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… ut signum, id est quasi vestigium aeternitatis,
tempus appareat

Augustinus, De Genesi adversus
Manichaeos liber imperfectus 13,38
(zu Genesis 1,14)

… sodass als Zeichen, nämlich gleichsam als Fußstapfen
der Ewigkeit, die Zeit erscheint

Dem Andenken an
Werner Neumann
Alfred Dürr
Georg von Dadelsen

Ulrich Siegele

Johann Sebastian Bach
komponiert
Zeit

Tempo und Dauer in seiner Musik

Band 2
Johannes- und Matthäus-Passion

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www.tredition.de

© 2016 Ulrich Siegele

Autor: Ulrich Siegele

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:

978-3-7345-4800-0 (Paperback)

978-3-7345-4801-7 (Hardcover)

978-3-7345-4802-4 (e-Book)

Umschlagabbildung: Wilhei

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

MATTHÄUS-PASSION

Die Basis der Disposition

Darstellung in Zahlen

Darstellung am Abakus

Das Evangelium nach Matthäus

Die beiden Teile des Werks

Das Verhältnis von Rezitativ und Choral

Der Ort der Tempostufe

Das Tempo des Vortrags

Rezitativ und Turba

Die Tempobezeichnungen

Die Arien

Stationen eines Kreuzwegs

Das Libretto Picanders

Die Ordnungsstrukturen Bachs

Die Dauernverhältnisse der Arien

Die fünf Actus

Die übrigen Sätze

Ein komplementäres Paar

Die Verteilung der Choräle

Der Rahmen

Abweichungen

Die spätere Fassung

JOHANNES-PASSION

Das ganze Werk

Die Vorgabe des Evangeliums

Die Basis der Disposition

Die Anordnung der Gattungen

Flexible Abgrenzungen

Das Evangelium

Essenzielle Unabgeschlossenheit?

Die Herstellung der Disposition

Die Dauern der Rezitative und Turbae

Eine These und ihre Relativierung

Die zwei Gruppen der Turbae und ihr Ort

Die Turbae kontrapunktischer Faktur

Akt Pontifices
Akt Pilatus I
Akt Pilatus II
Akt Crux

Übersicht

Die anderen Gattungen

Anzahl und Dauer der Arien

Die Choräle und die Ariosi

Eingang und Beschluss

Ein Blick aufs Ganze

Zugabe

Das Magnificat

Verzeichnisse

Zitierte Literatur

Kompositionen von Johann Sebastian Bach

Personen

Vorwort

Der Unterschied zwischen den Goldberg-Variationen und den beiden Passionen Bachs hat mich gereizt. Dort ein Werk für einen einzelnen Spieler und ein einzelnes Instrument, hier zwei Werke für viele Mitwirkende und eine umfangreiche Zahl von Instrumenten und Singstimmen; dort der Solist, hier das Ensemble. Dort die in sich vielfach gegliederte, jedoch einzige Gattung der Variationen, hier die Vielheit verschiedener Gattungen in abwechslungsreicher Aufeinanderfolge. Dort im stets wiederholten Bass von 32 Tönen der Aria am Anfang und Schluss und in den drei Reihen der 30 Variationen der klare Hinweis, wie der formale Aufbau zu verstehen ist, hier die offene Frage, wo der Ansatz für eine Gliederung zu suchen, ob er zu finden sei. Wird es gelingen, eine ebenso schlüssige Organisation der Dauer wie dort in den Goldberg-Variationen auch hier in den beiden Passionen nachzuweisen?

Tatsächlich gibt es einen Rahmen, auf den die Disposition der beiden Passionen bezogen werden kann. Er ist seit geraumer Zeit bekannt und sogar in der Bachforschung heimisch, aber so arglos verwendet worden, dass seine grundlegende Gültigkeit nicht erkannt und genutzt werden konnte. Für die beiden oratorischen Passionen Bachs ist der Text des gewählten Evangeliums maßgebend, und zwar nicht nur nach dem Inhalt, sondern gerade auch nach der Form. Dieser Text ist traditionell in mehrere Akte gegliedert worden. Die Gliederung in fünf Akte ist Anfang des 17. Jahrhunderts bezeugt und durch die Handlungsorte der Passion bestimmt: der Garten Gethsemane, die Hohenpriester, Pilatus, die Kreuzigung und die Grablegung. Allerdings war im 16. und 17. Jahrhundert die Fünfzahl nicht fixiert; auch andere Einteilungen waren möglich und wurden verwendet. Die Gliederung der Passionsgeschichte in Akte war verbreitet, die Anzahl der Akte jedoch schwankte.

Entscheidend für die Möglichkeit, die Akte als Rahmen für die Disposition einer Bachschen Passion zu verstehen, ist die Bestimmung der Orte, an denen die Grenze zwischen ihnen jeweils verläuft. Der bedeutende Theologe Johann Gerhard hat einer Schrift von 1611 die Einteilung in fünf Akte als gültig zugrunde gelegt und diese Akte überdies in besondere Kapitel unterteilt. Er folgt zwar nicht der Passion nach einem einzelnen der vier Evangelisten, sondern nach der verbreiteten Harmonie aller vier Evangelisten von Johannes Bugenhagen, dem niederdeutschen Reformator und Beichtvater Luthers. Den Text dieser Passionsharmonie zitiert er vor jedem Kapitel eines Akts vollständig oder zumindest in einem ausführlichen Auszug. Daraus ergibt sich in der Regel eindeutig, wo in einem der vier Evangelien die Grenzziehung zwischen den einzelnen Akten und ihren Unterteilungen verläuft; Zweifel können nur ausnahmsweise aufkommen. Hier liegen demnach authentische Angaben vor, die dem Gutdünken des heutigen Betrachters entzogen sind; er ist gehalten, diese Einteilung zu respektieren.

Wie verhielt sich Bach gegenüber der Tradition, die ihm näher stand als uns heute? In der Matthäus-Passion hat er einerseits die Vorbereitung, die in der Einsetzung des Abendmahls, Cena Domini, gipfelt, gemäß dem Evangelium hinzugefügt, andererseits Kreuzigung und Grablegung in einen Akt zusammengefasst; auf diese Weise verbleibt er bei fünf Akten, die in zwei und drei aufgeteilt werden. In der Johannes-Passion dagegen, wo die Vorbereitung im Evangelium fehlt, hat er die Geschehnisse vor Pilatus angesichts ihres Umfangs in zwei Akte getrennt, sodass hier eine Einteilung in sechs Akte vorliegt. Sie werden für die Aufführung aus pragmatischen Gründen in zwei und vier Akte aufgeteilt; denn die Gliederung der Disposition des Werks arbeitet demgegenüber mit zwei Hälften zu je drei Akten. Bach hat also von der Möglichkeit, die Zahl der Akte zu variieren, Gebrauch gemacht.

Die Einteilung war insoweit offen, dass ein Komponist aus dem einen oder anderen Grund Verschiebungen der Grenzziehung vornehmen konnte; wo allerdings eine derartige Verschiebung vorliegt, besteht die Verpflichtung, eine Begründung zu suchen und zu nennen. Schließlich hat sich die Annahme eingebürgert, das Ende eines Akts werde in Bachs Komposition von einem Choral markiert. Wird jedoch die authentische Einteilung der Akte zugrunde gelegt, dann zeigt sich, dass das Ende eines Akts normalerweise von einer Arie markiert ist (was selbstverständlich nicht in sich schließt, dass jede Arie das Ende eines Akts bildet).

Im Verlauf des Projekts und besonders während der Arbeit an den Passionen hat sich mein Interesse vom Tempo auf die Dauer, nämlich von der Wahl des Zeitmaßes auf die Erstreckung in der Zeit, verschoben. Während ich am Anfang den Akzent auf das Tempo legte und mir die Dauer insoweit wichtig war, wie sie aus der gewählten Tempostufe resultierte, gelangte ich mehr und mehr zu der Einsicht, dass der Dauer der erste Platz gebührt; sie wird durch die Wahl der Tempostufe und der Taktart kompositorisch konkretisiert. Die Dauern habe ich in drei verschiedenen Formen dargestellt, als Zahlen der Takte, in Minuten und Sekunden, am Abakus; der Abakus scheint mir eine Möglichkeit zu bieten, die Herstellung der Disposition auf eine anschaulichere Weise vorzunehmen, als dies mit Taktzahlen oder Zeitdauern geschehen kann.

Die Verschiebung vom Tempo auf die Dauer ist begründet in dem ausgeprägten Interesse daran, auf welche Weise Bach die Disposition eines ausgedehnten Werks entworfen hat. Wie ich im ersten Band bei den Goldberg-Variationen jede ihrer drei Reihen zunächst für sich betrachtet und erst danach ihre Zusammenfügung vorgenommen habe, so habe ich mich hier bei den Passionen jeder der Gattungen – dem Evangelium, in der Johannes-Passion geteilt in Rezitative und Turbae, und den Arien, den Chorälen und den Ariosi, dem Eingang und Beschluss – für sich gewidmet und dann das Ergebnis ihres Zusammentritts geprüft. Das Ergebnis differiert für die Matthäus-Passion und für die Johannes-Passion. In der Matthäus-Passion verändern die strukturellen Modifikationen die Basis der Disposition; in der Johannes-Passion dagegen gleichen sie sich sowohl aufs Ganze der Basis der Disposition wie auf ihre Hälften aus, allerdings nicht auf die einzelnen Akte. Es scheint, dass sich Bach der Mühe, die er auf den Ausgleich in der Johannes-Passion verwendet hatte, in der Matthäus-Passion kein zweites Mal unterziehen wollte.

Merkwürdig ist auch der Unterschied im Verhältnis der Dauer der beiden Teile. In der Johannes-Passion, in der die beiden Teile nicht mit den beiden Hälften zu je drei Akten der Disposition übereinstimmen, dauern der Teil vor der Predigt 40 Minuten und der Teil nach der Predigt 95 Minuten; die entsprechenden Werte betragen in der Matthäus-Passion, in der die beiden Teile und die Disposition übereinstimmen, 77’30’’ und 105’00’’. Der erste Teil der Johannes-Passion hält sich an den vorgegebenen Rahmen der Liturgie. Wer aber hat Bach die Genehmigung erteilt, in der Matthäus-Passion so erheblich von diesem Rahmen abzuweichen, der vorschrieb, dass auch in der Karfreitags-Vesper eine Stunde nach Beginn des Gottesdiensts die Predigt zu beginnen habe?

Bei den Goldberg-Variationen lag mir daran zu zeigen, dass die Ordnung des Tempos und der Dauer eingebunden ist in ein System von Ordnungsbereichen. Bei den Passionen dagegen habe ich mich streng auf die Disposition der Dauer und der Tempostufen beschränkt, also die Disposition beispielsweise der Harmonien und der Klangmittel auf sich beruhen lassen. Auch habe ich durchgängig der inneren Evidenz der beiden Werke oder jedenfalls des Bachschen Werks vertraut und Literatur nur dann herangezogen, wenn sie als Beleg erforderlich war. Die beiden Schriften von Wilhelm Werker (Die Matthäus-Passion, Leipzig 1923, Bach-Studien 2) und Hans Brandts Buys (De Passies van Johann Sebastian Bach, Leiden 1950), so anregend vor allem die zweite ist, stehen doch in ihrem Vorgehen und ihren Zielen zu weit ab. Ruth Tatlow (Bach’s Numbers. Compositional Proportion and Significance, Cambridge 2015) gründet ihre Untersuchungen allein auf die Taktzahlen, ohne das Tempo und die daraus resultierende Dauer einzubeziehen. Während mir am Prozess der Herstellung der Disposition liegt, ist ihre Absicht, die Bedeutung runder Summen und den abschließenden Ausgleich der Taktzahlen eines Werks oder mehrerer aufeinander bezogener Werke darzulegen.

Mit Christfried Brödel habe ich mich, noch ehe ich wirklich mit der Arbeit begonnen hatte, im Sommer 2012 anlässlich der Vorbereitung seiner Dresdner Aufführung fürs Frühjahr des nächsten Jahrs über Fragen der Matthäus-Passion unterhalten. Vielleicht gab mir dieser schriftliche Austausch überhaupt den letzten Anstoß, Bachs Passionen als nächstes vorzunehmen; jedenfalls gehen die Überlegungen zum Tempo des Vortrags der Rezitative des Evangelisten in der Matthäus-Passion darauf zurück. Eine frühere Fassung der vorliegenden Untersuchungen habe ich im Herbst 2015 auf Einladung von Thomas Schipperges in Tübingen und auf Einladung von Michael Heinemann in Dresden vorgetragen, mit Siegbert Rampe immer wieder über die beiden Passionen gesprochen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.

Mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit des Benutzers füge ich auf der gegenüberliegenden Seite aus der Grundlegung des ersten Bands die Übersicht über die sechs Tempostufen der Bachschen Musik zur raschen Orientierung an.

Ich kann den Leserinnen und Lesern keine beschauliche Lektüre in Aussicht stellen. Denn es geht hier um einen Aspekt des kompositorischen Handwerks auf höchstem Niveau. Das ist ein hartes Brot. Dessen ungeachtet bin ich der Überzeugung, dass auch diese Seite des Bachschen Schaffens die Aufmerksamkeit und Mühe der an seiner Musik Interessierten verdient. Ob jemand den Mut hat, aus den hier vorgelegten Untersuchungen Konsequenzen für die Praxis zu ziehen, lasse ich dahingestellt. Mir muss es genug sein, eine bisher unbeachtete Seite von Bachs kompositorischer Kompetenz fassbar gemacht zu haben. Der Rest steht bei der Leserschaft, in deren Obhut ich das Buch nun übergebe.

DIE SECHS TEMPOSTUFEN DER BACHSCHEN MUSIK
KennzahlProportion der TempostufeMetronomische SignaturGrundlage des Bereichs
12Das Dreifache
(= 3 p)
172,8
8Das Doppelte
(= 2 p)
115,2
6Das Anderthalbfache
(= 3/2 p)
86,4Konzert
4Prinzipieller Wert
(= p)
57,6Motettisch-figural
3Dreiviertel
(= 3/4 p)
43,2Liturgisch-choral
2Die Hälfte
(= 1/2 p)
28,8

MATTHÄUS-PASSION

 

Die Basis der Disposition

Darstellung in Zahlen

Die Matthäus-Passion ist ein außerordentliches Werk. Die doppelchörige Anlage, die sich in der vertikalen Ausdehnung der Partitur äußert, findet ihre Entsprechung in der horizontalen Ausdehnung der Dauer. Diese Dauer übertrifft alle anderen Werke Bachs. Im vorliegenden Zusammenhang verleiht das der Matthäus-Passion ein besonderes Interesse. Denn wenn irgendwo, dann ist hier der Ort, an dem Bachs dispositionelle Kompetenz ihre Wirkung entfalten musste. Wie also ist die ungewöhnliche Ausdehnung zustande gekommen, wie ist sie organisiert?

DAS LEERE SCHEMA
Erster
Teil
Zweiter
Teil
Erster und
zweiter Teil
Evangelium
Arien
Summe
Das Werk
Summe
Rezitative
Choräle
Eingang und Beschluss

Das leere Schema zeigt die Gliederung des Werks, in den Spalten nach der Aufeinanderfolge der beiden Teile und ihrer Summe, in den Zeilen nach der Funktion, nämlich den verschiedenen Ebenen des Texts und der Musik. Oben stehen das Evangelium und die Arien, dazu deren Summe, unten die Accompagnato-Rezitative und die Choräle sowie Eingang und Beschluss, dazu deren Summe. Die obere und die untere Summe vereinigen sich in der Mitte zum Ganzen des Werks. Das Evangelium nach Matthäus in der Übersetzung Martin Luthers bildet Grundlage und Ausgangspunkt der Disposition. Auf diese Grundlage sind hinsichtlich der Dauer die Arien über die zeitgenössischen Dichtungen Picanders bezogen. Diesem ausgedehnten Paar steht mit den Accompagnato-Rezitativen, ebenfalls auf Texte Picanders, und den reformatorischen Chorälen ein zweites Paar gegenüber. Diesem sehr viel kürzeren Paar sind als dritte Ebene der Eingang des ersten und der Beschluss des zweiten Teils des zweiteiligen Werks zugeordnet; den Beschluss des ersten Teils bildet in der für die ursprüngliche Disposition maßgebenden Frühfassung ein einfacher Choralsatz, noch nicht der große Choralchor, der später an dessen Stelle tritt.

Das Ganze des Werks ist also hinsichtlich des Ablaufs in zwei Teile, hinsichtlich der Funktion in fünf Ebenen gegliedert. Diese doppelte Gliederung, einerseits hinsichtlich des Ablaufs, andererseits hinsichtlich der Funktion, scheint ein Arbeitsprinzip Bachs zu sein. Denn die Disposition besteht bei Fugen häufig einerseits in zwei Teilen, andererseits in der thematischen und nichtthematischen Ebene, die Disposition der Goldberg-Variationen einerseits in zwei Hälften, andererseits in der charakteristischen, der virtuosen und der kanonischen Reihe.1 Die Matthäus-Passion fügt sich dieser doppelten Gliederung ein, gibt jedoch der Größe ihrer Anlage Ausdruck in der Fünfzahl der funktionalen Ebenen. Diese ungewöhnlich hohe Zahl der funktionalen Ebenen ermöglicht es, die ungewöhnliche Dauer abwechslungsreich zu realisieren, die Abwechslung jedoch zugleich auf Ordnungsprinzipien zu gründen.

Die Disposition jeder Ebene hat die Trennung in zwei Teile zu berücksichtigen. Sonst aber verfügt jede der fünf Ebenen über ihre eigene Gliederung, die allerdings im Zusammentritt der Ebenen oft nur noch mit Mühe erkennbar ist. Es scheint der Glaube zu gelten, dass, was in seinen Teilen wohlgeordnet ist, auch beim Zusammentritt der Teile seine Ordnung behält, selbst wenn diese Ordnung dann nicht mehr unmittelbar hervortreten kann, vielleicht sogar in den Hintergrund treten soll. Die analytische Aufgabe besteht demnach darin, die spezielle Gliederung jeder Ebene zu benennen.

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In den Feldern des Schemas, die aus der Kreuzung der Spalten und Zeilen entstehen, finden die Basiswerte der Disposition Platz; die Tabelle bietet das Ergebnis. Die Basiswerte sind nach Minuten und Sekunden bestimmt und summieren sich für das ganze Werk auf 180 Minuten oder drei Stunden. Für das Evangelium und für die Arien erhält der erste Teil je 30’00’’, die im zweiten Teil jeweils um 7’30’’ vermehrt werden. Demzufolge umfassen in beiden Teilen zusammen das Evangelium und die Arien je 67’30’’, Evangelium und Arien zusammen im ersten Teil 60’00’’ und im zweiten Teil 75’00’’, Evangelium und Arien in beiden Teilen zusammen 135’00’’ oder Zweieinviertelstunden. Die Rezitative, die Choräle sowie Eingang mit Beschluss erhalten in jedem Teil je 7’30’’, in beiden Teilen zusammen also je 15’00’’. Das summiert sich in jedem Teil auf 22’30’’, in beiden Teilen zusammen auf 45’00’’ oder eine Dreiviertelstunde. Evangelium und Arien auf der einen, Rezitative, Choräle sowie Eingang mit Beschluss auf der anderen Seite ergeben zusammen im ersten Teil 82’30’’, im zweiten Teil 97’30’’, nämlich im ersten Teil 7’30’’ weniger, im zweiten Teil 7’30’’ mehr als anderthalb Stunden. Das führt, ebenso wie die Summe jeder der beiden Gruppen, auf die genannte Dauer des ganzen Werks von 180’00’’ oder drei Stunden. Die Summen beider Teile für das Evangelium und für die Arien ebenso wie die Summe beider Teile für Rezitative, Choräle sowie Eingang mit Beschluss sind sämtlich teilbar durch 22’30’’ und stehen im Verhältnis 3 : 3 : 2; das ergibt für Evangelium und Arien zusammen den Wert 6, fürs ganze Werk den Wert 8.

Darstellung am Abakus

Die Basis der Disposition ist in sich stimmig. Aber es ist kaum denkbar, dass Bach sie in dieser komplizierten, abstrakten Weise entworfen und dargestellt hat. Einen einfacheren, leichter zu handhabenden Weg bietet der Abakus, nämlich ein Rechenbrett, allerdings in einer Form, die für jedes Werk speziell eingerichtet werden kann. Im vorliegenden Fall liegt dem Rechenbrett, das auf ein Stück Papier aufgezeichnet werden mag, die Einteilung des leeren Schemas in Felder zugrunde, allerdings ohne die Felder für die Summen; denn die Summen erscheinen auf dem Abakus sogleich als Ergebnis des Handelns mit Einheiten und sind, auch ohne dass sie gesondert dargestellt werden, auf einen Blick erkennbar. Als Einheit wird der kleinste in der Basis der Disposition auftretende Wert gewählt, der nun aber nicht als Zahlenwert, sondern als Gestalt, nicht als 7’30’’, sondern als halbe Viertelstunde bezeichnet und durch ein Steinchen oder einen anderen zweckmäßigen Gegenstand, etwa eine Münze, dargestellt wird. Eine Stunde enthält acht halbe Viertelstunden. Um also die drei Stunden des Werks darstellen zu können, ist ein Vorrat von 24 Steinchen erforderlich. Wenn dieser Vorrat vollständig auf die Felder des Rechenbretts verteilt ist, hat der Entwurf der Disposition seinen Abschluss erreicht.

Als erster Schritt wurden je vier Steinchen auf die beiden Felder des ersten und des zweiten Teils von Evangelium und Arien verteilt. Auf diese Weise waren 16 Steinchen verbraucht. Von den verbliebenen acht Steinchen erhielt jedes der beiden Felder der Rezitative, der Choräle und des Eingangs mit Beschluss ein Steinchen. Der nun noch vorhandene Rest von zwei Steinchen kam jeweils dem zweiten Teil des Evangeliums und der Arien zugute. Nun hatte jedes der 24 Steinchen seinen Platz gefunden und die Disposition war fertig. Beide Teile zusammengenommen, lagen in den Feldern des Evangeliums und der Arien je dreimal drei, also neun Steinchen, die durch die insgesamt zweimal drei, also sechs Steinchen von Rezitativen, Chorälen und Eingang mit Beschluss auf achtmal drei, also 24 Steinchen ergänzt wurden.

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Der unschätzbare Vorteil dieses Verfahrens besteht in seiner Anschaulichkeit, ja Handgreiflichkeit. Es ist gewissermaßen möglich, die halben Viertelstunden in die Hand zu nehmen, sie versuchsweise in unterschiedliche Felder des Rechenbretts zu setzen, auf diese Weise verschiedene Möglichkeiten anschaulich durchzuspielen und so das gültige Ergebnis zu entwickeln. Die Einfachheit des Verfahrens macht den Abakus in der beschriebenen Form zum gegebenen Mittel für den Entwurf der Disposition. Selbstverständlich kann niemand wissen, ob Bach so verfuhr. Allerdings ist anzunehmen, dass noch zu seiner Zeit der Abakus gerade im täglichen Leben, wie heute in weiten Teilen der Welt, als Recheninstrument in Gebrauch und somit Bach vertraut, auch angesichts der zahlreichen nichtdekadischen Maß-, Gewichts- und Münzsysteme seine Anpassung an wechselnde Gegebenheiten üblich war. Jedenfalls ist dieses Verfahren für den Entwurf der Disposition so naheliegend und praktikabel, dass ernsthaft erwogen werden muss, ob Bach sich seiner bedient hat.

Unabhängig indessen davon, auf welchem Weg das Ergebnis zustande gekommen ist, handelt es sich dabei um die Basis der Disposition, die weiteren Modifikationen offensteht. Diese Modifikationen bewegen sich jedoch alle unterhalb der Einheit einer halben Viertelstunde. Sie werden bei der nun folgenden Darstellung der einzelnen Ebenen besprochen, die zugleich die Begründung für die in die Basis der Disposition eingesetzten Werte bietet. Jedoch schien es sinnvoll, der Einzelbesprechung zunächst die Basis der Disposition als Bezugsrahmen voranzustellen. Bei der Besprechung der einzelnen Ebenen, nämlich des Evangeliums und der Arien, der Rezitative und der Choräle, dazu des Eingangs und des Beschlusses, kommt, wo erforderlich, auch das Verhältnis von Frühfassung und späterer Fassung zur Sprache.2

Das Evangelium nach Matthäus

Die beiden Teile des Werks

Die Kapitel 26 und 27 des Evangeliums nach Matthäus in der Übersetzung Martin Luthers bilden nicht nur inhaltlich, sondern auch formal die Grundlage und den Ausgangspunkt des Werks. Die insgesamt 141 Verse beider Kapitel werden in 56 und 85 geteilt. Von der Zahl der Verse her gesehen, stehen die beiden Teile im genauen Verhältnis 2 : 3, wenn der Überschuss des zweiten Teils um einen Vers unberücksichtigt bleibt. Hieran ist nicht so sehr erstaunlich, dass die proportionale Gliederung nach den Takten der Komposition der proportionalen Gliederung der Verse des Evangeliums konform ist, sondern mehr noch, dass bereits die Verse des Evangeliums proportional gegliedert sind. Denn das setzt eine entsprechende literarische Technik voraus. Diese Technik kann sich allerdings nicht auf die Verse als Einheit bezogen haben, die erst im Mittelalter eingeführt wurden, war aber doch derart bestimmt, dass sie noch in der Übersetzung aus der Ursprache ins Deutsche, die einen Spielraum für Abweichungen mit sich brachte, erkennbar ist.3

Der Vortrag des Evangeliums unterliegt durchaus der liturgischen Tempostufe von 3/4 p, in der 81 Takte zu vier Vierteln 7’30’’ oder 27 dieser Takte 2’30’’ in Anspruch nehmen. Das Evangelium umfasst im ersten Teil 272, im zweiten 457, insgesamt also 729 Takte. Wenn zwischen den beiden Teilen ein Ausgleich von zwei Takten angenommen und 272 als 270+2, 457 als 459–2 verstanden werden, dann dauern der erste Teil 10x2’30’’=25’00’’, der zweite Teil 17x2’30’’=42’30’’, beide Teile zusammen 27x2’30’’=67’30’’. Die Summe beider Teile zusammen entspricht demnach genau dem Ansatz der Disposition. Intern aber hat zwischen den Teilen gegenüber dem Ansatz der Disposition eine Versetzung um 5’00’’ vom ersten in den zweiten Teil stattgefunden, oder: Der erste Teil ist von 30’00’’ um 5’00’’ auf 25’00’’ vermindert, der zweite Teil von 37’30’’ um denselben Betrag auf 42’30’’ vermehrt worden.

Das Ergebnis der rechnerischen Maßnahmen, der Subtraktion im ersten und der entsprechenden Addition im zweiten Teil, lässt sich am Abakus anschaulich als Versetzung vom ersten in den zweiten Teil darstellen. Allerdings muss für diesen Zweck im ersten Teil zunächst eines der Steinchen von einer halben Viertelstunde entbündelt (nämlich aufgeteilt) werden in drei Steinchen von einem Drittel einer halben Viertelstunde, also von 2’30’’. Ich wähle dafür nur andeutungsweise eine eigene Stellenwertposition, hingegen kleinere Steinchen. Dann ergibt sich diese Abfolge von ursprünglicher Disposition, Entbündelung eines der ursprünglichen Steinchen des ersten Teils in drei kleinere Steinchen und Versetzung zweier dieser kleineren Steinchen vom ersten in den zweiten Teil:

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Es könnte vermutet werden, die Absicht dieser Versetzung bestünde darin, das zeitliche Verhältnis der beiden Teile, das in der ursprünglichen Disposition 44,4 : 55,6 beträgt, dem Verhältnis von 40 : 60 der Verse des Texts anzugleichen. Jedoch wäre das bereits mit der Versetzung eines der kleinen Steinchen, die auf 40,7 : 59,3 führt, erreicht worden, während die Versetzung zweier kleiner Steinchen mit 37,0 : 63,0 in der anderen Richtung davon abweicht, also das Verhältnis zugunsten des zweiten Teils überdehnt.

Diese scheinbare Bevorzugung des zweiten Teils berücksichtigt ihrerseits die Verteilung der Turbae. Denn es ist offenkundig, dass in der Regel die Komposition der gleichen Textmenge bei einer Turba eine längere Dauer, also mehr Takte benötigt als bei einem Rezitativ. Die folgende Modellrechnung versucht, Bachs Gedankengang nachzuvollziehen. Ein Vers des Evangeliums beansprucht durchschnittlich bei einem Rezitativ 4½ Takte, bei einer Turba die doppelte Dauer, also 9 Takte. Um die gesamte kompositorische Dauer eines Teils zu erhalten, ist somit der gegebenen Zahl der Verse die Zahl der Verse, die als wörtliche Rede der Vielen zu vertonen sind, ein zweites Mal hinzuzuzählen; hierher gehören auch die beiden Reden der zwei falschen Zeugen und der zwei Hohenpriester. Im ersten Teil befinden sich vier Verse solcher wörtlicher Reden, wenn Matthäus 26,8/9 als ein Vers betrachtet wird. Demnach sind den 56 Versen vier weitere Verse hinzuzuzählen; das ergibt rechnerisch 60x4,5=270 Takte, genau so viel, wie die Disposition nach der internen Versetzung zur Verfügung stellt. Im zweiten Teil befinden sich 18 Verse mit wörtlichen Reden, wenn Matthäus 27,42/43 und 63/64 jeweils als zwei Verse betrachtet werden. Demnach erhöht sich die Zahl der Verse von der Norm 84 um 18 auf 102; das ergibt rechnerisch 102x4,5=459 Takte, ebenfalls genau so viel, wie die Disposition nach der internen Versetzung zur Verfügung stellt. Die Modifikation der Disposition steht also in genauer Entsprechung zu der kompositorischen Aufgabe, deren Lösung sie ermöglichen soll.

Das Verhältnis von Rezitativ und Choral

Der einheitliche Gebrauch der Tempostufe 3/4 p bedarf der Begründung. Generell bezieht sich diese Tempostufe einerseits auf die Rezitative, andererseits auf die Melodien der Choräle, beide im Takt zu vier Vierteln. Und zwar ist das Verhältnis im Grundsatz so bestimmt, dass die Dauer von zwei Silben des Rezitativs der Dauer von einer Silbe des Chorals entspricht. Da der deklamatorische Grundwert des Rezitativs das Achtel und des Chorals das Viertel ist, dauern zwei Achtel eines Rezitativs so lange wie ein Viertel eines Chorals. Die auf den Seiten 25–27 beigefügten Ausschnitte, in denen Rezitativ und Choral übereinandergeschichtet sind, belegen verschiedene kompositorische Realisierungen dieses Verhältnisses.

Das Rezitativ BWV 5/4 aus der Kantate „Wo soll ich fliehen hin“ zeigt die einfachste Möglichkeit. Die Oboe I fügt dem nur vom Continuo begleiteten Rezitativ des Alts die Melodie des Chorals, der der Kantate zugrunde liegt, hinzu.4 Im Rezitativ BWV 122/3 aus der Kantate „Das neugeborne Kindelein“ treten zum Rezitativ des Soprans nicht nur die Melodie des Chorals der Kantate, sondern zwei weitere Stimmen, die den Continuo zu einem vierstimmigen Simpliciter-Satz ergänzen. In der Partitur sind die drei oberen Stimmen in der Lage der beiden Violinen und der Viola notiert, in den Stimmen allerdings in die höhere Oktave versetzt und drei Flauti dolci übertragen, da ja nach dem Text des Rezitativs die Engel die Luft „im höhern Chor“ erfüllen.5 In dem Rezitativ BWV 70/9 aus der Kantate „Wachet! betet! betet! wachet!“, das der ursprünglichen Weimarer Kantate erst in Leipzig eingefügt wurde, ergänzt die Tromba das Rezitativ des Basses und das figurative Accompagnato der drei Streicher durch die Melodie des Chorals „Es ist gewisslich an der Zeit“.6

Selbst in der Aufeinanderfolge gibt es zumindest einen Fall, der die gleichbleibende Tempostufe von Choral und Rezitativ belegt. Wie das Beispiel auf Seite 28 zeigt, wechseln in BWV 178/5 aus der Kantate „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“ unter der Überschrift Choral et Recitativo ein vierstimmiger Simpliciter-Satz der vier Singstimmen und das Rezitativ einer einzelnen Stimme einander ab. Der Continuo jedoch behält über den Wechsel hinweg durchgängig eine einzige rhythmische Figur bei; auf jede ungerade Taktzeit brechen, nach der Pause eines Sechzehntels, drei Sechzehntel einen Akkord aufwärts und enden in der folgenden geraden Taktzeit auf einem Viertel als höchstem Ton. Der Überschrift Choral et Recitativo ist der Hinweis a tempo giusto angefügt, der wohl so verstanden werden darf: in dem für beide, Choral und Rezitativ, richtigen Tempo.7

BWV 5/4: Recitation a tempo

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BWV 122/3: Recitativo

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BWV 70/9: Recitativo col accompagnamento

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BWV 178/5: Choral et Recitation a tempo giusto

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Matthäus-Passion: Übergang von Nr. 61c zu 61d (Takt 21 bis 22)

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Aufgrund dieser Beispiele darf die übereinstimmende Tempostufe von Rezitativ und Choral als gesichert gelten. Diese gemeinsame Tempostufe gilt in der Matthäus-Passion, außer für die Choräle und die Accompagnato-Rezitative, für den Vortrag des Texts des Evangeliums durch den Evangelisten, durch Jesus und die Soliloquenten. Wie aber steht es mit den Turbae? Hier wird es schwer halten, derart eindeutige Beispiele wie für die Rezitative und die Choräle zu finden. Denn es ist nicht zu erwarten, dass einem Volkschor ein Choral überlagert wird oder ein figuratives Accompagnato ihn mit umgebenden Rezitativen verbindet. Jedoch hat Bach beim Übergang von Nr. 61c zu 61d, wie das Beispiel auf der vorhergehenden Seite 29 zeigt, gegenüber der Frühfassung in der späteren Fassung eine Änderung angebracht; sie lässt eine Antwort erschließen.

Bei der Frühfassung ist nicht zu entscheiden, ob hier im Übergang vom Rezitativ des Evangelisten zur Turba die Tempostufe beibehalten oder geändert wird; denn auch eine Änderung ist ohne Weiteres möglich. In der späteren Fassung dagegen hat Bach einerseits den Bass des Rezitativs im ersten Chor – und zwar in Achteln rhythmisiert – bis ins erste Viertel des Einsatzes der Turba weitergeführt, zugleich aber die Instrumentalstimme der Turba im zweiten Chor um zwei Viertel ins Rezitativ vorgreifen lassen, sodass sich Rezitativ und Turba um drei Viertel überschneiden. Unter diesen Umständen bei einer Aufführung die Tempostufe zu ändern, ist von vornherein mit Schwierigkeiten verbunden. Das gilt jedoch umso mehr, als ja nur die Frühfassung einen Continuo für beide Chöre zusammen bietet, also eine geschlossene Aufstellung beider Chöre voraussetzt, während gerade die spätere Fassung für jeden Chor einen eigenen Continuo einführt, also mit der Möglichkeit einer getrennten Aufstellung beider Chöre rechnet. Das bedeutet eine zusätzliche Erschwerung, weil die Änderung der Tempostufe zwischen dem Continuo des ersten Chors und der Instrumentalstimme des davon getrennten zweiten Chors koordiniert werden müsste. Angesichts dieser Trennung der beiden Chöre ist es demnach wenig wahrscheinlich, dass Bach bei der Einführung der Überschneidung von Rezitativ und Turba an die Möglichkeit einer Änderung der Tempostufe dachte. Weit eher ist daraus auf die Gleichheit der Tempostufe von Rezitativ und Turba zu schließen. Diese Übereinstimmung ist zwar unmittelbar auf den speziellen Fall beschränkt; für ihre allgemeine Gültigkeit werden später weitere Gesichtspunkte genannt.8

Der Ort der Tempostufe