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© 2020 Erk F. Hansen
Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-751-92605-8
Eduard Mörike
* 8.9.1804 Ludwigsburg
4.6.1875 Stuttgart
Annette von Droste-Hülshoff
* 12.1.1797 Hülshoff/Münster
24.5.1848 Meersburg
Nicht vielen ist es gegeben, während ihres Lebens einer leibhaftigen Göttin zu begegnen. Wem aber solches geschieht, der bleibt gezeichnet sein Leben lang, rettungslos.
(aus einer antiken Quelle)
Da war es wieder, dieses Zittern der Hand, kaum hatte er sich hingesetzt, seine Predigt für den morgigen Gottesdienst auszuarbeiten. Was hieß ausarbeiten: Er würde eine fertige Predigt, von denen ihm ein befreundeter Pfarrer aus einer Nachbargemeinde ein volles Dutzend hatte zukommen lassen, nur ein wenig umarbeiten, sie an die Verhältnisse seiner Gemeinde anpassen, dass nicht gar zu offensichtlich würde, dass es nicht seine Worte waren, die er da an die ihm anvertrauten Schäfchen richtete, morgen. Ein Zittern, das, so erklärte er es sich, dem Widerwillen gegen diese Tätigkeit entsprang, welcher er sich Woche um Woche zu unterziehen hatte und welches nicht auftrat, durfte er sich mit Texten beschäftigen, die ihm wesentlich gemäßer waren, wie er empfand: seinen Gedichten und Geschichten, den zahlreichen Briefen zudem, die er zu schreiben hatte, wenn er sich auch von einer gewissen hartnäckigen Saumseligkeit seinen Korrespondenzpartnern gegenüber in dieser Hinsicht kaum freisprechen durfte.
Doch es war nicht das Zittern der Hand allein: Belastender noch war ihm die bleierne Müdigkeit, die seinen Geist umfing, kaum hatte er sich zu seiner pfarramtlichen Tätigkeit niedergelassen, und welche in ihm den kaum bezwingbaren Wunsch weckte, aufzuspringen und in seinen Garten hinunterzugehen, sich der Natur zu erfreuen, eines kleinen Pfeifchens Tabak zu genießen wohl auch, doch ging dies nicht an. »Das liebe Brot«, murmelte er, der neben seiner Mutter auch seine jüngste Schwester mit zu versorgen hatte, welche beide ihm den Haushalt führten und die in der Küche, in ihrer Stube den ihnen gemäßen Tätigkeiten nachgingen. Wie idyllisch ihr Zusammenleben sein könnte! Und gewiss wurde es von Außenstehenden auch so wahrgenommen; er aber wusste es besser, denn seine Schwester war von zanksüchtigem Charakter und missgönnte ihm jede freie Minute. Er seufzte und wandte sich wieder seiner Predigt zu.
*
»Schillers Mutter«, murmelte er ergriffen. Beim Studium der alten Kirchenbücher war dem neuen Pfarrer der Gemeinde der Name Elisabetha Dorothea Schiller ins Auge gefallen, verstorben und beigesetzt im April des Jahres 1802 auf dem hiesigen Friedhof, der nur wenige Fußminuten vom Pfarrhaus entfernt lag. Er sprang auf, griff nach seinem Hut und machte sich trotz des Nieselregens auf, das Grab aufzusuchen. In welch erbärmlichem Zustand aber musste er es vorfinden; kaum, dass der Name der Toten noch zu entziffern war! Entrüstet schnaubte er durch die Nase: So ehrte das Vaterland die Mutter eines großen Toten! Das Grab musste unverzüglich neu hergerichtet werden, auch einen neuen Stein aufzusetzen war vonnöten, er sah sich nach dem Friedhofsgärtner um, den er jedoch nirgends entdecken konnte; nun, er würde ihm morgen Bescheid geben. Ein neuer Stein: Seine Gemeinde war arm, und aus eigener Tasche ihn zu bezahlen ging auch nicht an, er musste streng haushalten. Also begab er sich hinter den Friedhof, an den Platz, wohin die Utensilien aufgelassener Grabstätten verbracht wurden, und blickte prüfend um sich: Dort, dieser Stein da, halb bereits in der Erde versunken: mochte der taugen? Der Pfarrer kniete nieder, reinigte die verwitterte Oberfläche grob mit seinen Händen, prüfte mit kundigen Fingern das Material: ein Sandstein, gut, den würde er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bearbeiten können, die Oberfläche glätten, die Worte »Schillers Mutter« mit einem scharfen Stichel hineingraben; der Friedhofsgärtner mochte ihm den Stein ins Haus transportieren, gleich morgen würde er die notwendigen Anweisungen geben. Er nickte befriedigt, erhob sich, kehrte leise pfeifend ins Pfarrhaus zurück. Seiner Mutter und seiner Schwester sagte er nichts von seinem Vorhaben.
*
Auf das Grab von Schillers Mutter
Cleversulzbach, im Mai
Nach der Seite des Dorfs, wo jener alternde Zaun dort
Ländliche Gräber umschließt, wall' ich in Einsamkeit
oft.
Sieh den gesunkenen Hügel; es kennen die ältesten
Greise
Kaum ihn noch, und es ahnt niemand ein Heiligtum
hier.
Jegliche Zierde gebricht und jedes deutende Zeichen;
Dürftig breitet ein Baum schützende Arme umher.
Wilde Rose! dich find' ich allein statt anderer Blumen;
Ja, beschäme sie nur, brich als ein Wunder hervor!
Tausendblättrig eröffne dein Herz! entzünde dich
herrlich
Am begeisternden Duft, den aus der Tiefe du ziehst!
Eines Unsterblichen Mutter liegt hier bestattet; es
richten
Deutschlands Männer und Frau'n eben den Marmor
ihm auf.
»Am begeisternden Duft, den aus der Tiefe du ziehst«: er zögerte. Zwar fing das Distichon auf ideeller Ebene das ein, was ihm hier wichtig war, doch wenn man ihn naturalistisch las… Konnte man den Moderduft einer in finsterer Tiefe verscharrten Leiche wirklich als »begeisternd« bezeichnen? Evozierte dieser Vers nicht Assoziationen, die sein Gedicht von innen her einfach nur zerstören mussten? Aber hatte er nicht mit dem darauf folgenden Attribut des »Unsterblichen« gerade einer solchen Lesart einen Riegel vorgeschoben? Er legte die Feder beiseite, ließ den Vers erst einmal stehen; nahm sich bestimmt vor, ihn noch einmal in Ruhe zu überdenken. Es unterblieb.
*
Wie litt er so manches Mal an der Dürftigkeit seines Leibes bei dem Schwung seines Geistes! Doch es war ja nicht nur sein schwächlicher Körper, der ihn so oft niederdrückte; nein, auch seine Amtsgeschäfte und seine häuslichen Verhältnisse zehrten an der Macht seiner Phantasie, die er sehr wohl tief in sich fühlte, aber, ach!, der er nur allzu selten zu freiem Flug verhelfen konnte. Dabei war er erst in der Mitte seiner Dreißiger und hatte noch mindestens weitere dreißig Jahre seinen Pfarrdienst zu versehen! Der Gedanke daran verursachte ihm beinahe Übelkeit; stöhnend ließ er den Kopf auf seine gefalteten Hände sinken: konnte das gutgehen? Würde er dieser Belastung, die ihn von dem abhielt, was sein Eigentlichstes war, standhalten können? Konnte er sich denn wirklich nicht früher aus diesem Joch des Kirchendienstes befreien? Wenn er nur für sich selbst aufzukommen hätte, ja, dann wollte er schon dafür sorgen, dass er nicht würde darben müssen; aber seine Mutter, seine Schwester? Und dann waren da auch noch seine beiden verkommenen Brüder, für die er mit einer Bürgschaft hatte einstehen müssen, wollte er nicht riskieren, die Ehre der Familie verletzt zu sehen - nein, er war ein Gefangener, das wusste er, und er durfte dieses Joch nicht von sich abschütteln, wollte er nicht die ihm Anvertrauten mit sich reißen. »Behaglichkeit«, murmelte er; ja, das war es, was seinem Leben fehlte: Behaglichkeit, Unbeschwertheit, Lebensfreude! Doch zugleich schalt er sich einen Toren: War ihm sein Los nicht von Gott bestimmt? Wie durfte er dessen weisen Ratschluss in Frage stellen, noch dazu als Pfarrer? Musste er seinen Schäfchen nicht Vorbild sein in der Duldung des Geschicks? Er beugte sich wieder über seinen Predigttext.
*
Fast war er schon eingeschlafen, als ein ungewohntes Geräusch ihn aufschrecken ließ: was war das? Ein Fallen und Rollen, wie von einer kleinen Kugel unter dem Bett, dazu ein heller, länglicher Schein unweit der Kammertür, der unmöglich vom Mondlicht hervorgerufen sein konnte, denn jetzt, in diesen letzten Augusttagen des Jahres 1834, war der Mond stark abnehmend und kaum mehr als eine schmale Sichel. Er wohnte nun schon etliche Monate in diesem Haus, doch eine solche Erscheinung hatte er noch nicht wahrgenommen. Da aber im Folgenden alles ruhig blieb, schlief er endlich ein und glaubte am nächsten Morgen, dass er dieses Erlebnis vielleicht doch nur geträumt habe.
Dabei aber blieb es nicht: Bis in den Spätherbst hinein wurde die kleine Hausgemeinschaft in unregelmäßigen Abständen immer wieder von unerklärlichen Geräuschen und Lichtern heimgesucht, von denen auch seine Mutter und Schwester berichteten, so dass man ernstlich annehmen musste, im Pfarrhaus spuke es tatsächlich, denn niemals konnte eine natürliche Erklärung für dieses beunruhigenden Erscheinungen gefunden werden, und man also allen Ernstes daran denken musste, womöglich das Quartier zu wechseln. Nun, nach Weihnachten beruhigten sich diese Vorfälle, und der Pfarrer, dem Unerklärlichen, ja Mystischen nicht eben abhold (auch wenn er es lieber ferner als näher von sich dachte), fand allmählich sogar Gefallen an dem Gedanken, es möchten körperlose Geister ihr Unwesen in seinem Hause treiben, denn ein Leids war ja keinem von ihnen geschehen. Auch die beiden Frauen beruhigten sich allmählich, da er ihnen denn ernstlich ihre Furcht verwies.
*
Er notierte sich über einige Jahre hinweg alle derartigen Auffälligkeiten in seinem Tagebuch, wobei er schließlich zu bemerken glaubte, dass es gegen den Herbst und im Winter vorzüglich zu solchen spukhaften Erscheinungen kam, welche im Frühjahr und Sommer auch wohl ganz auszubleiben pflegten, und dass diese ihren Höhepunkt zumeist gegen die vierte Morgenstunde erreichten.
*
Es war ein kalter und ungemütlicher Novembersonntag des Jahres 1837. Missmutig schritt er den Weg am Sulzbach entlang, weniger aus Neigung denn aus dem Gefühl der Pflicht heraus, sich etwas Bewegung verschaffen zu müssen, als er abrupt stehenblieb: was war das? Ein feiner Gesang drang an sein Ohr, Stimmen junger Mädchen, die engelhaft zu ihm herüberklangen von Gott weiß woher, und er lauschte wie verzaubert den kaum verständlichen Worten des Liedes, allein der bittersüßen Melodie folgend, die sich strophisch wiederholte. Er wagte nicht, dem Klang entgegenzugehen, in der Furcht, diesen Gesang durch sein Nähertreten zu zerstören, sondern gab sich dem inneren Bild hin, das diese Klänge in ihm auslösten: Eine Gruppe junger Mädchen aus dem Dorf, selbstvergessen spielend und singend. Plötzlich die bange Frage, die in ihm aufkam: Würde er selbst jemals Töchter haben, Vater sein von Kindern, welche »Papa« zu ihm sagten? Oh, wie arm wäre sein Leben ohne Kinder! Doch sie brauchten ja auch eine Mutter, und bei dem Gedanken wurde ihm heiß und kalt zugleich: Ob er jemals eine Frau finden würde, die zu ihm passte? Die so ganz anders war als seine Schwester, seine Mutter? Die ihn in seinen Träumereien, seinem Dichten unterstützte, ihm den Rücken freihielt von allen Unannehmlichkeiten dieses Lebens; die für ihn sorgte, wie er für seine Kinder Sorge tragen würde? Unmöglich! Maria, ja, mit ihr hätte er Kinder haben mögen, sie hätte vielleicht weiter ihrer Kellnerinnentätigkeit nachgehen und damit etwas Geld hinzuverdienen können zu seinem kärglichen Pastorengehalt. Doch nein, dies war undenkbar: die Frau des Pfarrers als Kellnerin in einer Schenke! Unmöglich! Er senkte betrübt den Kopf und wurde erst jetzt gewahr, dass der Gesang verstummt war.
*
Der Winter 1837/38 verging ihnen aufs Angenehmste: Nicht nur, dass er das Manuskript seiner Gedichte abschließen konnte, um es an Cotta nach Stuttgart zu schicken, wo der Band dieses Jahr erscheinen sollte, sondern er hatte auch seiner Mutter und seiner Schwester vorgeschlagen, die langen, dunklen Winterabende damit zu verkürzen, dass sie sich gegenseitig vorlasen, Romane hauptsächlich, die er sorgfältig aussuchte und sich von Stuttgart her kommen ließ. Wie behaglich war es, wenn sie dann beim Schein der Kerzen in der Stube um den Tisch saßen, sich am heißen, dampfenden Punsch labten und den Geschichten lauschten, die zumeist von seiner Schwester vorgelesen wurden und die er zuweilen mit Sachverstand kommentierte, seinen Frauen damit Einblick in die Werkstatt des Schreibens gewährend, bevor sie sich dann, meist kurz vor Mitternacht, zur Ruhe begaben.
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Der Band seiner Gedichte war eingetroffen, und wohlgefällig wog er das schmale Buch in der Hand: Gedichte von Eduard Mörike. Stuttgart und Tübingen. Verlag der J.G.Cotta'schen Buchhandlung. 1838. Seinem Freunde Wilhelm Hartlaub zum Zeichen unveränderlicher Liebe gewidmet. Gleich heute wollte er ihm sein Exemplar zukommen lassen; mit anderen, denen er ebenfalls ein Exemplar zugedacht hatte, konnte er sich noch etwas Zeit lassen. Wieviel Arbeit in diesen 236 Seiten steckte! Wahllos schlug er einige Seiten auf, prüfte den Druck, nickte zufrieden. Und wie anders wirkten seine Gedichte auf ihn ein, als er sie jetzt sauber gedruckt vor sich sah und nicht mehr in seiner eigenen Handschrift! Erst jetzt durfte er sich innerlich von ihnen lösen, sie gewissermaßen mit objektivem Blick betrachten, hoffend, dass das Büchlein nun auch zahlreiche Leser finden möge, auf dass sich durch das Honorar, das Cotta ihm zahlte, seine Schuldenlast reduzieren mochte. Ob er den einen oder anderen seiner Bekannten zu einer wohlwollenden Rezension bewegen konnte? Man würde sehen.
*
Bei der notwendig gewordenen Renovierung des Kirchendaches war der alte Turmhahn ebenfalls heruntergeholt und achtlos beiseite geworfen worden, um mitsamt dem weiteren Altmetall dem Schrotthändler überliefert und eingeschmolzen zu werden. Als er ihn bei Begehung der Baustelle entdeckte, vom jahrzehntelangen Einfluss der Witterung gezeichnet und nun kläglich dem Verderben preisgegeben, da rührte sich in seiner Seele ein solches Mitleid, wie wenn es ein lebendig Wesen wäre, und er beugte sich hinab, das Tier vorsichtig aufzunehmen und in sein Haus zu tragen. Ehrwürdig! So viele Jahre hatte dieser Hahn das Dach geziert, ein wachsames Auge auf sein Gotteshaus gehabt; Sturm, Regen und Wind getrotzt; und nun sollte er sang- und klanglos zerstört werden? Unmöglich, da sei sein Pfarrer davor! Stumm sahen sich Hahn und Pfarrer an, wie in ein trauliches Zwiegespräch vertieft, und er musste lächeln, als er sich ein Blatt hernahm und damit begann, die folgenden Worte aufs Papier zu setzen:
Zu schreiben endlich er sich setzet,
Ein Blättlein nimmt, die Feder netzet,
Zeichnet sein Alpha und sein O
Über dem Exordio.
Und ich von meinem Postament
Kein Aug' ab meinem Herrlein wend';
Seh', wie er, mit Blicken steif ins Licht,
Sinnt, prüfet jedes Worts Gewicht,
Einmal sacht eine Prise greifet,
Vom Docht den roten Butzen streifet;
Auch dann und wann zieht er vor sich
Ein Sprüchlein an vernehmentlich,
So ich mit vorgerecktem Kopf
Begierlich bringe gleich zu Kropf,
Gemachsam kämen wir also
Bis Anfang Applicatio.
*
Nach den Weihnachtstagen des Jahres 1840 zog er innerhalb des Hauses um, und zwar in das Obergeschoss, wo er sich etwas mehr Ruhe und Ungestörtheit erhoffte. Die Feiertage waren unerquicklich gewesen, es hatte wieder einmal Streit ums liebe Geld gegeben; seine Schwester beklagte zunehmend die Einschränkungen und Entbehrungen, die sein schmales Salär ihnen allen auferlegte, wie aber sollte er dem wehren? Ja, wenn wenigstens der »Nolten« oder seine Gedichte sich besser verkauften! So aber, bei dem schwachen Absatz, den seine Bücher fanden, waren sie kaum geeignet, seiner Schwester gegenüber als Rechtfertigung zu dienen, wenn er sich zurückziehen wollte; so musste es denn der räumliche Abstand tun, den er zwischen sich und das Erdgeschoss legte, denn seine Schwester stieg nur ungern Treppen. Seiner Mutter war er dankbar dafür, dass sie zu alledem schwieg, doch nahm sie ihn auch nicht in Schutz.
*
Schließlich kam der Tag, den er so gefürchtet hatte: Seine Mutter, schon lange kränklich, trat in ihren Todeskampf ein. Er vermocht's nicht, ihren Sterbeprozess zu begleiten, überließ dies seiner Schwester, floh in das obere Stockwerk des Pfarrhauses, ließ sich von ihr in Abständen Bericht erstatten, bangte, hoffte, betete. Als sie dann, ganz in Schwarz gekleidet, schweigend zu ihm trat, ihn still mit ihren tränennassen Augen ansehend, meinte er bloß ruhig: »Du darfst's mir schon sagen.« Es war der 26. April 1841.
Einige Tage später wurde sie neben Schillers Mutter auf dem Friedhof zu Cleversulzbach beigesetzt, ihr Grab zunächst mit einem schlichten Holzkreuz bezeichnet. Den Stein würde man ihr aufrichten, wenn der Steinmetz seines Amtes gewaltet hatte, dies mochte einige Tage in Anspruch nehmen. Den Trauergottesdienst hielt sein Vikar.
*
Still verließ er das Haus und schlug den Weg nach dem Friedhof zu ein, ging an dessen Eingang vorüber und wandte sich, kaum hatte er diesen passiert, scharf nach links, um den schmalen Weg zu betreten, der die sanfte Steigung des vor ihm liegenden Hügels hinaufführte. Auf dessen Kuppe befand sich, eine kleine Baumgruppe in ihrem Rücken, ein altes, nicht mehr ganz stabiles Holzbänkchen, auf das er sich vorsichtig niederließ, um den Blick sodann über das Dörfchen und dessen Kirchturm hin in die Ferne schweifen zu lassen: Wie er diese kurzen Momente des Rückzugs genoss, angesichts der fern bis zum Horizont sich erstreckenden hügeligen, mit dunklen Fichten bestandenen Landschaft des fränkischen Unterlands! Er war ja kaum zehn Minuten bis an diesen Platz gegangen, und doch verschaffte er ihm einen wohltuenden Abstand zu seiner Wirkungsstätte, die er, scheinbar unbelebt, unter sich sah, ihr dörfliches Treiben von Baumkronen verborgen, die einzig den Turm seiner Kirche sichtbar ließen. Er seufzte wohlig, langte in seine Rocktasche, nahm eine Prise, schneuzte sich, wurde still.
*
Jetzt saß er in seiner Dachstube vor dem kleinen Altar, dessen Zentrum eine Figur der Gottesmutter Maria bildete. Seine Schwester hatte ihm deswegen katholizistische Tendenzen vorgeworfen, er aber wusste es besser und hatte zu ihren Vorwürfen bloß geschwiegen, denn was seine Schwester nicht ahnte, war, dass es vielmehr heidnische Bestrebungen waren, die darin zum Ausdruck kamen und um derentwegen er seine Gewissensbisse des öfteren kaum besänftigen konnte, denn: Nicht die Gottesmutter war gemeint, sondern sie, Maria Meyer, die ihn den göttlichen Charakter der Liebe hatte erfahren lassen; die ihn hatte empfinden lassen, dass er von seinem Schöpfer nicht nur mit einer gläubigen Seele, sondern auch mit einem begehrenden Körper war ausgestattet worden - und mit einem Geist, der daran verzweifelte, beides miteinander in Einklang zu bringen.
Er erinnerte sich: Damals, vor über zehn Jahren - es war noch zu seinen Tübinger Stiftszeiten gewesen, während der Osterferien, in denen er seinen Freund Lohbauer in Ludwigsburg besuchte - lief das Gerücht um von einer außergewöhnlich schönen Bedienung in einem der Gasthäuser Ludwigsburgs, »Zum Holländer«, und so beschloss man - wer könnte dieser Neugierde widerstehen! -, dieses Gasthaus aufzusuchen, um die geheimnisvolle Schöne - es hieß, sie sei bewusstlos vor den Toren der Stadt aufgefunden worden, und niemand kenne ihre Herkunft - einmal selbst in Augenschein zu nehmen. Ihm war ein wenig bange gewesen, hatte er doch bis dato in der abgeschlossenen Männerwelt des Stifts nie Gelegenheit gehabt, sich einem Mitglied des schönen Geschlechts zu nähern, auch das Bedürfnis dazu nicht wirklich empfunden - nun denn, Lohbauer und er würden eben eines guten Glases Wein genießen, ein wenig sich das Maul zerreißen, sie vielleicht tatsächlich für recht hübsch befinden - dergleichen gab es sicherlich mehrere in der Stadt - und schließlich wieder nach Hause gehen.