Endlichkeit und Vergänglichkeit

Eine Lyrik-Anthologie

Mathias Groll und Christian Walther

Inhalt

Vorwort

Herbst

Alter

Abschied und Gedenken

Abend

Sterben

Letzte Gedichte von Haiku-Meistern

Nacht, Schlaf, Traum

Tod

Zeit und Vergänglichkeit

Zweifel und Gelassenheit

Innehalten

Nachwort

Autorenverzeichnis

Überschriften und Anfänge der Gedichte

Über die Herausgeber

Vorwort

Einst werd ich liegen im Nirgend
bei einem Engel irgend.

Paul Klee

Wir legen hiermit eine Sammlung von Gedichten deutscher und ausländischer Dichterinnen und Dichter vor, die zu einer gelassenen Sicht auf die Endlichkeit menschlichen Lebens einlädt. Sterblichkeit ist nur ein Aspekt der Endlichkeit, die uns überall, nicht zuletzt in der Kunst begegnet. Es geht in diesem Buch weniger um das Sterben-Müssen („memento mori“) und nicht darum, den Tod zu „enträtseln“, - also etwas ergründen zu wollen, das uns gefühlsmäßig nicht zugänglich ist, jedoch durch einfache Analogien begreiflich wird, - etwa das Verlöschen einer Flamme oder das Enden eines Musikstücks. Sich mit der Vergänglichkeit abzufinden, kann uns helfen, gelassen zu bleiben und Freude am Leben zu bewahren, selbst wenn dieses bereits dem Ende zustrebt.

Trotz des schwierigen Themas ist dieses Buch vor allem für den Kunstgenuss gedacht. Man kann sich dabei gleichsam anlehnen an die Dichterinnen und Dichter, die uns in unterschiedlicher poetischer Form etwas mitteilen. Unser Wunsch ist, dass die Lektüre ein ruhiges Lebensgefühl begünstigt, vielleicht sogar trotz altersbedingter Einschränkungen oder Probleme. Dennoch ist diese Anthologie kein „Trostbüchlein“. Für diejenigen, denen das Alter Schlimmes bringt, oder für die, die trauern wegen des Verlusts einer geliebten Person, ist menschliche Zuwendung die wirksamste Hilfe, welche durch Literatur nicht ersetzt, wohl aber ergänzt werden kann.

Das Buch versucht einen großen Bogen zu schlagen vom beschwerlichen Alter bis zum entspannten, gefühlsbetonten Innehalten. Es ist thematisch in 10 Hauptkapitel gegliedert und enthält in der Mitte ein kurzes Kapitel mit Haikus und anderen japanischen Kurzgedichten, das mit einer kurzen Einführung in diese Literaturgattung beginnt.

Bei der Arbeit an diesem Buch erhielten wir wichtige Anregungen von unseren Ehefrauen, von Freundinnen und Freunden sowie von Fachleuten verschiedener Verlage. Allen sei dafür herzlich gedankt!

Mathias Groll - Christian Walther

Bremen - Marburg, August 2020

Herbst

Bunt sind schon die Wälder,

gelb die Stoppelfelder,

und der Herbst beginnt.

Rote Blätter fallen,

graue Nebel wallen,

kühler weht der Wind.

Johann Gaudenz
von Salis-Seewis

 

SEPTEMBERMORGEN

Im Nebel ruhet noch die Welt,

Noch träumen Wald und Wiesen:

Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,

Den blauen Himmel unverstellt,

Herbstkräftig die gedämpfte Welt

In warmem Golde fließen.

Eduard Mörike

VERKLÄRTER HERBST

Gewaltig endet so das Jahr

Mit goldenem Wein und Frucht der Gärten.

Rund schweigen Wälder wunderbar

Und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.

Ihr Abendglocken lang und leise

Gebt noch zum Ende frohen Mut.

Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.

Im Kahn den blauen Fluss hinunter

Wie schön sich Bild an Bildchen reiht -

Das geht in Ruh und Schweigen unter.

Georg Trakl

HERBSTTAG

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

Und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

Gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,

Dränge sie zur Vollendung hin und jage

Die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

Und wird in den Alleen hin und her

Unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke

HERBSTGEDANKE

Mach mich, o Herr, doch jenen Blättern gleich,

Die ich verwelkend heut im Sonnenlicht

Auf einer Ulme Gipfel zittern seh'.

Sie zittern, ja, doch nicht aus Furcht, so klar

Erscheint das Licht, und süß, sich von dem Zweig

Zu lösen und sich der Erde zu vereinen.

Sie leuchten auf im letzten Strahl, die Herzen

Schon ganz bereit; es hat der Tod für sie

Die Milde einer sanften Abendröte.

Lass mich wie sie vom höchsten Zweig mich lösen

Des Erdenlebens, ohne Klagelaut,

Erfüllt von dir, wie von dem Sonnenlicht.

Ada Negri

Komm in den totgesagten park und schau:

Der schimmer ferner lächelnder gestade -

Der reinen wolken unverhofftes blau

Erhellt die weiher und die bunten pfade.

Dort nimm das tiefe gelb - das weiche grau

Von birken und von buchs - der wind ist lau

Die späten rosen welkten noch nicht ganz

Erlese küsse sie und flicht den kranz -

Vergiss auch diese letzten astern nicht-

Den purpur um die ranken wilder reben -

Und auch was übrig blieb von grünem leben

Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

Stefan George

In doppelter Ährenhöhe

schweben die Engel der Unkrautsamen

langsam zum Friedhof hinüber.

Verlöscht sind die heurigen Kerzen

der goldenen Löwenzähne,

feurig werden sie aufgehen

über den Leibern der Toten

und mir im Herzen schon bald.

Christine Lavant

Fallt, Blätter, fallt! Sterbt, Blumen, dahin!

Nacht, werde länger, und kürzer, Tag!

Jedes Blatt, vom Herbstbaum flatternd,

spricht zu mir Seligkeit.

Ich werde lächeln, wenn Kränze aus Schnee

blühen, wo sonst die Rose wächst;

singen werd' ich, wenn ausklingend die Nacht

trüberen Tag führt herauf.

Emily Jane Brontë

VERFRÜHTER HERBST

Schon riecht es scharf nach angewelkten Blättern,

Kornfelder stehen leer und ohne Blick;

Wir wissen: eines von den nächsten Wettern

Bricht unserm müden Sommer das Genick.

Die Ginsterschoten knistern. Plötzlich wird

Uns all das fern und sagenhaft erscheinen,

Was heut wir in der Hand zu halten meinen,

Und jede Blume wunderbar verirrt.

Bang wächst ein Wunsch in der erschreckten Seele:

Dass sie nicht allzusehr am Dasein klebe,

Dass sie das Welken wie ein Baum erlebe,

Dass Fest und Farbe ihrem Herbst nicht fehle.

Hermann Hesse

DIE TAGE FALLEN

Die Ernten sind eingebracht.

Nur noch die Flüsse wachsen

und flicken die zerrissene Erde.

Die Tage fallen mit dem Laub

ins Dunkle,

verlöschen in schwebenden Feuern

und steigen als Rauch in die Nacht.

Die Glocken erschrecken den Himmel,

läuten die Kälte ein.

Wolfgang Bächler

HERBST

O trübe diese Tage nicht,

Sie sind der letzte Sonnenschein;

Wie lange, und es lischt das Licht

Und unser Winter bricht herein.

Dies ist die Zeit, wo jeder Tag

Viel Tage gilt in seinem Wert,

Weil man's nicht mehr erhoffen mag,

Dass so die Stunde wiederkehrt.

Die Flut des Lebens ist dahin,

Es ebbt in seinem Stolz und Reiz,

Und sieh, es schleicht in unsern Sinn

Ein banger, nie gekannter Geiz;

Ein süßer Geiz, der Stunden zählt

Und jede prüft auf ihren Glanz -

O sorge, dass uns keine fehlt,

Und gönn uns jede Stunde ganz.

Theodor Fontane

ASTERN

Astern -, schwelende Tage,

alte Beschwörung, Bann,

die Götter halten die Waage

eine zögernde Stunde an.

Noch einmal die goldenen Herden,

der Himmel, das Licht, der Flor,

was brütet das alte Werden

unter den sterbenden Flügeln vor?

Noch einmal das Ersehnte,

den Rausch, der Rosen Du -

der Sommer stand und lehnte

und sah den Schwalben zu,

noch einmal ein Vermuten,

wo längst Gewissheit wacht:

die Schwalben streifen die Fluten

und trinken Fahrt und Nacht.

Gottfried Benn

HERBSTBILD

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!

Die Luft ist still, als atmete man kaum,

Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,

Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

O stört sie nicht, die Feier der Natur!

Dies ist die Lese, die sie selber hält,

Denn heute löst sich von den Zweigen nur,

Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.

Friedrich Hebbel

Alles zusammen,

der erlittenen Schmerzen

ungekannte Zahl,

taucht in tiefere Farben

zur Abendstunde im Herbst.

Yoshitsune

DER HERBST

Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen,

Wo sich der Tag mit vielen Freuden endet,

Es ist das Jahr, das sich mit Pracht vollendet,

Wo Früchte sich mit frohem Glanz vereinen.

Das Erdenrund ist so geschmückt, und selten lärmet

Der Schall durchs offene Feld, die Sonne wärmet

Den Tag des Herbstes mild, die Felder stehen

Als eine Aussicht weit, die Lüfte wehen

Die Zweig und Äste durch mit frohem Rauschen,

Wenn schon mit Leere sich die Felder dann vertauschen,

Der ganze Sinn des hellen Bildes lebet

Als wie ein Bild, das goldene Pracht umschwebet.

Friedrich Hölderlin

HERBST

Der du die Wälder färbst,

Sonniger, milder Herbst,

Schöner als Rosenblühn

Dünkt mir dein sanftes Glühn.

Nimmermehr Sturm und Drang,

Nimmermehr Sehnsuchtsklang;

Leise nur atmest du

Tiefer Erfüllung Ruh.

Aber vernehmbar auch

Klaget ein scheuer Hauch,

Der durch die Blätter weht,

Dass es zu Ende geht.

Ferdinand von Saar

HÄLFTE DES LEBENS

Mit gelben Birnen hänget

und voll mit wilden Rosen

das Land in den See,

Ihr holden Schwäne,

Und trunken von Küssen

Tunkt ihr das Haupt

Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm' ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein,

Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen.

Friedrich Hölderlin

BLUMEN UND WILDER KLEE

Schnee tut allen Vögeln weh!

hört ihr sie noch singen?

doch sicher wird wie eh und je,

wie Blumen und wie wilder Klee,

dem Tod ein Lied entspringen.

winter nimmt auch mir das Brot,

läßt mir nur das Leid.

er löscht mir aus das Lippenrot,

jede Maid hält mich für tot

und färbt sich schwarz das Kleid.

doch sicher läßt ein neuer Tanz

mich auferstehn und es wird ganz

in Minne und wie eh und je

bei Blumen und bei wildem Klee

dem Tod mein Lied entspringen.

Walther von der Vogelweide