Der Ultralauf-Kompass
Der Ultralauf-Kompass
Für alle, die es wirklich wissen wollen
COPRESS
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Copress Verlag
erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1111-6)
Covergestaltung: Pierre Sick
DTP-Produktion und Layout (Printausgabe):
Verlagsservice Peter Schneider / Satzwerk Huber, Germering
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2016 Copress Verlag
in der Stiebner Verlag GmbH, Grünwald
Alle Rechte vorbehalten.
Wiedergabe, auch auszugsweise,
nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.
Gesamtherstellung: Stiebner, Grünwald
ISBN 978-3-7679-2045-3
www.copress.de
Vorwort
Ultra-Allgemeines
Ultra-Training – Die Bausteine eines Trainingsprogramms
Ultra-Trainingspläne
Besonderheiten des 100-km- und 24-h-Trainings
Flankierende Maßnahmen zum Ultra-Training
Ultra-Kalender – Jahresplanung für Wettkämpfe, Aufbauwettkämpfe und Regenerationsphasen
Ultra-Wettkampf-Technik, -Taktik und -Logistik
Ultra-Küchenpsychologie und -soziologie
Kurzüberblick
Für alle, die schnell mal nachschauen wollen: Alle Fragen zusammengefasst
Unmittelbar ansprechen möchte ich (Ultra-)Läuferinnen und Läufer, die an sich selbst und damit auch an ihre Lauferei etwas mehr Ansprüche stellen als »schaun mer mal«. Gemeinhin als ambitionierte Läufer bezeichnet. Mit den Ambitionen geht bei ihnen ein großer Appetit auf alle laufbezogenen Informationen und Tipps einher. Das sind zunächst die leistungs-orientierten Ultraläufer, die um Meisterschaftsplätze und -medaillen zumindest in der Altersklasse laufen wollen. Ich möchte aber auch all diejenigen ansprechen, die ihrem Laufen ganz bewusst einen wichtigen Platz in ihrem Leben einräumen – egal ob mit großem oder sehr bescheidenem Wettkampf-Ehrgeiz. Ein eher kleiner Teil dieses Buchs ist speziell für absolute Ultra-Neulinge geschrieben. Denn spätestens nach dem ersten absolvierten Ultralauf fühlst Du Dich ja schon ein wenig als Ultra-erfahren. Andererseits, wenn Du Dich nach einigen kürzeren Ultras erstmals auf einen der langen Kanten von 100 Meilen oder 24 h begibst, brauchst Du wieder Tipps für Anfänger. Diesen Informationsbedarf sowohl von Neulingen wie alten Hasen möchte ich bedienen.
Aber lesen sollen dies hier gerne auch Leute, die selber gar nicht laufen oder nur ein wenig laufen, die für die »verrückten Ultras« eigentlich gar kein Verständnis aufbringen, aber doch neugierig und aufgeschlossen genug sind, um z. B. dieses dünne Buch in die Hand zu nehmen.
Nee, hoffentlich nicht. Sondern weil ich glaube, dass dieses Buch einen Informationsbedarf anspricht, der unter Ultraläufern meist nur über Mund-zu-Mund-Propaganda befriedigt wird. Es gibt inzwischen eine Reihe von Büchern, die sich speziell mit dem Ultralaufen beschäftigen und die dann »Das große Buch …« oder »Handbuch …« heißen; mit vielen Bildern und Tabellen gespickt, mit Rückblicken auf die Historie und Einblicken auf die Biochemie des Ultralaufens stehen sie dann groß und dick im Regal. Teilweise sauber recherchiert.
Und das kann der Haken an der Sache sein: Im Ultrabereich gibt es zu den Themen Training und Wettkampfgestaltung wirklich nur subjektive Erfahrungen und kaum wissenschaftliche Erkenntnisse – andererseits sieht ein gedruckter Trainingsplan schon super-wissenschaftlich und objektiv aus. Und die Gebrauchsanleitung zumindest der gewissenhaften Autoren, dass diese Trainingspläne nur eine grobe Richtschnur sind und unbedingt individuell angepasst werden sollten, wird überlesen oder ganz schnell vergessen. Weiter gibt es dann doch so viele Fragen zu Training und Wettkampf, die in diesen Büchern überhaupt nicht angesprochen werden, vielleicht weil es dazu keine gesicherten Erkenntnisse gibt – also will ich mich mal vorwagen und meine Sicht frisch und frei wie in der Mund-zu-Mund-Propaganda als Druckwerk anbieten.
Dies hier soll also ein kleiner, sehr subjektiv gefärbter Laufkumpel in Buchform sein. Praktisch nur auf meinen Erfahrungen als Ultraläufer (und deutlich weniger als Ultra-Coach) basierend, gibt er ehrliche subjektive Antworten auf häufig gestellte Fragen. Und kommt hoffentlich nie dogmatisch daher, sondern bietet Dir eher einen Anreiz zum eigenen Nachdenken und Reflektieren Deiner Erfahrungen.
Ein Navi nützt halt nichts im noch nicht kartierten Gelände. Da brauchst Du einen Kompass für die grobe Richtung und musst Dir Deinen Weg selbst suchen. Nun begibst Du Dich jenseits von Marathon in unbekanntes Gelände, für das es noch keine exakten Landkarten gibt, aus denen Du ablesen kannst, welche Wege garantiert zum Ziel führen. Dieser Ultralauf-Kompass soll Dir Orientierung geben in dem unkartierten Gelände, soll Dir helfen, Deinen Weg durch den Dschungel von Tipps und Tricks, die es so zum Ultralauf-Training und zur Wettkampfgestaltung gibt, zu finden.
Dieses Buch beleuchtet hauptsächlich Fragen zum Training und zur Wettkampfgestaltung; vor allem solche Fragen, für die es in meinen Augen ganz bestimmte ultra-spezifische Besonderheiten gibt. Ultra-spezifisch = die üblichen Laufweisheiten bis Marathon sind nicht mehr uneingeschränkt richtig.
Die meisten Informationen und Ratschläge allgemeiner Laufbücher sind natürlich auch für das Ultralaufen gültig; nur in ganz bestimmten Punkten gibt es kleine Ultra-Besonderheiten. So habe ich zu den Themen Ernährung, Kraft- und Dehnungsübungen sowie Ausrüstung keine eigenen Kapitel mit vielen Bildern, Tabellen etc. aufgemacht, denn das sind Themen, in denen die Ratschläge bis Marathon auch fast immer für Ultras gültig bleiben. Oder anders ausgedrückt: Ausrüstung, Ernährung und Laufgymnastik sind gut kartierte Gebiete, wo Du besser mit einer guten Landkarte/GPS, die es bereits ausreichend gibt, als mit einem Kompass hantierst.
Das Wiederkäuen von allgemeinen Läuferweisheiten und Lauf-Infos erspare ich Dir und mir. So sollst Du hier nicht zum x-ten Mal nachlesen, wie das noch mal gleich mit Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel funktioniert. Um bei diesem Beispiel-Thema zu bleiben: Es gibt auch im Laufbereich nützliches und unnützes Wissen. Dass Du weißt, dass die Energiewährung der Zellen ATP ist (und vielleicht auch noch die chemische Formel dafür kennst und was genau biochemisch abläuft, während Du läufst), macht Dich aber auch keinen Zentimeter schneller als Deinen auf diesem Gebiet völlig ahnungslosen Mitläufer. Dass Du aber für lange Ausdauerleistungen auf einen gut geölten Fettstoffwechsel angewiesen bist, und wie Du den am besten in der Vorbereitung auf einen oder mehrere Ultra-Wettkämpfe ankurbeln kannst, ohne in eine andere Stoffwechsel- oder Mental-Falle zu tappen, ist schon relevanter zu wissen.
Naja, jetzt, wo ich alles fertig geschrieben habe und die ganze Mühe mit Verlag etc. hinter mich gebracht habe, möchte ich schon, dass es von vielen Leuten gekauft wird – aber Hauptsache für mich bleibt, dass es gerne und mit Interesse gelesen wird. Deswegen hab ich versucht, es extra so zu schreiben, dass die Leute, die wirklich etwas über das Ultralaufen, vor allem auch etwas Ultra-spezifisches zur Wettkampfgestaltung und Trainingsplanung wissen wollen, gut bedient werden. Einige wenige Fragen hab ich mir ausgedacht, aber die allermeisten Fragen stammen von Ultraläufern oder Ultralauf-Interessierten wie Dir, die mich direkt damit konfrontiert haben: über e-mails, Telefonate, im Gespräch vor, nach und teilweise sogar während diverser Ultrawettkämpfe. Viele der Fragen und verwendeten Beispiele in den Antworten stammen bzw. handeln von Mitgliedern der deutschen Ultramarathon-Nationalteams der letzten drei, vier Jahre, die bei Welt- und Europameisterschaften in der Regel deutlich besser abschneiden und auch in den Weltjahresbestenlisten wesentlich besser platziert sind als ihre Landsleute auf den Distanzen Marathon und abwärts.
Im Kürzüberblick findest Du alle Fragen kapitelweise aufgelistet – such Dir raus, was Dich besonders interessiert oder Du noch mal nachschlagen möchtest.
Allerdings habe ich ein großes Vorbild: ein Buch, das mir vor 30 Jahren in den USA sofort ins Auge stach: Tom Oslers »Serious Runner’s Handbook«. Das war ganz ähnlich als Frage-Antwort-Spiel aufgebaut, hatte Langstreckenlaufen im Allgemeinen zum Inhalt – mit aber immerhin gut 20 Fragen zu Ultramarathons, wenn auch mehr zur Historie und mit inzwischen eher überlebten Empfehlungen.
In einem Buch kann niemand dem Autor widersprechen, was natürlich mal ganz angenehm sein kann … Selbstverständlich bin ich von dem überzeugt, was ich hier als Antworten auf Fragen gegeben habe. Ziemlich oft liege ich überhaupt nicht auf einer Linie mit den normalen Laufweisheiten, besonders bei Punkten, bei denen die Besonderheiten des Ultralaufens gegenüber den kürzeren Laufdistanzen wichtig sind. Mit meinen Antworten möchte ich aber keinen Anspruch auf die einzige und ewige Wahrheit stellen; bei manchen habe ich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es auch ganz andere Sichtweisen gibt. Grundsätzlich will ich Anregungen zum eigenen Nachdenken und Ausprobieren geben, denn grau ist alle Theorie und »Entscheidend is auffen Platz«!
Ich bin froh, dass ich hier nicht präziser definieren muss, z. B. ob 42,5 oder erst 43 oder gar erst über 50 km »deutlich« über den 42,2 km liegen – das ist dann eher ein Thema für Statistiker. Ultraläufe sind so lang, dass ein übliches Marathonratgeberbuch in einigen Aspekten einfach nicht mehr passt. Und für jeden einzelnen Läufer ist dieses »deutlich« auch ganz unterschiedlich lang; würde mal sagen, bei flachen Strecken empfinden die meisten Ultras so etwa 3 bis 13 km länger als Marathon als spürbar länger.
In diesem kleinen Ultrakompass wird es um Ultraläufe bis zu 24 h gehen, denn bis zu dieser Länge habe ich eigene Erfahrung, vor allem als Läufer, aber auch als Trainer und Betreuer. Für noch längere Kanten fehlt mir diese – daher auch keine Empfehlungen zu 48-h- oder 7-Tagesrennen. Wohl aber noch zu Etappenrennen, bei denen Tag für Tag eine mittlere Ultradistanz von meist ca. 50–80 km zurückgelegt wird.
Ultras sollten von denjenigen gemieden werden, die sich an ihrer Lauferei nur wirklich freuen, wenn sie unter der Dusche zufrieden »so, das hätten wir mal wieder geschafft« sagen können oder was zum Facebook-Posten darin sehen und auf der Strecke unterwegs laufend nur an die Dusche danach oder die Verbreitung ihrer Ruhmestaten denken. So gestrickte Leute schaffen durchaus auch Ultradistanzen, sind aber zu wenig von innen her motiviert und werden bei den unausweichlichen Frustrationen, die beim Ultralauf einfach dazugehören, ziemlich bald die Segel streichen.
Wer also das Unterwegs-Sein mindestens genau so schätzt wie das Ankommen, besitzt schon eine wichtige Eigenschaft zum erfüllten Ultralaufen. Sportlich erfolgreich in Ultra-Wettkämpfen werden diejenigen, die schon auf den Unterdistanzen eine deutliche Tendenz zu Ausdauer statt Grundschnelligkeit zeigen. Die also im 10-km-Lauf von Leuten geschlagen werden, denen sie im Halbmarathon schon Paroli bieten und denen sie im Marathon Minuten abnehmen. Wem beim Marathontraining besonders die langen Einheiten Spaß machen, der sollte sich ruhig mal im Ultra versuchen. Wer dagegen schon beim Marathontraining bei den langen Einheiten schummelt und lieber die nächste ruhige Einheit schneller macht (um schneller unter der Dusche zu sein), wird es schwer haben, richtig Freude am Ultralaufen zu finden.
Neben diesen mentalen Faktoren gehören natürlich auch ein paar körperliche Voraussetzungen dazu. Aber hier darf ich doch annehmen, dass die meisten Ultraläufer oder potentiellen Ultras zunächst über die Marathondistanz abgeklärt haben, dass sie die notwendige Robustheit des Herz-Kreislaufsystems, des Bewegungsapparats und auch des Magen-Darm-Trakts besitzen. Besonders der letzte Punkt wird bei Ultraläufen nicht nur länger, sondern auch anders strapaziert: Als Ultraläufer musst Du ab einer gewissen Streckenlänge während des Laufens essen und unter der Belastung das Gegessene auch verstoffwechseln. Das heißt, die Verdauung und Aufnahme der Nahrungsbestandteile ins Blut und von da aus in das Gehirn und die Muskeln muss »laufen«.
Dabei kann es in einem einzelnen Rennen durchaus vorkommen, dass eine Frau die Beste von allen Angetretenen ist. Nicole Benning hat z. B. mal ein 100-km-Rennen in Spanien vor allen Männern gewonnen. Das lag natürlich daran, dass Nicole damals auf Nationalteam-Niveau war und das überschaubare Männerfeld keinen 8-Stunden-Läufer aufgereiht hatte. Solche isolierten Resultate werden dann gern zu wilden Theorien verwurstet, dass Frauen bei langen Ausdauerleistungen einen biologischen Vorteil hätten – das jedoch hält schon einer simplen statistischen Faktenkontrolle nicht stand.
Statistisch gesehen sind die Leistungen der Frauen auf den langen Distanzen nämlich mit dem auch auf kürzeren Laufstrecken üblichen Malus von ca. 10% gegenüber den Männern behaftet. Man braucht nur in der Statistikdatenbank der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung DUV in den Weltjahresbestenlisten über 50 oder 100 km, über 100 Meilen oder 24 h zu blättern, um diesen Fakt bestätigt zu sehen. Ohne diesen Realitäts-Check geistern Vorstellungen durch manche Köpfe, dass Frauen generell leidensfähiger als Männer sind, bessere Kraft-/Last-Verhältnisse haben etc. und deswegen für die ganz langen Ausdauerleistungen im Vorteil sind. Interessante Theorie, aber sie stimmt nicht mit der Realität von hunderten weltweiten Ergebnissen überein.
Wenn man hier noch unbedingt weiterdiskutieren möchte: Viele weibliche Ultras laufen relativ gleichmäßigere Rennen als die meisten ihrer männlichen Kollegen. Auch das kann im Einzelfall anders sein. Ist aber ein guter Tipp für Ultra-Neulinge: Im Zweifel ist es für den Ultra-Novizen oder die Ultra-Novizin cleverer, sich in der ersten Hälfte des 1. Ultrawettkampfs an einer weiblichen Mitläuferin zu orientieren. Ob nun etwas gleichmäßiger erzielt oder nicht: Der etwa 10%ige Leistungsunterschied im Durchschnitt bleibt ein Fakt. Vielleicht kann man diese 10% noch so auffächern, dass der Leistungsunterschied bei Kurz-Ultras bis 100 km etwas mehr als 10% und auf noch längeren Strecken etwas weniger als 10% betragen könnte. Aber wir reden hier nicht von 15 und 5, sondern eher von 11 und 9%. Wäre mal ein Thema für eine sportwissenschaftliche Master-Arbeit …
Diese rund 10% im statistischen Leistungsunterschied der Geschlechter kann man aber ganz praktisch dazu heranziehen, direkt nach einem Rennen schnell und bequem zu beurteilen, ob die Frauen-Siegerin oder der Männer-Sieger an diesem Tag die relativ bessere Leistung gebracht hat.
Hinter dieser Frage steckt ein inzwischen nun wirklich überlebtes Vorurteil aus der klassischen Stadion-Leichtathletik (»wenn man nicht mehr schnell genug ist für den Sprint, geht es auf die Mittelstrecken, später dann Langstrecke, schließlich landet man beim Marathon – und Ultra ist nur was für sowieso nicht wirklich Leistungsorientierte«). Diese Sichtweise hat sich ja bereits beim Marathon komplett erledigt. Reihenweise zeigen hier auch und gerade bei WMs ganz junge Läufer und Läuferinnen in ihren frühen Zwanzigern den Mittdreißigern, wo der Hammer hängt.
Inzwischen gibt es doch einige Beispiele von Athleten, die sich bereits in jungen Jahren auf die Ultradistanzen verlegt haben. Unser 24-h-Weltmeister Florian Reus z. B. hat überhaupt keine noch so kurze Langstrecken- oder Marathonkarriere hinter sich, sondern seine ersten wirklich ambitionierten Wettkämpfe waren gleich Ultras und auch dort ist er ziemlich schnell bei den 24 h und Wettkämpfen ähnlicher Dauer gelandet. U. a. ist er mit 22 Jahren erstmals deutscher Meister und mit 28 erstmals Europameister in seiner Spezialdisziplin geworden, den Welttitel holte er als 31-Jähriger.
Ältere Läufer haben neben den vielen Nachteilen der altersbedingt verminderten Schnellkraft, Beweglichkeit, Koordination, Herzfrequenz etc. einen kleinen Vorteil gegenüber den jungen Wilden: Sie sind in der Regel nicht mehr ganz so überehrgeizig, haben schon so manche bittere Erfahrung gemacht und lassen sich etwas weniger als die Jungen durch ein unüberlegtes (Anfangs-) Tempo aus dem Konzept bringen. Und sie haben ein läuferisches Selbstbewusstsein entwickelt, das sie aus der einen oder anderen schlechten Phase während des Wettkampfs schneller herausführt. Das sind kleine Vorteile, die gerade auf den sehr langen Distanzen schon wichtig werden können.
Ein gestandener Ultraläufer lässt sich in der Regel auf keine unausgegorenen oder einfach aus Marathonbüchern übernommenen Empfehlungen ein, ohne bei sich oder seinen glaubwürdigen Laufkumpels die empirische Probe auf’s Exempel gemacht zu haben. Dadurch, dass es kaum wissenschaftliche Studien gibt, die relevant für den Alltag des Ultraläufers sind, ist man praktisch darauf angewiesen, jeden hilfreichen oder scheinbar hilfreichen Tipp auszuprobieren. Und wenn man sowohl ein paar Ultralaufjahre und -Wettkämpfe als auch alle möglichen Erfahrungen mit »guten Tipps« gesammelt hat, ist man schon ziemlich gut darauf eingenordet, wie man sich in bestimmten Situationen eines Ultra-Wettkampfs oder eines Trainingszyklus verhalten sollte.
Erfahrung ist aber wie in anderen Bereichen auch im Ultralauf nur hilfreich, wenn man die gesammelten Eindrücke, Informationen und Erkenntnisse ausreichend reflektiert und dann beim nächsten Mal sein Verhalten ändert. Michael Sommer ist für mich das Paradebeispiel eines Ultraläufers, der aufgrund seiner Erfahrung in vielen Rennen optimale Ergebnisse rausgeholt hat und die relativ unerfahrenen jungen Wilden mit möglicherweise aktuell besserem Laufvermögen in Schach gehalten bzw. mit einem Lehrstück beschenkt hat. Zum Beispiel bei seinen Läufen bei den 100-km-DMs 2013–15 oder bei der WM in Doha/Katar 2014, als er Weltmeister der über 50-Jährigen wurde und absolut bester Deutscher war.
Manchmal ist es wiederum besser, mit der Naivität des Unerfahrenen ranzugehen. Es gibt einige Athleten, die ein paar »eherne Gesetze« der Ultralauf-Erfahrenen einfach durch eine unorthodox erbrachte Erst-Leistung gehörig ins Wanken gebracht haben.
Und es gibt da noch die Erfahrung, die sich im Körper des Ultraläufers verankert, ohne dass rationale Reflektion und Einsortierung stattfindet. Diese unterbewusste Erfahrung kann eher positiv oder eher negativ für künftige Ultraläufe sein. Ein Ultra-Novize kann so gesehen dann den Vorteil haben, dass er seinen Körper noch nie durch die stundenlangen Ausdauerleistungen getrieben hat und deswegen noch keine unbewussten Schutz-Routinen entwickelt hat, gegen die der erfahrene Ultra manches Mal mehr ankämpfen muss als gegen seine Lauf-Konkurrenten (siehe Frage »Kann ich das ganze Thema Mentaltraining nicht einfach mit meinem normalen Lauftraining erschlagen?«).
Das wichtigste Rüstzeug für den künftigen Ultraläufer ist die durch die langen Trainingsläufe angekurbelte Fähigkeit, im Sauerstoff-Gleichgewicht körpereigene Fette als Energiequelle zur weiteren Fortbewegung zu nutzen. Wer diese Fähigkeit z. B. in der Vorbereitung auf einen Marathon eingeübt hat, braucht sie im Grunde genommen beim Ultra nur ein paar Stunden länger anzuwenden. Das längere Laufen an sich muss aber besser auch eingeübt werden …
Ich würde jedoch niemandem unter ca. 20 Lebensjahren raten, schon in die Welt der Ultras einzutauchen – junge Leute brauchen subjektiv mehr Abwechslung, kurzfristige Ziele und Veränderungen als es der Ultralauf ihnen anfangs bieten kann. Bei manchen Leuten dauert dieses Hasten nach dem neuesten Kick etc. bis Mitte 40 – oder hört vielleicht nie auf. Solche Leute sind wahrscheinlich besser mit kürzeren, knackigeren und auf den ersten Blick interessanteren und publikumswirksameren Laufvarianten wie Cross- oder Hindernislauf (auch in seinen modernen Event-Spielarten) bedient.
Weiterhin würde ich auch niemand mit nur 1, 2 Jahren Lauferfahrung raten, es mal mit einem Ultra zu versuchen. Wenn man seine individuellen läuferischen Haken und Ösen noch nicht mindestens zwei Sommer und Winter hindurch abgeschliffen hat und noch nicht einmal ansatzweise fundiert sagen kann, ob man z. B. eher der Ausdauer- oder Grundschnelligkeits-Typ ist, oder wie robust die eigene Orthopädie ist, dann ist ein Einstieg in die Ultrastrecken nicht ratsam. Man macht einfach noch zu viele kleine aber grundlegende Fehler, man läuft halt noch nicht optimal rund – und Fehler können beim Ultramarathon gravierende Folgen haben. Und wenn es nur die voreilig abgeleitete Konsequenz ist »Ultras sind nix für mich« …
Höchst subjektive Angelegenheit, aber anders lässt es sich nicht festmachen. Der häufigste Grund, warum es »nicht mehr läuft«, ist eine Verletzung. In den seltensten Fällen ist die Diagnose so klar, dass es sich um eine chronische und sich nicht mehr bessernde Verletzung handelt. Vielmehr testet sich der Ultra-Enthusiast geduldig monatelang selbst durch kürzere, dann wieder länger und oft leider wieder kürzer werden müssende Läufe, ob es vielleicht doch wieder läuft … Und gar nicht mal so selten kommen diese Sportskameraden sogar aus der scheinbaren »Dauerverletzung« heraus und laufen dann wieder, als ob es diese Episode nie gegeben hätte!
Manchmal können es äußere Faktoren sein, die einem die Lust am Ultralaufen so weit dämpfen, dass es einfach nicht mehr läuft. Meistens ist das Zeitmangel und/oder insgesamt zu viel Stress. Der deutsche Rekordhalter im 24-h-Lauf, Wolfgang Schwerk, hat mal einige Jahre auf seinen geliebten Sport verzichten (müssen), weil er sehr stark in den Auf- und Ausbau seines Hauses eingespannt war und einfach nicht den Nerv hatte, auf diesen ganzen Handwerks- und Handwerker-Stress noch ein Ultra-Trainings- und Wettkampf-Programm aufzusatteln. Er ist nach dieser selbstgewählten schöpferischen Ultrapause mit spektakulären Weltrekorden in den superlangen Distanzen 1000 Meilen und 10 Tage grandios in die Ultraszene zurückgekehrt.
Dieses Beispiel zeigt übrigens, dass ein Abschied vom Ultralaufen nicht immer ein endgültiger sein muss – der Entschluss, ein paar Jahre Ultrapause einzulegen, kann über Dein ganzes Leben betrachtet eine gute Entscheidung sein. Dass Du in der Pause ein paar Jahre älter wirst und daher beim Wiedereinstieg wohl nicht mehr ganz an die Leistungen vor der Pause anknüpfen wirst, dürfte Dir dann schon mit Blick auf die Entwicklung Deiner Unterdistanz-Leistungen klar sein.
Wenn man einem Menschen befehlen würde, 100 km oder 24 h zu laufen, würde man völlig zu Recht als Folterer und Sadist vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt. Solche langen Ausdauerleistungen können nur von Leuten bewältigt werden, die das Ganze aus freien Stücken, aus eigenem Antrieb und mit wenigstens vorübergehenden Lustgefühlen betreiben. Wir Freiwilligen machen dann Trainingseinheiten, die Nicht-Ultraläufer als »verrückt, sadistisch, nur mit äußerster Selbstdisziplin machbar« bezeichnen. Wir wissen dagegen: Es ist nicht Selbstdisziplin, sondern eine rundum schöne Geschichte mit Vorfreude, Vergnügen während des Laufs und (verhaltener) Befriedigung nachher, wenn wir uns für ein paar Stunden auf die Socken machen.
Ich würde sogar behaupten: Wer für die langen Einheiten oder das gesamte Ultratrainingspensum ständig an seine Selbstdisziplin appellieren muss, wird nicht lange Ultraläufer bleiben. Egal, wie relativ erfolgreich er oder sie ist: Ohne inneren Antrieb und Freude an Ultraläufen wird es nix Dauerhaftes.
So gesehen, mag es einige Leute geben, die mit eiserner Disziplin sportliche Erfolge im Ultralaufen erringen – aber sie werden immer deutlich in der Minderheit gegenüber den echten Liebhabern dieser Sportart sein.
Die Antwort auf die Frage nach dem Ehrgeiz hängt natürlich davon ab, was unter Ehrgeiz verstanden wird. Mein Verständnis von Ehrgeiz möchte ich an zwei Läufer-Typen illustrieren, die sich selbst als »reine Genussläufer« bezeichnen bzw. »heute nur reiner Trainingslauf« sagen und in der Regel jegliche Ambitionen von sich weisen.
Bei den Genussläufern ist meist mindestens der ausgeprägte Wille da, nicht nur ziemlich oft zu starten, sondern auch ziemlich oft zu finishen – wobei das Finishen eines Ultras ja bereits eine Leistung ist, die von weit mehr als 99,9% der Bevölkerung nicht (auf Anhieb) bewältigt werden könnte. Genussläufer laufen gern in Gesellschaft, gucken sich die Gegend an, bleiben für Erinnerungsfotos oder ein Schwätzchen am Verpflegungsposten schon mal länger stehen. Gegen Ende eines Rennens schalten jedoch viele Genussläufer dann eigenartigerweise doch auf »Wettkampf«, »Plätze gut machen« etc. um. Und gucken im Ziel auf die Zeitabstände zu ihren Spezis, um ihre aktuelle Leistung in einem Quervergleich einzuordnen – gar nicht so anders als die Leute weiter vorne!
Ähnlich ist es bei den »Trainings-Wettkämpfern«: Klar wollen sie heute nicht alles zeigen, verzichten freiwillig auf einen möglichen Top-10-Platz oder so, und halten sich auch anfangs schön zurück, aber auf den letzten 10 km, weil sie sich ja sehr zurückgehalten haben und noch viel mehr Reserven haben als die vor ihnen kämpfenden Läufer, müssen sie ihren Ehrgeiz schon echt im Zaum halten, um nicht noch »locker vorbeizuziehen« etc. – und oft lassen sie dann ihrem Ehrgeiz doch noch freien Lauf.
Wer Ultra-Wettkämpfe läuft, hat in meinen Augen immer auch den Antrieb, dieses keineswegs selbstverständliche Erlebnis auch mit einer feinen Leistung mindestens nach eigenen Maßstäben abzuschließen. Eine nach eigenem Ermessen feine Leistung abliefern heißt für mich: gesunder Ehrgeiz. Ehrgeiz gehört nun mal zum Sport, ansonsten würden wir ja nicht zu Wettkämpfen gehen.
Krankhaften Ehrgeiz, Verbissenheit und Missgunst gibt es natürlich auch unter Ultraläufern – das sind Leute, die sich eher an Platzierungen relativ zu Konkurrenten orientieren oder sich ständig überehrgeizige, weil für sie unrealistische Ziele setzen. Regelmäßiges Ultralaufen erzieht aber zu gewisser Demut und Dankbarkeit auch für Resultate, die nicht ganz so wie gewünscht ausgefallen sind, und daher sehe ich die Fraktion der verbissenen, missgünstigen und krankhaft ehrgeizigen Ultras ganz klar in der Minderheit.
Aber erstens ist der Mensch anscheinend so gestrickt, dass er sich über seine Lieblingstätigkeiten durchaus auch ab und zu ganz gerne Gedanken macht und zweitens wendet sich das Buch ja ausdrücklich an diejenigen, die es wissen wollen, wie es läuft. Gelegentlich kann ich sogar einen Grund nennen, warum etwas funktioniert oder nicht.
Wenn Du es wirklich wissen willst, also noch mehr Spaß und/oder Erfolg mit Deiner Lauferei haben möchtest, dann musst Du entweder einen Trainer haben, der Dich auch bis in die Kleinigkeiten des Alltags betreut und lenkt – solche Leute sind eine aussterbende Art. Oder Du nimmst auch Dein Läuferleben in die eigene Hand. Gedanken machen, analysieren, spekulieren und planen ist die eine Sache – das Umsetzen dann noch eine weitere Disziplin.
Langsamer (z. B. über Halbmarathon oder 10 km) wirst Du allenfalls durch zu viel Ultralaufen bzw. zu selten gesetzte Temporeize. Um aber vernünftige Ultraläufe hinzubekommen, brauchst Du unbedingt auch Tempovermögen, und zwar Dein spezifisches. Viele Ultraläufer haben ihre PBs (= Persönliche Bestleistung) über 100 km oder 24 h genau in den Jahren erzielt, in denen sie sich auch auf den Unterdistanzen verbessert hatten.
Auch langfristig (alterskorrigiert natürlich …) ist Ultralaufen keine Tempobremse. In meinen wenigen Nicht-Ultralaufjahren war ich über kürzere Strecken relativ schwächer als z. B. im Marathon. Meine 10-km-Zeit hätte nach der Faustformel 10-km-Zeit x 4,66 eine Marathonzeit von knapp 2:44 »erlaubt« – gelaufen bin ich 2:38:36 und einige weitere Male unter meiner Faustformel-Marke von 2:44. Das war, als ich Anfang/Mitte Dreißig war. Jetzt, mit über 60 Jahren und fast 30 Jahren als Ultraläufer, bin ich über die kürzeren Strecken allmählich relativ besser als über Marathon geworden. Oder anders ausgedrückt: Der altersgemäße Leistungsrückgang ist bei mir auf den (ungeliebten) kürzeren Distanzen weniger ausgeprägt als bei Marathon und mehr.