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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-688-6
Es war Vormittag. Die Hüttengäste waren nach einem kräftigen Frühstück zu ihren Hochgebirgstouren und Bergwanderungen aufgebrochen. Es war die Zeit zwischen der erledigten Morgenarbeit und den Vorbereitungen für das Mittagessen, die Toni und Anna für eine gemeinsame Pause nutzten. Die Kaffeepause auf der Terrasse der Berghütte war ein festes Ritual geworden. Sie saßen nebeneinander auf einer Bank. Toni legte den Arm um seine Anna.
»Wie schön die Aussicht ist, Toni! Die Luft ist heute besonders klar. Obwohl ich den schönen Weitblick jeden Tag genießen kann, erfreue ich mich immer wieder daran aufs Neue.«
»Ja, die schöne Natur, welch herrliches Gottesgeschenk! Ich bin dankbar, daß wir, du und ich, auf der Berghütte sein dürfen. Wir können unseren Traum hier leben.«
»Ja, Toni! Es ist wirklich ein Traum, so hoch oben mitten in den Bergen zu leben. Laß mich dir noch einmal sagen, wie glücklich ich mit dir bin!«
Toni schaute Anna in die Augen. Dann näherten sich ihre Lippen und sie küßten sich wie ein junges Paar, dabei waren sie jetzt schon einige Jahre Mann und Frau.
»Ich liebe dich, Anna! Ich bin sehr glücklich mit dir! Ein besseres Madl hätte ich net finden können, dabei bist net aus den Bergen. Du, das vergesse ich oft! Du bist eine richtige Berglerin geworden!«
Anna kuschelte sich an ihren Mann.
»Das macht die Liebe! Sie fügt alles zusammen. Ich spürte es ganz deutlich! Als ich das erste Mal mit dir dort den Weg von der Oberländer Alm herauf kam und einen Blick auf die Berghütte warf, wußte ich es: Das ist es, was ich gesucht habe. Es war, als käme ich heim! Eine Ruhe und eine Gelassenheit, eine wunderbare Zuversicht ergriffen mein Herz. Ich fühlte mich so geborgen inmitten der Berge. Es war, als schirmten die kahlen hohen Felswände alles ab, was draußen in der Welt geschieht und die Herzen der Menschen betrüben kann. Alle Hektik, jeder Streß löste sich in Luft auf, einfach in Luft auf. Es war, als wäre ich am Ende eines langen Weges angekommen, das Ziel vor Augen. Dabei war es dein Ziel, dein Traum. Aber er sprang auf mein Herz über.«
»Das macht die Liebe! Unsere Herzen verband die Liebe, auch wenn es noch unausgesprochen war. Es war ein Band da, das dein Herz und mein Herz fest miteinander verknüpfte.«
»Ja, so war es! Jeden Morgen, wenn wir hier sitzen und so eine kleine gemeinsame Pause machen, bin ich ergriffen. Ich bin so glücklich, daß es dafür keine Worte in keiner Sprache gibt.«
»Wie wäre es mit einem wortlosen, lautlosen Kuß?«
»Ja, so ein Kuß sagt so viel, mehr als zwei Menschen sich jemals sagen können. Bei einem Kuß verschmelzen ihre Herzen immer wieder aufs Neue.«
»Ja, Anna, das tun sie!«
Toni neigte den Kopf und küßte Anna. Vergessen war all die Mühe und Arbeit, die das Leben auf der Berghütte auch bedeutete. Beide schöpften in der Liebe neue Kraft.
»Mei, was muß die Liebe schön sein!« sagte der alte Alois.
Toni und Anna kannten die Bemerkung schon. Sie nahmen es ihm nicht übel.
»Ich hoffe, du hast einen guten Grund, uns beim Schmusen zu stören, Alois«, konterte Toni.
»Mei, du weißt, daß ich nicht stören will. Es ist eben meine Art, meine Freude auszudrücken, daß ihr die Berghütte übernommen habt. Immer wenn ich euch so sehe, dann denke ich an mich und meine liebe Frau, wie das mit uns gewesen ist, damals vor Jahrzehnten. Da war es auch nicht anders.«
Alois wiegte den Kopf hin und her.
»Doch ein bissel anders, des war es schon. Es kamen längst net so viele Leut’ rauf auf die Berghütte. Des waren alles einfache, aber leidenschaftliche Bergsteiger, die Ehrfurcht vor der Natur im Herzen trugen. Damals, da gab es noch keine moderne Ausrüstung, da hat’s genagelte Schuhe gegeben, Pickel, geschmiedete Haken und schöne Naturseile. Die Rucksäcke waren aus grünem oder grauem Leinen gewesen mit einem Lederbesatz. Die Trinkflaschen waren net aus Plastik oder Aluminium, sondern aus Blech. Oder es waren Beutel aus Tierhaut.«
Toni und Anna lächelten sich zu. Sie kannten Alois Lobrede auf die alten Zeiten schon auswendig. Sie wußten, daß sich der alte Freund und Gönner so die Erinnerung wach hielt.
»Ich will net sagen, daß damals alles besser gewesen ist. Na, des will ich net. Wir waren oft sehr einsam auf der Berghütte. Damals gab es noch keine Handys, mit denen man hätte schnell mal die Bergwacht anrufen können. Ich will net ganz des neumodische Zeug verteufeln, aber ein Stückerl Idylle und ein bissel Ehrfurcht vor der Natur sind in den modernen Zeiten schon abhanden gekommen. Deshalb bin ich ja auch so froh, daß ihr beide die Berghütte in alter Tradition weiterführt, wenn auch mit ein paar Neuerungen. Aber die müssen wohl sein und des ist auch gut so. Ich bin dem Himmel dankbar, daß du, Toni, net zu denen gehören tust, die eine Straße hier herauf bauen wollen.«
Der alte Alois schüttelte den Kopf. Mit großer, weit ausholender Handbewegung zeigte er auf das Geröllfeld.
»Wie des ausschauen würde, wenn da lauter Autos parken würden. Des würde mir in der Seele weh tun. Die ganze Aussicht wäre verschandelt. Bist schon richtig, Toni. Hast Respekt vor den Bergen und der Natur. Des hast schon immer gehabt, schon als kleiner Bub, als raufgekommen bist.«
Toni stand auf und trat zu Alois. Er legte dem alten gebeugt gehenden Mann liebevoll die Hand auf die Schulter. Dann sagte er ihm, was er ihm nach einer solchen Litanei immer sagte:
»Alois! Hier wird nie eine Straße raufgebaut! Des habe ich dir versprochen und des halte ich – und die Anna steht auch für des Versprechen ein. Wenn du eines Tages mal nimmer bist und ich die Berghütte weitergebe, dann wird es auch keine Straße rauf geben. Des habe ich dir versprochen und des werde ich halten.«
Alois blinzelte Toni zu.
»Bist ein guter Bursche! Mei, ich weiß des alles ja! Aber es ist immer wieder schön, es von dir zu hören. Mein Herz hängt an dem Stückerl Erde hier.«
Anna schloß den alten Alois in die Arme.
»Bist uns doch ans Herz gewachsen wie ein Großvater! Gehörst doch zur Familie. Mußt dir wirklich keine Sorgen machen.«
Der alte Alois streichelte Anna mit seinen alten rauhen Händen die Wange.
»Danke! Bist auch wie eine Tochter für mich oder wie eine Enkelin. Beides ist mir nie vergönnt gewesen, bis du gekommen bist.«
Alois schneuzte sich in sein Taschentuch.
Toni und Anna warfen sich Blicke zu. Irgend etwas schien dem alten Alois nahegegangen zu sein.
»Sag, Alois, macht dir etwas Kummer? Grübelst du über etwas?«
Der Alte steckte sein Taschentuch in die ausgebeulte Hose aus grauem derbem Loden.
»Ich habe die letzten Wochen viel nachgedacht. Des ist in dem Alter so, in dem ich bin, daß immer weniger von dem Jahrgang übrigbleiben. Jetzt sind wir nur noch zwei mehr, als ich Finger an einer Hand habe. Dabei weiß ich des net so genau. Seit der Bernreither Hans auf dem Got-tesacker ruht, da muß ich immer an ihn denken. Der geht mir net aus dem Kopf. Das heißt, eigentlich ist es mehr sein Bruder Willi, der damals fort ist. Ist schon Jahrzehnte her, daß ich etwas von ihm gehört hab’. Ich frage mich, ob er noch lebt. Er war mein Freund, ein wahrer Freund. Ein Freund, wie man ihn nur einmal hat. Wenn er noch lebt, dann würde mich interessieren, wie er den Tod seines Bruders aufgenommen hat. Schad’ ist es schon, daß die beiden sich nie ausgesöhnt haben. Aber es gibt Sachen, da kann man bei allem Wohlwollen keinen Kompromiß machen. Da gibt es nur ein Entweder-Oder mit allen Folgen. Des war damals eine schmerzliche Sache für den Willi. Deshalb ist er gegangen. Ich an seiner Stelle hätte es wohl auch so gemacht.«
»Was war denn damals?« fragte Anna.
»Ach, eine böse Sach’. So eine böse Sach’, wie es nur zwischen zwei Brüdern geschehen kann, die Zwillinge sind. Ich mag net drüber reden. Der Herrgott hat des schon geregelt. Glücklich ist der Hans Bernreither nie gewesen. Ich hoffe, der Willi war glücklich.«
Anna schaute den alten Alois voller Mitleid an.
»Auf die Gerechtigkeit des Herrn kann man sich verlassen!« sagte Toni knapp. »Wenn einem hier auf Erden von einem anderen Menschen Unrecht getan wird, ein großer Schmerz zugefügt wird, dann hat der Herrgott für ihn ein Trostpflaster bereit, dann entschädigt er ihn. Daran glaube ich fest, felsenfest, so fest wie die Felsen vom ›Engelssteig‹ in den Himmel ragen. Deshalb bin ich sicher, daß es dem Willi Bernreither gutgeht, wo immer er auch war oder ist.«
Dann wechselte er das Thema, um den alten Alois auf andere Gedanken zu bringen. Er fragte ihn nach einem Eintopfrezept. Das lenkte den alten Mann ab. Zusammen gingen sie in die Küche.
*
Etwa zur gleichen Zeit saß Bürgermeister Fritz Fellbacher in seiner Amtsstube und grübelte. Er zählte die Wochen auf dem Kalender. Es wurde Zeit, daß etwas geschah. Es war jetzt schon einige Monate her, daß der alte Hans Bernreither verstorben war. Er hatte keine Angehörigen mehr. Bis zum letzten Tag hatte er mit einer Haushälterin auf dem Bernreither Hof gewirtschaftet. Alles war tadellos in Ordnung, sauber und ordentlich. Nach der Beerdigung reiste die alte Haushälterin ab. Sie zog zu ihrer Nichte nach Kirchwalden. Das war auch ihr gutes Recht, denn sie war eigentlich schon seit zwei Jahren in Rente. Bürgermeister Fritz Fellbacher und Pfarrer Heiner Zandler überlegten, wie es mit dem Bernreither Hof weitergehen sollte. Zunächst verteilten sie das Vieh, die Kühe, Schweine, Hühner, Gänse und Hasen auf andere Höfe, damit es versorgt war. So hielten sie es auch mit den Äckern und den Almwiesen, die zum Bernreither Hof gehörten.
Vor seinem Tod hatte Hans Bernreither Bürgermeister Fellbacher und Pfarrer Zandler einen Brief gegeben. Der war an seinen Zwillingsbruder gerichtet, mit dem er seit fast sechzig Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Darin vermachte er ihm oder seinen Nachkommen den Hof. Er setzte in dem Brief den Geistlichen von Waldkogel und den Bürgermeister als Testamentsvollstrecker ein. Keine leichte Aufgabe für die beiden. Aber sie wollten einem, der bald dem Herrgott gegenübertrat, seine letzte Bitte nicht abschlagen.
*
Auf dem Schreibtisch von Bürgermeister Fellbacher lag ein behördlichen Schreiben. Darin wurde mitgeteilt, daß man keine genauen Angaben über den Verbleib von Herrn Bernreither machen könne. Andere, frühere Anfragen hatten bereits ergeben, daß Willi Bernreither in Deutschland nicht gemeldet war.
»So ein Schmarrn! In Deutschland ist er nicht, im Ausland ist er nicht! Irgendwo muß er doch sein!«
Fritz Fellbacher faltete das Schreiben zusammen und steckte es in den Briefumschlag. Er stand auf, nahm seinen Hut mit dem großen Gamsbart und ging hinaus.
»Ich gehe zum Zandler!« rief er seiner Vorzimmerdame zu.
Es waren nur wenige Schritte vom Rathaus zur gegenüberliegenden Barockkirche und dem Pfarrhaus. Das Angelusläuten zu Mittag setzte ein. Fritz Fellbacher bekam ein schlechtes Gewissen, daß er an diesem Tag wieder nicht zum Mittagessen daheim war. Seine Frau würde ärgerlich sein. Aber die Sache mit Willi Bernreither, die brannte ihm auf der Seele. Er griff zum Handy und rief seine Frau an. Wie er vermutet hatte, war sie ärgerlich, hatte sie doch seine Leibspeise gekocht, gebratene Leber mit Zwiebeln und Äpfeln. Dazu gab es Erdapfelmus und schönen frischen Blattsalat aus dem eigenen Garten.
*
Bürgermeister Fellbacher wollte gerade am Pfarrhaus läuten, als Pfarrer Zandler aus der Tür trat.
»Grüß Gott, Fritz! Wolltest zu mir?«
»Ja, Heiner! Mußt fort oder hast Zeit?«
Die beiden Männer waren Freunde schon seit der Schulzeit. Der eine kümmerte sich um die weltlichen und der andere um die seelischen Belange der Waldkogeler. Sie duzten sich.
»Zeit habe ich schon! Ich bin auf dem Weg zum Xaver. Will heute ›Beim Baumberger‹ Mittag essen. Meine Haushälterin hat sich freigenommen und besucht ihre Schwester. Des muß auch mal sein. Willst net mitkommen?«
»Doch des mache ich! Wir haben eine Antwort bekommen auf unsere Anfrage! Hier lies! So ein Schmarrn! Des gibt es doch net! Die sind nur zu faul gewesen, richtig in den alten Akten zu suchen. Es muß doch noch mehr Spuren geben.«
»Mit weltlichen Verwaltungsangelegenheiten kenne ich mich nicht aus, Fritz. Des ist dein Ressort. Was macht dich an dem Brief so mißtrauisch? Warum zweifelst du an, was da steht?«
»Weil der Willi einen Paß hatte. Er wollte doch mit dem Schiff Richtung Pazifik. Der Paß ist doch irgendwann abgelaufen und mußte erneuert werden. Spätestens dann werden auch die Behörden im Geburtsland informiert. Es muß Unterlagen über den Willi geben. Verstehst?«
»Mmm! Wenn du des sagst, dann muß es so sein, Fritz!«
Die beiden machten sich auf den Weg zum Wirtshaus und der Pension, die Tonis Eltern in Waldkogel führten. Pfarrer Zandler kannte die Geschichte, die damals zwischen den Brüdern geschah aus Erzählungen seiner Eltern und Großeltern. Außerdem war Hans Bernreither in späteren Jahren ein gottgefälliger Kirchgänger geworden, der kaum eine Sonntagsmesse verpaßte. Wenn es die Arbeit auf dem Hof erlaubte, kam er auch mehrmals in der Woche zur Abendmesse. Er beichtete regelmäßig. Doch darüber durfte Pfarrer Fritz Zandler nicht sprechen. Wie oft er auch dem reuigen Sünder Gottes Vergebung verkündet hatte, Hans drückte die Schuld. Auf der anderen Seite war er auch stur und suchte nie nach seinem Bruder. Jetzt war es zu spät. Diese Aufgabe fiel nun dem Bürgermeister und dem Geistlichen zu.
*
Gottes schöne Welt ist groß, Fritz! Der Willi kann noch irgendwo leben. Vielleicht hat er damals irgendwo ein Plätzchen gefunden, wo er keinen Paß und keine Papiere brauchte. Er brach damals mit allen Menschen und mit seiner Heimat. Schmerz und Enttäuschung saßen zu tief. Die beiden Brüder waren wie Kain und Abel, nur daß einer den anderen nicht totgeschlagen hat. Statt des-
sen ist der eine auf und davon, hat alle Brücken hinter sich abgebrochen.«
»Heiner, das weiß ich alles! Doch in unseren modernen Zeiten muß es doch möglich sein, eine Spur zu finden oder?«
»Das sollte man annehmen! Es wäre einfacher, wenn wir einen Anhaltspunkt hätten. Der Pazifik ist groß. Da gibt es viele Staaten, Inselstaaten und Festlandstaaten, die an das Meer grenzen. Es ist eine Frage der Zeit. Wir müssen Geduld haben, Fritz!«
*
Die beiden waren beim Wirtshaus angekommen. An der Tür hing ein Schild mit den Öffnungszeiten. Für Gäste war Mittags geschlossen, bis auf Ausnahmen. Xaver und Meta machten morgens für die Pensionsgäste Frühstück. Dann war das Wirtshaus ab dem späten Nachmittag wieder geöffnet. Mittags kochte Meta nur für sich, ihren Mann Xaver und die Bichler Kinder, die jetzt bei Toni und Anna auf der Berghütte lebten. Sie gingen in Waldkogel zur Schule und aßen danach bei den Baumberger Großeltern, wie sie Xaver und Meta liebevoll nannten. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Toni und Anna waren Kinder bisher versagt geblieben. Ihre ganze Liebe galt den beiden Waisen. Auch Tonis Eltern verwöhnten die beiden, als seien sie ihre leiblichen Enkelkinder.
Fritz Fellbacher klopfte an der Tür. Xaver öffnete.
»Grüß dich, Baumberger! Schön, daß ich bei euch essen kann. Ich hoffe, daß Meta noch etwas für den Herrn Pfarrer hat.«
»Grüß Gott, Fellbacher! So knapp bemißt die Meta das Essen net. Kommt rein und setzt euch!«
*
Pfarrer Zandler und Bürgermeister Fritz Fellbacher traten ein und setzten sich an den Tisch. Sebastian und Franziska waren schon aus der Schule gekommen und warteten artig, bis Meta das Essen auftrug. Pfarrer und Bürgermeister begrüßten die Kinder herzlich. Sie empfanden sich als Paten der beiden, da sie mitgeholfen hatten, daß die beiden jetzt auf der Berghütte bei Toni und Anna leben konnten.
Meta Baumberger stellte die Schüsseln auf den Tisch. Xaver zapfte für den Geistlichen, den Bürgermeister und sich je ein Maß Bier. Dann sprach der Pfarrer das Tischgebet. Alle schlugen das Kreuz und sagten laut:
»Amen!«
Meta verteilte die Speisen. Es gab Röstkartoffeln, Sauerkraut und Bratwürste. Die Erwachsenen unterhielten sich. Sebastian und Franzi hörten zu. Der Bürgermeister und der Geistliche sprachen von der Schwierigkeit, Willi Bernreither oder seine Angehörigen zu finden, sollte er denn Angehörige, Kinder oder Enkel haben.
»Ja, da kann ich net weiterhelfen! Ich kenne auch nur die Geschichte, die man sich so in Waldkogel über den Bernreither Hof hinter vorgehaltener Hand erzählt. Aber des liegt ja auch alles schon so lange zurück. Es gibt nimmer viele, die des noch erlebt haben.«
»Ja, ja! Es müssen jetzt bald sechzig Jahre sein, daß sich die Brüder zerstritten haben«, berichtete Bürgermeister Fellbacher.
»Ja, du mußt mal überlegen, wer von dem Jahrgang noch lebt, Fritz! Des dürfte doch für dich keine große Sache sein! Du hast doch alle Urkunden auf dem Bürgermeisteramt.«
»Richtig, Fritz! Der Baumberger hat recht. Auf diesen Gedanken sind wir noch nicht gekommen! Ich kann auch mal in den alten Kirchenbüchern nachsehen. Laßt uns mal gemeinsam überlegen, wer dafür in Frage kommt.«
Pfarrer Zandler überlegte.
»Im Grunde sind des alle Leut’, die so ab fünfundsiebzig Jahre sind und älter. Der Bernreither wäre achtzig Jahre geworden, wenn ihn unser lieber Herrgott nicht vorher geholt hätte. Vielleicht weiß einer, wohin sich der Willi aufgemacht hat. Vielleicht hat ja einer mit ihm in Briefverbindung gestanden.«
»Des glaube ich net, Heiner!« Bürgermeister Fellbacher schüttelte den Kopf.
Er erinnerte an den Leichenschmaus nach der Beerdigung des Hans Bernreither auf dem Bernrei-ther Hof.
»Wenn jemand etwas gewußt hätte von dem Willi, dann hätte er etwas verlauten lassen.«
Dann fingen Xaver Baumberger, Bürgermeister Fritz Fellbacher und Pfarrer Heiner Zandler an, alle Namen aufzuzählen, die vom Alter her in Frage kämen. Meta holte nach dem Essen Papier und Bleistift. Der Bürgermeister legte eine Liste an. Die wollte er später an Hand der Unterlagen im Rathaus noch einmal überprüfen.
»Es kann ja sein, daß dem einen oder anderen etwas eingefallen ist seit der Beerdigung. Der eine weiß etwas und der andere vielleicht auch. Jeder Anhaltspunkt bringt uns weiter, Heiner.«
»Ja, das finde ich auch!« stimmte der Geistliche zu. »Mir liegt so viel daran, dem Willi zu sagen, daß sein Bruder Hans die Tat bereut hat, ein Leben lang. Vielleicht findet dann Willi auch seinen Frieden – oder seine Angehörigen, so er denn welche hat.«
Darauf tranken sie.
*
Dann las Bürgermeister Fritz Fellbacher die Namen aller vor und sagte das Alter der Personen dazu. Alle hörten zu. Die kleine Franziska neigte ihren Kopf zu ihrem Bruder und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Ich weiß net, Franzi!« Sebastian zuckte mit den Schultern.
Franziska war damit zufrieden. Sie zupfte Meta Baumberger, die neben ihr saß, an der Schürze.
»Großmutter Meta, da fehlt der Alois. Der Alois ist auch alt. Muß der net auch aufgeschrieben werden?«
»Mei, Franzi! Was bist du für ein kluges Madl! Freilich! Der Alois! Der war net bei der Beerdigung!«
»Richtig!« stimmte ihr Mann Xaver zu. »Außerdem hat der Toni neulich erzählt, daß dem Alois der Tod von dem Hans Bernreither immer noch nahgeht. Er war ja damals mit dem Willi befreundet. Ja, der Alois denkt oft an den Willi Bernreither. Vielleicht kann euch der Alois etwas sagen, was weiterhelfen kann. Der alte Alois hat ein gutes Gedächtnis!«
Sebastian nickte eifrig. Alle schauten den Buben an.
»Der Alois hat mir Briefmarken geschenkt, ganz alte. Die sind aus Australien, sagt der Alois. So genau weiß ich des net. Aber zum Namenstag hat mir der Toni doch ein Buch über Briefmarken versprochen, darin kann ich dann nachsehen und weiß dann, woher die Marken sind. Der Alois hat mir viel erzählt vom Willi Bernreither. Mei, was haben die Buben angestellt! ›Wir waren richtige Lausbuben‹, des hat der Alois gesagt!«
Der Bürgermeister und der Pfarrer sagten wie aus einem Mund:
»Dann müssen wir mit dem Alois reden!«
»Bringt doch die Kinder rauf auf die Berghütte!« schlug Xaver vor.
Ein Blick genügte und ein Kopfnicken. Der Bürgermeister und der Pfarrer tranken ihre Bierseidel aus. Während die Kinder sich anzogen und ihre Schulsachen packten, holte der Pfarrer sein altes Auto. Damit fuhren die vier hinauf auf die Oberländer Alm.
*
Wenzel Oberländer und seine Frau Hilda saßen vor der Almhütte. Als der Geistliche auf der Wiese bei der Almhütte hielt, kamen sie zum Auto gelaufen.
»Grüß Gott, Herr Pfarrer! Des ist aber eine Freud’, daß sie uns besuchen. Mei, und der Herr Bürgermeister ist auch dabei! Des ist ja dann ein hochoffizieller Besuch, oder? Da sollte ich mir vielleicht gleich mal meinen Sonntagsanzug anziehen!« sagte Xaver.
»Rede keinen solchen Schmarrn, Xaver!« schalt ihn seine Frau. »Des ist ganz mein Xaver, immer muß er übertreiben. Es paßt wie verabredet, euer Besuch. Ich habe einen Strudel gebacken. Er ist noch warm. Da schmeckt er am besten.«
»Des ist lieb, Hilda! Aber leider haben wir keine Zeit. Jetzt nicht. Wir wollen rauf auf die Berghütte. Wenn uns später noch Zeit bleibt, dann legen wir gern auf dem Rückweg eine Rast bei euch ein!« tröstete Pfarrer Zandler Hilda.
»Ja, dann ist wohl jede weitere Überredungskunst sinnlos. Wenn ihr rauf auf die Berghütte müßt, dann wollen wir euch net aufhalten. Wird wohl etwas ganz Wichtiges sein, wenn gleich zwei Amtspersonen zusammen aufsteigen«, bemerkte Wenzel mit einem Seitenblick auf die Kinder.
»Geht’s um die beiden?«
»Nein! Wir wollen mit dem alten Alois reden. Wir hoffen, daß er uns vielleicht etwas sagen kann, was den Willi Bernreither betrifft.«
»Oh, über den Bruder vom Hans!«
»Ja, genauer gesagt geht es um dessen Zwillingsbruder«, sagte der Pfarrer.
»Richtig, des sind Zwillinge gewesen«, erinnerte sich Wenzel.
Bürgermeister Fritz Fellbacher und Pfarrer Zandler verabschiedeten sich von den beiden. Sie versprachen, auf dem Rückweg eine Rast bei ihnen auf der Oberländer Alm einzulegen. Wenzel Oberländer schaute ihnen nach, wie sie den Bergpfad hinaufwanderten.
Franziska und Sebastian gingen schnell voraus. Die beiden Männer hatten Mühe, mit den Kindern mitzuhalten.
Schließlich erreichten sie die Berghütte.
»Toni! Anna!« riefen die Kinder, sobald sie das Geröllfeld erreicht hatten und rannten davon. »Toni! Anna! Wir sind da! Und wir haben Besuch mitgebracht für den Alois!«
Toni und Anna kamen sofort auf die Terrasse der Berghütte. Einen Augenblick später trat auch der alte Alois hinzu.
»Des ist wegen dem Bernreither Willi! Der Fellbacher und der Herr Pfarrer, die suchen den Willi! Ich habe ihnen erzählt, daß du mir die Briefmarken von den alten Briefen vom Willi Bernreither geschenkt hast, Alois«, stieß Basti hervor.
Er rannte in sein Zimmer. Seine kleine Schwester Franzi folgte ihm.
»Grüß Gott!« sagte Pfarrer Zandler atemlos. »Mei, haben die Kinder ein Tempo vorgelegt!«
Der Geistliche schüttelte Toni, Anna und dem alten Alois die Hand. Bürgermeister Fellbacher war nicht ganz so atemlos, aber auch etwas abgekämpft. Toni und Anna boten den beiden sofort an, sich zu setzen. Gemeinsam betraten sie die Berghütte. Die wenigen Hüttengäste saßen auf der Terrasse in der Sonne. Im Wirtsraum der Berghütte war niemand. Toni brachte einen Krug mit kaltem Quellwasser. Fritz Fellbacher und Pfarrer Zandler tranken gleich zwei Gläser. Dann fühlten sie sich besser.
Franzi und Basti kamen. Basti legte sein Briefmarkenalbum auf den Tisch. Er schlug eine bestimmte Seite auf.
»Hier! Das sind die Briefmarken!« verkündete Basti stolz.
Die Männer schauten sich die Marken an. Sie zeigten einen Frauenkopf im Profil. Die Schrift am Rand war nicht mehr zu lesen. Die Briefmarken waren alt, vergilbt und sehr verblaßt.
»Des könnte des Profil der englischen Königin sein!« bemerkte der Geistliche. »Aber viele Staaten, die zum Empire gehören, haben solche Marken.«
»Hast du die Briefe noch, Alois?«
Wortlos stand der alte Alois auf und schlurfte in seine Kammer. Es war kein guter Tag für ihn. Er hatte Reißen in den Knochen, wie er sich ausdrückte. Die Beine und besonders die Knie schmerzten. Nach einer Weile kam er mit einigen Briefen zurück. Er legte sie vor dem Pfarrer auf den Tisch.
»Mehr habe ich net! Der Willi war kein großer Briefschreiber und ich bin des auch net gewesen. Irgendwann ist dann keine Post mehr gekommen.«
Pfarrer Zandler und Fritz Fellbacher besahen sich die Briefe. Mit Alois Erlaubnis durften sie sie lesen.
Es waren nur fünf kurze Schreiben. Im ersten Brief stand, daß Willi eine Arbeit auf einer Viehfarm in Australien gefunden hatte. Er beschrieb seine Arbeit in dem weiten, weiten Land ohne Berge. Heimweh nach den Bergen stand unsichtbar zwischen den Zeilen geschrieben.
»Was muß er gelitten haben!« sagte Pfarrer Zandler leise. »So allein in einem fremden Land ohne Berge. Es gibt dort auch Berge, aber nicht in der Gegend, in der Willi damals lebte.«
Im nächsten Brief stand, daß er unter die Edelsteinsucher gegangen war. Das war auch ein hartes Leben in der Wüste von Australien. Offensichtlich war Willi bei der Suche erfolgreich gewesen. Denn im nächsten Brief schrieb er, er wollte selbst Land kaufen und Farmer werden. Er wollte ein Haus bauen, das wie der Bernreither Hof aussehen sollte.
»Eine zweite Heimat! Eine Ersatzheimat!« flüsterte Fritz Fellbacher leise.
Dann vergingen Jahre, bis Alois wieder Post bekam. Darin schrieb Willi, er sei verheiratet und habe eine Tochter, ein liebes Madl. Das Kind hieß Mary, das sei Englisch und bedeutete Maria.
Bis zum nächsten Brief vergingen über zwanzig Jahre. Dann schrieb Willi, daß Mary geheiratet habe und Mutter eines Sohnes sei, der Kilian heißt.
»Ja, des war der letzte Brief!« sagte Alois mit Traurigkeit in der Stimme. »Des ist jetzt schon lange her, mehr als zwanzig Jahre.«
Auf allen Briefen standen weder Absender noch Adresse. Der einzige Hinweis war der Ort und das Datum auf dem letzten Brief. Darin schrieb er auch, daß seine Mary einen Burschen mit Namen Bill Morgan geheiratet hatte, einen großen, stämmigen hellblonden Burschen, der wie ein Bergler aussah und die Berge auch so liebte wie er.
»Basti, hast du einen gute Atlas?«
»Der Toni hat einen ganz guten! Der ist im Wohnzimmer. Den darf ich net mit in die Schule nehmen«, schmollte Basti.
»Mei, Basti! Der ist doch viel zu schwer und so groß, daß er net in deinen Schulranzen geht! Lauf und hole ihn.«
Das ließ sich Sebastian nicht zweimal sagen.
Sie suchten den Ort des letzten Briefes im Verzeichnis und schlugen die Seite auf.
»Des ist aber net Australien, des ist Neuseeland!« sagte Fritz Fellbacher überrascht.
»So, Neuseeland!« wiederholte Alois. »Doch, doch! Des könnte passen! Der Willi, der hat oft von Neuseeland gesprochen schon als junger Bub. Warum? Des weiß ich nimmer. Vielleicht hat er in Australien des Geld verdient, um sich dann in Neuseeland niederzulassen.«
Sebastian hing mit der Nase fast auf dem Papier. Er sah sich die Karte genau an.
»Mei! Schaut! Ist des lustig! Die Berge da! Da steht: Neuseeländische Alpen!«
»Des war es! Diese ›Neuseeländischen Alpen‹, davon hat der Willi geredet. Da wollte er später immer mal hin und sehen, ob die Berge dort genauso sind, wie bei uns hier.«
»Naa, die sind net so!« sagte Sebastian laut und deutlich. »Die sind net so hoch! Und so viele Berge wie hier in den Alpen gibt es auch net.«
Toni stand auf und holte die Flasche mit dem Obstler. Er schenkte ein. Sie tranken.
»Danke, Alois! Des bringt uns ein ganzes Stück weiter, hoffe ich!« sagte der Pfarrer.
»Ja, des stimmt!«
Bürgermeister Fritz Fellbacher faßte zusammen. Willis letzter Brief kam aus Neuseeland. Dort lebte er wohl in den Bergen. Er hatte geheiratet. Seine Tochter Maria, auf Englisch »Mary«, war mit einem Bill Morgan verheiratet und ihr erstes Kind war ein Bub mit Namen Kilian.
»Jetzt muß sich etwas machen lassen!« bemerke der Bürgermeister Fellbacher.
»Ihr müßt im Telefonbuch suchen. Im Internet steht vielleicht auch etwas drin. Leider haben wir hier keinen Computer und kein Internet«, bedauerte Sebastian, der bei seinem Freund, dem Sohn des Försters, oft vor dem Computer saß.
»Des ist eben so auf einer Berghütte, Basti!« sagte Toni. »Dafür hast du hier andere Vorteile.«
Bürgermeister Fritz Fellbacher machte sich Notizen.
»Ja, dann sollten wir uns wieder runter ins Tal schaffen, Heiner!«
Der Bürgermeister schaute auf die Uhr.
»Vielleicht gelingt es uns heute noch, die Telefonnummer herauszubekommen. Dann könnten wir gleich anrufen.«
»Des wird eine Überraschung sein für den Willi, wenn er noch lebt«, sagte der alte Alois. »Seid vorsichtig! Net, daß der Willi einen Herzkasper bekommt. Sagt ihm auf alle Fälle einen schönen Gruß von mir!«
Sebastian lachte.
»Also, des ist schon gut möglich, daß die da drunten einen Schock bekommen, wenn mitten in der Nacht das Telefon läutet und sie aus dem Schlaf geholt werden. Dort ist es Nacht, wenn es bei uns Tag ist!«
»Mei, was bist du ein schlauer Bursche, Basti! An die Zeitverschiebung hat niemand von uns gedacht. Wie groß ist der Zeitunterschied?« fragte Toni.
»Des kannst auf der Karte ablesen!«
Sebastian blätterte eifrig in dem großen Weltatlas. Er schlug die Karte mit den Zeitzonen auf.
»Hier! Da kannst des sehen. Bei denen ist es jetzt schon Nacht. Die schlafen alle! Wenn hier die Sonne aufgeht, dann haben die dort den Tag schon hinter sich. Wenn hier Nacht ist, ist dort schon wieder der neue Tag angebrochen.«
»Na, da haben wir genügend Zeit, eine Telefonnummer herauszubekommen, wenn es eine gibt. Wir warten eben bis Mitternacht und rufen dann an, Heiner! Was meinst du?«
»Ja, außerdem kommt es jetzt auf einige Stunden nicht an. Wir müssen auch genau überlegen, wie wir vorgehen, was wir sagen und wie wir es sagen, Fritz! Der Himmel stehe uns bei und beschütze den Willi, wenn er noch lebt. Wie wird er es nach all den Jahren aufnehmen, etwas aus seiner alten Heimat zu hören?« sagte Pfarrer Zandler ernst.
Sie standen auf. Für den Weg hinunter nach Waldkogel gaben Toni und Anna Pfarrer Zandler und Bürgermeister Fellbacher zwei Flaschen mit Quellwasser mit und einige Riegel Schokolade. Sie sollten unterwegs rasten.
Der alte Alois brachte sie bis zum Ende des Geröllfeldes. Dort schüttelte er den beiden die Hände. Er nahm ihnen noch einmal das Versprechen ab, dem Willi Grüße zu bestellen, wenn sie ihn denn antreffen würden.
»Sagt dem Willi, daß ich ihn nie vergessen habe!«
»Das tun wir! Das tun wir bestimmt, Alois!«
Der alte Alois sah ihnen nach, bis sie um die Biegung des Bergpfades verschwunden waren. Dann ging er langsam zur Berghütte zurück. Er setzte sich auf die Terrasse, faltete die Hände und schaute hinauf zum Gipfel des »Engelsteigs«. Seit Alters her erzählten die Waldkogeler schon, daß vom Gipfel des »Engelsteigs« die Engel direkt in den Himmel aufstiegen. So brachten sie die Gebete der Menschen im Tal hinauf zum Herrgott.
Der alte Alois richtete seinen Blick auf das Gipfelkreuz. Es leuchtete wie ein Wegweiser in den Himmel.
Stumm formulierte er seine Ansprache an die Himmelsboten: »Hört, ihr Engel! Ihr habt von hoch oben dort alles im Blick! Schade, daß ihr net mit mir sprechen könnt. Zu gern hätte ich gewußt, was mit dem Willi ist. Nun ja, da muß ich mich noch gedulden. Jetzt habe ich eine so lange Zeit nix mehr von ihm gehört, da kommt es auf einen Tag mehr oder weniger auch net an. Trotzdem bin ich ungeduldig und unruhig. Er war wirklich ein guter Freund, auch wenn es schon so lange her ist, daß wir beieinander gewesen sind. Ich hoffe, daß es ihm gutgeht und er noch auf der Erd’ ist. Paßt gut auf ihn auf. Es wird net leicht für ihn sein, wenn er jetzt die Nachricht aus seiner Heimt bekommt.«
Dann lehnte sich der alte Alois auf den Stuhl zurück und schaute in die Weite.
Anna trat zu ihm.
»Geht es dir gut, Alois?«
»Ja, Anna! Ich werde gleich reingehen und mich hinsetzen und dem Willi einen langen Brief schreiben. Es ist viel zusammengekommen. Des wird ein halbes Buch werden. Wenn er noch lebt und der Pfarrer und der Bürgermeister ihn finden, haben sie auch die Adresse, dann kann ich ihm endlich einen Brief schicken. Des ist schön!«
»Ja, Alois! Das ist sehr schön. Du kannst ihm auch Fotos schicken von der Berghütte und was du sonst noch denkst, daß es ihm Freude macht.«
»Ja, des mache ich! Des ist eine gute Idee, Anna!«
Anna half dem alten Alois beim Aufstehen. Er hatte Schmerzen. Tapfer setzte er Schritt vor Schritt. Anna brachte ihn in die Berghütte. Sie holte ihm seinen Schreibblock und seinen altmodischen Federhalter, mit dem er immer schrieb. Alois fing sofort mit dem Brief an.
So verging der Rest des Tages. Alois schrieb nach dem Abendessen weiter. Er hörte erst auf, als Anna und Toni schlafen gingen. Dann legte er sich auch hin. Aber er war mit dem Brief noch nicht zu Ende. Er hatte seinem alten Freund so viel zu erzählen.
*
Bürgermeister Fellbacher und Pfarrer Zandler hielten sich zu Hildas Bedauern doch nicht auf der Oberländer Alm auf. Sie verstand, daß es die beiden eilig hatten. So packte sie ihnen den Strudel ein. Das paßte gut, denn Helene Träutlein, die Haushälterin von Pfarrer Zandler, würde erst spät am Abend oder sogar erst am nächsten Tag vom Besuch bei ihrer Schwester zurückkommen. Auf der anderen Seite gefiel den beiden Freunden, daß sie ungestört waren. In der Studierstube des Pfarrers setzten sie sich an den Computer. Bei Kaffee und Strudel widmeten sie sich den weiteren Nachforschungen. Es war nicht schwer. In dem Ort in den Neuseeländischen Alpen gab es mehrere Telefonanschlüsse, die auf den Namen Morgan angemeldet waren. Einer davon war auf Mary und Bill Morgan gemeldet.
»Des muß der richtige sein!« sagte Fritz Fellbacher immer und immer wieder.
Er war ungeduldig. Nervös behielt er die Uhr im Blick. Aber es würden noch Stunden vergehen, bis sie in Neuseeland anrufen konnten.
Dann war es Mitternacht. In dem Inselstaat im Pazifik mußte es Vormittag sein. Pfarrer Zandler schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel. Dann wählte er die Telefonnummer. Es läutete hin. Eine weibliche Stimme meldete sich. Pfarrer Zandler reichte Fritz Fellbacher das Telefon. Dieser sprach besser Englisch als der Geistliche. Viel sprach er auch nicht und er hatte einen schauderhaften Akzent. Aber immerhin konnte er so viel herausfinden: Willi Bernreither war mit Kilian unterwegs um nach dem Vieh zu sehen. Mary und Bill waren zum Einkaufen. Es war wohl eine Hausangestellte, die am Telefon war. Nach etwas längerem hin und her, bekam Fritz Fellbacher eine Fax-Nummer. Er verabschiedete sich und legte auf.
»Mei, war des anstrengend!« Fellbacher wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Also Heiner! Des ist die Fax-Nummer der Familie Bernreither-Morgan. Der Willi muß noch bei recht guter Gesundheit sein, wenn er mit seinem Enkel nach dem Vieh schauen ist. Jetzt können wir warten und später noch einmal anrufen oder wir schicken ein Fax. Was meinst du?«
»Wir faxen! Ich schreibe als Geistlicher ein paar Zeilen. Die schicken wir zusammen mit dem Brief vom Hans Bernreither über das Fax nach Neuseeland. Dann liegt es beim Willi, zu entscheiden. Irgendwie wird er schon reagieren, denke ich mir.«
»Des ist eine gute Idee, Fritz! Nimm des Briefpapier mit der Kirche drauf, des schaut so schön amtlich aus.«
Pfarrer Zandler setzte sich sofort an seinen Schreibtisch. Er nahm einen Briefbogen. Mit seiner ihm eigenen steifen Handschrift schrieb er:
Mein lieber Willi Bernreither!
Mein Name ist Heiner Zandler. Ich bin der Pfarrer in Waldkogel. Zusammen mit dem Bürgermeister Fritz Fellbacher suchen wir Sie seit mehreren Monaten. Das war eine schwierige und mühsame Angelegenheit. Durch Zufall erfuhren wir, daß sie dem Alois einige Male geschrieben hatten. Leider gaben Sie nie einen Absender an. Durch detektivische Arbeit fanden wir heraus, daß Sie in Neuseeland leben müssen und haben über die Auskunft die Telefonnummer erhalten. Leider waren sie nicht daheim. Eine Frau sagte uns, Sie seien mit Ihrem Enkel nach dem Vieh sehen. Wir schließen daraus, daß Sie sich bei guter Gesundheit befinden.
Sicherlich wundern Sie sich, so plötzlich etwas aus ihrer Heimat zu hören, beziehungsweise zu lesen. Es ist viel Zeit vergangen, seit Sie das schöne Waldkogel verlassen haben.
Waldkogel ist noch immer so schön, wie es einst war, vielleich noch schöner. Auf den Höfen haben Generationen gewechselt. Menschen sterben und Kinder werden geboren – das ist der Kreislauf des Lebens.
Ich als Geistlicher denke mir, daß Sie, auch wenn Sie alle Kontakte zum Bernreither Hof abgebrochen hatten, doch wenigstens gelegentlich an den Hof gedacht haben. Viel Zeit ist vergangen. Ihre Eltern sind inzwischen verstorben. Ihr Zwillingsbruder ist seit langem Witwer gewesen. Kinder und somit Erben hatte er nicht.
Mein lieber Willi Bernreither, ich kann mir denken, was Sie aus diesen Zeilen entnehmen. Ja, es ist so! Ihr Bruder fand seine letzte Ruhe auf unserem Friedhof hinter der schönen Barockkirche. Der Bernreither Hof ist jetzt verwaist.
Ihr Bruder gab uns einen Brief für Sie. Darin steht alles, was Sie wissen müssen. Wir möchten den letzten Willen von Hans Bernreither erfüllen und bitten Sie, uns mitzuteilen, was mit dem Hof geschehen soll. Sie können mich auf dem Pfarramt anrufen oder sich mit Bürgermeister Fritz Fellbacher in Verbindung setzen.
Lieber Willi Bernreither, als Seel-sorger bete ich für Sie, daß Sie einen Weg finden, am Grab Frieden mit Ihrem Bruder zu schließen. Das war sein Wunsch. Er hat oft mit mir über das damalige Ereignis geredet. Ihn reute seine Tat sehr. Lesen Sie sein Vrmächtnis!
Ich wünsche Ihnen Gottes Segen und die Kraft für eine Entscheidung, die Ihnen Frieden bringt.
Ihr Pfarrer Heiner Zandler aus Waldkogel
PS. Ich darf Ihnen herzliche Grüße Ihres alten Freundes Alois übermitteln. Er wohnt auf der Berghütte bei Toni und Anna Baumberger.
Der Geistliche schraubte den Füllhalter zu und gab den Brief Fellbacher zu lesen.
»Des hast du gut gemacht, Heiner! Dann wollen wir!«
Sie schickten den Brief des Pfarrers und den Brief von Hans Bernreither als Fax nach Neuseeland. Fast andächtig standen sie vor dem Faxgerät. Es zog die Blätter ein und lud die Informationen in den Speicher. Dann erschien auf dem Display der Text: Wird gesendet! Obwohl es nicht einmal eine Minute dauerte, kam es den beiden sehr lange vor, bis das Gerät den Vorgang als abgeschlossen meldete und den Sendebericht ausdruckte.
»So, jetzt haben wir alles getan!« seufzte Bürgermeister Fritz Fellbacher.
»Ja! Jetzt müssen wir uns nur noch in Geduld üben. Das wird mir nicht schwerfallen, Fritz. Ich bin sehr müde. Im Eiltempo rauf auf die Berghütte und wieder herunter, das war ein bissel viel. Des bin ich nimmer gewöhnt. Zum Glück weiß der Doktor nichts davon. Der Martin würde mit mir schimpfen. Aber es ist ja gutgegangen.«
Pfarrer Zandler brachte den Bürgermeister noch zur Tür. Wortlos schüttelten sich die Freunde die Hand. Dann ging Fellbacher durch die Nacht nach Hause. Pfarrer Zandler legte sich sofort hin und schlief gleich ein.
*
Zur selben Zeit, als Bürgermeister Fellbacher heimging und Pfarrer Zandler sich schlafen legte, weckte Bello Toni und Anna.
»Der Hund bellt!« sagte Toni.
Mit einem Sprung war er aus dem Bett.
»Da ist doch hoffentlich nix passiert!«
Toni rannte barfuß hinaus in die Wirtsstube und machte Licht. Bello, der junge Neufundländer, saß hinter der abgeschlossenen Tür und gab Laut.
»Ruhig, Bello! Ich bin ja schon da!«
Anna kam hinzu. Sebastian und Franziska erschienen ebenfalls im Wirtsraum der Berghütte.
»Ihr geht gleich wieder ins Bett! Morgen ist Schule! Ab mit euch!«
Anna legte rechts und links die Arme um die Schultern der Kinder und brachte sie zurück ins Bett.
Toni öffnete die Tür. Er hielt die Stablampe hoch. Der Lichtkegel wanderte über die Terrasse der Berghütte. Eine Person kauerte sich auf der Bank zusammen. Jetzt hob er den Kopf und blinzelte in den Schein der Lampe.
»Mei, des ist ja der Titus Haltinger! Ja mei, Titus! Was machst du hier draußen?«
Titus hielt abwehrend die Hand vor die Augen. Toni schaltete die Lampe aus.
»Ich wollte euch net stören und hab’ mich hierher gelegt. Der Bello hat mich gehört. Tut mir leid, daß ihr aufgewacht seid.«
»Nun, komm’ schon mit!«
Titus folgte Toni in die Berghütte.
»Setz dich an den Kamin!« sagte Toni.
Er legte einige Holzscheite in die Glut. Die Flammen züngelten.
Toni ging ins Schlafzimmer und zog sich etwas über.
»Toni, was ist los?« Anna kam aus den Kinderzimmern.