Alle Rechte vorbehalten.
Außer zum Zwecke kurzer Zitate für Buchrezensionen darf kein Teil dieses Buches ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlag nachproduziert, als Daten gespeichert oder in irgendeiner Form oder durch irgendein anderes Medium verwendet bzw. in einer anderen Form der Bindung oder mit einem anderen Titelblatt als dem der Erstveröffentlichung in Umlauf gebracht werden. Auch Wiederverkäufern darf es nicht zu anderen Bedingungen als diesen weitergegeben werden.
Copyright der Originalausgabe © by Daniel Meurois, 1995
Titel der Originalausgabe: »Visions Esséniennes - Le Feu féminin ... dans deux fois mille ans«
Veröffentlicht in Partnerschaft mit Maurice Baldensperger und Francis Hoffmann GbR »Publish Vision«
info@publishvision.de
Copyright der deutschen Ausgabe © 2016 Verlag »Die Silberschnur« GmbH
ISBN 978-3-89845-503-9 (Print)
ISBN 978-3-89845-934-1 (E-Book)
1. Auflage 2018
Übersetzung: Peter Schmidt
Umschlaggestaltung: XPresentation, Güllesheim; unter Verwendung eines Motivs von © javarman, www.fotolia.de
Verlag »Die Silberschnur« GmbH
Steinstraße 1 · D-56593 Güllesheim
www.silberschnur.de · E-Mail: info@silberschnur.de
Inhalt
Zur Einführung:
Die Frage nach dem Wie und Warum
Zweimal tausend Jahre …
Vor der Tür
In jeder Frau schlummert eine Frau
Das Myriam-Prinzip
Meine Worte sind Revolution
Das Rom-Prinzip
Benjamin
Das Prinzip der Taube
Der Weg nach Jappa
Anhang
Die Akasha-Chroniken:
Wie dieses Buch entstanden ist
Anmerkungen zu den Eigennamen
Über Daniel Meurois
An die Kommende
Zur Einführung: Die Frage nach dem Wie und Warum
Ist man von »etwas« bewohnt, das einen zum Schreiben und zum Aussagen drängt, hat man in der Regel nicht die Wahl, welches Thema man behandeln möchte. Es steigt vielmehr auf aus dem Inneren des Ich, beginnt vor den Augen der Seele zu leben und sprudelt dann um jeden Preis aus der Feder! Und genau das geschah auch, wie schon so oft, beim Niederschreiben dieses Buches. Es kam regelrecht auf mich zu, obwohl ich innerlich zögerte, erneut in die Dimension der Vergangenheit zu investieren.
In der Tat stellte es sich so dar, als ginge es lediglich darum, mittels der Lektüre der Akasha-Chronik einige weitere Elemente der ursprünglichen christlichen Lehre zu finden, vergessene Spuren, von der Zeit verwischt oder auch von einer Reihe mächtiger Dogmen abgelehnt.
Ich habe mich also Tag für Tag daran gesetzt, den Worten und Taten jenes Mannes, den wir einst Christus, Rabbi oder auch Meister nannten, wie den Teilchen eines verstreuten Puzzles nachzuspüren. Ein verwirrendes und umwerfendes Unterfangen, das mich vornehmlich, auf eine bestimmte Art und Weise, einen Freund wiederentdecken ließ.
Und die folgenden Seiten sind nichts anderes als der Versuch, Sie, lieber Leser, liebe Leserin, diesen Freund, diese Wärme des Herzens aus nächster Nähe erleben zu lassen.
Spricht man von der Vergangenheit und vor allem von jener mächtigen Vergangenheit, die während Jahrtausenden Hoffnungen erweckt und auch eine gewisse Vorstellungskraft genährt hat, kommt man nicht umhin, so etwas wie Nostalgie zu empfinden.
Allerdings möchte dieses Buch alles andere als dieses Gefühl hervorrufen. Die Vergangenheit ist weder schöner noch grandioser als die Gegenwart. Sie ist lediglich anders. Die von der Natur gegebene Fähigkeit, tief in diese Vergangenheit zu tauchen, liefert hierfür den Beweis!
Dieses Buch wurde also nicht etwa verfasst, um seinen Lesern die Flucht aus dem immer schwieriger zu verstehenden und zu erlebenden Hier und Jetzt zu erleichtern, genau das Gegenteil ist der Fall!
Die Notwendigkeit und der Wille, authentische Wurzeln zu finden, bedeutet keineswegs einen Schritt rückwärts, noch lädt diese »spirituelle Romantik« dazu ein, aus der alltäglichen Wirklichkeit zu fliehen.
Unsere Wurzeln sind eine Art von Verankerung, von Erdung und können so zu einem Bezugspunkt werden; auf keinen Fall aber dürfen sie einen Vorwand liefern, um sich dahinter zu verstecken.
In unserem konkreten Fall gibt es auch nichts zu verstecken! Die Christus-Lehre, wie sie in ihrer ganzen Größe heute erscheint, lädt eher dazu ein, ein Gesamtbild von Wirklichkeiten zu offenbaren, die uns eben dazu bringen sollen, hinter unseren Schutzschilden hervorzukommen und einen mutigen Schritt nach vorne zu machen. Das Abstreifen unserer Schuppen, das Ablegen unserer Dornen ist das Ziel, das wir uns gesteckt haben. Und so bleibt auf diesen Seiten, wie sie aus der Erinnerung der Zeit auftauchen, auch kein Platz für eine gewiss angenehme, vor allem aber sterile Nostalgie.
Diese Zeilen möchten Zeugnis ablegen von einem Feuer, das keine angenehme Wärme erzeugt. Denn ununterbrochen lehrt uns das Leben, dass es eine Zeit für alles gibt und dass das Jetzt sich gewiss nicht durch diese Wärme auszeichnet. Aber Vorsicht, eine solche Wärme hat nichts mit einem möglichen Gleichgewicht zwischen warm und kalt zu tun; sie ist gleichbedeutend mit Nicht-Engagement, mit Nicht-Wahl. Wir, die Jünger des Lebens, können diese Nicht-Entscheidung nicht weiterhin aufrechterhalten, sobald wir uns die Dinge, um die es heute geht, auch nur ansatzweise bewusst machen.
Die hier vorgelegten Beweise sollen nicht etwa in zwei Tagen heruntergelesen und dann in eine Bibliothek zwischen schöngeistigen Romanen eingeordnet werden. Sie sollen vielmehr die Erinnerung auffrischen, falls notwendig, sie auch ein wenig wachrütteln … denn im Grunde brauchen wir vielleicht am Ende dieses Jahrtausends etwas, das uns aufrüttelt. Gibt es doch nur eine einzige Katastrophe, die wir ernsthaft zu fürchten haben: das Vergessen.
Alles deutet darauf hin, dass die Zeit gekommen ist, in der das Leben uns auf hundertfache Art und Weise die Kraft gibt, dieses Vergessen aus unserem Herzen zu verbannen. Ein Vergessen nicht nur in Bezug auf das Vergangene, sondern auch in Bezug auf das, was ist, also folglich auch in Bezug auf uns selbst.
Das Buch, das Sie nun in den Händen halten, ist also ein Buch des Wiedersehens, ein Buch, dessen Text ständig zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hin- und herwandert. Parallel dazu beschreibt es ein Hin und Her zwischen dem Element in uns, das nie vergeht, und der zögernden, in Frage stellenden, unter Gedächtnisschwund leidenden Seite unseres Wesens.
Einige Monate ständigen Erkundens in den Akasha-Chroniken haben mir gezeigt, wie groß die Ähnlichkeit zwischen den christlichen und essenischen Zeiten und dem Heute ist. Immer wieder gibt es die gleiche Fragestellung, die gleichen Hoffnungen und übersteigerten Leidenschaften. Palästina und die römische Welt haben sich lediglich mit ihren Verhaltensmustern auf den gesamten Planeten Erde ausgeweitet; die Temperamente und Prinzipien bleiben stets die gleichen. Das Leben lässt sie nur eine andere Bedeutung haben, damit wir uns am Fuße einer Mauer befinden … denn nur in einer solchen Situation vor einer Mauer sind wir in der Lage, uns zu einem Umdenken zu entschließen.
Die folgenden Zeugnisse belegen in der Tat nichts anderes als die Notwendigkeit eines radikalen Umschwungs. Sie unterstreichen den revolutionären Charakter eines Christus, den unsere heutige Welt sicherlich braucht, um aus den festgefahrenen Spuren herauszukommen.
Ich hoffe, dass Sie in diesen Zeilen ein wenig von der notwendigen Inspiration finden, um in Ihnen eine umfassendere Liebe aktiv werden zu lassen.
Daniel Meurois
Zweimal tausend Jahre …
Wir standen an diesem Tag auf den Höhen über dem See Genezareth. Durch die dornigen Büsche hindurch, die sich hier und da an die Felsen klammerten, sah man in der Ferne die flachen Dächer des kleinen Ortes als weiße oder ockerfarbene Flecken. Man schaute auf eine steinige Straße, die sich durch ein paar Mandelbäume und Zypressen am See entlangschlängelte. An diesem frühen Morgen drängten sich viele Menschen auf diesem Weg: Händler mit ihren schwer beladenen Eselskarren, Reisende aus fernen Gegenden, aber auch einige kleine Trupps römischer Soldaten.
Wir waren etwas mehr als hundert Leute und beobachteten schweigend dieses bunte Treiben, während die Fischerkähne auf dem Wasser wie in einem langsamen Tanz ihre Bahnen zogen.
Mitten unter uns saß der Meister und sagte kein Wort, wie immer am Anfang, wenn er uns um sich versammelte. Wir wussten, dass er bald reden würde, aber Zeit spielte hier keine Rolle.
Bald waren es schon zwei Jahre, dass wir an seiner Seite über die steinigen Wege durch Galiläa, durch Samarien und durch Judäa wanderten, und die meisten von uns hatten bereits so viele Dinge erlebt, dass die Zeit in der Tat nichts mehr bedeutete … oder nur sehr wenig.
Wenn wir so versammelt waren, hatte unsere Form von Meditation nichts von dem an sich, was man sich normalerweise darunter vorstellt; Meditieren war für uns wie das Öffnen unserer Pforten gegenüber allem, was uns umgab. Es war eine einfache, natürliche und naive Gabe an das Stückchen Natur, das uns hier empfing. Wir wussten, dass der Meister nicht mehr verlangte und dass so unsere Herzen rein waren, wenn er zu sprechen begann.
Jedes Mal, wenn er uns an einen Ort außerhalb der Stadt bestellte, sagte er uns Dinge, die nur wenige hören konnten. Aber niemand unter uns schien deswegen wirklich stolz zu sein. Wir verstanden nur allzu gut, was dies an Verantwortung bedeutete, und wir fingen an, die Rolle des Netzwerkes zu erahnen, das sich zu spinnen begann.
Genau genommen war unsere Gruppe ziemlich bunt zusammengewürfelt; es gab einige Fischer, drei oder vier Kaufleute, die ihre Läden aufgegeben hatten, einige reiche Sadduzäer, zahlreiche Frauen, denen die Leute aus den Dörfern bereits alles Erdenkliche vorwarfen, einige Therapeuten, vornehmlich aus der Familie der Essener, ein paar Handwerker, relativ wenig gebildete Leute und einige römische Bürger.
Endlich war der Augenblick gekommen, in dem die große helle Gestalt des Meisters sich erhob, um zu Fuß zu einem alten Baum mit zarten Blättern zu schreiten. Sein Gesichtsausdruck war so streng, als wolle er uns eine Last aufbürden, die wir keineswegs erwarteten. Und doch lächelte er dabei und schaute jeden von uns mit einem Blick voll schönen und ewigen Einverständnisses an.
»Freunde …«, begann er mit fester Stimme, während wir uns lautlos in seine Nähe drängten, »Freunde, für wen, glaubt ihr, spreche ich?«
Umgehend erklang eine etwas erregte Stimme aus unserer Mitte.
»Aber … für uns alle, Rabbi … wir sind deine ersten Jünger … wir haben Vertrauen zu dir.«
»Und du, Elias, glaubst du an dich?«
Der kleine Mann mit den spärlichen Haaren, der so lebhaft reagiert hatte, war ganz verdutzt über diese Frage, während amüsierte Blicke ihn musterten.
»Ich frage dich nochmals, Elias, vertraust du dir?«
»Ich habe Vertrauen zu dir, Meister, und dies scheint mir ausreichend. Ich bin hier, um dich zu erkennen, um deine Worte aufzunehmen, und ich tue dies, so gut ich kann.«
»Aber vielleicht ist es gar nicht das, worum ich dich bitte, vielleicht ist es überhaupt nicht das, was ich in erster Linie von euch erwarte.«
Die spöttischen Blicke und das Gemurmel verstummten augenblicklich.
»Bitte, versteht mich nicht falsch … Ich erwarte, dass ihr zunächst Vertrauen in euch selbst habt. Nicht in euch, wie ihr euch hier seht, mit euren angespannten Gesichtern und euren Kleidern aus grobem Leinen oder feinen Stoffen … nein, in euch außerhalb jeglichen Alters, in euch … in das, was an ›euch‹ wahr und ewig ist. Ich wende mich nicht an diejenigen, die heute vor mir stehen.«
Eine andere Stimme, wesentlich ruhiger als die erste, erhob sich nun.
»Ich verstehe dich, Rabbi … Du willst zu unserer Seele sprechen; aber brauchst du nicht auch Männer und Frauen, die dich von heute an mit ihren Händen bei deiner Arbeit unterstützen?«
»Weißt du überhaupt, Simon … was heute ist? Das Heute verschmilzt mit der Ewigkeit und, in Wahrheit, spreche ich weniger zu den Menschen von heute als zu denen von immer. Ich säe in euch ein Samenkorn, ich belebe eine Sonne und lasse ein Wasser fließen, obwohl ich genau weiß, dass diese Hände, die du siehst, nichts ernten werden.«
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, brach eine Welle von Traurigkeit, vielleicht sogar von Verbitterung über uns herein, so sehr schienen uns plötzlich alle unsere insgeheim gehegten Hoffnungen von Grund auf erschüttert.
»Ja, meine Freunde, ihr müsst akzeptieren, dass die Früchte meiner Worte erst für morgen sind …«
»Ich verstehe nun nichts mehr, Meister!«, protestierte Simon sofort und stand mit Nachdruck auf, »du sprichst vom Hier und Jetzt und von der Kraft der Ewigkeit, die darin existiert, und dann brichst du unsere Hoffnungen, indem du plötzlich eine weit entfernte Zukunft ausmalst.«
»Der Messiah bist du selbst im Hier und Jetzt; neulich in der kleinen Gasse beim Tempel hast du dies auch nicht geleugnet!«
Die helle große Gestalt desjenigen, der all unsere Hoffnungen darstellte, begann nun, sich zwischen uns hin und her zu bewegen und mal hier, mal da ihre Hand auf einen Scheitel zu legen. Nach einem langen Schweigen sahen wir dann, wie sie Simon gegenüber Platz nahm.
»Die Welt derjenigen, die am Erwachen sind, erscheint stets voller Gegensätze. Man möchte immer ganz schnell, mit einem einzigen Blick, alles erfassen … Höre, mein Freund … Wenn man den Sinn des Begriffes Ewigkeit versteht, das heißt, wenn er etwas anderes bedeutet als nur eine Idee, dann beginnt man, im Hier und Jetzt zu sein, und man begnügt sich nicht damit, es einfach zu beobachten, sondern man beginnt, es zu trinken. Und in der Frische eines jeden Schluckes, den man zu sich nimmt, ist man bereits voll und ganz in dem, was die Menschen ›das Morgen‹ nennen. Dann spürt man und weiß in sich den Saft des ›Morgen‹, und dieser Saft nährt unser Aufblühen im Hier und Jetzt.
Wesenheiten werden zu Brücken … Ich bin eine Brücke, Simon, du bist auch eine, und ihr alle seid eine, ohne es allerdings zu wissen!«
»Aber welches Ufer sollen wir erreichen, Rabbi?«
»Es gilt, ständig ein anderes Ufer zu erreichen. Zunächst sind da deine eigenen Ufer, dann die der Welten, schließlich die der Zeit. Alles hängt nur von der Dimension ab, die du deinem Herzen gibst. Je mehr du spürst, wie du zur Brücke wirst, und je mehr du dies akzeptierst, desto weniger machst du dir um deine eigenen Ufer Sorgen …
Ich verrate dir ein Geheimnis, Simon … Ich habe Vertrauen zu euch!«
»Du hast Vertrauen zu uns?«
»Wenn dies nicht so wäre, glaubst du, mein Vater hätte mir diesen Körper und diese Füße gegeben, um mich auf euren Wegen zu bewegen? Ja, ich habe Vertrauen zu euch, und deswegen möchte ich auch die Brücke in euch aufzeigen, damit unsere Seelen auf diesem Weg die Sonne von einer Zeit in eine andere, von einer Welt in eine andere, von einem Herzen in ein anderes tragen können. Und jetzt verrate ich euch noch ein anderes Geheimnis …«
Während er noch so sprach, stand der Meister wieder auf, und seine Stimme wurde so ernst wie zuvor. Sein Blick schien sich im morgendlichen Dunst der Berge auf der anderen Seite des Sees zu verlieren …
»In zweimal tausend Jahren werden eine Zeit, eine Welt und ein Ufer auftauchen; dann werden meine Worte mehr Widerhall in euren Herzen finden als heute …«
»Zweimal tausend Jahre …?«
Jeder von uns blickte seinen Nachbarn an und wiederholte tonlos die Worte des Meisters. Für uns einfache Leute ging ein Begriff wie »zweimal tausend Jahre« über unser Vorstellungsvermögen hinaus. Die Tatsache, dass man von uns verlangte, eine Form von Unendlichkeit mit den Spitzen des Bewusstseins zu berühren, verwirrte uns aufs äußerste.
Eine etwas ältere Frau in reicher, nachtfarbener Kleidung versuchte, sich durch unsere Reihen zu schlängeln und sich dem Meister zu nähern.
»Was du uns sagst, Rabbi, tut uns weh. Du nimmst uns jede Hoffnung, diese Welt zu verändern.«
»Aber denkst du etwa, ich will vor allem diese Welt verändern? Dich möchte ich verändern, dich und euch alle. Mich interessiert nur das, was in euch ist … Und meine Aufgabe ist es, jede Hoffnung zu zerstören, die außerhalb dieses ›Was-ineuch-ist‹ entstehen kann. Ich werde immer versuchen, die Bande, die euch begrenzen, zu zerschneiden … aber diese hinderlichen Bande sind euch sehr oft wesentlich angenehmer als alle anderen. Zu sehr seid ihr darauf aus, gleichzeitig zu pflanzen und zu säen, und zwar nicht so sehr des Erntens wegen, sondern vor allem, um laut verkünden zu können, dass ihr zu denen zählt, die gepflanzt haben … Ich habe dich, Esther, und einige andere angeschaut, während die Sonne den See noch kaum in Farbe getaucht hatte. Und in eurem Blick und in eurer Kopfhaltung las ich so etwas wie einen Bruch …«
»Einen Bruch?«
»Ja, einen Bruch mit denen dort unten … mit denen aus Tiberias, aus Kapernaum und von überall. Ihr gehört zu denen da unten. Alle die, die ich rufe und die ich rufen werde, bleiben die von dort unten. Dies ist ihre erste Würde, eine Würde, die sich mit dem Vergessen verliert. Ich lehre euch eine Bescheidenheit, die nichts mit Kleinheit zu tun hat. Wenn ihr diesen Sinn nicht versteht, werdet ihr wirklich klein werden, weil ihr euch als groß anseht, als etwas anderes als die anderen und bereits in der Lage, an meiner Seite zu ernten.
Als ich euch einlud, mich heute Morgen auf diesen Höhen zu treffen, wollte ich euch keineswegs das Gefühl geben, so etwas wie meine auserwählten Wegbegleiter zu sein. Die sich bereits erwählt fühlen, tragen schwer an ihrer stolzen Bürde. Ich aber bürde euch etwas ganz anderes auf: Ich lade euch die Verantwortung für eure eigene Entwicklung auf. Es handelt sich hier um eine Bürde, deren Gewicht mir wohl bekannt ist und der sich niemand entziehen kann. Heute ist eure Zeit gekommen, diese Last zu entdecken. Heute muss in jedem von euch das Wesen Form annehmen, das tief in sich und weit nach vorne blickt.
Ich habe euch bereits gesagt … mein Reich ist nicht von dieser Welt … und ich füge nun hinzu: Es ist auch nicht von dieser Zeit, nicht auf dieser Welt … selbst wenn immer noch zwei oder drei unter euch das Gegenteil behaupten.«
Simon-Petrus und Jude, beide in einen langen Mantel aus minderwertiger brauner Wolle gewickelt, reagierten umgehend mit offensichtlicher Zustimmung.
»Ja, meine Freunde, selbst ihr dachtet noch vor nicht allzu langer Zeit genauso und handeltet in der einzigen Hoffnung, mich die Stufen zu irgendeinem Thron hinaufsteigen zu sehen.
Aber bevor dies so sein wird, da könnt ihr sicher sein, müssen noch viele Dinge in Fäulnis übergehen und viele andere sich abnutzen.«
»Kannst du uns diese Dinge nennen, Rabbi?«
Levi, der etwas außerhalb unserer Gruppe aufeinem großen Stein saß, hatte diese Frage eingeworfen. Mit seinem weiten, ockerfarbenen Kleid mit weißem Saum hob er sich deutlich von den anderen ab. Er stellte dem Meister stets abrupte Fragen und strich sich dabei jedes Mal mit der Hand durch die Haare, was bei uns stets ein amüsiertes Lächeln hervorrief.
»Dies gehört zum Plan meines Vaters, Levi, aber hierfür müsst ihr mir schon ein wenig weiter in die Berge folgen. Sein Wille ist es nicht nur, dass ihr hört, sondern dass ihr auch seht und dass ihr auch berührt, damit dies alles in eurem Innersten für die kommenden Jahrhunderte eingegraben ist und damit die Tiefe dieser Spur euch die Kraft gibt, auf ewig nach seinem Willen zu leben und zu handeln.«
Ohne zu warten, ließ der Meister uns aufstehen. Hinter ihm nahmen wir einen schmalen Pfad, der weiter in die Berge führte. Durch Dornensträucher und Ginster hindurch schlängelte sich der Weg bis auf eine flache Anhöhe, die mit einem Teppich von gelben Blüten bedeckt war. Beim Durchschreiten dieses Teppichs wurden unsere Füße von einem so frischen Tau benetzt, dass diese Erinnerung noch bis heute in uns lebendig ist. Unsere Wanderung dauerte eine ganze Weile und ließ uns eine Reihe von kleinen Tälern mit Schafherden entdecken. Sogar ein Raubvogel begleitete uns einige Augenblicke und stieß plötzlich einen schrillen Schrei ins Blau des Himmels aus, als wolle er die Tiefe unseres Schweigens ergründen.
Und dann kamen wir schließlich zu einer Stelle, die es nur im Gebirge gibt, eine Art Felsennest, das die Natur selbst in die Bergflanke gegraben hatte. Das Gras war spärlich hier, und die trockenen Halme knisterten unter unseren Schritten und erfüllten die Luft mit ihrem wilden Duft.
»Setzen wir uns hier nieder«, meinte derjenige, dem wir gefolgt waren. Und während er dies noch zu uns sagte, schien bereits etwas in ihm nicht ganz mit uns zu sein. Sein Bewusstsein war wie an einem entfernten Horizont, aber niemand von uns wagte es, ihm diesbezüglich eine Frage zu stellen, wurde es doch für uns immer deutlicher, dass nunmehr die Höhen unserer Seele gefordert waren.
Nachdem wir endlich alle Platz genommen hatten und er sich uns gegenüber hingesetzt hatte, breitete sich ein tiefes, unendlich feierliches Schweigen aus. Sobald dieses ganz in uns eingedrungen war und auch das Felsennest voll eingenommen hatte, fühlten wir uns unwiderstehlich vom Blick des Meisters angezogen, wenn auch seine Augenlider noch geschlossen waren. Irgendetwas an ihm rief in unseren Herzen eine Art Schwebezustand hervor. Dieses ›Etwas‹ brachte plötzlich all unsere Zweifel zum Verstummen und überzog uns gleichzeitig mit einem Frieden unbekannter Art.
Sehr schnell schien das Gebirge um uns herum nicht mehr zu existieren, und auch ein jeder von uns, in seiner körperlichen Form, schien außerhalb der Realität. Ein Schleier von grauer Transparenz umgab endlich unsere Wesen und vermittelte den sonderbaren Eindruck, zu einer einzigen großen Familie zu gehören und doch gleichzeitig unendlich allein zu sein …
Aus dem hellen Dasein des Meisters schnellte plötzlich, blitzartig, ein Wort:
»Seht …«
Der Schleier, der uns umgab, schien zu zerreißen und sich in seiner Mitte zu teilen, wie die glatte Oberfläche des Wassers, aus der plötzlich ein mächtiges Bild auftaucht.
In diesem Augenblick geschah das Unglaubliche. Mit einer erstaunlichen Deutlichkeit begannen sich Szenen vor unseren Augen abzuspielen. Zunächst sahen wir Armeen, lange Marschkolonnen von Männern, die entweder in schweren Metallkleidern steckten oder in Lumpen daherkamen. Einige saßen zu Pferd, andere waren zu Fuß, aber alle waren angeschlagen. Hinter oder neben ihnen sahen wir Karren, die mit großen, ausgewaschenen Planen bedeckt waren, und weibliche Gestalten, die sich mehr schlecht als recht dahinschleppten. Sehr schnell waren wir mitten im Kampfesgetümmel, umgeben vom Klirren der Schwerter, dem Schlagen der Hufe, den Schreien und dem herumspritzenden Blut. Überall gab es Kreuze, seltsam scharlachrote Kreuze. Auf den Fahnen, aufden Brustharnischen, auf dem kleinsten Lumpen … Sie waren aufgepflanzt wie ein Zeichen zum Sammeln, gegen das andere Männer mit zerfurchtem Gesicht anliefen. Wir verstanden nichts … Würde es so in zweimal tausend Jahren sein? Wir waren gleichzeitig erschrocken, hin- und hergerissen, versteinert und wunderbar offen all dem gegenüber … Nein, dies hatte nichts mit einem Traum zu tun, dies spielte sich irgendwo ab, in jener Zukunft, die in uns lebte und von der das Leben sicherlich verlangte, dass wir ihre verschlungenen Wege erforschen.
»Rabbi, Rabbi!«, schrien einige. Aber der Meister blieb schweigsam und ließ dieses Schweigen auf uns einwirken.
Weitere Bilder folgten den ersten. Da gab es einen Scheiterhaufen, in dessen züngelnden Flammen man menschliche Silhouetten wahrnehmen konnte. Der Himmel war dunkel vom aufsteigenden Rauch, und diese Szene spielte sich am Fuße eines Berges ab, an dessen Spitze sich eine Burg schmiegte. Seltsame riesige Maschinen aus Holz gab es da, ferner spitze Palisaden und auch wieder viele Männer mit starrem Blick, deren Lieder das Seufzen der Flammen zu übertönen versuchten.
Viele andere Szenen sahen wir noch vor uns, aber unsere Seelen konnten ihnen keinen Namen geben … Und dann immer wieder dieses Kreuz … Es überragte alles, wenn es, mit Gold und Edelsteinen geschmückt, auf eine Stange aufgesteckt war, oder es entfaltete sich in scharlachroter Farbe auf den Segeln der großen Schiffe; wir sahen dieses Kreuz sogar eingebrannt auf der Schulter eines dunkelhäutigen Mannes.
Endlich erhob sich sanft und friedlich die Stimme des Meisters; sie erreichte uns in unserem Inneren, während die Bilder weiterhin vor uns abliefen.
»Ich sage euch, meine Freunde, dies ist der Weg, den die Menschen dieser Welt in meinem Namen gehen werden. Schaut ihn euch an, aber verliert euch nicht darauf. Seht, wie eng sich hier Gold und Blut vermengen. Die Lust auf Macht wird diesen Weg zeichnen; aber urteilt nicht und bestraft niemanden. Ihr selbst werdet manchmal in Fußstapfen treten, in denen ich mich nicht wiedererkennen kann. Und dies muss auch so sein, denn mein Weg ist ein Weg der Freiheit. Schweigend ermuntere ich jeden von euch auf diesem Weg, der bis ins Innere der eigenen Irrtümer vordringen muss … Denn das Leben, das mein Vater in euren Adern fließen lässt, kann man nicht durch ein einfaches Aufsagen seines Namens erlernen. Man muss das Leben in alle Richtungen durchlaufen, bis zum letzten Meter all seine Winkel erforschen und es bis zur Neige leeren. Nur so wird es seinen Sinn, seinen Wert und sein wahres Sein enthüllen.
Die Freiheit ist das erste Geschenk meiner Seele an eure Seele. Dank dieser Freiheit kann man alles lernen und sich alles vertraut machen. Wenn ich euch sage ›liebt‹ und wenn ihr nicht ganz von Un-Liebe, von Hass vollgestopft seid, welchen Platz könntet ihr meinem Vater wirklich in eurem Inneren einräumen? Ihr würdet ihn nur halbherzig empfangen.
Schaut euch doch diese Bilder an, in deren Richtung die Menschheit sich bewegt und die sie bereits an ihren Brüsten ernährt. Sie sind aus dieser ›Un-Liebe‹ geformt, und doch reden sie alle von Liebe, auf ihre Art und Weise. Man kämpft jeden Tag um eine Sonne; der einzige Unterschied besteht in dem Namen, den man ihr gibt, und in dem Platz, den man ihr einräumt.
Ja, einige von euch werden zu diesen Männern und Frauen gehören, die sich hier vor euren Augen bekämpfen. Einige von euch werden in meinem Namen und dank der Freiheit ihrer Seele töten und werden schließlich erfahren, was es heißt, Sklave zu sein. Deswegen sind meine Worte erst für morgen, denn die Freiheit, die sie euch bringen, ist noch zu brennend heiß, als dass sie voll von euch aufgenommen werden könnte.
Schaut euch nun diese gemauerten Tempel an, die sich gen Himmel richten, diese Goldverzierungen und diese betende Menge. Die kommenden Jahrhunderte werden sie wieder neu entdecken, auch wenn sie heute bereits da sind …«
Noch lange folgte eine Szene der anderen. Wie außer Atem, bei erweitertem Bewusstsein, konnten wir keine Frage stellen. Und doch, bereits im Herzen dieser fremdartigen Bilder, in den Blicken, denen wir begegneten, und im Mosaik der künftigen Völker schien es etwas Unerfassbares zu geben, das uns trotzdem vertraut war, die Frucht einer Gewissheit, die tief in uns schlummerte.