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Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland
Erzählungen, Märchen und Gedichte zur Advents- und Weihnachtszeit
Band 10
Martina Meier (Hrsg.)
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstraße 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten - Taschenbuchausgabe erschienen 2017.
Titelbild: Heike Georgi
Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM
ISBN: 978-3-86196-582-4 Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-330-9 E-Book
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Vor zehn Jahren haben wir von Papierfresserchens MTM-Verlag den ersten Band „Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland“ herausgegeben. Das war 2008 ... und unser Verlag gerade einmal ein Jahr alt. Im Jahr 2017, unserem zehnjährigen Bestehen, stellen wir nun den zehnten Band „WuWeih“, so wie die Reihe bei uns im Haus nur kurz genannt wird, vor.
Zehn Jahre, zehn Bücher, das sind rund 1982 Seiten wunderschöner weihnachtlicher Geschichten und Gedichte, die nicht nur Kindern, sondern auch vielen erwachsenen Leserinnen und Lesern stets große Freude bereitet haben.
Zehn Jahre, zehn Bücher sind aber auch Hunderte Autorinnen und Autoren, die sich Jahr für Jahr bereits im Hochsommer bei 30 Grad im Schatten mit Weihnachtsgebäck und Nikolaus, mit Engelchen und schneebedeckten Tannenbäumen beschäftigen. Denn: Einsendeschluss für die Beiträge zu unserer Anthologie war in der Regel immer schon am 15. August eines jeden Jahres.
Einige Autorinnen und Autoren sind seit dem ersten Band mit einem Beitrag in unserem Weihnachtsbuch vertreten und oft genug wurden wir in den zurückliegenden Jahren schon kurz nach Erscheinen des letzten Bandes gefragt, wann denn die Ausschreibung für den neuen Band „online“ ginge.
Und keine Sorge, wir werden auch in den kommenden Jahren unsere „WuWeih-Anthologie“ weiterführen und freuen uns schon jetzt auf viele Geschichten und viele neue junge und jung gebliebene Autorinnen und Autoren.
Zehn Jahre, zehn Bücher – und damit setzen wir unsere kleine Statistik gerne weiter fort – sind übrigens genau 492 Märchen, Erzählungen sowie Gedichte. Und es sind zehn wunderschöne Cover, die unsere Illustratorin Heike Georgi seit nunmehr zehn Jahren für uns zeichnet – vom rodelnden Nikolaus im Tiefschnee bis hin zum zufriedenen Weihnachtsmann unterm Tannenbaum hat sie es Jahr für Jahr verstanden, den Zauber der Advents- und Weihnachtszeit in einem tollen Bild einzufangen. Auch das entstand oft genug im Hochsommer bei sehr sommerlichen Temperaturen ...
An dieser Stelle möchten wir uns vom Verlag bei allen bedanken, die zum Gelingen dieser besonderen Buchreihe über die vielen Jahre beigetragen haben. Wir freuen uns auch in Zukunft auf tolle Märchen, Kurzgeschichten, Gedichte, Bilder über die schönste Zeit des Jahres.
In diesem Sinne wünschen wir allen Leserinnen und Lesern dieses zehnten Jubiläumsbandes eine entspannte und sorgenfreie Advents- und Weihnachtszeit und die Muße, sich für einige Zeit mit einer wunderschönen Geschichte aus der Hektik des Alltags in eine Welt voller Poesie zurückziehen zu können.
Herzlichst
Martina und Thorsten Meier
*
Adventszeit, Weihnachtszeit, die schönste Zeit für Max und Mustafa, die unzertrennlichen Freunde, denn wenn irgendwie möglich, stromerten sie nach der Schule über den Weihnachtsmarkt, schauten hier, schauten da und schrieben im Geiste Wunschzettel, obwohl sie wussten, dass die vielen Wünsche niemals in Erfüllung gehen würden. Auch hielten sie schon mal gerne einen Plausch mit dem Weihnachtsmann, der geduldig auf die Kleinen und ihre Begehren einging, wenigstens in den vergangenen Jahren.
„Ich weiß nicht“, meinte Max, „irgendwie gefällt mir der jetzige Weihnachtsmann nicht, wie findest du ihn, Mustafa?“
„Seine Augen, es sind seine Augen, die schauen falsch, selbst wenn er lächelt.“
„Und guck mal, wie missmutig er die Wünsche der Kids aufschreibt. Sollten wir ihn mal unter die Lupe nehmen?“
„Hallo Weihnachtsmann“, sprach Max ihn an, „wie läuft denn dein Geschäft?“
„Macht, dass ihr fortkommt, ihr seid viel zu groß für so einen Unsinn!“
„Du bist aber unfreundlich“, ereiferte sich Max sofort, „das waren deine Vorgänger nicht, sie waren immer sehr höflich, sehr freundlich und gerne zu einem Gespräch bereit. Und was heißt hier Unsinn? Die Kids freuen sich doch alle auf Weihnachten und geben daher ihre Wünsche bei dir ab in der Hoffnung, dass sie erfüllt werden. Und sie sind bestimmt enttäuscht, wenn sie einen missgelaunten Weihnachtsmann antreffen. Wie heißt du eigentlich?“
„Das geht euch gar nichts an, verschwindet, aber schnell, ihr Naseweise, kümmert euch um eure Schularbeiten, denn ihr geht doch noch zur Schule, oder?“
„Darauf sagen wir nichts“, flüsterte Mustafa seinem Freund ins Ohr. „Wir müssen ihn aber im Auge behalten, mit dem Kerl stimmt was nicht, ich wette mein ganzes Geld darauf!“
„Wie viel hast du denn?“, erkundigte sich Max interessiert, da er wusste, dass sein Freund meistens klamm war.
„15 Euro.“
„Krass, aber das kannst du ruhig riskieren, ich bin nämlich der gleichen Meinung. Was schlägst du vor, wie und was sollen wir machen?“
„Wir laufen einfach über den Markt und tun so, als würde er uns nicht mehr interessieren. Dann kehren wir zurück, warten, bis er Schluss macht, und folgen ihm.“
„Super Vorschlag, aber für heute schon zu spät. Wie du weißt, haben wir noch jede Menge Schularbeiten auf, der Meier hat uns wieder damit eingedeckt. Es eilt ja auch nicht, wir verschieben die Observation, wie es immer in den Krimis heißt, auf morgen. Aber dass er uns seinen Namen nicht genannt hat, muss einen Grund haben.“
Damit machten sich die beiden Freunde auf den Heimweg, um sich den Hausaufgaben zu widmen, was natürlich nicht so spannend war, wie den falschen Weihnachtsmann zu überwachen.
Am anderen Tag schlug Max auf dem Heimweg von der Schule seinem Freund vor: „Zuerst erledigen wir unsere Schularbeiten, dann machen wir uns auf den Weg zum Weihnachtsmann ohne Namen und beobachten ihn.“
„Gute Idee, sagen wir 16:30 Uhr, aber wir schleichen uns so an, dass der Typ uns nicht sieht.“
Gesagt, getan, es war fast schon dunkel, als Max und Mustafa sich trafen. Ohne wie sonst über den Markt zu bummeln, gingen sie schnurstracks in Richtung Weihnachtsmann, der noch missmutiger aussah als gestern. In sicherer Entfernung und gut versteckt warteten sie geduldig, bis er sein dickes Buch zuklappte und sich auf den Weg machte.
Sofort nahmen sie die Verfolgung auf und trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, wie der Weihnachtsmann offensichtlich versuchte, an die Geldbeutel der Besucher zu gelangen.
„Vorsicht, Diebe!“, riefen sie im Duett, als sie beobachteten, wie er ein Portemonnaie aus der Hosentasche eines Besuchers ziehen wollte, versteckten sich aber sofort wieder, denn sie sollten ja nicht entdeckt werden.
Und was sagte der Weihnachtsmann? „Ich wollte Ihnen nur zeigen, wie gefährlich es ist, das Portemonnaie so offen zu tragen.“
Der Mann bedankte sich und steckte sein Portemonnaie nun in die Jackentasche. Der Weihnachtsmann aber schaute sich suchend um, ahnte er doch, dass die beiden Freunde ihm das Geschäft vermiest hatten. Er konnte sie jedoch nirgends entdecken und verließ verärgert den Weihnachtsmarkt.
„Siehst du, Mustafa, hatten wir doch recht, der Weihnachtsmann ist falsch, er will nur die Besucher beklauen. Und das wird er wieder versuchen, wir müssen ihm auf den Fersen bleiben. Doch jetzt lass uns nach Hause gehen, sonst kriegen wir Ärger, ist ja schon ganz dunkel.“
Als Max am anderen Morgen zum Frühstück kam, wie immer auf die letzte Minute, hatte sein Vater bereits die Zeitung aufgeschlagen.
„Hört mal, was ich gerade gelesen habe“, meinte er zu seiner Frau und Max. „Dieses Jahr sind die Diebstähle auf dem Weihnachtsmarkt bedeutend zahlreicher als im vergangenen.“
„Klaro“, bestätigte Max, „Mustafa und ich kennen auch den Dieb. Es ist der Weihnachtsmann.“
„Wie kommt ihr denn darauf?“
„Nun, wir beide haben vorgestern beim Besuch des Weihnachtsmarktes festgestellt, dass der Weihnachtsmann falsch ist, ihn daher gestern beobachtet und gesehen, wie er versuchte, einem Mann seine Geldbörse aus der Hosentasche zu ziehen. Als wir dann aber Vorsicht, Diebe riefen, hat er frech behauptet, dass er den Besucher lediglich darauf aufmerksam machen wollte, wie leichtsinnig und gefährlich es doch sei, das Portemonnaie in die hintere Hosentasche zu stecken.“
„Wenn dem so ist, müsst ihr das der Polizei melden“, entgegnete sein Vater.
„Das können wir sofort tun!“, rief Max ganz begeistert aus, hoffte er doch, dadurch erst später in die Schule zu kommen.
„Nein, nein, mein Freundchen, das hat Zeit bis nach der Schule, denn der Bursche wird erst im Dunkeln auf die Pirsch gehen, tagsüber muss er doch Wunschzettel ausschreiben, ob er will oder nicht.“
Auf dem Weg in die Schule erzählte Max seinem Freund, was in der Zeitung gestanden und dass sein Vater gesagt hätte, sie sollten nach der Schule zur Polizei gehen.
Sie konnten es daher gar nicht erwarten, bis die Schule endlich aus war, und marschierten dann umgehend zur Polizei und erzählten, was sie beobachtet hatten.
„Das habt ihr zwar gut gemacht, aber es war auch nicht ganz ungefährlich. Wer weiß, was der Typ mit euch gemacht hätte, wenn ihr ihm in die Hände gefallen wärt.“
Zwei Polizisten in Zivil machten sich auf den Weg und behielten den Weihnachtsmann im Auge, der sofort bei Einbruch der Dunkelheit mit seiner „Arbeit“ begann. Nur hatte er Pech, zwei Versuche scheiterten, der dritte gelang zwar, doch gehörte das Portemonnaie einem der Polizisten!
Er wurde sofort festgenommen und auf der Wache stellte sich heraus, dass er schon lange gesucht wurde. Er war nämlich nicht nur auf dem Weihnachtsmarkt tätig, sondern auch bei Wohnungseinbrüchen, was ihm anhand der gefundenen Fingerabdrücke nachgewiesen werden konnte.
Und in der Zeitung war zu lesen, dass aufgrund eines Hinweises von zwei aufgeweckten Jungen diese Festnahme möglich gewesen sei. Aber wer hätte auch sonst auf die Idee kommen sollen, dass der Weihnachtsmann ein Dieb war?
Renate Hemsen
*
Hell erglühende Kerzen
erwärmen die Herzen.
In der Ferne
am Himmelszelt erstrahlende Sterne
erleuchten die dunkle Nacht.
Ein mächtiger Schutzengel über uns wacht.
Vom Himmel schneit es Wunder und Glück.
Die Welt ist entzückt.
Befreit von großen Sorgen
geht es in den Weihnachtsmorgen.
Oh, du wunderbare Weihnachtszeit!
Wir sind alle für dich bereit.
Herrlicher Weihnachtsduft
erfüllt die kalte Winterluft
und ein prächtiger Weihnachtsbaum
schmückt den wohligen Raum.
Labet euch mit knusprigem Gebäck,
während das Christkind unterwegs ist mit seinem Gepäck.
Stimmet alle ein zum frohen Lobgesang,
damit die Festlieder erklingen die ganze Erde entlang.
Fröhliche Weihnachten! Merry Christmas! Joyeux Noël!
Juliane Barth, Pseudonym: Sacrydecs, Jg. 1982, lebt im Südwesten Deutschlands. Schreibt als Hobby seit jeher sehr gerne, insbesondere Sachtexte und Lyrik. Widmet sich bevorzugt gesellschaftskritischen Themen. Veröffentlichungen in Anthologien: sacrydecs.de.to
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Oh je – es ist Anfang September und in den nächsten Tagen halten die Schokoladennikoläuse wieder in den Regalen der Supermärkte ihren glorreichen Einzug.
Jetzt stehe auch ich in den Startlöchern und überlege fieberhaft, wie ich in diesem Jahr meinen Weihnachtsbaum bestücken möchte. Die Deko-Industrie wird wieder neue Vorschläge und Farben bereithalten für alle, die Jahr für Jahr dem aktuellen Trend folgen möchten. Zeit für mich, auf dem Dachboden nach alten Schätzen zu suchen.
In der Ecke hinten links habe ich alles deponiert, was zum Fest der Liebe gehört. Ganz, ganz hinten lugt das Plüschschaukelpferd meines Jüngsten hervor. Es hat einen zerrupften Schweif und die blonde Mähne ist spärlich. Man sieht ihm deutlich an, dass es oft hingebungsvoll gestriegelt und geliebt wurde. Schon dreißig Jahre lang überlegen wir immer wieder vor Weihnachten, es wegzugeben.
Daneben steht der alte Kaufladen, der vor Jahrzehnten für meine kleine Tochter hergerichtet worden ist. Sogar ihre Großmutter hatte schon damit gespielt. Die große Puppenküche mit dem detailgetreuen Herd, die sich schon seit vier Generationen im Familienbesitz befindet, streife ich mit einem sehnsuchtsvollen Blick. Wie habe ich es geliebt, damit zu spielen! Mit Wasser und Mehl rührte ich meine berühmten Puppenküchenkuchen, fest wie Kleister, zusammen. Mutti konnte mein Werk danach aus den zahlreichen Schüsselchen und Töpfchen nur mit Mühe entfernen.
Anfang Februar verschwanden Kaufladen und Puppenküche auf dem Dachboden und Spielsachen für draußen wurden herbeigeräumt. Ein alter Kreisel, dessen Farbe abgeblättert ist, erinnert zusammen mit dem Säckchen Murmeln an glückliche Kindertage und Spiele im Freien. Dann fällt mein Blick auf einen großen Karton, der mit einer ungelenken Kinderschrift das Wort Eisenbahn trägt. Für unseren Kleinen bastelten wir damals schon viele Wochen vor dem Fest neue Tannenbäumchen aus Thujaspitzen, setzten sie in einen Sockel aus Knete und klebten neue Eisenbahnhäuschen zusammen.
In einer großen bunten Tüte finde ich einen völlig abgeliebten Teddy. Wie oft half er, Tränen zu verhindern, zu lachen und zu trösten. Eine Puppe aus Celluloid, deren Haare durch das viele Frisieren nur noch recht spärlich auf dem Kopf vorhanden sind, leistet ihm Gesellschaft. Ich glaube, ihn stört ihr Aussehen nicht.
Von den vielen Erinnerungen und nostalgischen Gefühlen getrieben, schaue ich in die Kiste mit den Adventsdeckchen, Girlanden, Nikolausstiefeln aus Keramik, den Bozner Engeln und der Weihnachtspyramide. Jedes Stück wurde damals mit Bedacht angeschafft und immer liebevoll wie kostbares Gut behandelt und aufbewahrt.
Jetzt bin ich mir ganz sicher: Der alte Christbaumschmuck soll auch in diesem Jahr wieder unseren Baum zieren. Ich stelle mich gegen die Modetrends, was die Farben betrifft. Unsere Kinder und Enkel werden den Baum – wie in all den Jahren zuvor – wieder mit leuchtenden Augen bewundern und lieben.
Christine Leitl wurde 1948 in der Barbarossastadt Gelnhausen in Hessen geboren. Sie ist gelernte Handelsfachwirtin und absolvierte später ein Fernstudium zur Tourismusreferentin. Heute lebt sie in Mittelfranken, hat zwei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder. Neben dem Schreiben gehören Tennis spielen, Rad fahren, Wandern und Reisen zu ihren Hobbys. Früher hatte sie zwei Pferde und ist als selbstständige Reiseveranstalterin mit Gruppen durch Europa gereist.
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„Wildschwein!!!“, schreit Max. Als ob der Rest der Familie ihn nicht verstehen würde, wenn er in normaler Lautstärke spräche. Dabei stehen alle eng zusammen im Kreis: der ältere Bruder Max, Mama, Papa und die Zwillingsschwestern Veronika und Sophia. Die beiden achtjährigen Mädchen sehen genau gleich aus mit dem rundlichen Gesicht, der Knödelnase und den feinen blonden Haarsträhnen, die immer wieder unter ihren blauen Strickmützen hervorrutschen.
Die Familie steht auf einem Feld am Waldrand, mitten im Königsdorfer Moor, und starrt auf den watteweißen Neuschnee. Dort hat Sophia mit einem Holzstecken Spuren gezeichnet. Das gehört zum Spiel, welches diese Winterwanderung zwei Tage nach Weihnachten doch noch unterhaltsam macht – obwohl sie mit einem lang gezogenen Gesicht losgestapft ist. Denn Spaziergänge findet Sophia normalerweise gähnend langweilig. Zum Glück hat ihre Mutter Bilder von Tierspuren aus dem Internet ausgedruckt. Wenn jemand die Zeichenkünste des Malers richtig deutet, erhält er einen Punkt, genauso wie der Zeichner selbst. Kommt keiner drauf, gehen alle leer aus. Sophia weiß, dass sie die Spuren eigentlich viel zu groß gemalt hat. Also bohrt sie mit dem Stecken lauter kleine Punkte in den Schnee, zeichnet eine Lupe daneben und einen Strich zu der zuerst gemalten Spur, damit die anderen verstehen, dass es sich dabei um eine Vergrößerung handelt.
„Das sieht ja jetzt ganz anders aus!“, beschwert sich Max.
„Maus?“, rät Veronika.
Sophia nickt heftig. „Ja, Spitzmaus“, freut sie sich und klatscht begeistert in die Hände.
„Dann geht ein Punkt an Veronika und einer an Sophia. Max liegt jetzt nur noch mit einem Punkt Vorsprung vor den beiden in Führung“, fasst Papa zusammen und übernimmt als Nächster das Zeichnen. Die Spur erkennt Sophia sofort: Die beiden Vorderpfoten sind nebeneinander und etwas länger, die hinteren immer auf einer Linie. Sie will gerade „Feldhase“ sagen, als ein anderes Muster im Schnee ihre Aufmerksamkeit fesselt.
Die Spuren laufen hinter ihr vorbei in Richtung Wald. Aber sie sind von einer etwa erwachsenenhandbreiten Furche, die sich schlangenförmig dahinschlängelt, fast vollständig zerstört. Tief über den Schnee gebeugt, folgt Sophia der Spur zwei Schritte – bis sie einen Abdruck findet, der noch heil ist. Der längliche Fuß sieht vorne flach gedrückt aus wie ein Teller. Aber eine Entenplatsche sieht anders aus. Was ist das?
„Sophia, wir gehen weiter!“, hört sie ihre Mutter rufen.
„Nein, schaut mal her! Da ist eine ganz komische Spur.“
Wenig später starren alle neugierig auf Sophias Entdeckung.
„Mhm ... sieht aus wie ein Schlitten mit einer breiten Kufe“, meint Max. „Aber das Zugtier scheint betrunken zu sein, so wie das hin und her wackelt.“
„Vielleicht zieht ein Fuchs einen Koboldschlitten oder der Weihnachtswichtel fährt damit“, schlägt Mama vor.
Max lacht auf. „Genau, ein weißer Schlitten mit schmiedeeisernen Schnörkeln und goldenen Mustern. Oben liegt das weiße Minifell eines Schneehasen. Und darauf thront der Oberweihnachtswichtel in einem roten Mantel und schwingt die Peitsche.“
„So ein Blödsinn. Die Spuren passen nicht zu einem Fuchs – die hat Veronika doch vorhin gemalt“, sagt Sophia. „Mama, kann ich mal die restlichen Karten haben?“
Gemeinsam vergleichen sie alle Spuren mit der im Schnee. Aber keine ähnelt ihr auch nur annähernd.
„Lasst uns doch der Spur nachgehen“, schlägt Sophia vor und drückt fest die Daumen, dass Mama und Papa Ja sagen.
„Eigentlich sollte ich langsam kochen. Ihr wisst, mittags kommen Oma und Opa zum Essen zu Besuch. Das Hähnchen und das Gemüse müssen lange im Ofen garen“, erwidert Mama.
„Bitte“, bettelt nun auch Veronika.
„Okay, wir können der Spur noch ein Stück nachgehen. Aber in einer halben Stunde müssen wir spätestens umkehren“, beschließt die Mutter.
Wenig später stapfen die fünf vorsichtig hintereinander neben der Spur durch den Schnee, denn sie wollen diese auf keinen Fall zerstören. Sie überqueren das Feld und folgen den Fußabdrücken dann in den Wald hinein.
„Aua!“, ruft Mama. „So ein blöder Weg!“
Konzentriert klettert Sophia zwischen zwei Ästen einer Fichte hindurch ihrer Mama hinterher. Die Bäume stehen so dicht, dass sie nur schwer vorankommen.
„Sieht irgendjemand noch die Spur?“, fragt Papa.
Alle schütteln den Kopf.
„Also, ich bin dafür, dass wir umkehren“, wirft Mama ein.
„Nein!“, schreien Sophia und Veronika zusammen.
Sophias Kehle schnürt sich zu – auf keinen Fall will sie jetzt schon aufgeben. „Wahrscheinlich haben wir die Spur selbst zerstört, weil wir nicht richtig aufgepasst haben. Weil ihr immer so schnell vorprescht. Veronika und ich wollten doch vorgehen“, mault sie.
„Ein bisschen ein anderer Ton, Fräulein! Und jetzt keine Diskussionen mehr. Wir gehen zurück“, schimpft Mama. Sophia kullert eine Träne über die Wange.
„Wisst ihr was, wir fotografieren die Spur auf dem Feld. Und dann gehen wir morgen zu einem Förster und fragen ihn einfach, von welchem Tier sie stammt. Einverstanden?“, schlägt Papa vor.
„Ich hab was gesehen!“, schreit Veronika in diesem Moment. „Da ist was gehuscht! Was Braunes ... wie ein Bär.“
Sophias Herz pocht schneller. Hibbelig tänzelt sie von einem Fuß auf den anderen. Sie wollte schon immer mal einen Bären sehen – in freier Wildbahn, nicht nur im Zoo.
„Aber ein Bär, der ist doch viel zu groß für diese Spuren“, widerspricht Mama.
„Vielleicht ein Babybär“, schlägt Sophia vor. „Wo genau hast du ihn denn gesehen?“ Sie dreht sich zu Veronika um.
„Und was soll der hinterherziehen?“, fragt Max.
„Vielleicht hat er zu Weihnachten etwas geschenkt bekommen – eine Kuscheldecke zum Beispiel“, schlägt Sophia vor.
„Quatsch!“, sagt Max. „Außerdem gibt es keine Bären in Königsdorf. Der einzige Bär in Bayern war Bruno – und den haben sie erschossen“, fügt er rechthaberisch hinzu.
„Aber wir können doch trotzdem mal in die Richtung gehen, wo Veronika den Bären gesehen hat“, bittet Sophia.
„Zehn Minuten. Und dann möchte ich kein Gejammer hören, wenn wir zurückgehen“, gibt der Papa klar vor.
Sophia ist hochkonzentriert, als sie mit Veronika an der Spitze vorausläuft. Sie schaut in alle Richtungen, um auf keinen Fall etwas zu übersehen.
Neben dem Knacken der Äste und dem Knirschen des Schnees unter ihren Füßen hört Sophia nun noch ein weiteres Geräusch: ein leises Glucksen. Wenig später stehen die fünf an einem Bach. Ein riesiger Haufen Äste liegt darin und staut das Wasser auf. Sophia geht in die Hocke, um die Konstruktion genauer zu betrachten. Zwischen den feinen Ästen stecken auch Steine und Schlamm.
„Ui, wir haben die Weihnachtswichtelhöhle gefunden“, grinst Papa, sodass sich dicke Grübchen in seine Backen graben.
„Aber das ist doch im Wasser. Die Wichtel würden nass werden und frieren“, überlegt Sophia.
„Vielleicht sind es ja Wasserwichtel“, sagt Max.
„Schaut mal“, flüstert Papa und zeigt auf das gegenüberliegende Ufer.
Sophia hält den Atem an. Aus dem Wald läuft ein braunes Tier mit einem breiten, flachen Schwanz. Es flutscht auf dem Bauch wie auf einer Schneerutsche das Ufer hinunter und taucht unter den Ästehaufen. Vor Erstaunen bleibt Sophias Mund offen stehen.
„Ein Biber!“, rufen die Geschwister gleichzeitig. Kein Wichtelschlitten zog die Schleifspur, sondern der Schwanz des Bibers.
„Jetzt müssen wir aber wirklich heim“, erinnert Mama sie.
„Erzählst du uns bitte etwas über Biber, Papa?“, fragt Sophia.
„Ich suche etwas über Biber im Internet und das lesen wir dann zusammen“, verspricht er. Sophia und Veronika lächeln und freuen sich jetzt auf das Mittagessen. Inzwischen haben sie nämlich einen Bärenhunger.
Andrea Bannert ist Wissenschaftsjournalistin, Autorin und Sprecherin. Sie schreibt gerne über verborgene Welten – manchmal der Fantasie entsprungen, manchmal real.
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Der stahlgraue Himmel drückte wie eine schwere Decke auf die Stadt. Er hörte die Glocken der St.-Annen-Kirche zum Gottesdienst läuten. Jeder Glockenschlag erinnerte ihn: Er würde zu spät kommen.
Katharina würde vor Wut schäumen. Ganz gleich, ob er das Geschenk, das sie sich sehnlichst wünschte, in der Tasche seines Mantels trug. Der Ring mit dem blauen Stein, einem richtigen Klunker, hatte ihn nicht nur ein kleines Vermögen gekostet. Aber Katharina war eine Frau, die Geschenke dieser Art erwartete. Schließlich feierten sie bereits das dritte Weihnachtsfest zusammen.
Aus einer Laune heraus – welcher Teufel ihn dabei geritten hatte, war ihm bis heute schleierhaft – hatte er ihr zusätzlich einen in allen Regenbogenfarben schillernden Kaschmirschal wenige Tage später gekauft. Er war ihm sofort ins Auge gefallen, als er Katharina auf einem ihrer zahlreichen Einkaufsbummel begleitet hatte, brachte er doch die Farbe und Heiterkeit in die trübe Jahreszeit, nach denen er selbst so lechzte. Er hatte sich vorgestellt, wie Katharina den Schal auf einem langen Winterspaziergang zu ihrem dunklen, eleganten Mantel trug. Erst zu Hause war ihm bewusst geworden, dass Katharina weder Spaziergänge noch Farbe liebte. Sehr wahrscheinlich traf der Schal nicht ihren Geschmack, dachte er freudlos. Katharina liebte es dezent, zurückhaltend, nicht auffällig. Eine Ausnahme machte sie lediglich beim Schmuck.
Hundert Meter bis zur Kirche – unter normalen Umständen keine Entfernung. Aber vor zwei Stunden hatte ein Eisregen die Stadt in eine einzige Schlitterbahn verwandelt, den Straßenverkehr lahmgelegt. Sein Vorschlag, direkt zur Weihnachtsfeier in das Haus ihrer Eltern zu kommen (dorthin konnte er relativ bequem mit der Bahn gelangen), war bei Katharina auf taube Ohren gestoßen. Er MÜSSE zur Kirche kommen, sie könne dorthin unmöglich ohne Begleitung gehen. All ihre Freunde, Bekannten seien dort. Ihre Familie. Was sollten sie denken? Außerdem hätte er es ihr VERSPROCHEN. Sie hatte getobt, als wäre es ein Kapitalverbrechen, Heiligabend nicht mit in die Kirche zu gehen.
Er war eine Person, auf die sich jedermann verließ. Katharina bildete darin keine Ausnahme.
Konzentriert, eine Schrittlänge abschätzend, warf er seinen Handschuh auf den gefrorenen Boden. Er trat auf das Stück Leder am Boden, um den nächsten Schritt zu gehen, rang um Gleichgewicht, fing sich. Und danach: Handschuh aufheben – werfen – Schritt. Immer wieder, unzählige Male das mühsame Prozedere von vorne. Zu quälender Langsamkeit verdammt, fühlte er sich wie in einem Albtraum gefangen, in dem er zu flüchten versuchte und nicht von der Stelle kam.
Warum hatte er sich bloß überreden lassen? Er bereute es längst. Schritt um Schritt, Meter um Meter kämpfte er sich vorwärts, während die Glocken weiterhin läuteten. Mit jedem Ton blieb ihm die Hoffnung erhalten, er könne es vielleicht noch schaffen. Läuteten Weihnachtsglocken nicht unendlich lang?
Nun die Straße: eine besondere Herausforderung. Das Kopfsteinpflaster war heimtückisch. Jeder der Steine war von einem buckligen Eispanzer überzogen. Für einen aberwitzigen Moment überlegte er, dass es das Beste wäre, auf allen vieren über die Straße zu kriechen – eine Methode, um sich dem Ziel schneller zu nähern. Er trug einen dunklen, teuren Anzug, darüber den schwarzen Wintermantel. Er verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Noch etwa zehnmal, rechnete er im Stillen, müsste er das Spiel mit dem Handschuh veranstalten, um die Straße zu überqueren. Zum Glück waren kaum Autos unterwegs.
„Könnten Sie ihn bitte schieben?“
Verwirrt blickte er auf, sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dort stand mitten auf der Fahrbahn, nur wenige Meter von ihm entfernt, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Neben ihr ein Esel. Tief versunken in Gedanken, seine Augen auf den Boden gerichtet, hatte er die beiden zuvor nicht bemerkt. Die Frau hatte sich auf einem verfilzten knallroten Wollschal auf das Eis der Straße gestellt und zerrte aus Leibeskräften an dem lumpigen Strick, der an das Halfter des Esels geknotet war. Allein das Tier wollte sich nicht von der Stelle rühren, war wie angewachsen auf dem Untergrund.
„Er keilt nicht aus.“ Ihr Gesicht, umrahmt von ungebändigten, dunklen Locken, war vor Anstrengung oder von der Kälte gerötet. Ihren Atem, der stoßweise ging, konnte er sehen: Vor ihrem Mund bildeten sich Wölkchen.
„Bildschön“, schoss es ihm durch den Kopf. „Wie ein wilder, schwarzhaariger Engel.“ Er starrte die junge Frau wie hypnotisiert an, als wäre sie eine überirdische Erscheinung.
„Bitte! Schieben Sie ihn über das Eis. Tun Sie mir den Gefallen. Er muss von der Straße.“
Jetzt sah er das dunkle, fast schwarze Braun ihrer Augen, in denen ein Bitten lag.
Mit Mühe löste er sich aus seiner Starre, vergaß prompt, seinen Handschuh zu werfen, machte zwei ungelenke Schritte auf die Straße. Es war rutschig wie auf einer Schlittschuhbahn oder schlimmer. Er erinnerte sich an seinen Handschuh, bemühte das Stück Leder abermals. Als er sicher stand, schob er das Tier am Hinterteil, während sie gleichzeitig zog. Der Esel selbst tat keinen einzigen Schritt, dennoch bewegte er sich vorwärts. Zentimeter für Zentimeter rutschte er über die Straße, im Zeitlupentempo gelangten sie mit dem Tier auf den Gehweg, lachten gemeinsam befreit auf.
Das Ungewöhnlichste, was ihm seit langer Zeit widerfahren war. Während sie den schmutzigen Schal in die ausgebeulte Tasche ihres viel zu großen Mantels stopfte, lächelte sie ihn voller Dankbarkeit an. Das Kleidungsstück sah furchtbar schäbig aus, bemerkte er jetzt erst, genauso wie ihre Schuhe und die zerschlissene Hose. Sein Blick wanderte zu ihrem Gesicht. Er sah eine verblichene Narbe an ihrem Kinn und fragte sich kurz, woher sie rühren mochte.
Sie blickte ihn mit diesen unglaublichen Augen direkt an, als wartete sie auf eine Reaktion von ihm, bis er schließlich den Blick von ihr abwenden musste. Am Himmel zeigte sich über ihnen ein kleines Stück Blau. Gleichzeitig fiel ihm die Stille auf, die sich über die Großstadt gelegt hatte. Eine friedvolle Stille – ungewohnt und feierlich zugleich. Erst dann bemerkte er, dass die Kirchturmglocken verstummt waren. Es bedeutete, er war zu spät.
Er hatte es vermasselt.
Seltsamerweise fühlte er keine Reue. Dass er in der Kirche nichts verpasste, dessen war er sich sicher. Hier hingegen – diesen Moment würde ihm niemand nehmen können. Er fühlte sich ungewöhnlich gut an.
„Ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen.“ Die Frau schenkte ihm ein süßes Lächeln. Dabei offenbarte sie eine kleine Lücke in der oberen Zahnreihe, die ihr etwas erfrischend Jugendliches, etwas nicht Perfektes gab. „Sie sind bestimmt auf dem Weg zu einer Feier. Fröhliche Weihnachten!“
Plötzlich durchzuckte ihn der Gedanke wie ein Blitz. Eine hervorragende Idee. Mit dem Gefühl der tiefen Überzeugung zog er den in rotes Seidenpapier eingeschlagenen Schal aus der Tasche und reichte ihn ihr.
„Fröhliche Weihnachten!“ Er beobachtete sie genau: ihr erstauntes Gesicht, die unbekümmerte Neugier. Wie sich ihr Gesichtsausdruck in ehrliche Freude, wie er sie sonst nur von Kindern kannte, verwandelte, als sie das Päckchen ausgewickelt hatte. Kein bisschen gekünstelt oder berechnend.
Im Überschwang, nichts anderes konnte es sein, bedankte sie sich mit einer festen Umarmung. „Danke schön!“
Es war wie ein Sonnenstrahl an diesem kalten Wintertag, der sich den Weg direkt zu seinem Herzen bahnte.
Sein schönstes Weihnachtsgeschenk seit Jahren.
Bettina Schneider: 1968 in Berlin geboren, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit. Sie schreibt Kurzgeschichten und Erzählungen, einige davon sind veröffentlicht. Hobbys: Lesen, Schreiben, Tagebuchschreiben, Spaziergänge und Joggen.
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