwierig zu verstehen. Sie war ganz und gar nicht seiner Meinung, dass das Sammeln von Kunst glücklich mache. Es bereitete schlaflose Nächte, verschuldete und löste Ehestreit aus.
Einen Teil des Geldes, das seine Leidenschaft verschlang, verdiente Gladeck als gleichberechtigter Partner im traditionsreichen Auktionshaus Hartmann & Partner, in das er eingeheiratet hatte. Vor zwei Jahren war das Auktionshaus nur knapp um eine Insolvenz herumgekommen, weil er für seine privaten Ankäufe heimlich Geld aus der Firma gezogen hatte. Zu viel Geld. Mehrmals hatte seine Frau mit der Scheidung gedroht. Sein Schwiegervater sprach schon lange nicht mehr mit ihm. Doch er sammelte weiter über seine Verhältnisse. Um die Schulden zu verkleinern und um seine Sammelleidenschaft zu finanzieren, beschritt er nicht immer legale Wege. Einiges verkaufte er auf eigene Rechnung am Auktionshaus vorbei, anderes ließ er über Mittelsmänner auf dem grauen Markt verkaufen. Und dann waren da noch die kleinen Geschäfte, die über die Trödler und Antiquitätenhändler abliefen. Über die Jahre hatte er mit diesen Kleinunternehmern ein feines Netz im Rheinland gesponnen, in dem sich manches unterschätzte Kunstwerk verfing, das wieder Geld in seine leere Kasse spülte. Brandmann war einer dieser Zulieferer und nicht der schlechteste. Die Radierungen und Lithografien, die dieser vor einiger Zeit zur Villa gebracht hatte, hatte er zu stolzen Preisen weiterverkauft. Gesichter und Die Hölle hießen die Zyklen von Max Beckmann. Dass er Brandmann jedes Mal, gemessen an seinem Gewinn, mit einem Hungerlohn abspeiste, machte ihm kein schlechtes Gewissen.
Gerade eben hatte er wieder etwas ganz Außergewöhnliches geliefert bekommen.
Brandmann hatte kaum seinen Transporter bestiegen und den Motor angelassen, da ging Gladeck aufgeregt zum Schreibtisch und nahm das Tafelbild behutsam in die Hände und betrachtete es neugierig.
»Cranach«, war sein erster Gedanke gewesen, als Brandmann das Gemälde ausgepackt hatte. »Lucas Cranach der Ältere.«
Er zog die Schreibtischschublade auf und entnahm ihr eine Lupe. Jetzt, da er die Signatur unter dem Vergrößerungsglas betrachtete, fand er seine Vermutung bestätigt. Das Bild konnte, wenn es echt war, einige hunderttausend, ja sogar Millionen Euro wert sein. Sein Herz schlug so laut, dass er es hören konnte. War er eben noch in der Gegenwart Brandmanns eiskalt und kontrolliert gewesen, so war er jetzt aufgewühlt und erregt. Er drehte die Tafel um und betrachtete die Rückseite. Das Holz sah alt aus und konnte durchaus aus dem 16. Jahrhundert stammen. Gewissheit würde aber erst eine Prüfung ergeben. Was ihm Sorgen machte, waren die Kratzspuren an den vergilbten Aufklebern. Sehr wahrscheinlich waren Kennzeichnungen der Vorbesitzer mutwillig entfernt worden, was eine Prüfung der Provenienz erschwerte. Wo hatte Brandmann dieses Bild nur her? Wenn es tatsächlich aus einer Haushaltsauflösung stammte, hatten die Erben keine Ahnung davon, was für ein Schatz da in Familienbesitz gewesen war. Wenn es sich um Raubkunst handelte, war das Bild für den offiziellen Kunstmarkt tabu und eine Einlieferung ins Auktionshaus mit hohen Risiken verbunden. Juristisch gesehen waren solche Kunstwerke seit dem Washingtoner Abkommen im Jahre 1998 von staatlichen Stellen zu restituieren. Rein theoretisch. Der Fall Gurlitt hatte vor Kurzem viel Staub in der Kunstwelt aufgewirbelt. Als er sich gelegt hatte, schaute man genauer hin. Viele forderten sogar ein neues Gesetz für den Handel mit Raubkunst. Wer beim Erwerb wusste oder wissen musste, dass die Kunstgegenstände, die er gekauft oder geerbt hatte, ihren Besitzern während des Naziregimes abgepresst worden waren, sollte sich künftig nicht mehr auf Verjährung berufen können. Bei seiner jetzigen wirtschaftlichen Lage konnte sich das Auktionshaus Hartmann & Partner keinen Skandal leisten. Natürlich konnte er das Bild auf dem grauen Markt verkaufen, aber nur zu einem Preis, der in keinem Verhältnis zum wahren Wert stand. Er ließ die Gedankenspiele und schenkte sich einen zweiten Whisky ein. Er würde das Tafelbild von Marcus Lambrecht, mit dem er schon einmal erfolgreich zusammengearbeitet hatte, auf seine Echtheit prüfen und die Provenienz ermitteln lassen. Sollte es dann Rechtsansprüche geben, könnte er immer noch entscheiden, was er mit dem Bild machte. So oder so würde er den Löwenanteil abbekommen. Gladeck nahm sein Handy in die Hand und tippte die Nummer des Kunstvermittlers hinein.
Lamprecht betrat den Eingangsbereich der Außenstelle des Kunsthistorischen Instituts. Er trug ein weißes T-Shirt unter einem Hemd aus beigem Leinenstoff, das aufgeknöpft über der Chino hing. Die Sonnenbrille hatte er lässig ins halblange blonde Haar geschoben. Ein Atemzug und ein Blick auf den rissigen Linoleumboden genügten, um ihn in seine Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter zurückzuversetzen. Vor sieben Jahren war er hier fast täglich ein und ausgegangen. Er steuerte auf die Pförtnerloge zu und wurde von »Lumpi« Lammert mit einem breiten Grinsen begrüßt.
»Na, Marcus, auch mal wieder im Lande? Termin beim Alten?«
Während Lammert zum Telefonhörer griff, musterte Lamprecht seinen ehemaligen Kommilitonen, der sich wohl noch immer mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Er hatte eine verwaschene mit Ethno-Mustern bedruckte Tunika an. Um den Hals war eine violett eingefärbte Mullwindel gelegt. Am linken Ohr baumelte ein silbernes Kreuz. Offensichtlich bezog er seine Kleidung wie eh und je aus Secondhandshops oder vom Flohmarkt und machte seinem Spitznamen alle Ehre. Lammert führte eine Doppelexistenz zwischen Broterwerb und Kunst und hatte noch nicht die Hoffnung aufgegeben, eines Tages mit seinen Schrottplastiken und großformatigen Assemblagen aus Kunststoffmüll entdeckt zu werden.
»Jannis Kuhnke hat es auch geschafft!«, pflegte er den Skeptikern trotzig zu entgegnen und erzählte dann in epischer Breite vom Werdegang des Berliner Malers, der mit Ende Vierzig plötzlich zum Shootingstar der internationalen Kunstszene geworden war. Die Galeristen rissen sich um ihn und die Sammler kauften seine riesigen apokalyptischen Gemälde noch feucht aus seinem Atelier heraus. Lammert legte geräuschvoll den Hörer auf.
»Berni erwartet dich.«
Lambrecht ging lächelnd zum Aufzug, der sich mit einem Zischen öffnete. Er drückte den Knopf zum dritten Stock. Rumpelnd setzte sich die Kabine in Gang. Er sah mit großer Spannung seinem Treffen mit dem Professor entgegen.
»...itter ...ock!«
Die Stimme vom Band hatte noch immer einen Sprachfehler. Lambrecht verließ den Fahrstuhl und stand kurze Zeit später vor dem Büro mit dem angrenzenden Seminarraum. Er klopfte und öffnete die weiße Kassettentür, neben der sich ein kleines Schild mit der Aufschrift »Prof. Dr. em. Bernhard Sternheimer« befand. Als er eintrat, erhob sich ein hünenhafter, korpulenter Mann mit kurzen grauen Haaren von seinem Arbeitsplatz und ging mit ausgebreiteten Armen und wehendem Kittel auf ihn zu. Die beiden Männer fielen sich in die Arme und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Marcus Lambrecht mochte den alten Herrn, der vor sechs Jahren emeritiert worden war, aber noch immer an seiner alten Wirkungsstätte arbeitete. Er konnte einfach nicht von seiner Leidenschaft für alte Gemälde lassen. Sein Opus Magnum Tafelbilder der Deutschen Renaissance galt in der Kunstwissenschaft als Standardwerk. An drei Tagen in der Woche hielt er Vorlesungen und ließ die Restauratoren an seinem reichen Erfahrungsschatz teilhaben. Daneben erstellte er Gutachten für Sammler und Museen oder für gute Freunde wie seinen früheren Doktoranden Lambrecht. Ein Teil des Honorars floss in die häufig klamme Institutskasse. Der Professor streifte seine weißen Baumwollhandschuhe über und führte seinen Besucher an einen großen Resopaltisch, über dem der schwenkbare Arm eines Mikroskops schwebte. Die beiden Männer beugten sich über den Tisch und betrachteten schweigend das Gemälde, das auf einer Decke lag. Es zog sie augenblicklich in seinen Bann. In harmonischer Ausgeglichenheit und Proportioniertheit lag in freier Landschaft auf einem tiefroten Samttuch eine junge nackte Frau. Ihre Beine hatte sie lässig gekreuzt, ihr Kopf mit den halb geöffneten Augen ruhte etwas erhöht auf ihrem angewinkelten Arm. Die Hälfte des Mittelgrundes wurde von einem rechteckigen Renaissancebrunnen mit einer Faunfigur eingenommen. Dieser wurde von einem dichten Wald hinterfangen. Auf der rechten Bildhälfte fiel der Blick auf eine gebirgige Landschaft mit Städten und Burgen. Über dem abendlich gefärbten Himmel hingen dunkle Wolken. Etwas Unheimliches und Bedrohliches lag über der Szene und bildete einen starken Kontrast zu der verführerischen Gelassenheit der Frau, die ihren nackten Körper im Halbschlaf preisgab.