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Heimatkinder
– Staffel 4 –

E-Book 31-40

Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-293-2

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Habt Mut zur Liebe

Wenn Stefan Baron Weißenberg von der Landstraße abbog und den Weg zum Weißenberg-Hof hochfuhr, breitete sich immer ein Glücksgefühl in ihm aus. Und dann wusste er wieder, wofür es sich zu leben und zuweilen auch anzustrengen lohnte – für Marie und ihre drei gemeinsamen Kinder Reserl, Jossi und den kleinen Dany.

Nein, er bereute nichts! Denn als er vor Jahren sein gesamtes Erbe zum Erhalt des heruntergekommenen Traublinger-Anwesens einsetzte, hatte er aus Liebe zu Marie gehandelt! Und war er vom Leben nicht überaus großzügig für diese Entscheidung belohnt worden?

Marie, die Tochter des verstorbenen Bauern Traublinger, war seine Baronin Weißenberg geworden und hatte ihm drei wunderbare Kinder geschenkt. Und weil sie beide auch kräftig die Ärmel aufkrempeln konnten, gehörten Felder, Wiesen, alte und neue Gebäude und das wunderschöne Bauernhaus nun nicht mehr den Banken, sondern zum Weißenberg-Hof, wo das feinste und beste Gemüse weit und breit angebaut wurde.

Stefan grinste in sich hinein. Hinter den Fenstern des Bauernhauses brannte Licht. Seine Familie hatte es sich gemütlich gemacht. So sollte es sein. Denn das Wetter war heute mal wieder miserabel, wie oft, wenn der Winter dem Frühling noch nicht weichen will.

Aber mit seiner soliden Holzfassade bot der behäbige Bau jedem Sturm, Schneegestöber und Dauerregen die Stirn. Und schon morgen, wenn der Himmel wieder blau war, musste der herrliche Blick von dort oben bis weit zur Alpenkette auch einen wintermüden Familienvater wie ihn versöhnen.

Von der Rückseite aus konnte man die kurvenreiche Landstraße fast bis zum Stackerl-See verfolgen. Wehte der Wind dazu noch günstig, war auf dem Weißenberg-Hof sogar das Läuten von St. Nicolai in Altendorf zu hören.

Ja, hier im Voralpenland ließ es sich leben … und lieben. Stefan schmunzelte vor sich hin, fuhr am Haus vorbei und parkte im Hof. Dort stellte er fest, dass Maries Auto noch fehlte. Er schaute auf die Uhr. Es war gleich sieben, und da sollte Maries Arbeit als Leiterin des Chors von St. Nicolai schon beendet sein.

Er murrte etwas vor sich hin. Nach Hause zu kommen, ohne von seiner geliebten Marie empfangen zu werden, das war eine Übung, die er immer noch nicht perfekt beherrschte.

Er stapfte durch die Schneereste zum Seiteneingang und wich gerade noch vor einem Gegenstand auf dem Boden aus. Das war das nagelneue Fahrrad von Reserl, seiner zehnjährigen Ältesten. Sie hatte es vor zwei Monaten zu Weihnachten bekommen. Und warum ging sie so achtlos damit um?

»Reserl!«, rief er.

Keiner antwortete. Da stellte er es selbst auf, lehnte es an die Mauer und trat ein. Im Gang war es meistens schummrig, weil Wilma, der gute Geist des Hauses, so gern Energie sparte. Dafür wehten ihm köstliche Gerüche aus der Küche entgegen.

Statt Reserl rutschte Jossi ihm auf Skiern entgegen. Sie war gerade sechs geworden, aber dreimal so frech wie ihre große Schwester.

»Jossi! Was machst du denn? Das sind Dannys allerste Skier und keine Scater! Und außerdem viel zu kurz.«

»Dany hat’s aber erlaubt, Papi!« Sie strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht.

»Mensch, Jossi!« Seufzend beugte er sich zu ihr. »Dany ist noch zu klein. Der weiß noch nicht, wie leicht Skier verschrammen.« Außerdem bezweifelte er, ob sein Jüngster sich wirklich so großherzig gezeigt hatte. Sonst behauptete der Dreijährige sich schon ganz tapfer gegen seine beiden älteren Schwestern.

»Ich bin nicht zu klein, Papi!«

Stefan drehte sich um. Er hatte seinen Stammhalter doch tatsächlich im Schummerlicht des Ganges übersehen! Der hockte mit dem Kater Pascha auf dem Schoß unter der Garderobe. Pascha, der Dicke, schnurrte hochzufrieden. Das tat er immer, wenn sich die beiden Katzendamen Luschi und Buscha zum Mäusefangen irgendwo draußen auf dem Hofgelände aufhielten und er vor ihnen Ruhe hatte.

»Jossi hat eigene Skier, Dany.« Stefan setzte Pascha auf den Boden und hob seinen Sohn auf die Arme. »Deine sollte sie schonen.«

»Reserl hat gesagt, es schneit heute Nacht, Papi«, meldete Jossi sich völlig unbeeindruckt. »Machst du dann morgen wieder den Ski-Lehrer auf dem Hügel für uns?«

»O ja, Papi!«, freute Dany sich.

»Reserl soll erst mal ihr Fahrrad in den Schuppen fahren!«, entschied Stefan. Er ließ Dany runter, zog seine Jacke aus und schnupperte in Richtung Küche.

»Was gibt’s denn zu Abend?«

»Wilma macht Pischa-Mal-Kartoffeln mit Bratwurst«, wusste Dany.

»Und danach Apfelcreme mit alten Weihnachtsplätzchen obendrauf!«, fügte Jossi hinzu. Sie stellte die Skier an die Wand und rannte dann hoch zu Reserl, um sie ans Fahrrad zu erinnern.

Mit Dany an der Hand, stieg der Baron nun über den dicken Pascha und betrat die riesige Küche. Wilma schnippelte gerade Kartoffeln in die Bechamel-Soße. Sie begrüßte ihn mit einem flüchtigen Blick.

Dem Alter nach hätte Wilma Maries Mutter sein können und ließ das gern heraushängen. Aber wie Stefan stammte sie aus Norddeutschland und hatte sich als Zugereiste im schönen Bayernland auch erst bewähren müssen. Das verband die beiden und ließ ihn ihre Marotten gut ertragen.

Bewundernd stellte er fest, dass Wilma beim Kartoffelschnippeln die vor sich hinbruzzelnden Würstchen keine Sekunde aus den Augen ließ und sich doch nicht in den Finger schnitt.

»Warum denn Weihnachtsgebäck zur Apfelcreme?«, versuchte er sie abzulenken. »Die Plätzchen schmecken auch noch zu Ostern.«

»Nicht die zerbröselten, Baron. Oder wollen Sie die in die Ostereier für die Kinder stopfen?«

»Hm«, machte er nur. Natürlich hatte sie mal wieder recht. »Und meine Frau? Hat sie nicht angerufen, dass sie später kommt?«

»Ach, nu’ werden Sie doch nicht gleich miesepetrig!«, tadelte Wilma ihn. »Die Baronin war vormittags im Büro und den ganzen Nachmittag beim Sellerie und beim Karottenlager. Vorher hat sie mit Reserl Hausaufgaben gemacht. Wenn sie nun bei ihrer Musik ist, gönnen Sie’s ihr doch.«

»Ich gönne meiner Frau alles! Alles Schöne auf der Welt, Wilma.«

»Na, dann ist ja gut, Baron.« Dann erhob sie ihre Stimme und rief ins Haus: »Reserl, Jossi … Tisch decken.«

»Wums!«, machte draußen die Haustür. Das war Reserl, die ihr Fahrrad inzwischen in den Schuppen gestellt hatte. Sie betrat die Küche, als sei nichts geschehen und meldete: »Mami fährt gerade in den Hof!« Und schon hing sie ihrem Papi am Hals. »Morgen schneit’s wieder! Ich hab’s im Radio gehört. Laufen wir dann Ski auf dem Hügel?«

»Wenn Mami nichts dagegen hat, vielleicht.«

»Hat sie nicht. Hat sie nicht!«, triumphierte sie sofort. »Sie will doch morgen nach München auf Schnäppchen-Suche für Wintersachen. Neue Anoraks und so. Nur für uns.«

»Feinste Sachen werden preislich herabgesetzt und sind dann erschwinglich, Baron«, belehrte Wilma ihn mal wieder.

»Soso. Na, ich geh ihr mal entgegen.«

Wenn er seine Marie mit einer Umarmung empfangen konnte, glitt auch der Unmut über Wilmas ständige Besserwisserei an ihm ab. Auch die Probleme mit der Baubehörde und dem Landratsamt wurden zu Nichtigkeiten. Daran hatte sich seit ihrem ersten zarten Kuss vor vielen Jahren nichts geändert. Und das war gut so!

Er trat in die feuchte Dunkelheit hinaus. Marie stieg gerade aus ihrem Wagen. In der Mitte des Hofes bemerkte sie ihn, schlug sich das Wolltuch um den Kopf und beschleunigte ihre Schritte.

»Puh! Jetzt schneit’s auch noch. Das fehlt mir gerade!«, seufzte sie, als er sie in die Arme nahm. Stefan schmunzelte. Marie gehörte zum Glück zu den Frauen, die weder Freude, noch Ärger, Wut oder Trauer unterdrückten. Bei ihr wusste er immer, woran er war.

»Du hättest deine Freundin Anette ja zum Essen mitbringen können, anstatt nach der Chorprobe wieder so lange mit ihr im Auto zu schwatzen, Liebling!«, scherzte er.

»Anette!«, schnaufte Marie an seiner Schulter. Sie richtete sich auf und sah ihn vorwurfsvoll an. »Du hast Nerven! Ich bin doch zu ihr gefahren, weil sie sich übers Handy nicht meldet. Zum zweiten Mal hat sie heute unentschuldigt die Chor-Probe geschwänzt. Ich weiß gar nicht, was die sich eigentlich denkt.«

»Du warst deshalb bei ihr zu Hause?«

Marie nickte. »Sie war nicht da. Ich hab’ Sturm geklingelt. Alle Fensterjalousien sind unten, als ob sie verreist wäre. Das hätte sie mir doch sagen können!«, schimpfte sie weiter. »Morgen wollen wir nach München zum Shopping. Und bei der Partitur für die dritte Stimme hat sie mir auch Hilfe versprochen. Ich versteh’ sie nicht.« Langsam bewegten sie sich aufs Haus zu. »Sie ist meine beste Freundin, Stefan. Aber sie bringt mich noch so weit, im Gymnasium anzurufen und ihre Kollegen zu fragen, was mit ihr los ist.«

»Nichts ist los, mein Schatz. Anette hat eben auch ein Anrecht auf ein eigenes Leben.« Er hielt ihr die Tür auf. Aber Marie rührte sich nicht von der Stelle. Sie blitzte ihn empört an.

»Eigenes Leben? Also, Stefan! Wir sind ihr Leben! Sie hat doch sonst keinen! Sie gehört zu unserer Familie! Das sagt sie selbst.«

Stefan erwiderte ihren Blick voller Liebe. Seine Marie, die ehemals fast verarmte Herrin auf diesem Hof, war die wunderbarste Ehefrau, die er sich nur denken konnte. Beim Anblick ihres Gesichts mit den hohen Wangenknochen und den kühn geschwungenen Brauen über den olivfarbenen Augen weitete sich jedes Mal sein Herz. Und er hätte die Arme ausbreiten und außer ihr und den Kindern das gesamte Universum umarmen können.

Maries Lippen schoben sich schmollend hervor. Sie ahnte ja nicht, was in ihm vorging. »Nimm Annette bloß nicht in Schutz! Sie muss doch wissen, was sie an uns hat. Mit ihren Kollegen verbindet sie privat kaum etwas, nur ihre Schüler geben ihrem Leben einen Sinn …, ja, und wir. Und unsere Kinder.«

»Trotzdem haben wir kein Recht, zu viel von ihr zu verlangen. Wenn sie verreisen möchte, soll sie’s tun.«

»Unsinn! Jetzt in der Schulzeit? Bis zu den Zeugnissen und den kurzen Faschingsferien sind es noch vier Wochen.«

»Bist du denn sicher, dass ihr nichts fehlt?«

»Natürlich. Anette war noch nie krank. Du kennst sie doch.«

Ja, Stefan kannte Anette Lichtner gut. Seit die junge Lehrerin vom Gymnasium in Altendorf vor zwei Jahren in den Kirchenchor eingetreten war, hatte sich zwischen ihr und Marie eine innige Freundschaft entwickelt. Marie, die als Einzelkind aufgewachsen und nach dem frühen Tod ihrer Mutter schwere Zeiten durchlebt hatte, sah in Anette sogar eine Art Schwester-Ersatz. Reserl, Jossi und Dany liebten die Dreißigjährige wie eine Tante, und er schätzte an ihr, dass sie Marie zuweilen nach München überredete. Damit brachte sie zusätzlich Farbe in Maries arbeits- und pflichtenreiches Leben. Und einen guten Einfluss übte Anette auf die neuerdings so aufmüpfige und trotzige Reserl aus.

Aber das alles war kein Grund, von ihr zu erwarten, dass sie der Familie Weißenberg jede ihrer freien Stunden opferte.

»Komm erst mal rein, mein Schatz. Das Essen steht auf dem Tisch.«

Er sah noch, wie Kater Pascha aus der Tür schlüpfte. Dann schloss er sie und half Marie aus dem Anorak, um die letzten Sekunden allein mit ihr im schummrigen Gang für einen zärtlichen Kuss zu nutzen.

*

Zwei Stunden später fuhr Stefan in seinem Geländewagen die Anhöhe hinab. Über den Wiesen lag tatsächlich eine dünne Schicht Neuschnee. Mit rhythmischen Ticken schob der Scheibenwischer die Flocken von der Windchutzscheibe.

Er dachte an Marie, die sich gleich, nachdem die Kinder im Bett waren, an ihren Stutzflügel im Kaminzimmer gesetzt hatte, um sich nun ohne Anette mit der Partitur für die dritte Stimme eines Chorals abzuquälen. Sie hatte die Noten heftig hingekritzelt und die Violin-Schlüssel mit wütendem Schwung aufs Blatt gesetzt. Als er sie umarmte und Anette noch einmal in Schutz nehmen wollte, wäre er fast explodiert. Da wusste er, er musste sie allein lassen, wie meistens, wenn es ihr um den Kirchenchor ging.

Nun war er auf dem Weg zum Stammtisch im Gasthof Seehof, wo er als Lieferant des köstlichen Weißenberg-Gemüses gern gesehen und allmählich sogar wie ein Einheimischer respektiert wurde. Er traf dort den Bürgermeister, Kollegen aus der Umgebung und manchmal auch den Pfarrer an. Man tauschte sich übers Wetter und wichtigere Ereignisse aus, aber oft ging es zurzeit um den verstorbenen Landarzt, für den sich kein geeigneter Nachfolger finden ließ.

Stefan freute sich auf ein Feierabend-Bier und wollte gerade ein Liedchen vor sich hinpfeifen, als sein Handy brummte. Nach wenigen Metern hielt er auf der Landstraße. Sein erster Gedanke galt Marie. Hatte sie es sich anders überlegt und brauchte ihn doch als Stimmungsaufheller an diesem Abend?

»Stefan!«, hörte er Anettes Stimme. »Stefan, bitte, ich brauch deine Hilfe. Komm bitte sofort zu mir. Klingel einmal kurz und zweimal lang.« Ihre Stimme bebte.

»Was ist los, Anette?«

»Frag nicht. Ich erklär’s dir, wenn du bei mir bist.«

»Geht es dir nicht gut?« Nur so konnte er sich ihren plötzlichen Hilferuf erklären. Sonst telefonierte sie immer nur mit Marie.

»Meine Gespräche werden abgehört. Bitte, komm!«

Stefan stockte der Atem. Er wendete und raste los. Wer hörte Anettes Gespräche ab? Brachte sie da was durcheinander? Anette Lichtner unterrichtete im Altendorfer Gymnasium Latein in der Unterstufe und Geschichte in der Mittel- und Oberstufe. Wie geriet sie da in Agentenkreise? Sie stammte aus einer Lehrersfamilie am Chiemsee und war eine mustergültige Pädagogin. Sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und war bei den ­Altendorfern beliebt, weil sie immer den richtigen Ton fand, ohne ihre akademische und recht um­fassende Bildung anklingen zu lassen.

Ja, und wenn sie mit seinen Kindern auf dem Weißenberg-Hof tobte oder mit Marie über den letzten Film diskutierte, konnte sie so herzlich lachen, wie sie es in der Schule wohl nie wagte.

Zwanzig Minuten später parkte er in einer stillen Straße der Kleinstadt Altendorf. Während er auf das schlichte Apotheken-Haus zuging, in dessen erster Etage sich Anettes Wohnung befand, bemerkte er die heruntergelassenen Jalousien. Tatsächlich! Alles war so, wie Marie es ihm beschrieben hatte. Da wurde auch er unruhig.

Er klingelte, wie Anette es wünschte, und drückte gegen die Tür. Bevor er eintreten konnte, schaute er aufmerksam die Straße entlang. Nichts geschah hier an einem Abend, außer dass der Schnee leise rieselte. Es war zwanzig nach neun, und in einem Ort wie Altendorf begann da schon die Schlafenszeit.

Anette erwartete ihn oben an der Treppe. Sie war fünf Jahre jünger als seine Marie und hätte glatt als ihre kleine Schwester durchgehen können, obwohl sich die beiden Frauen in Aussehen und Garderobe sehr unterschieden.

»Hast du jemanden beobachtet?«, flüsterte sie ihm ängstlich entgegen.

Stefan schüttelte den Kopf. Wie blass sie war! Das schmale Gesicht mit den feinen hellen Brauen über den großen tiefblauen Augen verriet schon immer ihre Verletzlichkeit. Heute erinnerte es fast an eine schöne Geistererscheinung! Und ihr feines Blondhaar kringelte sich über der feuchten Stirn zu zarten Löckchen. Meistens trug sie es vom Mittelscheitel bis zu den Ohren zu einer Zopffrisur geflochten. Das harmonisierte mit ihren Dirndlkleidern, und wenn dazu noch kleine Ringe an ihren Ohren schaukelten, machte Marie ihr immer Komplimente, und Reserl klatschte vor Freude über die ungewöhnlich gekleidete Lehrerin in die Hände. Aber heute?

Sie zog ihn in die Wohnung und presste ihren Rücken an die Tür. Dann schloss sie den Sicherheitsriegel. »Danke, Stefan!«

»Kann ich mich setzen, damit du mir in Ruhe erzählst, was los ist?«

Blass und nervös war sie. Gleich darauf saßen sie sich in ihrem gemütlichen Wohnzimmer am Biedermeiertisch gegenüber. Alles war hier sehr ordentlich und gepflegt und unterstrich das etwas Altmodische ihres Äußeren.

»Es ist ein Mann, Stefan. Ich will ihn nicht mehr sehen, aber er nimmt das nicht hin. Deshalb kommt er her. Du musst ihn verjagen – ein für alle Mal!«

»Was für ein Mann?!« Stefan kannte keine Angst, dafür war seine Neugier schnell geweckt.

»Schrecklich, schrecklich!«

Sie faltete die Hände und legte sie auf den Tisch. Irritiert bemerkte Stefan, wie unregelmäßig sie atmete. Zweifellos war sie in großen Schwierigkeiten. Aber warum? Sie, die beliebte Lehrerin und dazu eine Frau von untadeligem Ruf, ließ sich doch nicht von irgendeinem Mann in eine Notlage zwingen!

»Anette!«, wollte er sie behutsam zum Sprechen ermuntern.

»Bist du mein Freund, Stefan?«

»Ich hoffe doch!«

»Also gut. Dann gib mir ein Versprechen. Das Wort eines Gentlemans, eines Ritters, einen Helden, das niemals gebrochen wird.«

Er war wie seine beiden Brüder in der dreizehnten Generation ein Baron von Weißenberg. Dass er als Gentleman durchs Leben ging, war selbstverständlich. Ritterlich zu handeln, war ihm in die Wiege gelegt worden. Aber ein Held? Ja, in Maries Armen, wenn sie sich an ihn drängte, weil sie von seinen Zärtlichkeiten nicht genug bekam, fühlte er sich zuweilen wie ein Held des Glücks. Aber bei Anette?

»Natürlich. Großes Weißen­­berg-Ehrenwort«, versprach er zögernd.

Sie schluckte. »Du darfst Marie kein Wort über unser Treffen verraten. Und auch nichts über meine Ängste vor diesem Mann.«

»Aber du bist Maries beste Freundin! Und Marie ist meine Frau und damit der Mensch, der mir am nächsten steht.«

»Das ist es ja! Ihr seid ein perfektes Ehepaar, ein Traumpaar. Und Marie ist eine vollkommene Frau. Sie wird nie verstehen, wozu ich mich hinreißen ließ.«

»Zu diesem Mann, vor dem du dich jetzt fürchtest?«

»Ja. Das würde sie doch nie verstehen. Nie! Nie, Stefan. Ich habe ihn … nämlich durchs Internet kennen gelernt.«

Da musste er schmunzeln. Anette hatte doch recht. Seine Marie würde lieber als vertrocknete Jungfer von dieser Welt verschwinden, als sich mit einem Fremden übers Internet einzulassen! Nicht mal, wenn der mehr von Landwirtschaft verstand als er!

»Und?«

»Ein höherer Beamter sei er, habe ein angenehmes Äußeres und beste Manieren. Ja, er hatte wirklich eine sanfte Stimme und wirkte auf dem Foto sehr gepflegt. Wir haben uns getroffen. In München.« Wieder presste sie die Lippen zusammen.

Während er auf ihre weitere Schilderung wartete, fühlte er sich schon bestätigt. Hatte er es nicht gewusst? Auch Anette hatte ein Recht auf ein eigenes Leben und auf nette Abende ohne die Weißenbergs! Konnte es sein, dass Marie fürchtete, ihre beste Freundin mit anderen Menschen teilen zu müssen? Das wollte sie natürlich nicht eingestehen.

»Es war ein kurzes Treffen. Denn er konfrontierte mich mit Einzelheiten aus meinem Leben, die mich gleich abstießen.«

»Wie können dich Einzelheiten aus deinem eigenen Leben abstoßen?« Das kapierte er nicht.

»Er wusste einfach alles über mich. Sogar, wie meine erste Liebe mich enttäuschte, während ich in Freiburg studierte! Und dass meine Schwester und ich eines Tages das große elterliche Anwesen am Chiemsee erben werden, meine Mutter nun wieder im Schwarzwald lebt und, ja, dass es in der Ehe meiner Schwester kriselt, was mir besonders zu schaffen macht.« Fröstelnd knöpfte sie ihr Strickjäckchen zu.

»Und das wusste er bestimmt nicht von dir?«

»Nein!« Sie griff nach einer Packung Taschentücher. »Und das war längst noch nicht alles. Er hatte eine Plastiktüte dabei. Deren Inhalt zeigte er mir mitten im Café. Ich habe nur schwarze Lack- und Ledersachen gesehen. Und schon schlug er vor, zu ihm zu gehen, damit ich das Zeugs anprobieren könne. Er meinte, es würde mir sehr gut stehen.«

»Wie widerlich! Jetzt brauch ich was zu trinken, Anette!«

»Bier, Wein und alles Alkoholische habe ich schon aus der Wohnung geschafft«, gestand Anette kleinlaut und stellte Apfelsaft auf den Tisch. »Ich habe ja immer noch Angst, er dringt hier ein.« Sie sah ihn voller Verzweiflung an. »Deshalb nehme ich das Telefon seit gestern nicht mehr ab. Ich habe es ihm verboten, aber das ließ er nicht gelten. Also, wenn er klingelt, trittst du ihm entgegen und sagst, wir hätten uns gerade verlobt.«

Stefan trank erst mal. »Am liebsten würde ich ihm etwas weniger Angenehmeres sagen, Anette!«

»Nein, dann schlägt er zu, Stefan. Ich traue ihm alles zu. Du bist doch der Einzige, der davon weiß, und dazu mein Freund. Was ist, wenn du ein blaues Auge mit nach Hause nimmst? Marie würde mir das nie verzeihen!«

Unwillkürlich ballte Stefan seine Fäuste. Nein, er war kein Schlägertyp! Aber Anettes Bräutigam war er auch nicht.

»Soll ich etwa einen meiner Kollegen um Hilfe bitten? Dann ist mein Ruf am Gymnasium ruiniert. Außerdem sind alle meine Kollegen verheiratet. So was kann bös enden.«

»Nein, Anette. Lass mich nur machen.«

Die Zeit bis zehn Uhr verging unendlich langsam. Stefan dachte an Marie, die wohl schon im Bett lag. Ob sie auf ihn wartete?

Dann endlich klingelte es ­stürmisch. Ja, unverschämt stürmisch. Anette zuckte zusammen. »Wieso, weiß ich nicht, aber er kriegt die untere Tür immer auf und steht dann gleich vor der Wohnungstür«, verriet sie mit zitternder Stimme.

Stefan erhob sich. Im Flur trat er energischer mit den Füßen auf. Das Geräusch sollte dem aufdringlichen Typen gleich klarmachen, dass hier ein starker Mann anwesend war. Er riss die Tür auf und schaute einem rundlichen Weichgesicht in die Augen.

»Ist Frau Lichtner da? Anette erwartet mich«, behauptete der. »Wie jeden Abend.«

»Heute bestimmt nicht. Wie feiern gerade unsere Verlobung.«

Fassungsloses Staunen zeichnete sich auf dem Gesicht ab, und gleich darauf verriet es Verachtung. »Was? Mit der? Die ist doch eine Schlampe!«

»Kann sein. Aber sie ist meine Schlampe!«, sagte Stefan und tippte sich auf die Brust. »Meine Schlampe! Und nun trollen Sie sich bitte. »Wir erwarten noch Freunde, ein Dutzend gute Kumpels … vom Verband der Jungbauern.«

Eine Gruppe starker Jungbauern flößte immer Respekt ein. Stefan schloss die Tür und wartete so lange, bis unten die Haustür zufiel. Inzwischen hatte Anette sich aus dem Wohnzimmer gewagt. Mit angstvoll geweiteten Augen schluchzte sie auf. Sie war wirklich am Ende! Er geleitete sie zum Sofa und drückte ihr sein Taschentuch in die Hand.

»Warum, Anette? Eine Frau wie du?!«

»Du weißt ja nicht, wie sich eine Dreißigjährige fühlt, die weder Mann noch Kinder … nur euch, die Weißenbergs, hat.«

Er sah sie nachdenklich an. Eigentlich konnte er sich für seine Familie keine bessere Freundin vorstellen. Aber eine gute Freundin sollte auch glücklich sein.

»Du sehnst dich nach einer festen Beziehung, wie?«

»Natürlich«, gab sie flüsternd zu.

»Du wünschst dir einen Mann, der dich liebt und umsorgt und deine zarte Seele zum Klingen bringt.«

»Woher weißt du das denn?«

Schmunzelnd legte er den Arm um sie. »Weil ich meine Marie kenne, Anette. Wir haben uns vor Jahren angesehen und wussten, da lauert ein bisschen Glück. Dass es groß und größer wurde, verdanken wir unserem gemeinsamen, unverbrüchlichen Vertrauen.« Sie nickte, und er fuhr fort: »Du bist kein Typ, der sein Glück im Internet findet. Du solltest lieber eine Anzeige in einer seriösen Zeitung aufgeben. Und wenn die Zuschriften hereinflattern, helfe ich dir gern, einen anständigen Mann – auch einen zum Träumen – herauszupicken. Wenn du willst, bleibe ich auch in der Nähe, wenn du dich das erste Mal mit ihm triffst.«

Sie blies ihren Atem heftig aus. »Eine Anzeige? Und was schreibe ich dort hinein? Ich kenne mich ja kaum noch selbst.«

Binnen Minuten fanden sich ein Block Papier und zwei Stifte.

»Wunderhübsch, zärtlich, hingebungsvoll, groß- und warmherzig, gebildet, kinderlieb, kultiviert, interessiert an Musik und ernsten Gesprächen, an Reisen, besonders in die südliche Sonne …«, schrieb er ihr schnell auf, weil er hoffte, doch noch zum Stammtisch zu kommen.

»Das alles stimmte doch gar nicht«, unterbrach sie ihn. Stefan lachte.

»Siehst du, du kennst deine guten Eigenschaften gar nicht. Dabei trifft alles haargenau auf dich zu.« Er sah zur Uhr. »Ich muss los, und du musst dir genau überlegen, welche Art von Frau du bist. Lass dir Zeit, Anette. Die Suche nach dem Glück ist zu wichtig, um damit herumzupfuschen.« Damit riss er das Blatt vom Block, faltete es zusammen und steckte es in seine Jackentasche.

»Lass es mir doch bitte hier, Stefan. Damit ich abschreiben kann, wenn mir nichts einfällt.«

»Keine Chance!«, erwiderte er entschlossen. »Du sollst selbst herausfinden, was an Gutem in dir steckt.« Und damit hauchte er ihr ein Küsschen aufs Blondhaar, schlüpfte in seine dicke Jacke und machte sich auf den Heimweg zu seiner Marie.

Auf der Landstraße grinste er vor sich hin. Was Marie wohl sagte, wenn er ihr von seiner Begegnung mit dem Weichei und der Lack- und Leder-Wäsche in der Plastiktüte erzählte? Aber nein, er durfte nichts von Anettes Nöten verraten. Das hatte er mit seinem großen Ehrenwort versprochen und hielt es auch. Und weil es ihn jetzt doch heim zu seiner Marie zog, fuhr er ohne Umwege zurück zum Weißenberg-Hof.

*

Am Sonntagmorgen fuhr Marie mit den Kindern zum Gottesdienst in St. Nicolai in Altendorf. Stefan hatte mal wieder einen Grund gefunden, sich vor dem Kirchgang zu drücken. Diesmal erwartete er einen Ingenieur, der ihn bei der Umgestaltung einiger Gewächshäuser beraten sollte.

Als sie Dany in dem neu erstandenen roten Anorak sah und wie Reserl und Jossi sich über die kunterbunten Mützen und Schals aus München freuten, verflog ihr Unmut sofort. Ihre Shopping-Tour hatte sich gelohnt. Danys Anorak war etwas groß. Der konnte auch noch den nächsten Winter überstehen, und die buntgestreiften Gummistiefel für die Mädchen kamen erst an sommerlichen Regentagen zum Einsatz. Aber alles war von bester Qualität! Und was für Augen würden die drei machen, wenn sie erst mit dem lustigen Faschings-Krims-Krams herausrückte!

Tatsächlich lag wieder eine Schneeschicht auf den Wiesen und Feldern. Ging der Winter nie zu Ende? Sie dachte an Anette, die wahrscheinlich doch verreist war und sich für das Wochenende einen Trip in den Süden geleistet hatte. Und prompt stieg der Ärger wieder in ihr hoch.

Die Notenvorlage für die dritte Stimme eines Choral kriegte sie ohne Anette einfach nicht hin. Und der Münchner Einkaufsbummel war ohne die Freundin auch kein rechter Spaß gewesen. Wenn Anette heute zum Chorsingen auftauchte, musste sie wirkich ein Hühnchen mit ihr rupfen.

Vor der kleinen Barockkirche St. Nicolai wartete schon die Gemeindeschwester Isolde. Jeden Sonntag scharte sie die Kinder um sich und verschwand mit ihnen im Nebengebäude, wo sie ihnen während des Gottesdienstes Heiligenlegenden vorlas. Reserl, die sich manchmal schon erwachsen fühlte, hätte lieber wie einige der Dorfkinder vor der Kirche herumgehangen. Aber ein Blick in Maries Gesicht und sie nahm Dany an der Hand und folgte Jossi brav, die schon an Schwester Isoldes Hand gut gelaunt Richtung Gemeindesaal hüpfte.

»Baronin, guten Morgen!«

Auf Marie kamen die Zwillingsschwestern Ruth und Hilde Schönbauer zu. Sie waren fünfzig, führten die Altendorfer Apotheke und gehörten mit ihren schönen Altstimmen zum Chor.

»Guten Morgen, die Schönauers.« Maries Gesicht hellte sich im Nu auf. »Wissen Sie, ob Frau Lichtner heute kommt?«

Weil Anette über ihnen wohnte, mussten sie das doch wissen.

»Gewiss doch!«, sagte Ruth.

»Heute ist ja kein Unterricht«, gab Hilde dazu, um dann gleich nach der Partitur für die dritte Stimme zu fragen.

»Ich hab’s nicht hinbekommen«, gab Marie freimütig zu, worauf die Apothekerinnen einen vieldeutigen Blick tauschten.

Der Kirchentraum war gut gefüllt, wie immer, wenn der Chor sang. Marie begrüßte ihre achtzehn Schützlinge. Anette war also wieder nicht dabei. Wie tröstlich, dass die Choräle auch ohne sie und die dritte Stimme gut klangen! Pfarrer Rieder blickte anerkennend zu ihr hinüber und wies seine Messjungen an, es ihm nachzutun. So recht konnte Marie sich nicht darüber freuen. Die Frage, was werden sollte, wenn Anette sich ganz vom Chor zurückzog, beschäftigte sie schon wieder.

Eine Stunde später, als die Gemeinde schon ins Schmuddelwetter hinausgetreten war, musste Marie noch mal erklären, warum die Noten für die dritte Stimme immer noch nicht fertig waren.

Als Pfarrer Rieder sie zu sich in die Sakristei winkte, nickte sie ihm nur kurz und knapp zu. Hoffentlich kam er nicht auch noch auf die dritte Stimme zu sprechen! Dann rastete sie aus vor Wut – sogar in der Sakristei.

»Baronin, bitte, kommen Sie doch noch mit in die Sakristei!«, erhob er doch tatsächlich seine Stimme.

Sie rief ihren Chorfreunden noch schnell ›einen schönen Sonntag‹ zu, hüllte sich in ihren Lodenmantel, drückte sich die Baskenmütze aufs Haar und trat ein. Pfarrer Rieder war ein freundlicher und rundlich gemütlicher Mensch, und sie ahnte schon, worum es ging. Bestimmt kam er wieder auf die verwaiste Praxis des verstorbenen Landarztes zu sprechen.

Er würde sie wieder fragen, ob es in der weitläufigen Verwandtschaft der Weißenbergs nicht einen Mediziner gebe, der sich hier in der herrlichen Landschaft als Arzt niederlassen wollte, damit seine Gemeindemitglieder nicht wegen jeden Hustens und Zipperleins die Fahrt nach Rosenheim oder Traunstein antreten mussten.

Aber Marie irrte sich gewaltig. Denn der Pfarrer überreichte ihr zwei Gläschen Honig. Sie sah ihn fragend an.

»Einmal Birkenhonig, einmal Waldhonig. Beides von der Witwe Matuschek, Baronin.«

»Für uns?«, freute sie sich. Die Witwe Matuschek wohnte in der Umgebung und galt für ihre weit über Sechzig als ungewöhnlich tatkräftig. Sie kleidete sich bunt und schrill wie eine Zirkusmitarbeiterin und verstand es immer noch, Männerherzen für sich einzunehmen.

»Frau Matuschek hat uns gestern zum Stammtisch im Seehof Kostproben ihres Honigs mitgebracht. Wirklich vorzüglich, was sie als Imkerin schafft, Baronin.« Seine Zunge fuhr sich über die weichen Lippen.

»Das ist sehr nett von ihr«, stellte Marie aufrichtig fest.

»Sie bat mich, Ihnen heute die Kostproben zu überreichen. Sie wissen ja, wenn etwas aus Ihrem Projekt Weißenberg-Hofladen wird, sollten Sie eine reichhaltige Auswahl unserer guten Produkte anbieten.«

»Ach so.« Marie verstand.

»Und zu unser aller Bedauern war der Baron ja gestern Abend nicht da.«

»Wie …? Er war nicht da?«

Pfarrer Rieder sah sie geduldig an. Und schon lächelte Marie wieder. Auch, wenn es ein etwas gekünsteltes Lächeln war, das so gar nicht zu ihr passte. »Meinem Mann ist Geschäftliches dazwischengekommen, ja. Danke für den Honig, Herr Pfarrer. Und liebe Grüße an Frau Matuschek.«

»Und Sie grüßen den Herrn Baron. Gott segnet die Tüchtigen, nicht wahr?«

»Ja, Herr Pfarrer.«

»Der Chor war heute wieder …, also ganz hervorragend, Baronin! Da geht meinen Schäfchen doch das Herz auf. Wie Sie das immer schaffen!«

»Wie?«, fuhr sie aus ihren Gedanken hoch. »Ach ja, es geht schon. Gott befohlen, Herr Pfarrer.«

Sie verließ die Sakristei langsam und durchschritt die Kirche wie im Traum. Was hatte Stefan vom Stammtisch abgehalten? Hatte er sich gestern Abend über ihre schlechte Laune geärgert und sich für eine angenehmere Ablenkung als den Stammtisch entschieden? War er deshalb so spät heimgekommen, sodass sie ihn nicht mal gehört hatte?

Sie holte die Kinder aus dem Gemeindesaal ab, und als die unbekümmert vor ihr her zum Auto hüpften, brach plötzlich die Sonne durch die Wolken. Marie hob den Kopf zu dem Stück blauen Himmel und atmete tief durch. Sie würde Stefan einfach fragen. Noch nie hatte ein Geheimnis zwischen ihnen gestanden.

»Mami …, was ist denn?«, rief Reserl ungeduldig.

Marie zuckte zusammen. Oder war es möglich, dass sich still und leise falsche Töne in ihre Ehe ­schlichen? »Nichts ist, meine Reserl.«

Auf der Fahrt zum Weißenberg-Hof erzählte Jossi auf ihre putzige Art die Legende vom Heiligen Sebastian.

»Pfeile, Mami! Sie haben ihn mit Pfeilen gepiekst.«

»Durchbohrt, Jossi, durchbohrt!«, verbesserte Reserl prompt.

»Also, davon will ich heute nichts hören!«, entschied Marie energisch. Nein, alles, was Schmerzen verursachte, ertrug sie heute nicht. Die Sonne schien doch endlich! Was Anette wohl dazu sagte, wenn sie sich über Schwester Isoldes Schauergeschichten beklagte. Aber Anette war nicht da! Maries Lippen wurden schmal.

Wie immer sonntags wurde im großen Essraum gegessen. Wilma hatte ein weißen Tischtuch aufgelegt und trug ihr Sonntagskleid. Es war dunkelblau und von weißen Sternchen übersät. Die Sternchen waren so weiß wie ihr Haar, und ihr großmütterliches Gesicht strahlte wie die Frühlingssonne, als sie den Gemüseauflauf und knusprige Hammelkoteletts dazu servierte.

Bevor Stefan kam, stellte Marie die Honiggläser gut sichtbar neben sein Gedeck. Das würde ihn zu einer Frage veranlassen, und dann klärte sich bestimmt sein Fehlen beim Stammtisch als Missverständnis auf.

»Baronin Marie!«, sagte Wilma streng und nahm die Gläschen wieder vom Tisch. »Das ist nicht gut für die Kinder. Honigschlecken beim Gemüseauflauf! Wir wollen doch unsere kleinen Schätzchen nicht unnötig verwöhnen.«

Marie wagte der Siebzigjährigen nie zu widersprechen. Dazu hatte sie sie viel zu gern. Also presste sie die Lippen wieder aufeinander.

»Mahlzeit!«

Das war Stefan, der mit den Kindern eintrat. Alle drei zeigten ihre frisch gewaschenen Hände und sahen Marie dabei recht verschmitzt an.

»Was ist denn?«, fragte sie beiläufig und setzte sich an den Tisch. Und da kam wie von Zauberhand von hinten etwas Wunderschönes zum Vorschein.

In einem winzigen Körbchen wuchs ein Bündel Märzenbecher auf grünem Moos. Und um das Körbchen war ein rosarotes Schleifchen gebunden. Behutsam stellte Stefan es vor ihr Gedeck.

»Ist das nicht süß, Mami?«, fragte Reserl. »Hat Papi gefunden und extra nach Moos gesucht und für dich gemacht. Hat er doch super hingekriegt, wie?«

Marie sah sich um und direkt in Stefans stolzes Gesicht. Und dabei verschwanden seine Umrisse hinter einem Tränenschleier. Wie hatten sich nur so dumme Ahnungen über seinen gestrigen Abend in ihr Herz bohren können? Sie schluckte. »Für mich?«

Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Für die liebste Mami und die schönste Ehefrau auf der Welt – meine Marie.«

Noch als er neben ihr saß und sich alle bei den Händen fassten, um sich guten Appetit zu wünschen, würgte Marie gegen ihre Tränen. Wie war sie nur darauf gekommen, ihm Heimlichkeiten zuzutrauen? Sie schaute ihm in die hellen Augen, versank in seinem lieben Blick und lächelte glücklich.

»Es sind die ersten Märzenbecher«, erklärte er. »Ich entdeckte sie, als ich mit dem Ingenieur zum Wald spazierte. Und die sollte unsere Mami bekommen, damit ihre düstere Winterstimmung verfliegt.«

»Schön sagen Sie das, Baron!« Wilma legte ihm gleich zwei Koteletts auf den Teller.

»Ich kann auch was Schönes sagen«, machte sich Dany bemerkbar. »Weißt du, Papi, dass sie den Heiligen Sebastian mit Pfeilen gepiekst haben!«

»Hm.« Stefan ergriff statt des Bestecks Maries Hand und drückte sie zärtlich. Er zwinkerte ihr zu. »Ja, das war wohl so. Und darum war der Heilige Sebastian auch sehr glücklich, als er danach gleich in den Himmel kam.«

Aus den Gesichtern der Kinder wich die Furcht, und Marie schenkte ihrem Stefan ein bewunderndes Lächeln. Es gab auf der ganzen Welt keinen besseren Mann und Vater als ihn. Und dann war es auch gleichgültig, ob er zum Stammtisch fuhr oder den Abend irgendwo anders verbrachte.

*

Zwei Wochen lang verlief das Leben so harmonisch wie immer. Es kam noch mal dicker Schnee herunter, und Reserl, Jossi und Dany tobten auch ohne ihren viel beschäftigten Vater auf dem Hügel herum.

Wilma stellte sich mal wieder stur und trotzte Marie die Genehmigung zum Beginn des Frühlings­putzes ab, und Stefan fuhr wöchentlich nach München, um die Lieferungsverträge für seine köstlichen Erdbeeren und die danach reifenden Sauerkirschen zu erneuern.

Aber als Anette ihn eines Mittags bat, doch bitte bei ihr hereinzuschauen, nahm er sich natürlich eine Stunde Zeit. Er fand sie wieder ziemlich nervös, aber sie behauptete, sie sei nur kribbelig. Auf ihrem Arbeitstisch stapelten sich die Hefte mit den neuesten Schülertests. Aber das war nicht alles. Sie zog plötzlich einen Haufen Briefe darunter hervor. Das waren die Zuschriften, die auf ihre Heiratsannonce eingetroffen waren. An einige Blätter waren sogar Fotos geheftet.

»Donnerwetter!«, staunte Stefan. »Da siehst du mal, was für eine begehrte Frau du bist!«

»Aber nur vier gefallen mir …, leider.«

»Du kannst ja auch Ansprüche stellen und wählerisch sein!«

Ihr Blick verriet sofort Unsicherheit. Das machte sie so sympathisch, und als Stefan ihr aufmunternd zulächelte, legte sie ihm die vier Briefe vor. »Bitte, setz dich doch, Stefan.«

»Tja, das muss ich wohl. Aber bestimmt geht es den Herren gegen den Strich, wenn sie erfahren, ausgerechnet von einem Familienvater wie mir überprüft zu werden.«

»Ein Mann wie du darf alles, außer Marie etwas über meine Versuche verraten. Du hast ihr doch nichts verraten?«

Stefan verneinte, legte seine Lederjacke ab und setzte sich, wobei er sich durchs kurze Strubbelhaar fuhr. »Das fällt mir sehr schwer. Ich tu’s nur für dich, Anette. Außerdem muss ich mir täglich Maries Beschwerden über dich anhören. Sie versteht nicht, warum du uns meidest. Sie vermisst dich doch!«

»Erklär ihr, dass ich zu viel zu tun habe. Zeugnisse und so. Wenn ich mich für einen der Bewerber entschieden habe, führe ich ihn vor und gestehe ihr alles. Sie wird mich verstehen, Stefan.«

Er wiegte seinen Kopf unschlüssig hin und her. Dann warf er einen Blick auf die Briefe.

»Dieser hier sieht gut aus, Stefan. Schau mal.« Sie legte ihm das Foto eines sportlichen Typen vor. »Er ist leitender Ingenieur und wünscht sich Kinder. Außerdem ist er gern unterwegs.«

»Unterwegs«, murmelte Stefan. »Aber er arbeitet in Kiel! Du willst doch nicht so weit weg von uns!«

»Das habe ich nicht bedacht.«

»Also gut. Der nächste bitte.«

»Dieser ist Lehrer wie ich. Und er liebt Musik wie ich.«

»Er ist frisch pensioniert und hat schon drei Enkel! Aber, Anette.«

Sie rollte mit den Augen. »Wer Enkel hat, kann doch noch eigene Kinder bekommen.«

»Anette!«

Dann legte sie ihm das letzte Blatt vor. »Der schreibt sehr nett und hat Humor. Er ist Arzt in München. Aber er hat kein Foto mitgeschickt. Das macht mich misstrauisch.«

»Mich auch.« Stefan las. »Frank Bahring. Mitte Vierzig, Kardiologe mit einer gut gehenden Praxis und seit einigen Jahren verwitwet. Hm. Hört sich gut an. Auch die Schrift wirkt sympathisch. Aber wie mag er aussehen?«, überlegte er.

»Wenn er unattraktiv, aber eine ehrliche Haut und aufrichtig ist, stört’s mich nicht. Außerdem hat er keine Kinder. Hoffentlich wünscht er sich eins. Und außerdem …, er weiß ja auch nicht, wie ich aussehe, freut sich aber auf ein Treffen mit mir.«

»Und? Willst du ihn treffen?«

Sie nickte. »Nach einigen Briefen mehr, und nur, wenn du in der Nähe bleibst.« Sie bemerkte den Vorwurf in seinen Augen und setzte hastig hinzu: »Du hast es versprochen!«

»Ich habe dir viel zu viel versprochen!«, bekannte er reuevoll. »Und alles in der Hoffnung, dass du uns erhalten bleibst und trotzdem glücklich wirst. Na gut, wenn du nach München ziehst, können wir uns wenigstens manchmal sehen.«

»Natürlich. Und zu den Chorproben komme ich auch wieder.«

»Wer’s glaubt, wird selig.« Da lachte sie leise. Es klang so hoffnungsvoll, dass er sich den Brief ein zweites Mal vornahm. »Also gut, verabrede ein Treffen mit Doktor Bahring, aber nimm Rücksicht auf meinen Terminkalender. Abends fahre ich nicht nach München. Ja, und wenn er dir einen Treffpunkt vorschlägt, achte darauf, dass es kein zu kleines Café oder Restaurant ist. Ich will mich ja in der Nähe aufhalten, aber nicht auffallen.«

»Du stehst also wirklich zu deinem Versprechen?« Wie liebenswert sie schauen konnte! Da musste doch jeder Mann schwach werden!

Und so nickte Stefan stolz, weil sie auf seinen Rat gehört und so viele Zuschriften bekommen hatte.

»Und wenn ich ihm nicht gefalle?« Plötzlich zupfte sie fahrig an ihrer Zopffrisur herum. »Seh ich nicht wie eine Landpomeranze aus?« Sie reckte ihr Köpfchen, wobei ihr schlanker Hals besonders gut zur Geltung kam. »Soll ich vorher zum Friseur? Oder mich so elegant einkleiden wie Marie? Es kann ja sein, dass ihm Frauen in Dirndlkleidern rückständig vorkommen.«

»Wenn du es merkst, kannst du dir immer noch einen sportlichen Hosenanzug zulegen.«

»So was steht mir doch gar nicht!« Sie zog die zarten Brauen hoch und sah ihn strafend an, als müsste er das doch wissen!

»Anette! Hör auf! Als ich Marie zum ersten Mal sah …«