Der Weg in die Krise

14. März 2005: Der zweite Geburtstag des BVB

In einer schäbigen Wellblechhalle am Düsseldorfer Flughafen entschieden 444 Finanzanleger über das Schicksal von Borussia Dortmund. Ein unwürdiges Szenario. Wie hatte es nur so weit kommen können?

Das Wetter passte perfekt zum Anlass. Ein eisiger Wind pfiff Dr. Reinhard Rauball und Hans-Joachim Watzke ins Gesicht und zerzauste ihnen die Haare, als sie auf dem Parkplatz der »Event Terminal Halle E« am Flughafen Düsseldorf aus dem Wagen stiegen. Ein tiefschwarzer Benz, die beiden Herren in schwarzen Anzügen, der Himmel grau in grau – als gingen sie zu einer Beisetzung.

Gingen sie zu einer Beisetzung? Diese Frage konnten der Präsident und der Geschäftsführer des BVB am 14. März 2005 um 08:58 Uhr unmöglich beantworten.

Möglicherweise ja.

Denn vielleicht würden die 444 anwesenden von insgesamt 5780 Gesellschaftern des Stadionfonds Molsiris hier und heute die ruhmreiche Geschichte des Ballspielvereins Borussia Dortmund beenden. Mit einem einfachen Klick auf ein elektronisches Voting-Gerät. Ein unwürdiges Szenario. Eine Demütigung. Denn wenn eine alte Dame wie die Borussia im Alter von 95 Jahren aus dem Leben scheiden muss, sollte sie es, da sind wir uns doch wohl einig, im Kreise ihrer Liebsten tun. Und nicht, weil ein paar hundert Anleger ohne jede emotionale Bindung zum Klub darüber verfügen, dass die Ärzte die Geräte abschalten und die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen. Und nicht in einer schäbigen Wellblechdose wie dieser »Event Terminal Halle E«, die nach dem Düsseldorfer Flughafenbrand von 1996 als Provisorium für die Passagierabfertigung errichtet worden war.

Möglicherweise nein.

Denn vielleicht, und hoffentlich, würden die Anleger, die man mit einem fürstlichen Renditeversprechen von 8 bis 12 Prozent pro Jahr in den Fonds gelockt hatte, ja auch dem Sanierungsplan folgen, den die Unternehmensberatung RölfsPartner unter der Projektleitung von Thomas Treß in den Wochen zuvor gemeinsam mit dem BVB-Rettungsteam um Rauball und Watzke erarbeitet hatte.

Vielleicht würden sie dem Werben, dem Bitten, ach was, dem Flehen der schwarzgelben Delegation nachgeben. Sie hatten lange genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, nachdem sie drei Wochen zuvor in der Post ein Schreiben der Geschäftsführung von Borussia Dortmund gefunden hatten. »Das ursprüngliche, sehr ambitionierte ›sale & lease-back‹-Fondskonzept (…) ist gescheitert«, räumten die neuen Klubverantwortlichen darin ein – und lieferten sich den Anlegern vollkommen aus: »Die weitere Zukunft des BVB«, hieß es in dem Dokument ferner, »liegt nunmehr in Ihrer Hand.« Deutlicher hätte man es nicht ausdrücken können.

Nur: Die Fakten und das inhaltliche Konzept der Sanierer würden die Anleger eben erst hier und heute kennenlernen. Und dann?! Würde es sie überzeugen? Welche Grausamkeiten würde ihnen die Sanierung zumuten? Wie groß wären die Opfer, die sie erbringen müssten? Drohte gar der Totalverlust ihrer Einlagen? Schließlich: Würden sie bereit sein zum Verzicht?

Als Reinhard Rauball und Hans-Joachim Watzke durch das Blitzlichtgewitter der Fotografen an Dutzenden Journalisten, Mikrophonen und Fernsehkameras vorbei zum schmucklosen Konferenzraum gingen, über einen abgewetzten Läufer, übersät von ausgespuckten und plattgetretenen Kaugummis, wussten sie nur eines: In den nächsten Stunden würde sich so oder so das Schicksal des BVB entscheiden. Beim Showdown am Flughafen!

Drehen wir das Rad der Zeit noch ein paar Wochen weiter zurück. Bis zum 17. Februar 2005. Da saßen Hans-Joachim Watzke, erst zwei Tage zuvor vom ehrenamtlichen Schatzmeister des eingetragenen Vereins (e. V.) zum Geschäftsführer der Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) berufen, Sanierer Jochen Rölfs und Michael Meier auf dem Podium des Pressekonferenzraums im Westfalenstadion.

Jener Michael Meier, der, gemeinsam mit Dr. Gerd Niebaum, den BVB überhaupt erst in diese fast ausweglose Lage gebracht hatte und der, anders als Niebaum, noch eine kleine Weile lang geduldet wurde. Weil er allein alle Verträge und Absprachen kannte – so sagen es die einen. Weil er außerdem einen belastbaren Draht zu Rauball hatte – sagen die anderen. Egal! Sein Job an diesem Donnerstag bestand darin, den Medienvertretern zu erklären, worum Niebaum und er sich fast 15 Monate lang gedrückt hatten: dass sich Borussia Dortmund in einer »existenzbedrohenden Ertrags- und Finanzsituation« befand. Den Klartext lieferte Rölfs, dessen Kommunikationsstrategie ohnehin nicht auf Herumeiern aufgebaut war, auf Nachfrage: »Lehnen die Gläubiger den Sanierungsplan ab, dann war’s das. Dann ist Schluss. Der BVB hat nichts mehr in der Hinterhand!«

118,8 Millionen Euro Verbindlichkeiten drückten den Klub. Das Eigenkapital war aufgezehrt. Alles, was Borussia mal gehört hatte, sogar die Transferrechte an manchen Spielern und die Rechte an der Marke BVB – alles verpfändet. Selbst auf den letzten Schmutz in den hintersten Stadionecken hätte vermutlich irgendein Entsorgungsunternehmen noch einen Verwertungsanspruch angemeldet. Ein Alptraum!

Die Gläubiger ziehen mit – ein erster kleiner Hoffnungsschimmer

Nun endlich war die Katze also aus dem Sack – und schon tags darauf zündete das Team um Rölfs und seinen Projektleiter Treß, um Watzke und Rauball den ersten kleinen Hoffnungsschimmer. Das Quartett überzeugte die insgesamt 67 Gläubiger vom Sanierungskonzept und rang ihnen den Verzicht auf Rückführung der Finanzverbindlichkeiten bis zum Ende des Geschäftsjahres 2005/06 ab. Ein wichtiger Zeitgewinn, der gleichwohl am seidenen Faden hing. Denn jeder einzelne Gläubiger konnte seine Zustimmung jederzeit ohne Angabe von Gründen wieder zurückziehen. Die Statik der Rettungsmission ähnelte damit jener eines Bierdeckelturms auf einem wackligen Kneipentisch. Und ohnehin wäre alle Überzeugungsarbeit für die Katz’ gewesen, wenn, ja wenn die Anleger des Stadionfonds Molsiris nicht ebenfalls zustimmen würden.

Sie stimmten zu.

Um 15.29 Uhr leuchtete das Ergebnis der Abstimmung auf. 94,4 Prozent sagten »Ja« zur Sanierung. Eine Zahl, über die sich selbst die SED zu DDR-Zeiten gefreut hätte. Der 14. März 2005 steht als Datum in der Vereinsgeschichte seither gleichwertig neben dem 19. Dezember 1909. Damals wurde der BVB unter turbulenten Umständen gegründet. Anno 2005 wurde er reanimiert. Eine zweite Geburtsstunde unter dramatischen Umständen. Ein gewonnenes Relegationsspiel ohne Ball und ohne Tore.

Und das war der Beschluss:

81,34 Millionen Euro hatte der Fonds Nr. 144 der Commerz Fonds Beteiligungsgesellschaft (CFB), Tochter der CommerzLeasing und Immobilien AG und Enkelin der Commerzbank, ursprünglich für die Stadionanteile gezahlt – davon 75,44 Mio. € an den BVB. Wirklich ausbezahlt bekam die Borussia gleichwohl nur rund 26,8 Mio. €. Die mit Abstand größte Summe, rd. 48,57 Mio. €, musste sie – für den Rückkauf des Stadions im Jahr 2017 – als Bareinlage in einem Depot an Molsiris verpfänden. Aus den 48,57 Mio. € waren bis zum Februar 2005 durch Zins und Zinseszins 51,9 Mio. € geworden. Und eben dieses Depot gaben die Anleger durch ihre Zustimmung zum Sanierungskonzept frei; darüber hinaus stundeten sie Borussia die Stadionmiete für die Jahre 2005 und 2006. Neun Millionen Euro aus der Rücklage flossen dem Klub zu, um Liquidität herzustellen. Für die anderen 42,85 Mio. € kaufte der BVB zunächst 42,8 Prozent der Stadionanteile zurück.

Wirtschaftslatein für Fortgeschrittene.

Für Borussia Dortmund war es ein Befreiungsschlag. Bevor Reinhard Rauball nach einer improvisierten Pressekonferenz im Foyer der »Event Terminal Halle E« wieder in den schwarzen Benz einstieg und zurück nach Dortmund fuhr, räumte er ein: »Das heute war mit das Schwerste, was ich je mitgemacht habe, weil wir total abhängig waren von der Zustimmung anderer. In eine solche Situation möchte ich nie wieder hineingeraten.«

Das positive Signal, das von Düsseldorf ausging, erreichte auch Frankfurt. Am 20. April 2005 erteilte die Deutsche Fußball-Liga (DFL) dem BVB die Lizenz für die Spielzeit 2005/06. Und als Hans-Joachim Watzke am 14. Oktober desselben Jahres bekanntgab, dass der Klub die Namensrechte am Westfalenstadion für zunächst fünfeinhalb Jahre und eine Summe von 20 Millionen Euro plus x (x = erfolgsbezogene Prämien) an die Versicherungsgruppe Signal Iduna verkauft habe, da hob er die »existenzbedrohende Situation« offiziell wieder auf. Borussia Dortmund, sagte er, befinde sich nunmehr »in stabiler Seitenlage«. Dass der Fehlbetrag in der Bilanz des Geschäftsjahres 2004/05 mit 79,6 Mio. € noch einmal deutlich höher ausfiel als im Vorjahr (67,7 Mio. €), konnte im Herbst 2005 niemanden mehr schocken. Denn zum einen hatte der BVB den Schuldenberg zu diesem Zeitpunkt bereits um rund 30 Mio. € von 118,8 auf 89 Mio. € abgetragen. Und zum anderen wusste man KGaA und Verein in den guten, vertrauenswürdigen Händen einer seriösen Führung, die auf Basis eines engen und strengen Sanierungsplans arbeitete.

Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen konnte: Nicht nur die Gesundung des Traditionsklubs hatte begonnen – sondern eines der spektakulärsten Comebacks im deutschen Fußball.

Wettrüsten und Transfer-Wahnsinn: Mit Stefan Reuter fing alles an

1986 hatte Borussia Dortmund schon einmal ein Nahtod-Erlebnis gehabt. Sportlich stand der BVB in der Relegation mit neun von zehn Zehen in der zweiten Liga, ehe Jürgen Wegmann den Ball im Rückspiel gegen Fortuna Köln Sekunden vor dem Ende zum 3:1 über die Linie murmelte und so ein Entscheidungsspiel erzwang. Borussia gewann 8:0, blieb drin – und hätte einen Abstieg finanziell auch nicht verkraftet. Der Klub war abgewirtschaftet. Auch damals musste Dr. Reinhard Rauball den Retter geben. Als »Vize« an seiner Seite ein junger Rechtsanwalt aus Dortmund: Dr. Gerd Niebaum.

Rauball räumte nach geglückter Rettungsmission das Feld. Niebaum blieb, und unter ihm nahm der Verein schnell, wahrscheinlich viel zu schnell, eine positive Entwicklung. 1989 der DFB-Pokalsieg durch ein 4:1 über Werder Bremen. Der erste schwarzgelbe Titel nach 23 Jahren. So etwas wie die Initialzündung. Anfang der 90er Jahre dann der Glücksgriff: Niebaum holte den bis dahin weitgehend unbekannten Ottmar Hitzfeld als Trainer. 1992 auf Anhieb die Vizemeisterschaft. Der BVB war wieder da.

Niebaum und Manager Michael Meier wurden mutiger. Sie bliesen zum Angriff. Es begann eine Neverending-Transferoffensive, die ihresgleichen suchte. Es begann der Angriff des Ruhrpottvereins Borussia Dortmund auf den großen FC Bayern München. Nicht der Branchenprimus setzte fortan die Maßstäbe bei Ablösesummen und Spielergehältern, sondern der BVB. Es setzte ein Wettrüsten ein, das sich nur einer der beiden Klubs leisten konnte. Für den anderen war es, seit 2004 weiß man das, selbstmörderisch.

Es begann mit einem Weltmeister. Im Sommer 1992 holten Niebaum/Meier Stefan Reuter nach nur einem Jahr bei Juventus Turin aus der italienischen Serie A zurück. Die galt seinerzeit als das gelobte Land des Fußballs. Nicht in der spanischen Primera Division bei Real Madrid und dem FC Barcelona und schon gar nicht in der englischen Premier League wurde Anfang der 90er das ganz große Geld verdient, sondern bei Inter und Milan, bei Juve und der Roma.

Neuerdings auch am Ruhrschnellweg. »Wer gegen den FC Bayern antreten will, muss das mit den Mitteln des FC Bayern tun. Nicht mit denen des VfL Bochum«, sagte Michael Meier. Was für ein Statement! Und der BVB bediente sich weiter am italienischen Büffet. In der Winterpause 92/93 kam Matthias Sammer von Inter Mailand zu den Westfalen, ein halbes Jahr später Karlheinz Riedle von Lazio Rom. Im Sommer 1994 kehrte der verlorene Sohn Andreas Möller, einer der Pokalhelden von 1989, von Juve zurück nach Dortmund und brachte den Brasilianer Júlio César, eine technisch perfekte Wuchtbrumme von Innenverteidiger, gleich mit. 1995 war es dann Jürgen Kohler, den Borussia Dortmund bei Juventus Turin loseiste und wiederum ein Jahr später der Portugiese Paulo Sousa. Er war der fünfte Millionentransfer zwischen den Norditalienern und dem BVB. Insider munkelten, zwischen den Geschäftsstellen in Dortmund und Turin bestehe längst eine Standleitung. Niebaum ließ sich in diesen Jahren gerne mit dem Satz zitieren: »Wir schaffen es noch in diesem Jahrtausend, die Bundesliga von oben zu kontrollieren.«

Und damit noch lange nicht genug: Den Elf-Millionen-Mark-Transfer von Heiko Herrlich (Borussia Mönchengladbach) mussten die DFB-Gerichte klären. Torwart Jens Lehmann kam vom AC Milan, Torjäger Fredi Bobic vom VfB Stuttgart, und als Paris St. Germain für Manndecker Christian Wörns 12,5 Mio. DM Ablöse aufrief, stieg Bayern-Boss Uli Hoeneß mit dem Hinweis aus, er mache »diesen Wahnsinn nicht mehr mit«. Borussia zahlte die Summe. Und 3,8 Mio. DM Bruttogehalt im Jahr.


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