Über die Autorin
Donna Douglas wuchs in London auf, lebt jedoch inzwischen mit ihrer Familie in York. Ihre Romanserie um die Schwesternschülerinnen des berühmten Londoner Nightingale Hospitals wurde in England zu einem Überraschungserfolg und eroberte die Top Ten der Sunday-Times-Bestsellerliste. Neben ihrer Arbeit an weiteren Romanen schreibt die Autorin außerdem regelmäßig für verschiedene englische Zeitungen. Mehr über Donna Douglas und ihre beliebten Bücher erfahren Sie unter www.donnadouglas.co.uk oder auf ihrem Blog unter donnadouglasauthor.wordpress.com.
Donna Douglas
Die
NIGHTINGALE
SCHWESTERN
Ein Geschenk der Hoffnung
Roman
Aus dem Englischen von
Ulrike Moreno
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Donna Douglas
Titel der englischen Originalausgabe: »A Nightingale Christmas Wish«
Arrow Books, an imprint of The Random House Group Limited, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Titelillustration: © Corbis/Linda Mckie/Ocean; © Colin Thomas, London
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4175-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine Schwester Jane
An einem eiskalten Dezembermorgen im Jahre 1914 versammelten sich die siebzehnjährige Frannie Wallace und die restlichen Bewohner eines Dorfs in den Penninen auf einem frostklirrenden Bahnsteig, um ihre Angehörigen zu verabschieden, die in den Krieg zogen.
Die junge Frannie erkannte die Männer kaum in ihren ungewohnten, kakifarbenen Uniformen und mit den Seesäcken, die sie über der Schulter trugen. Väter, Ehemänner und Söhne umarmten ihre in Tränen aufgelösten Ehefrauen und Kinder und lächelten, als ob dies alles gar nicht so schlimm wäre.
»Na, komm schon, Liebes. Kopf hoch! Es wird nicht lange dauern, dann bin ich wieder hier.«
»Bis Weihnachten bin ich wieder da, du wirst schon sehen. Wir werden nicht lange brauchen, um diesen Hunnen den Garaus zu machen!«
»Vergiss nicht, mir zu schreiben, wenn das Baby da ist, ja?«
Mitten auf dem Bahnsteig stand Matthew und lachte und scherzte mit seinen Freunden. Es war so kalt, dass ihr Atem kleine weiße Wölkchen bildete. All diese jungen Männer hatten sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Frannie fiel es schwer zu glauben, dass sämtliche Jungs aus ihrer Klasse schon in ein paar Tagen in Frankreich sein würden, um für ihr Land zu kämpfen.
Das galt besonders für Matthew. Er sah so jung und unerfahren aus mit seinem kurz geschnittenen dunklen Haar. Immer wieder stampfte er mit seinen glänzenden neuen Stiefeln auf, um seine Füße aufzuwärmen. Frannie kamen die Tränen, aber sie blinzelte schnell, weil sie ihm versprochen hatte, nicht zu weinen.
Seine Mutter und seine Schwestern hielten sich dagegen nicht an ihr Versprechen. Alice Sinclair schluchzte, während sie mit zitternden Fingern am Kragen ihres Sohns herumzupfte und seinen Uniformrock glatt strich.
Matthew schob sie ungeduldig beiseite. »Hör auf damit, Ma. Oder willst du, dass die anderen Jungs mich auslachen?«
Alice ignorierte ihn. »Hast du alles?«, fuhr sie fort. »Hast du an die Schokolade und die dicken Socken gedacht, die ich dir gegeben habe?«
»Lass ihn in Ruhe, Alice«, sagte Matthews Vater, dessen heisere Stimme verriet, wie bewegt er war. »Wenn der Junge alt genug ist, um in den Krieg zu ziehen, ist er auch alt genug, um für sich selbst zu sorgen!«
Natürlich trieb das seiner Frau erneut die Tränen in die Augen. Frannie konnte sich nicht vorstellen, was Alice ohne ihren geliebten, einzigen Sohn tun würde. Selbst ihre drei Töchter wussten, dass er ihr Liebling war und sie abgöttisch in ihn vernarrt war.
Aber eigentlich liebte jeder Matthew, allen voran sie selbst.
Frannie blickte sich um und plötzlich bemerkte sie auch John, der wie üblich ein wenig abseits von den anderen stand und das Geschehen um sich herum still und aufmerksam beobachtete. John war mit dreizehn Jahren aus dem örtlichen Waisenhaus zum Arbeiten auf den Sinclair-Hof gekommen, und so waren er und Matthew gute Freunde geworden. Mit seinen achtzehn Jahren war John inzwischen schon ein großer, stattlicher Mann, der die anderen noch jünger und kindlicher erscheinen ließ.
Er hatte niemanden, der ihn verabschiedete, niemanden, der um ihn herumsprang, und dennoch stand er stolz und mit einem Ausdruck trotziger Gleichgültigkeit ein wenig abseits von den anderen da.
Frannie ging zu ihm hinüber. »Alles klar, John?«, fragte sie ihn und lächelte.
Er drehte sich zu ihr um und riss sich die Mütze von seinem kurz geschnittenen Haar. »Miss Wallace?«
»Frannie«, erinnerte sie ihn. »Ich bin nur die Tochter eines Lehrers. Sie brauchen mich nicht anzusprechen, als wäre ich selbst die Lehrerin!«
Sie bereute es, ihn geneckt zu haben, als sie die Röte sah, die ihm in die Wangen stieg. »Entschuldigung«, murmelte er.
Der junge Mann tat Frannie so leid, dass sie ihm die Tafel Schokolade gab, die eigentlich für Matthew gedacht gewesen war. »Hier, die ist für Sie, John.«
John sah die Schokolade und dann wieder Frannie an. »Sind Sie sicher?«, fragte er. »War sie nicht für Matthew?«
»Er hat schon mehr als genug.« Frannie blickte den Bahnsteig hinunter zu ihrem Liebsten, der immer noch versuchte, sich aus der Umarmung seiner Mutter zu befreien. »Passen Sie für mich auf ihn auf, ja?«, entfuhr es ihr plötzlich ganz ungewollt.
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde darauf achten, dass er nicht auf dumme Gedanken kommt.«
Frannie lächelte betrübt. »Was keine leichte Aufgabe sein wird, da Matthew sich leider überall in Schwierigkeiten bringt.« Ihr schnürte sich die Kehle zu, sodass sie kaum noch sprechen konnte. Nicht weinen, sagte sie sich. Bloß nicht weinen!
»Sie können sich auf mich verlassen«, versprach John ihr mit feierlicher Miene.
»Und denken Sie daran, auch auf sich selber aufzupassen«, sagte Frannie, als sie sich wieder so weit gefasst hatte, dass sie sprechen konnte.
John scharrte mit der Spitze seines Stiefels über den frostbedeckten Boden. »Bei mir spielt das keine Rolle«, murmelte er.
»Nein, das ist nicht wahr.« Frannie überkam plötzlich heftiges Mitleid mit diesem Jungen aus dem Waisenhaus, der niemanden hatte, der sich um ihn sorgte. Aus einem spontanen Einfall heraus griff sie in ihre Tasche und holte das einzig Wertvolle zum Vorschein, das sie besaß. »Hier«, sagte sie und reichte es ihm.
Er starrte auf den grauen Stein in seiner Hand. »Was ist das?«
»Ein Kieselstein, den ich auf dem Kinder Scout im Peak Distrikt gefunden habe. Er ist mein Talisman, und vielleicht bringt er ja auch Ihnen Glück?«
John lachte nicht, so wie Matthew es getan hätte. Aus diesem Grund hatte sie auch Bedenken gehabt, ihm den Stein zu geben. Er hätte sie ganz sicher nur ausgelacht und ihr gesagt, dass er kein Glück brauchen würde.
John dagegen sah sie an, als ob sie ihm gerade einen der Kronjuwelen überreicht hätte. Seine klaren grünen Augen suchten ihren Blick. »Danke«, sagte er und steckte den Stein in die oberste Tasche seiner Uniformjacke. »Ich werde ihn stets in Ehren halten.«
Die Lokomotive stieß ein jähes Fauchen und eine Dampfwolke aus, die sie für einen Moment lang einhüllte. Die Luft war erfüllt von dem öligen Geruch brennender Kohlen, als der Bahnsteigwärter mit seiner Trillerpfeife einen schrillen Pfiff ausstieß.
»Alles einsteigen!«
Plötzlich drängten alle auf die Türen des Zuges zu. Frannie drehte sich um und lief den Bahnsteig wieder hinunter, gerade noch rechtzeitig, um Matthew einsteigen zu sehen.
»Matthew?«, rief sie, aber ihr Ruf ging in dem lauten Stimmengewirr unter. Entschlossen drängte sie sich durch die Menschenmenge bis zum Rand des Bahnsteigs, wo sie sich für einen Moment in dem beißenden Dampf der Lokomotive verlor.
Aber sehr zu ihrer Erleichterung erschien Matthew dann an einem der offenen Fenster und beugte sich zu ihr hinaus. »Da bist du ja!«, sagte er und schaute grinsend zu ihr herab. »Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.«
»Wie könnte ich dich vergessen?« Als sie die Hände hob, um seine zu ergreifen, fing sich das schwache winterliche Sonnenlicht in dem Diamant an ihrem Verlobungsring und ließ ihn aufblitzen. Es überraschte Frannie immer noch, ihn an ihrer Hand zu sehen, da noch kein ganzer Tag vergangen war, seit Matthew ihn ihr an den Finger gesteckt hatte.
Kaum zu glauben, dass sie sich gestern noch wie das glücklichste Mädchen auf der Welt gefühlt hatte. Und nun …
Panik ergriff sie. »Ich habe Angst, Matthew«, flüsterte sie. »Ich wünschte, du müsstest nicht weggehen.«
»Ach, ich werde bald wieder zu Hause sein. Du wirst schon sehen!«
Frannie blickte zu seinem lächelnden Gesicht auf. Wie sicher er immer war! Nicht auf eine arrogante Weise, aber seine klaren kupferbraunen Augen glänzten vor dem Selbstvertrauen eines Menschen, der bisher nicht einen Moment des Selbstzweifels gekannt hatte. Es war eines der Dinge, die sie an ihm liebte, und gerade jetzt wünschte sie mehr denn je, sie hätte auch nur ein Fitzelchen von seinem Selbstbewusstsein, um sich Mut zu machen.
»Du wirst mir doch jeden Tag schreiben?«
»Frannie! Ich gehe dorthin, um zu kämpfen, und nicht, um Liebesbriefe zu schreiben!« Er lachte über ihre bestürzte Miene. »Schau mich nicht so besorgt an, Fran. Tu mir den Gefallen und lächle mal. Ich will nicht, dass dein langes Gesicht das Letzte ist, was ich hier sehe!«
»Entschuldige.« Sie bemühte sich um ein Lächeln, aber ihre Lippen zitterten.
»Ach, komm her.« Er beugte sich noch weiter vor und nahm ihr Gesicht in seine Hände, um sie lange und innig zu küssen. Frannie hörte das Gejohle und den Applaus um sie herum und trat verlegen einen Schritt zurück.
»Matthew!«, sagte sie errötend, als sie all die Gesichter sah, die sie beobachteten.
»Ich darf das ja wohl. Wir sind verlobt.« Matthew hob ihre Hand an seine Lippen und küsste den Diamant an ihrem Ring. »Warte auf mich«, sagte er. »Ich verspreche dir, als Held zurückzukehren, und dann werden wir heiraten.«
»Für mich musst du nicht als Held zurückkehren. Komm einfach nur wohlbehalten zu mir zurück!«
Matthews Antwort ging in dem schrillen Pfeifen der Lokomotive unter.
»Alles einsteigen!«
Der Bahnsteigwärter kam auf sie zu und schwenkte seine Flagge, als unsichtbare Hände Frannie vom Rand des Bahnsteigs zurückzogen, während der Zug sich langsam in Bewegung setzte.
Als er aus dem Bahnhof hinausfuhr, lehnten sich alle Männer aus den Fenstern und winkten wie verrückt. Frannie erhaschte noch einen kurzen Blick auf John, der am Fenster saß und das Gesicht an das Glas drückte. Als der Zug an Frannie vorbeiratterte, hob er die Hand zu einem fast unmerklichen Winken.
Frannie dachte an Matthews Worte und lächelte, bis ihre Wangen schmerzten und der Zug allmählich nicht mehr zu sehen war.
Sie war froh, getan zu haben, worum er sie gebeten hatte – besonders an jenem Tag, als das Telegramm eintraf.
November 1938
Der junge Medizinstudent gab eine perfekte stellvertretende Oberin ab.
Frannie Wallace musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht zu schmunzeln, als er in einem grauen Kleid, das gerade mal bis zu seinen behaarten Knöcheln reichte, auf der provisorischen Bühne vor ihr stand und die Arme unter seiner üppig ausgepolsterten Brust verschränkte. Auch der mürrische, missbilligende Gesichtsausdruck, den er unter der gestärkten Kopfbedeckung zum Besten gab, war haargenau der von Miss Hanley.
»Tut mir leid, Mr. Evans, aber das geht wirklich gar nicht«, sagte Frannie, als sie ihrer Stimme endlich wieder trauen konnte.
Owen Evans machte ein beleidigtes Gesicht. »Aber ich hab mir so viel Mühe gemacht, Schwester!«
»Dann haben Sie Ihre Zeit verschwendet, fürchte ich. Ich kann nicht zulassen, dass Sie sich in diesem Aufzug in der Weihnachtsaufführung zeigen!«
Ein Chor des Protests erhob sich unter den anderen jungen Männern, die um ihn herumstanden. Zwei von ihnen trugen die gestreiften Kleider der Schwesternschülerinnen, und Frannie schauderte es bei dem Gedanken, wie die jungen Männer in ihren Besitz gekommen sein mochten.
Am anderen Ende des weitläufigen Speisesaals bereiteten sich die anderen Interpreten vor, die mit ihren Notenblättern in den Händen Tonleitern sangen, um ihre Stimmen aufzuwärmen, oder in Grüppchen beieinanderstanden und warteten, bis sie selbst an der Reihe waren, das grob zusammengezimmerte Podium zu betreten, vor dem Frannie saß und Regie führte.
»Diese Aufführung ist zur Unterhaltung der Patienten und ihrer Familien gedacht«, erinnerte sie die Studenten und erhob die Stimme, um den Lärm zu übertönen. »Ich werde nicht dulden, dass Sie das als Gelegenheit betrachten, um Mitglieder der Belegschaft zu verhöhnen. Die arme Miss Hanley wäre sehr gekränkt.«
»Miss Hanley?« Mr. Evans tat sein Bestes, sich unwissend zu stellen. »Aber nein, Schwester, ich weiß gar nicht, wie Sie auf diese Idee gekommen sind! Ich habe mich über niemand Bestimmten lustig gemacht, ganz ehrlich nicht. Eigentlich bin ich sogar ziemlich schockiert darüber, dass Sie denken, diese … diese krasse Parodie könnte auch nur im Entferntesten auf unsere geschätzte stellvertretende Oberin zielen …«
Die anderen jungen Männer lachten. »Ach, kommen Sie, Schwester, seien Sie keine Spielverderberin«, wagte einer von ihnen einzuwerfen. »Es ist doch nur ein kleiner Spaß, mehr nicht.«
»Spaß?« Frannie warf ihm einen eisigen Blick zu. »Dann würde ich zu gern sehen, wie Sie sich in gleicher Weise über einen unserer Ärzte lustig machen«, sagte sie. »Vielleicht könnten Sie sich ja als Dr. Hobbs oder Dr. Cooper verkleiden? Oder auch als Dr. Latimer? Ich bin mir sicher, dass er das lustig finden würde.« Die jungen Männer scharrten verlegen mit den Füßen und hielten den Blick gesenkt wie unartige Schuljungen. »Sehen Sie, das dachte ich mir schon«, sagte Frannie. »Aber Sie finden es sehr wohl akzeptabel, sich über eine der leitenden Angestellten dieses Krankenhauses lustig zu machen?«
Ein unbehagliches Schweigen folgte. Owen Evans, der anscheinend wusste, wann er sich geschlagen geben musste, nahm seine Perücke ab. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte er seufzend.
Als sie von der Bühne herunterstiegen, knurrte einer der jüngeren Studenten: »Sie könnten uns ruhig ein bisschen Spaß erlauben, Schwester. Immerhin werden wir nächstes Jahr zu Weihnachten wahrscheinlich nicht einmal mehr hier sein.«
»So ist es«, murmelte ein anderer. »Bis dahin werden wir wohl irgendwo in einem Schützengraben liegen und auf Deutsche schießen.«
Frannie lief es eiskalt über den Rücken. »Reden Sie nicht so!«, sagte sie.
Owen Evans blieb stehen und sah sie an. »Warum nicht? Wir wissen doch alle, dass es Krieg geben wird.«
»Alle außer Mr. Chamberlain!«, warf sein Freund ein.
»Niemand will einen Krieg«, sagte Frannie ruhig. »Nicht nach dem letzten Mal.«
»Nein, aber wir können auch nicht die Augen davor verschließen, was Hitler in Europa tut«, beharrte Owen Evans. »Und das wird nicht aufhören, bloß weil er ein Stück Papier unterzeichnet hat.«
»Ihm muss eine Lektion erteilt werden«, mischte sich ein anderer ein. »Man muss sich einsetzen für das, was richtig ist, nicht wahr? Denn wenn wir es nicht tun, dann werden wir die Nächsten sein.«
»Das soll er mal versuchen!« Ein anderer junger Mann, ein stämmiger Bursche mit kampflustiger Miene, ballte seine Fäuste. »Gebt mir eine Chance, dort rüberzugehen, und ich werde diesen Deutschen zeigen, was ’ne Harke ist!«
»Sie wissen ja gar nicht, wovon Sie reden!« Die Anspannung machte Frannie aggressiv. »Ihr glaubt wohl, all das sei nur ein großes Spiel? Aber Krieg ist kein Fußballspiel. Man schüttelt sich nicht die Hände und geht nach Hause, wenn man genug davon hat. Einige von euch werden gar nicht mehr nach Hause kommen …« Sie unterbrach sich, als sie sich plötzlich all der verblüfften Gesichter bewusst wurde, die sie von der provisorischen Bühne her anstarrten. »Aber jetzt zu eurem Auftritt. Wenn ihr an dieser Weihnachtsaufführung teilnehmen wollt, werdet ihr euch einen anderen Sketch ausdenken müssen, weil das hier überhaupt nicht geht.«
»Ja, Schwester.« Diesmal widersprachen sie nicht, sondern eilten miteinander tuschelnd schnell davon.
»Ich glaube, da haben Sie ihnen etwas zum Nachdenken gegeben.«
Frannie blickte sich um und sah, dass Kathleen Fox hinter ihr stand.
»Schwester Oberin! Ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören.« Sie machte Anstalten, sich zu erheben, aber Kathleen winkte ab.
»Wir sind nicht auf der Station, Fran«, sagte sie und lächelte.
Kathleen Fox war seit über vier Jahren Oberin des Nightingale Hospitals, aber Fran fiel es immer noch schwer, sie anzusehen, ohne das junge Mädchen in ihr zu sehen, mit dem sie sich während ihrer Ausbildung in Leeds ein Zimmer geteilt hatte. Das Mädchen, das sie einst gewesen war, zeigte sich immer noch in der Wärme ihrer grauen Augen und in dem kastanienbraunen Haar, das unter ihrer gestärkten weißen Kopfbedeckung hervorlugte.
»Du darfst sie nicht zu streng beurteilen, Fran«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Man kann es den jungen Leuten nicht vorwerfen, dass sie keine Ahnung haben, wie der Krieg ist. Sie sind im Grunde noch halbe Jungs, die das nicht begreifen können.«
»Aber das ist es ja gerade. Dass es noch halbe Kinder sind, die sich aus Jux und Tollerei verpflichten. Genau wie …« Frannie unterbrach sich schnell.
Genau wie Matthew. Und sie wusste selbst am besten, wie das geendet hatte.
»Aber wir wissen, wie es wirklich ist, nicht?«, sagte Kathleen, um einen ruhigen, festen Ton bemüht.
Wie Frannie hatte auch sie als Freiwillige in einem Militärkrankenhaus gearbeitet, bevor sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester begonnen hatte. Frannie hatte sich gleich nach ihrem achtzehnten Geburtstag als Freiwillige gemeldet, um sich Matthew näher fühlen zu können. Aber bis sie nach Frankreich geschickt wurde, galt er schon als vermisst und wahrscheinlich gefallen.
»All dieses Gerede über den Krieg beschwört nur schlimme Erinnerungen herauf«, sagte Kathleen freundlich. »Und man hört es wirklich überall, nicht wahr?«
Frannie nickte. Damit zumindest hatte Owen Evans recht. Die Straßen waren von Sandsäcken gesäumt, und in allen Parks waren Schützengräben angelegt worden, um den Menschen bei Luftangriffen Schutz zu bieten. Es ging sogar das Gerücht, dass Familien getrennt wurden, um die Kinder aus der Stadt aufs sicherere Land zu schicken.
Es war schwer zu glauben, dass das ganze Land vor ein paar Wochen noch gejubelt hatte, als der Premierminister mit einem Stück Papier aus München zurückkam, das England Frieden zusicherte. An jenem Sonntagmorgen hatten überall im Land die Kirchenglocken geläutet, und alle hatten erleichtert aufgeatmet, weil sie nun vielleicht doch nicht in den Krieg ziehen mussten.
Aber schon bald war klar geworden, dass dieses Versprechen, wie auch immer es ausgesehen haben mochte, Hitlers Bestrebungen nicht im Wege stehen würde. Eine düstere, resignierte Stimmung war wieder einmal über das Land hereingebrochen. Kurz danach schon hatten die Leute Schlange gestanden, um sich von den Gemeindeämtern mit Gasmasken ausstatten zu lassen. Frannies Gasmaske lag noch in einer Schachtel in ihrem Zimmer, weil sie sich nicht dazu überwinden konnte, sie anzufassen. Allein schon der Anblick der Schachtel in dem Regal reichte, um ihr Übelkeit zu verursachen.
»Ich bin mir sicher, dass die Vernunft letztendlich siegen wird«, sagte Kathleen.
»Das hoffe ich sehr. Ich wünschte nur, die Leute würden aufhören, unentwegt davon zu reden.«
Die beiden Frauen gaben sich einen Moment lang ihren eigenen Gedanken hin. Dann lächelte Kathleen und sagte: »Lass uns über etwas Angenehmeres reden, ja? Wie gehen die Vorbereitungen für das Konzert voran?«
Frannie verzog das Gesicht. »In etwa so wie immer, fürchte ich.«
Jedes Jahr organisierten die Mitarbeiter des Nightingales eine Weihnachtsvorführung für die Patienten und deren Familien. Und jedes Jahr schwor sich Frannie, nicht erneut die Organisation der Feier zu übernehmen. Aber wenn der November zu Ende ging und die Feiertage nahten, sah sie sich all diesen verzweifelten Gesichtern gegenüber und konnte sich nicht mehr überwinden, Nein zu sagen.
Kathleen lächelte sie an. »Und trotzdem bin ich mir sicher, dass es dir insgeheim große Freude macht.«
»Mag sein«, gab Frannie achselzuckend zu. »Aber nur, wenn ich nicht die ganze Zeit damit verbringen muss, ihre Streitereien zu schlichten. Ganz zu schweigen davon, Schwester Wren wieder mal erklären zu müssen, warum sie kein Duett mit Dr. Cooper singen kann.«
»Ach Gott.« Kathleens graue Augen funkelten vor Übermut. »Vielleicht sollte Dr. Cooper ihr einfach mal den Gefallen tun und nachgeben.«
Frannie beugte sich zu Kathleen vor und sagte mit gedämpfter Stimme: »Unter uns gesagt, hat Dr. Cooper ausdrücklich darum gebeten, nicht mit ihr zusammen auftreten zu müssen. Er war sehr bestimmt in diesem Punkt.«
»Die arme Schwester Wren!«
»Der arme Dr. Cooper, meinst du wohl!« Die Schwärmerei der Stationsschwester für den Gynäkologen hielt nun schon seit einigen Jahren an, obwohl er ein verheirateter Mann und definitiv nicht an ihr interessiert war.
»Wenn man vom Teufel spricht …«
Frannie folgte Kathleens Blick zum anderen Ende des Raums. Miriam Trott, die Oberschwester der Station Wren, kam mit ihren Notenblättern unter dem Arm auf sie zu. »Oh Gott. Lass mich nicht allein«, bat Frannie. »Tu so, als hätten wir etwas Wichtiges zu besprechen.«
»Das ist unmöglich, fürchte ich, da ich in zehn Minuten eine Besprechung mit Mrs. Tremayne habe.«
Frannie zog ein langes Gesicht und vergaß vorübergehend ihre eigenen Probleme. »Ach du meine Güte. Was will sie denn von dir?«
»Weiß der Himmel. Ich frage mich, welchen Grund zur Beschwerde sie schon wieder gefunden haben kann.«
»Vielleicht möchte sie ja nur ein bisschen plaudern?«
Kathleen warf ihr einen Blick zu und verdrehte die Augen. »Das glaube ich nicht. Diese Frau ist der Nagel zu meinem Sarg. Und es ist noch schlimmer geworden, seit sie zur Vorsitzenden des Verwaltungsrats gewählt wurde.«
»Aber du bist ihr mehr als nur gewachsen, Kath.«
»Das hoffe ich. Nur habe ich im Moment überhaupt keine Lust, mich mit dieser Frau herumzustreiten.«
Etwas Schwermütiges flackerte in Kathleens Augen auf, das Frannie veranlasste, sich ihre Freundin genauer anzusehen. »Geht es dir nicht gut, Kath? Du siehst müde aus.«
»Nein, nein, es ist alles bestens, danke.« Ihr Lächeln war wieder da. »Ich habe nur Besseres zu tun, als mir Mrs. Tremaynes Beschwerden anzuhören. Und apropos Beschwerden …«
Plötzlich stand Miriam Trott neben ihnen. »Entschuldigen Sie, Schwester Oberin, aber könnte ich kurz Miss Wallace sprechen?«, fragte sie, wobei sie sich vor Frannie aufpflanzte und ihr so den Fluchtweg abschnitt.
»Natürlich«, sagte Kathleen. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«
»Nein, nein, Schwester Oberin, Sie brauchen doch nicht zu gehen …« Frannie warf ihr einen flehentlichen Blick zu, den Kathleen jedoch ignorierte.
»Schon gut, Schwester. Ich muss mich ohnehin auf meine Besprechung vorbereiten.«
Und damit wandte sie sich auch schon zum Gehen. Frannie sah ihr nach, als sie auf die Tür des Speisesaals zuging und hier und da stehen blieb, um ein paar Worte mit den Schwestern zu wechseln, die sich dort versammelt hatten, um zu proben.
»Miss Wallace?« Schwester Wrens Stimme riss Frannie aus ihren Gedanken. »Ich würde gern noch einmal mit Ihnen über meine Musik sprechen. Ich habe ein paar Vorschläge für das ein oder andere schöne Duett und dachte, vielleicht könnten Dr. Cooper und ich …«
»Ich möchte mit Ihnen über die Notaufnahme sprechen.«
Constance Tremayne war keine Frau, die lange um den heißen Brei herumredete. Sie saß Kathleen auf der anderen Seite des Schreibtischs gegenüber und hielt ihre Handtasche in den Händen. Alles an ihr war straff und stramm, von ihrem kerzengeraden Rücken bis hin zu dem dunklen Haar, das sie am Ansatz ihres langen, schmalen Nackens in einem strengen Knoten trug. Mit ihren unentwegt geschürzten Lippen erweckte sie bei Kathleen stets den Eindruck, als hätte sie gerade eine Zitrone ausgesaugt.
»Was ist damit?«, fragte sie. Sie verbarg ihre Anspannung hinter einem freundlichen Lächeln angesichts der unvermeidlichen Kritik. In den vier Jahren, seit sie Oberin des Nightingale Hospitals war, hatte sie noch nie erlebt, dass Mrs. Tremayne in ihr Büro gekommen war, ohne die eine oder andere Beschwerde vorzubringen.
»Wie ich hörte, hat Schwester Percival gekündigt?«
»So ist es. Sie zieht nach Devon, um ihre kranke Mutter zu pflegen.«
»Dann werden Sie wohl nach einer Nachfolgerin für sie suchen. Haben Sie schon jemanden dafür vorgesehen?«
Kathleen blickte in Mrs. Tremaynes neugieriges Gesicht und kämpfte gegen die Versuchung an, ihr zu sagen, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Sei nett zu ihr, Kath, sagte sie sich warnend, weil sie aus eigener Erfahrung wusste, dass Constance Tremayne gefährlich werden konnte, wenn man sie verärgerte. »Ich hatte vor, ihre Stelle mit einer der anderen voll ausgebildeten Schwestern zu besetzen. Mit Schwester Lund vielleicht …«
»Halten Sie das für klug?«, entgegnete Constance Tremayne. »Ich meine, Schwester Lund ist sicher eine gute Krankenschwester, aber wäre es nicht besser, die Notaufnahme von jemandem mit OP-Erfahrung führen zu lassen? Ich habe neulich mit Dr. McKay gesprochen, und er erzählte mir, dass sie heutzutage immer mehr mit Notfällen zu tun haben, die chirurgische Eingriffe erfordern, Autounfälle zum Beispiel. Er wäre gerne in der Lage, mehr solcher Notfälle in der Unfallambulanz behandeln zu können, anstatt wertvolle Zeit damit zu vergeuden, diese Patienten in den OP hinunterbringen zu lassen. Aber dafür würde er wirklich eine äußerst kompetente Operationsschwester benötigen …«
»Verstehe.« Kathleen konnte sich schon vorstellen, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde und warum Mrs. Tremayne so erpicht darauf gewesen war, mit ihr zu reden. Die Vorsitzende des Verwaltungsrats mochte sich zwar für raffiniert und listig halten, aber in Wahrheit war sie genauso durchschaubar wie der gläserne Briefbeschwerer auf Kathleens Schreibtisch.
»Als Oberin ist das selbstverständlich Ihre Entscheidung«, fuhr Constance fort, doch bevor Kathleen Atem holen konnte, fügte sie bereits hinzu: »Auch wenn ich eigentlich der Meinung bin, dass meine Tochter Helen eine passende Kandidatin wäre. Immerhin hat sie schon zwei Jahre Erfahrung im OP.«
Und das war’s auch schon. Constance hatte ihre Karten aufgedeckt, und nun war Kathleen an der Reihe.
»Ich stimme Ihnen zu, dass Helen eine sehr fähige Krankenschwester ist«, sagte sie. »Auf jeden Fall habe ich sehr positive Berichte von der Oberschwester im OP erhalten. Aber«, fügte sie schnell hinzu, als das selbstzufriedene Lächeln in Mrs. Tremaynes Gesicht noch breiter wurde, »sie ist noch sehr jung. Seit ihrer staatlichen Abschlussprüfung sind noch keine zwei Jahre vergangen. Sie braucht mehr Erfahrung als Stationsschwester, bevor sie die Aufgaben einer Oberschwester übernehmen kann.«
»Oh, ich bin mir sicher, dass Helen die Herausforderung sehr reizvoll finden würde«, warf Mrs. Tremayne rasch ein.
Und ich wette, dass Helen gar keine Wahl in dieser Sache hätte, dachte Kathleen und fragte sich, ob Constance sich wenigstens die Mühe gemacht hatte, ihre Tochter nach ihrer Ansicht zu fragen. Kathleens Erfahrung nach tat sie das nur selten.
Aber sie dachte über den Vorschlag nach und musste zugeben, dass Constance Tremayne recht hatte und sie davon profitieren würden, eine erfahrene OP-Schwester in der Notaufnahme zu haben. Auch Kathleen hatte mit Dr. McKay schon sehr ausführlich darüber gesprochen und wusste, wie sehr er hoffte, der Notfallambulanz einen weiteren Operationssaal hinzufügen zu können.
Kathleen machte sich nur Sorgen um die arme Helen. Nach nur zwei Jahren Dienst als ausgebildete Krankenschwester könnte sie mit dieser Stellung auch durchaus überfordert sein.
Als spürte sie, dass Kathleen schwankte, sprach Mrs. Tremayne schnell weiter. »Ich muss gestehen, dass ich auch private Gründe für meinen Vorschlag habe«, sagte sie. »Wie Sie wissen, hat meine Tochter es in den beiden letzten Jahren nicht leicht gehabt.«
»Das ist wahr«, stimmte Kathleen zu. Jeder kannte Helens Geschichte. Ihre Hochzeit war hastig im Krankenhaus arrangiert worden, weil ihr Verlobter so krank gewesen war, dass er zwei Wochen später bereits starb. Die arme Helen war so untröstlich gewesen, dass es eine Zeit lang so ausgesehen hatte, als könnte sie nicht einmal ihre Abschlussprüfung machen.
Heute schien sie jedoch gute Arbeit im OP zu leisten, wenn man den Stationsberichten glauben durfte. Kathleen bewunderte die junge Frau für ihre Entschlossenheit und ihren Mut.
»Ich glaube, es wäre gut für sie, sich einer neuen Herausforderung zu stellen«, sagte Mrs. Tremayne. »Sie hat sich schon zu lange im OP versteckt.«
Kathleen betrachtete ihr Gegenüber nachdenklich. Vielleicht hatte diese Frau ja doch eine Spur von Menschlichkeit in sich?
»Ich werde mit ihr reden«, versprach Kathleen. »Dann werden wir ja sehen, was sie zu der Angelegenheit zu sagen hat.«
»Oh, Sie werden sicher feststellen, dass sie durchaus gewillt ist, diesem Wechsel zuzustimmen«, tat Mrs. Tremayne ihren Einwand achselzuckend ab.
Kathleen seufzte. Arme Helen, dachte sie. Bestimmt würde sie dem unerbittlichen Willen ihrer Mutter nachgeben, wie alle es früher oder später taten.
Nachdem Mrs. Tremayne gegangen war, sah Kathleen ihr durch das Fenster ihres Arbeitszimmers hinterher. Constance marschierte zielstrebig über den Hof, immer noch aufrecht und gerade, als könnte nicht einmal der heulende Novemberwind sie beugen. Der Himmel war von einem bleiernen Gelblichgrau, und die schweren, tief hängenden Wolken verhießen Schnee. Kathleen fröstelte trotz der Wärme des lodernden Kaminfeuers in ihrem Büro. Sie mochte diese Jahreszeit nicht: die vernichtende Hand des Winters, die sich auf alles legte, den heftigen Wind, der die Bäume entlaubte und die Äste kahl und frierend zurückließ … über all dem lag für Kathleen der Hauch des Todes.
An einem verschneiten Samstagmorgen im Dezember legte Helen Dawson Blumen auf das Grab ihres Ehemanns, denn heute wäre Charlies fünfundzwanzigster Geburtstag gewesen.
»Es war ein Tag wie dieser, an dem er geboren wurde.« Seine Mutter Nellie stand am Fuß des Grabs, sie hatte ihren Mantel fest um ihre mollige Figur gezogen. »Vor unserer Haustür türmte sich der Schnee, und mein Mann musste einen Weg freischaufeln, damit die Hebamme hereinkonnte.« Ein Frösteln durchlief sie. »Charlie hasste die Kälte, und er fand es immer schrecklich, dass sein Geburtstag in den Winter fiel. ›Warum bin ich nicht im Sommer auf die Welt gekommen?‹, pflegte er zu sagen. ›Der Winter ist eine fürchterliche Jahreszeit.‹«
Dann verstummte sie, und Helen konnte sehen, dass ihre Lippen zitterten. Doch sie tat so, als bemerkte sie es nicht, als sie einen Strauß Nelken, der wie ein roter Farbtupfer im weißen Schnee aussah, in eine Vase stellte. Sie hielt die Augen gesenkt, um nicht Charlies Namen sehen zu müssen, der in den grauen Grabstein eingemeißelt war. Solange sie sich nicht erlaubte, die Grabinschrift zu lesen, konnte sie stark bleiben.
»Es wird nicht leichter, was?«, sagte Nellie, als hätte sie erraten, was ihre Schwiegertochter dachte. »Ich weiß, dass es schon über zwei Jahre her ist, aber ich vermisse ihn noch immer sehr.«
»Ich auch«, sagte Helen leise.
»Aber natürlich, Liebes. Es war grausam, dass er dir so kurz nach eurer Heirat schon genommen wurde.«
»Ja, aber zumindest waren wir verheiratet.« Helen hatte schon an ihrem Hochzeitstag gewusst, dass ihnen nicht viel Zeit miteinander bleiben würde, aber sie war fest entschlossen gewesen, seinen Namen anzunehmen, bevor er starb. Und so traurig sie auch gewesen waren, diese wenigen Tage, in denen sie als Mann und Frau gelebt hatten, waren sie doch die schönste Zeit gewesen, an die sie sich erinnern konnte.
Sie spürte die heißen Tränen hinter ihren Lidern und fuhr sich mit ihrer behandschuhten Hand über die Augen. Manchmal wünschte sie, sie wäre wie ihre Schwiegermutter und könnte ihre Gefühle offen zeigen. Aber leider hatte ihre eigene Mutter sie etwas anderes gelehrt.
Nellie legte tröstend eine Hand auf Helens Arm. »Komm, Liebes«, sagte sie. »Ich gehe noch mit dir bis zum Krankenhaus.«
Zusammen stapften sie durch die verschneiten Straßen Bethnal Greens zurück. Die Dächer und Fenstersimse der schmalen Häuser waren unter dicken weißen Schneedecken verborgen, aber auf der Straße hatte der Schnee sich schon in einen hässlichen grauen Matsch verwandelt, der sogar das Leder ihrer Schuhe durchdrang. Das hielt die Kinder allerdings nicht davon ab, ihre behelfsmäßigen Schlitten jauchzend vor Vergnügen die Straße hinauf- und hinunterzuziehen und sich lachend mit schmutzig grauen Schneebällen zu bewerfen. Einer schoss an Helens Schulter vorbei und verfehlte sie und Nellie nur um Haaresbreite.
»’tschuldigung, Miss!« Ein Junge streckte den Kopf um eine Häuserecke und grinste frech. »Der war für meinen Freund bestimmt!«
»Diese Bengel«, sagte Nellie kopfschüttelnd und mit einem nachsichtigen Lächeln. »Aber meine waren früher ganz genauso. Sobald es schneite, waren sie draußen und stellten allen möglichen Unfug an.«
»William und ich auch«, erinnerte sich Helen. »Einmal beschloss er, sich die Mühe zu ersparen, einen echten Schneemann zu bauen, und bedeckte stattdessen mich von Kopf bis Fuß mit Schnee. Ich musste so lange still stehen, dass ich irgendwann meine Füße nicht mehr spüren konnte. Ich hatte schon fast Erfrierungen, als Mutter endlich merkte, was er trieb.«
»Ja, so sind die großen Brüder.« Nellie lachte. »Charlie und seine Cousins sind auch nicht besser mit unserer Ivy umgegangen.«
Dann schwieg sie wieder. Helen hakte sich bei ihr unter, und sie gingen weiter und kamen am Markt auf der Columbia Road vorbei. An einem Samstagmorgen wie diesem wimmelte es schon von Menschen auf der schmalen Straße. Die mit dicken Mänteln, Schals, Mützen, Kopftüchern und Handschuhen vermummten Standbesitzer stampften mit den Füßen auf und bliesen sich in die Hände, um ein bisschen Wärme zu tanken, während sie ihrem Tagewerk nachgingen. Ein Paar winkte Nellie zu, als sie und Helen am Ende der Straße an ihnen vorbeigingen. Die Dawsons betrieben seit mehr als fünfundzwanzig Jahren einen Obst- und Gemüsestand auf diesem Markt, und daher war es kein Wunder, dass sie jeder kannte.
»Ich bedaure meine arme Ivy, die heute Morgen den Stand führt«, sagte Nellie schmunzelnd. »Sie wird nicht begeistert sein, bei Tagesanbruch aufzustehen und bei diesem Wetter den Stand aufbauen zu müssen.«
»Willst du nicht bei ihr vorbeischauen und Hallo sagen?«, fragte Helen.
»Um mir ihr Gejammer anzuhören? Bestimmt nicht!« Nellie verdrehte die Augen. »Vielen Dank, aber da halte ich doch lieber einen netten kleinen Schwatz mit dir. Du könntest mir erzählen, was in deinem Krankenhaus so vor sich geht.«
»Komisch, dass du danach fragst«, antwortete Helen und berichtete Nellie im Weitergehen von ihrer neuen Aufgabe als stellvertretender OP-Schwester, die sie in der nächsten Woche antrat.
»OP-Schwester? Na, das hast du aber schön geheim gehalten.« Nellie sah beeindruckt aus. »Das ist doch ein Aufstieg für dich, nicht?«
»Ich denke schon.«
Nellie warf ihr einen Seitenblick zu. »Das klingt aber nicht sehr überzeugt, muss ich sagen.«
»Doch, doch, natürlich«, sagte Helen schnell. »Es ist nur … Ach, ich weiß nicht, Nellie.« Sie hielt inne und suchte nach den richtigen Worten, um ihr die Sorgen zu verdeutlichen, die ihr in der letzten Woche den Schlaf geraubt hatten. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin. Schließlich habe ich erst seit zwei Jahren meinen Abschluss, und deshalb ist es eigentlich noch ein bisschen zu früh für eine solche Beförderung.«
»Dann müssen sie aber sehr viel von dir halten, wenn sie es trotzdem tun!«
Helen schwieg, weil sie vermutete, dass ihre Beförderung mehr mit der Einmischung ihrer Mutter als mit ihren eigenen Fähigkeiten zu tun hatte. Helen hatte es der Oberin fast ansehen können, als sie sie von ihrer neuen Aufgabe in Kenntnis gesetzt hatte.
Nellie drückte ihre Hand. »Na, komm schon, spuck es aus. Ich kann doch sehen, dass dich etwas beschäftigt.«
Helen lächelte bedauernd. Wie seltsam, dass es ihr leichter fiel, mit Nellie zu reden, als mit ihrer eigenen Mutter! Constance Tremayne würde ihre Ängste vermutlich nur mit der Bemerkung abtun, sie solle nicht albern sein.
»Ich bin beunruhigt, weil ich keinen blassen Schimmer habe, wie man eine Station führt … ganz zu schweigen von einer, auf der es so geschäftig zugeht wie in der Notaufnahme«, sagte sie. »Und die Schwester, die mir unterstellt ist, ist viele Jahre älter als ich. Ich weiß nicht, was sie von alldem halten wird.«
»Dann wirst du ihnen eben zeigen müssen, was du draufhast, nicht?«, sagte Nellie. »Außerdem hätte deine Oberin dir die Stelle nicht gegeben, wenn sie nicht davon ausginge, dass du ihr gewachsen bist.«
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Helen widerstrebend zu. »Aber ich wollte gar nicht versetzt werden. Ich habe sehr gern im OP gearbeitet.«
Nellie erschauderte. »Besser du als ich, Liebes. Ich glaube nicht, dass ich den ganzen Tag lang zusehen könnte, wie Menschen aufgeschnitten werden!«
»Man vergisst irgendwann, dass es Menschen sind«, sagte Helen. »Dann sind sie nur noch Fälle, die behandelt werden müssen.«
Das war es, was ihr an der Arbeit im OP gefiel. Die Patienten wurden hereingefahren, anästhesiert, behandelt und wieder hinausgebracht. Es war nicht wie die Arbeit auf einer Station. Im OP lernte Helen die Patienten nie kennen, hörte sich ihre Geschichten nicht an oder machte sich Sorgen, dass sie vielleicht nicht durchkommen würden. Sie waren nur Namen auf einer Liste, die vergessen waren, sowie die Operation beendet war.
Sie gingen um die hohen, schmiedeeisernen Gitter des Victoria Parks herum, der mit seinen skelettartigen, mit glitzerndem Schnee bedeckten Bäumen wie ein winterliches Märchenland aussah.
»Ich nehme an, dass du über Weihnachten arbeiten wirst, wenn du jetzt einen leitenden Posten hast?«, sagte Nellie.
»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, sagte Helen, »obwohl ich die Dienstpläne selbst erstellen werde. Aber ich fände es ungerecht, mir selber freizunehmen, wenn die anderen Schwestern über Weihnachten vielleicht gern bei ihrer Familie wären.«
»Willst du denn nicht auch mit deiner Familie feiern?«
Helen schwieg für einen Moment. »Na ja, mein Vater wird die meiste Zeit in der Kirche beschäftigt sein, und William wird im Krankenhaus sein und Bereitschaftsdienst haben wie üblich, und so wären es ohnehin nur Mutter und ich …« Sie beendete den Satz nicht.
»Du könntest natürlich auch mit uns feiern«, schlug Nellie vor. »Wir wohnen ja gleich um die Ecke, und du weißt, wie gerne wir dich bei uns hätten. Die Kinder fragen ständig, wann du uns wieder mal besuchen kommst.«
»Das ist sehr lieb, aber ich möchte mich nicht aufdrängen.«
»Was redest du denn da von aufdrängen, Kind?«, sagte Nellie. »Du gehörst doch schließlich zur Familie, oder etwa nicht?« Sie legte ihre Hand auf Helens. »Und Charlie hätte gewollt, dass wir uns um dich kümmern.«
Helen lächelte. Sie war so herzlich in seine etwas raubeinigen Familie aufgenommen worden, dass es sie heute noch beschämte, daran zurückzudenken, wie schlecht ihre eigene Mutter Charlie behandelt hatte. Aber Constance Tremayne war nie darüber hinweggekommen, dass ihre Tochter den Sohn eines Straßenhändlers geheiratet hatte.
»Er hätte nicht gewollt, dass du eine Fremde für uns bist«, sagte Nellie, um dann rasch hinzuzufügen: »Und er hätte auch nicht gewollt, dass du unglücklich bist.«
Irgendetwas an der Art, wie sie es sagte, bewirkte, dass Helen sie verwundert ansah.
»Ich bin nicht unglücklich«, sagte sie.
»Aber bist du glücklich?«
»Natürlich. So glücklich, wie ich es den Umständen entsprechend sein kann«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu.
Die Wahrheit war jedoch, dass sie nicht einmal mehr sicher wusste, was Glück bedeutete. Nach zwei langen Jahren war der erste heftige Schmerz über Charlies Verlust zu einem dumpfen Kummer abgeklungen. Natürlich sehnte sie sich immer noch nach ihm, aber inzwischen konnte sie morgens wenigstens wach werden, ohne mit Schrecken daran zu denken, wie sie die nächsten Stunden überstehen sollte. Nur hin und wieder überfiel der alte Schmerz sie – beispielsweise, wenn sie so lebhaft von Charlie träumte, dass sie in dem Glauben erwachte, er sei noch bei ihr. Dann war der frische Schmerz über seinen Verlust wieder so heftig, dass er ihr den Atem raubte.
Aber war die Abwesenheit von Schmerz das Gleiche wie Glück? Helen war sich da nicht sicher. In den letzten beiden Jahren war es ihr so vorgekommen, als ob die Welt in einen feinen grauen Dunst gehüllt gewesen wäre. Durch ihn hindurch konnte sie den Rest der Welt zwar sehen, wie er lachte, liebte und seinen Angelegenheiten nachging, während sie selbst abseits stand und von allem losgelöst war, was um sie herum vorging.
Nellie schwieg einen Moment lang. Dann sagte sie: »Hast du schon einmal daran gedacht, dir wieder jemanden zu suchen?«
Helen fuhr schockiert zu ihr herum. »Was? Nein!«
»Warum denn nicht? Du kannst doch nicht für immer allein bleiben. Wie alt bist du? Vierundzwanzig? Du bist noch eine junge Frau …«
»Ich will niemand anderen«, unterbrach Helen sie entschieden.
»Das sagst du jetzt vielleicht, aber früher oder später wird jemand daherkommen und dein Interesse wecken. Außerdem würde mein Charlie nicht wollen, dass du den Rest deines Lebens allein verbringst. Das weiß ich. Er würde sich wünschen, dass du glücklich bist.«
»Ich will keinen anderen«, wiederholte Helen noch entschiedener.
»Wie du meinst, Liebes. Ich wollte dir damit nur sagen, dass ich nichts dagegen hätte, wenn du mal wieder mit jemandem ausgehen würdest.«
Helen schwieg gedankenverloren. Bis Nellie es erwähnt hatte, war sie nicht einmal auf die Idee gekommen, dass sie sich wieder verlieben könnte. Nicht nur aus Respekt vor Charlie, sondern weil sie sich wirklich nicht vorstellen konnte, dass irgendein anderer Mann ihr Herz je so bewegen könnte, wie er es getan hatte.
Das Schweigen zwischen ihnen zog sich in die Länge, und Helen war froh, als sie die Krankenhaustore erreichten.
»Wir sehen uns, meine Liebe.« Nellie drückte einen warmen Kuss auf Helens durchfrorene Wange. »Viel Glück mit der neuen Stelle morgen. Und du wirst nicht vergessen, was ich dir gesagt habe, Kind? Wir würden uns freuen, dich zu Weihnachten bei uns zu haben.«
»Ich werde es versuchen«, sagte Helen. Aber tief im Innern wusste sie, dass sie Nellies Einladung nicht annehmen würde. Selbst nach zwei Jahren tat es noch zu weh, Charlies einstiges Zuhause aufzusuchen und zu wissen, dass er nicht dort sein würde.
Nach einer schlaflosen Nacht war Helen schon auf, geduscht und fertig angezogen, als das Dienstmädchen um halb sieben an diesem Montagmorgen kam, um ihr den Tee ans Bett zu bringen.
»Oh! Entschuldigen Sie bitte, Schwester, ich wusste nicht, dass Sie schon aufgestanden waren«, sagte sie, als sie Tasse und Untertasse auf den Nachttisch stellte. »Die meisten der Oberschwestern wollen nicht vor halb sieben geweckt werden, da ihr Dienst ja erst um acht beginnt.«
»Ich konnte nicht schlafen, weil heute mein erster Tag in der Notaufnahme ist«, gestand Helen.
»Ach so.« Das Mädchen lächelte sie mitfühlend an. »Soll ich Ihnen dann jetzt gleich das Frühstück bringen? Ein pochiertes Ei vielleicht und eine Scheibe Toast, um Ihren Magen zu beruhigen?«
»Danke, aber ich könnte jetzt wirklich nichts herunterbringen.« Helen legte eine Hand auf ihren Magen, der sich total verkrampfte.
»Na ja, wenn Sie sicher sind, Schwester? Wir wollen Sie doch nicht hungern lassen, nicht?«
Nachdem das Mädchen gegangen war, setzte Helen sich vor ihre Frisierkommode, um sich die Haare aufzustecken. Vom Kragen abwärts war sie ganz die kompetente Oberschwester in ihrer strengen, grauen Uniform, aber oberhalb des Kragens sah sie nur zwei furchtsame braune Augen, die sie aus einem blassen Gesicht heraus anblickten. Wie sollte sie nur die anderen Schwestern in der Notaufnahme überzeugen, dass sie eine kompetente Oberschwester war, wenn sie es selbst noch nicht ganz glaubte? Sie hatte die ganze Nacht lang fast kein Auge zugetan. Nicht nur aus Furcht, sondern auch, weil der Wohnbereich der Oberschwestern im Vergleich zum Schwesternwohnheim so still war. Helen war Stimmen und Lachen auf den Gängen gewöhnt, aber die Oberschwestern hier schienen in geradezu gespenstischer Stille zu leben.