Ab ihrem siebten Geburtstag sollen kleine Feen und Firne zur Schule gehen, so hat es die Feenkönigin vor langer Zeit bestimmt. Deshalb besucht Rosalie seitdem das berühmte Internat Blütenwald, in dem schon ihre Mutter die Schulzeit verbracht hat. Anfangs fühlte sich Rosalie ein bisschen fremd in der neuen Umgebung, aber dann schloss sie schnell Freundschaften und lebte sich wunderbar ein. Mittlerweile gehört die Blütenwaldschule deshalb genauso zu ihrem Leben wie ihr Zuhause, die Mooslichtung. Genauso wie ihre Freundin Nikki, ihr Freund Jokkel und all die zauberhaften Wesen, die in Rosalies Alltag eine Rolle spielen. Und genauso wie das Leeren des Feenbriefkastens. Dort hinterlassen Menschenkinder wie du ihre Wunschbotschaften. Vielleicht hast du dir auch schon gewünscht, einmal einer Fee zu begegnen? Einer echten Wunschfee, der du deine geheimsten Sehnsüchte mitteilen darfst?
Dann bist du hier genau richtig. In diesem Buch werden Wünsche wahr. Vielleicht ist es heute noch nicht dein Wunsch, aber das kann morgen schon ganz anders aussehen.
Gerade ist Rosalie im Stall bei ihrem Einhorn Jolanda. Ausmisten und Striegeln gehören für die kleine Fee inzwischen zu ihrem täglichen Programm. Aber so richtig ist Rosalie nicht bei der Sache. Sie sieht sich ganz verträumt im Stall um. Was da wohl los ist? Tritt ein in die Welt der kleinen Wunschfee Rosalie und ihrer Freunde.
»Rosalie?« Jolanda drehte den Kopf zur Seite und schnaubte belustigt. »Rosalie! Wenn du noch einmal die gleiche Stelle bürstest, habe ich da bald gar kein Fell mehr.«
»Wie – was … äh … was meinst du?« Die kleine Blumenfee sah ihr Einhorn überrascht an.
»Du striegelst schon zum fünften Mal meine rechte Flanke. Du bist gar nicht richtig bei der Sache. Woran denkst du, kleine Freundin?«
Rosalie gähnte. »Ich weiß auch nicht so genau. An nichts. An alles gleichzeitig. Vielleicht ist es einfach noch viel zu früh am Morgen. Ich kann heute gar nichts mit mir anfangen.«
Jolanda schüttelte die Mähne. »Wir könnten zusammen ausreiten. Oder du unternimmst etwas mit Nikki oder Jokkel. Vielleicht möchtest du Murxi am Murgelsee besuchen?«
»Langweilig«, brummte Rosalie. »Alles langweilig, habe ich alles schon tausendmal gemacht. Na ja, nicht ganz, aber … ich sehne mich nach … nach … etwas ganz Neuem, etwas …«
»Verstehe.« Jolanda nickte. »Du möchtest etwas erleben, stimmt’s? Etwas richtig Aufregendes.«
»Vielleicht … Ja, vielleicht ist es das …« Rosalie sah ihr Einhorn erstaunt an. »Aber woher weißt du das?«
»Ach, kleine Rosalie.« Das Einhorn pustete sanft in Rosalies Nacken. Jolandas Murmelaugen waren ganz weich und dunkel. »Hast du vergessen, dass wir eine ganz besondere Verbindung haben? Das war schon bei deiner und meiner Mutter so, sie wussten immer alles voneinander. Außerdem beobachte ich dich schon länger. Das Striegeln, das Füttern, der Schulunterricht, das Leben in der Blütenwaldschule – das fällt dir alles inzwischen so leicht. Du brauchst neue Herausforderungen.«
Rosalie dachte über Jolandas Worte nach. Tatsächlich waren der Benimmunterricht bei Frau Windhauch, Zauberkunde bei Alraune, Unterricht in Pflanzen- und Heilkunde bei Frau Lilienthal, die Flugstunden bei Firn Flirr und der Reitunterricht bei Elvira, der Werkelfee, inzwischen Alltag für sie.
»Kann sein, Jolanda, vielleicht habe ich mich wirklich längst an alles gewöhnt.« Rosalie lachte laut auf. »Manchmal habe ich das Gefühl, du kennst mich besser als ich selbst. Was also schlägst du vor? Hast du eine Idee?«
Das Einhorn knabberte zufrieden an ein paar Stängeln Heu. »Das, meine liebe Freundin, musst du dir schon selbst überlegen. Aber ich bin mir sicher, dass dir schon ganz bald etwas einfällt. Ich spüre es einfach. Pass nur auf, dass du dabei nicht für Ärger sorgst!«
Was Jolanda wohl mit ihren geheimnisvollen Andeutungen meinte? Rosalie biss sich auf die Unterlippe. Knittriger Kobold! Sie wusste genau, dass sie ihr Einhorn nicht weiter zu fragen brauchte. Wenn Jolanda der Meinung war, dass sie genug gesagt hatte, würde sie einfach schweigen. Trotzdem unternahm Rosalie noch einen Versuch: »Jolanda? Wenn du doch schon weißt, auf welche Ideen ich kommen werde … dann könnte ich mir doch die Zeit zum Nachdenken sparen und …«
Jolanda wieherte belustigt. »Kleine Rosalie, du gibst nie auf, stimmt’s? Aber du weißt doch – von mir erfährst du nichts mehr. Das war schon mehr als genug.«
Eine Weile striegelte die kleine Blumenfee ihr Einhorn schweigend weiter und dachte darüber nach, was ihr Spaß machen würde, was für besondere Dinge sie gern erleben würde. Gerade wollte sie Jolanda ein paar Ideen erzählen, da stürmte Nikki in den Stall.
»Beeil dich, Rosalie!«, rief sie. »Wir sollen noch heute zum Feenbriefkasten reiten. Du, Tuba, Dentine und ich. Jede von uns darf sich ihren persönlichen Brief holen.«
Rosalie runzelte die Stirn. »Warum Tuba? Hat Frau Windhauch das entschieden? Möchte Dentine nicht mit ihrer besten Freundin Mariella losziehen?«
»Unsere Schulleiterin kann nichts dafür. Die Wasserfässer, in denen die Feen der Tiefe sitzen, sind an einigen Stellen kaputtgegangen. Das liegt wohl daran, dass sich wegen der Kälte das Holz verzogen hat oder so … sagt zumindest Elvira. Auf jeden Fall sind die Schwänze der Meerjungfrauen ganz ausgetrocknet«, berichtete Nikki. »Und nun müssen sie sich im Rosenblütenteich erholen, bis Elvira die Fässer repariert hat. Deshalb bleibt Mariella in der Schule, und Tuba darf mit.«
»Beim Trollbalg!« Rosalie stöhnte. »In unserer Schule gibt es immer so viel zu tun. Elvira ist ständig beschäftigt. Ich weiß gar nicht, wie sie das schafft!«
Elvira, die rundliche Werkelfee mit den kurzen, strubbeligen Haaren, kümmerte sich um die Kutschen der Blütenwaldschule. Sie reparierte Möbel und Betten, sägte, hämmerte und bohrte. Elvira war nicht nur tüchtig und unersetzlich, sondern auch witzig und liebenswert.
»Also kommt nicht Mariella, sondern Tuba mit uns.« Rosalie zuckte mit den Schultern. »Warum auch nicht? Ich mag die kleine Wolkenfee sehr gern. Und Tuba freut sich bestimmt, wenn sie mal von der motzigen Sole wegkommt.«
Die kleine Wolkenfee kannte sich zwar gut mit allen Tieren aus, Feen und Firnen gegenüber war sie allerdings immer ein bisschen schüchtern. Ihre größte Bewunderung galt der hübschen Sternenfee Sole. Auf der einen Seite war Tuba deshalb stolz, dass Sole sie häufig als Gefährtin bei Ausflügen auswählte. Allerdings hatte sie in den letzten Wochen festgestellt, dass Sole sie manchmal ziemlich von oben herab behandelte. Rosalie störte dieses Verhalten mächtig. Um eine wirklich gute Wunschfee zu werden, arbeitete sie daran, zu allen gleich freundlich zu sein. Was ihr leider nicht immer gelang …
»Du bist ja lieb, du hast Achat schon geputzt.« Nikki umarmte ihr kieselgraues Einhorn mit der struppigen Mähne und dem silbernen Horn. »Danke, Rosalie.«
Rosalie nickte. »Du musst dich nicht bedanken. Du hast schon so viel für mich gemacht, Nikki.«
»Feenquatsch«, rief die kleine Nebelfee. »Das ist doch ganz normal. Schließlich sind wir beste Freundinnen. Und jetzt beeil dich, Rosalie! Die Einhörner von Tuba und Dentine nehmen wir gleich mit. Unsere Freundinnen besorgen schon den Proviant bei Pomeranza.«
»Hoffentlich gibt uns unsere Küchenfee wieder jede Menge Glückskakao mit. Das Picknick unterwegs ist immer so feenhauchschön!« Rosalie strahlte. »Auf zum Feenbriefkasten.«
Kaum saß Rosalie auf Jolanda, fühlte sie sich sicher und schwerelos. Auch Nikki, Tuba und Dentine genossen es, einmal nicht selbst fliegen zu müssen, sondern von ihren Einhörnern getragen zu werden. Vergnügt galoppierten sie über Felder und Wiesen, an Büschen, Bäumen und bunten Blumen vorbei. Am späten Vormittag erreichten sie den Murgelsee. Hier machten sie Station, um den Ufergrimseln und Murxi, dem Seeungeheuer, wenigstens kurz Hallo zu sagen. Während die anderen drei Feen müde von den Rücken ihrer Einhörner stiegen, gab sich Rosalie einen Ruck. Sie wollte Jolanda und den anderen Einhörnern zur Stärkung unbedingt ein paar Blumen an der steilen Uferböschung pflücken. Rosalie wusste, dass die Tiere die leuchtenden Sumpfdotterblumen besonders gern fraßen. Kaum hatte sie die ersten zarten Stängel gepflückt, begann die kleine Blumenfee fröhlich ihr Lieblingslied zu singen:
»Tautropfen mag ich sehr,
Sonnenschein mag ich noch mehr.
Und ganz besonders liebe ich …«
»Mich!« Murxi reckte den algenbekränzten Kopf aus dem Wasser. »Stimmt doch, oder?«
Klatsch! Watsch!