Cover

Für Pandabärfanatiker, Tintenkleckser und Bucheulen,

Lesefüchse, Geschichtenträumer und Wolkenköpfe.

Für alle, die Stunden zwischen Buchseiten verbringen, die Bücher flüstern hören, Worte tanzen sehen und mit den Seiten träumen wollen.

Für dich (:

Prolog

Der blutige Comic

Vignette

Es gibt diese Tage, an denen man spürt, dass sie etwas Besonderes werden. Dass sie anders sind und sich für immer ins Gedächtnis brennen werden. Wie die Tage, an denen Han Solo und Leia Organa den Millennium Falken bestiegen, um das Imperium erneut zu bekämpfen. Wie der Tag, an dem Jasmin und Aladin beschlossen, einen Markt in Agrabah zu besuchen, und sich dadurch ihre Leben für immer veränderten.

Und der heutige Tag war auf jeden Fall auch besonders.

Besonders mies.

Alles war mies. Die Art, wie dieser Tisch abgewischt worden war. Die Gesellschaft. Die Farbe des Strohhalms. Die Druckqualität der Zeitung, die neben ihm lag. Selbst der Milchshake war mies – die Streusel waren ungleichmäßig auf der Sahne verteilt und am Rand war viel zu wenig Krokant. Und seine Laune … die war wohl das Mieseste an der ganzen Sache.

Robinson Alexandre Isaac Leonardo Winterbuttom, der sich selbst einfach Sam nannte, saß in seinem Lieblingspub, der eigentlich eher ein Diner aus vergangenen Zeiten war, an seinem Lieblingsplatz vor seinem Lieblingsmilchshake.

Allein.

Weil das Mädchen, das sonst so gut wie nie von seiner Seite wich – oder er von ihrer, je nach dem, wie man es sah – weg war.

Weggelaufen.

Geflüchtet.

Vor ihm.

Vor sich.

Vor allem.

Und das, weil sie nicht einfach ein Mädchen war, sondern magische Fähigkeiten besaß, die es ihr ermöglichten, in eine Parallelwelt zu reisen und sich dort mit magischen Fähigkeiten zu behaupten. Eine Tatsache, die sie irgendwie zur Retterin sowohl der Menschen- als auch Feenwelt machte, und das wiederum überforderte sie hin und wieder. Vorwerfen konnte man ihr das definitiv nicht.

Sam barg den Kopf in den Händen und versuchte das Wirrwarr in seinem Kopf hinter eine Tür zu zwingen, weit weg in einen fernen Winkel seines Gehirns, der ihm nicht die ganze Zeit vor den Augen herumtanzte. Aber das Zeug war so zäh wie die schwarze Masse, gegen die Spider-Man kämpfen musste, und hier war nun wirklich alles in Sicht, aber keine hilfreiche radioaktive Spinne, die Sam Superkräfte verleihen könnte.

Seufzend griff er wieder nach der Zeitung. Das große Bild, das über dem Artikel prangte, zeigte einen Comic, dessen Titelseite mit Blutspritzern besprenkelt war. Es war eine schlechte Darstellung, als hätte ein kleines Kind Ketchup durch die Gegend geschleudert. Blind. Mit gefesselten Händen. Der Artikel war nicht besonders lang, die Überschrift dafür umso reißerischer.

Comic Zeichner D. Chudy tot in seiner Wohnung aufgefunden – nahm sich der des Plagiats überführte Mann das Leben?

Sam hatte den Artikel bereits zwei Mal gelesen. Anscheinend hatte man den Mann, der einmal einer seiner Lieblingscomiczeichner gewesen war, tot und blutüberströmt in seiner eigenen Wohnung aufgefunden. Chudy war vor einigen Tagen in Ungnade gefallen, als herauskam, dass alle seine Ideen geklaut waren. Es hatte Sam das Herz gebrochen.

Die kleine Klingel an der Tür verkündete die Ankunft eines neuen Gastes und Sams Kopf flog so schnell nach oben, dass sein Nacken schmerzhaft knackte. Das Mädchen an der Tür hatte hüftlange dunkle Haare und ein schönes Lächeln. Doch sie war so wenig Hope wie er Spider-Man. Seufzend senkte er den Blick, seine Erinnerungen wanderten zurück an den Tag, als er sie das erste Mal mit hierhergenommen hatte.

Es war einer der ersten richtig sonnigen Tage des neuen Jahres gewesen. Er war an ihrem Baumhaus Camelot aufgetaucht und hatte es mit Schneebällen beworfen. Seitdem er sie das erste Mal dort aufgestöbert hatte, konnte er diesen magischen Ort finden, der durch einen Schutzzauber vor allen anderen Augen verborgen war. Drei Schneebälle hatte es gebraucht, dann war ihr Kopf über der Brüstung erschienen.

»Hey, Schneewittchen, lass dein Haar herunter«, hatte er gerufen.

»Das war Rapunzel, du Unwissender«, hatte sie wenig charmant zurückgegeben. »Hast du niemand anderes, dem du auf die Nerven fallen kannst?«

»Bei dir macht es nun mal am meisten Spaß«, hatte er erwidert.

Die heruntersausende Leiter hatte ihn beinahe am Kopf getroffen. Grinsend kletterte er hinauf und fand Hope auf ihrem Bett vor. Es hatte sich deutlich verbessert, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Er hatte ihr eine ordentliche Matratze besorgt (der Gedanke an den Transport bescherte ihm heute noch Muskelkater) und einen Thermoschlafsack. Den brauchte sie zwar nicht wirklich, weil irgendein Feenzauber verhinderte, dass es in diesem Baumhaus zu kalt wurde, aber er hatte trotzdem darauf bestanden. Die beiden riesig großen Sofakissen stammten von Juliet, Sams Mum, und passten angeblich absolut gar nicht mehr zur neuen Wohnzimmerdeko in der Villa Winterbuttom. Juliet hatte keine Ahnung, was Hope ihr Zuhause nannte, denn sie würde das Mädchen niemals in einem Baumhaus wohnen lassen, Magie hin oder her. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, Hope immer mal wieder etwas zuzustecken – oder Sam, je nach dem, wie sehr Hope sich gerade wehrte. Denn wenn dieses Mädchen eins hasste, dann waren es mitleidige Almosen.

»Hast du wenigstens Frühstück mitgebracht?« Hopes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie sah nicht gut aus, die Ringe unter ihren Augen waren so dunkel wie das Herz des Imperators. Wahrscheinlich hatte sie schon wieder nicht geschlafen.

»Ich würde es nie wagen, dir ohne etwas zu beißen unter die Augen zu treten.« Er warf ihr einen Schokoriegel zu, den sie geschickt in der Luft schnappte und dann anklagend hochhielt. »Keine Sorge«, fügte er schnell hinzu. »Das ist nicht alles. Aber für den Rest musst du dir was anziehen. Wir gehen unter Leute.«

»Ich hasse Leute«, maulte sie.

»Diese wirst du lieben«, beharrte er.

Grummelnd und knurrend war sie ihm gefolgt, bis hierher. Sam erinnerte sich daran, wie sie mit ihm durch die Tür getreten war, der Blick wachsam, die Muskeln angespannt.

Es hatte eine Weile gedauert, bis er die Zeichen zu deuten gelernt hatte. Die Art, wie sie die Umgebung im Auge behielt und stets einen Fluchtweg zu suchen schien; oder wie sie die Schultern hochzog, wenn ihr alles zu viel wurde. Dabei war es doch völlig klar, dass sie nach zwei Jahren auf der Straße sowohl wortkarg als auch menschenscheu geworden war. Er hatte gesehen, wie die Leute sie ansahen, das Straßenkind, und es erfüllte ihn mit glühend heißer Wut.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Mandy, die Bedienung, ihn misstrauisch beobachtete. Sein unangetasteter Milchshake war ganz und gar untypisch für ihn, das wusste er selber. Aber es ging einfach nicht.

»Es liegt an mir, nicht an dir«, erklärte er seufzend dem Strohhalm, der einsam aus der Sahne herausragte. »Wobei – ein bisschen auch an dir, du bist nämlich falsch gestreift, mein Freund. Du gehörst eigentlich in den Strawberry-Cheesecake-Becher. Nicht dass ich dich nicht gerne hier hätte, aber du bist einfach nicht der Richtige für mich.«

Der Strohhalm ließ diese kleine Ansprache in stoischer Ruhe über sich ergehen. Sams Hand wanderte in seine Jackentasche. Dann zögerte er. Mandy hasste es wie die Pest, wenn man hier etwas selbst Mitgebrachtes verzehrte – das galt sogar für sein Weingummi und sie hatte ihn wegen seiner Verstöße schon mehrmals mit ihrem Todesblick bedacht. Seufzend glitt sein Blick zurück auf die Karte vor ihm. Hope hatte Waffeln gegessen, als sie das erste Mal hier waren, und den Blueberry-Vanille-Shake. Später hatten sie sich noch einen Wrap geteilt, als sie sich endlich ein wenig entspannt und in der neuen Umgebung wohl gefühlt hatte.

Mann, kannst du auch an irgendetwas denken, das nicht mit ihr zu tun hat? Dein Leben besteht schließlich nicht nur aus diesem Mädchen! Er sah sich mit einem nahezu energischen Blick um. Er liebte diesen Laden. Gut, die Farben waren eines Jedi vielleicht nicht würdig – hier dominierten Altrosa und ein verwaschenes Türkis, das ihn an ein furchtbares Kleid seiner noch furchtbareren Großmutter erinnerte. Doch die Speisekarte beinhaltete wahre Schätze der Backkunst, die Bedienung war immer schnell und freundlich und es war hier weder übermäßig laut, noch voll, noch wurde mit Essen geworfen. Und Hope hatte …

Er klatschte die flache Hand auf den Tisch, was ihm einen scharfen Schmerz und einen erschrockenen Blick von Mandy einbrachte. »Das darf doch nicht wahr sein«, brummte er. »Keine vier Stunden voneinander getrennt und schon am Durchdrehen.« Warum auch hatte sie wieder weglaufen müssen? War es nicht langsam genug? Okay, er konnte sich wirklich nicht vorstellen, was sie bei all dem fühlte, was sie mittlerweile über Hope selbst und ihre Eltern erfahren hatten, und trotzdem … »Vielleicht sind Superkräfte doch gar nicht so hilfreich«, sagte er zu dem Strohhalm, der ihn schweigend und einäugig anstarrte, wie Strohhalme das nun mal so tun. »Eigentlich machen die alles nur komplizierter. Besonders bei den Mädchen.«

»Aber sie ziehen die Mädchen auch an«, sagte eine Stimme. Im nächsten Moment rutschte eine Gestalt auf die Bank ihm gegenüber. Groß und schlaksig mit einem Irokesenhaarschnitt, der seine Mutter die Nerven und eine ziemlich teure Vase gekostet hatte, nämlich die, die sie bei seinem Anblick fallen gelassen hatte. Tobias Nicolaus Benton, alias Tobi, alias The Gamer, Sams bester Freund seit dem Kindergarten, blinzelte ihn aus dunklen Augen an. Sie hatten alles geteilt, vom Schokoriegel über PC Spiele bis zu Hausaufgaben und Uni-Kursen. Mit Seth zusammen bildeten sie die drei Musketiere, unbesiegbar und völlig chaotisch.

»Was tust du denn hier?«, fragte Sam verdattert und bemerkte erst, als der Satz bereits in der Luft hing, dass das nicht gerade die netteste Begrüßung war.

»Bei Tante Jody gab es nur diese schreckliche Erbensuppe. Emma und ich holen uns noch etwas Vernünftiges zu beißen.« Er nickte zum Tresen hinüber, wo eine zierliche blonde Gestalt schüchtern eine Hand hob, als Sams Blick sie traf. Er nickte mechanisch zurück. Emma war für ihn immer Tobis kleine Schwester gewesen, ein nettes Gesicht in der Randzone ihrer Freundschaft. Dass sie sich mit Hope angefreundet hatte, war ihm auf eine wundersame Weise wie vorherbestimmt vorgekommen. Das Band, welches ihn und Tobi verband, wirkte sich jetzt auch auf die beiden Mädchen aus. Es war irgendwie poetisch gewesen. Oder einfach albern.

»Schlimme Sache, was?« Tobi tippte auf den Artikel. »Irgendwer hat dem Arsch ganz schön zugesetzt. Es heißt, es waren Werwölfe.«

»Überaus realistisch«, sagte Sam trocken. »Vielleicht auch Inkubie oder eine wild gewordene Horde Zombie-Osterhasen.«

»Ich würde es ihm gönnen.« Tobi grinste und verkündete dann unverblümt: »Du siehst scheiße aus, mein Bester.« Dabei schnappte er sich den dekorativ in die Sahne gesteckten Oreo-Keks aus Sams Milchshake.

»Und du nicht oder was?«, gab Sam im selben Tonfall zurück. »Trainierst du für den Augenringe-Contest oder was soll das da in deinem Gesicht sein?«

»Autsch.« Tobi grinste, Kekskrümel im Mundwinkel. »Seth und ich waren gestern auf eine kleine Runde Zocken verabredet. Da ein gewisser Jemand uns mal wieder versetzt hat, mussten wir den Schmelzpass eben alleine einnehmen.«

»Siehst mir eher nach einer Nacht aus als einer Runde«, meinte Sam.

»Könntest recht haben, aber wenigstens rede ich nicht mit Strohhalmen.« Tobi beugte sich vor. »Was ist los, Samweis? Wo ist dein Mädchen? Hast du heute Ausgang?«

»So könnte man es auch nennen«, murmelte Sam und hätte sich für den wehleidigen Tonfall in seiner Stimme am liebsten geohrfeigt.

Tobi zuckte mit den Ohren wie ein Bluthund, der eine Fährte aufgenommen hat. »Liebeskummer?«

»Geht dich gar nichts an«, erwiderte Sam.

»Und wie es das tut. Spuck es aus oder soll ich mich neben dich kuscheln und schmalzige Musik anmachen?«, fragte Tobi.

»Wage es ja nicht«, drohte Sam.

»Oh, aber mir ist grade so sehr danach.« Tobi sprang blitzschnell auf und eilte zu der in der Ecke stehenden Jukebox.

Sam schlug die Hände über dem Kopf zusammen, wobei ihm seine Strickmütze in die Stirn rutschte. »Womit habe ich das nur verdient?«, stöhnte er und spähte zu seinem Freund hinüber, der mit wiegenden Hüften die Songauswahl studierte. Im nächsten Moment erklang ein Pfeifen aus den Boxen an der Wand und Sam lief ein Schauer über den Rücken, als Wind of change einsetzte.

»Ich stehe auf diese Klassiker« sagte Tobi, als er zurückkam. »Fühlst du dich schon redselig?«

»Das Lied hat Hope sich ausgesucht, als ich das erste Mal mit ihr hier war«, sagte Sam.

»Soll ich ihren Geschmack loben oder hassen wir sie?« Der Schalk verschwand aus Tobis Augen, während er sich vorbeugte und die Arme auf den Tisch stützte. »Los, Sam, erzähl mir, was los ist. Wo ist die Kleine? Neulich wart ihr doch noch ekelhaft glücklich.«

Ja, bei der Neuerscheinung des Comics war noch alles in Ordnung. Aber seitdem haben wir ein Geheimcamp voll magischer Wesen gefunden, das von der Heldin Chinas höchst persönlich angeführt wird. Dann war da noch der Kampf gegen das Spinnenmonster, das sogar Aragog hätte blass aussehen lassen, und dann die Mahre, die uns beinahe getötet hätten … Sam wurde augenblicklich schlecht, wenn er an das ganze Blut dachte, das Hope an jenem Tag verloren hatte. Eine Narbe würde sicherlich zurückbleiben, trotz der fachkundigen Behandlung, die ihnen im Camp zuteilgeworden war. Und doch war es nicht der Kampf oder ihre Verletzung gewesen, die sie erneut in die Einsamkeit getrieben hatte.

»Hey, Samweis.« Tobi schnipste vor seiner Nase mit den Fingern und Sam zuckte zusammen. »Hier spielt die Musik. Wieso ist Hope nicht hier?«

»Sie ist abgehauen«, gestand Sam.

»Abgehauen.« Tobi schnalzte mit der Zunge. »Stilvoll. Und warum?«

»Wegen meiner Mum«, sagte Sam.

Tobi hob verblüfft die Brauen. »Aber deine Mum ist die coolste Lady der Welt. Sie ist Indiana Jones. Nur eben weiblich.«

Sam starrte seinen Freund entgeistert an. »Du vergleichst meine Mum mit Harrison Ford?«

»Harrison Ford war Han Solo«, verteidigte Tobi seine Bemerkung.

Sam schüttelte den Kopf. »Der vierte Indiana Jones war aber totaler Unfug. Aliens. Aliens! Und der Typ schwingt an einer Liane und das schneller als die Affen. Also im Ernst.«

»Han Solo überwiegt. Menschen machen Fehler, Hally Berry hat in Cat Woman schließlich auch nicht gerade geglänzt, aber was soll’s? Sie wird trotzdem immer die Nummer 1 bei der Wahl meiner zukünftigen Ehefrau sein. Und du lenkst ab.« Tobi sah ihn erwartungsvoll an.

»Du hast doch mit Indiana Jones angefangen.«

»Sam!«

»Okay!« Entnervt schob Sam sich die Mütze vom Kopf und knüllte sie in den Händen zusammen. »Wir haben … Mist gebaut«, versuchte er die Tatsache zu umschreiben, dass sie sage und schreibe 72 Stunden im Feenreich verschollen gewesen waren und seine Mutter vor Sorge fast ausgeflippt war. Und das völlig zu Recht. »Und meine Mum ist ausgerastet. Sie hat etwas gesagt und Hope ist gegangen.«

»Was hat sie gesagt?«, wollte Tobi wissen.

»Irgendwas mit Familienangelegenheit und dass Hope kein Teil davon ist.«

»Hui.« Tobi pfiff leise durch die Zähne. »Das ist hart, aber es ist auch richtig. Sie ist nicht Teil deiner Familie, jedenfalls nicht, wenn du sie nicht in der letzten Woche ohne mein Wissen geehelicht hast.«

»Mum sagte, sie hat das Gefühl, dass ihre Kinder nicht mehr sicher sind, seit Hope bei uns wohnt«, erklärte Sam.

Tobi brauchte offenbar eine Sekunde, um das Gehörte zu verarbeiten. »Warte mal, sie wohnt bei euch?«

»Ja.«

»Deine Freundin wohnt bei dir? Bei dir zu Hause?! Du weißt schon, dass das schräg ist, oder?«

»So schräg ist das nicht«, meinte Sam.

Tobi riss die Augen auf. »Ach nein? Wo sind ihre Eltern? Ihr Zuhause?«,

In einer magischen Feenwelt. Jedenfalls glauben wir das. Es könnte auch durchaus sein, dass sie tot sind und wir die ganze Zeit einem Phantom nachjagen. Aber diesen Gedanken wage ich nicht zu denken, weil Hope daran zerbrechen würde, und das kann ich nicht zulassen, dachte Sam. Stattdessen erklärte er schlicht: »Das ist kompliziert.«

»Bei euch ist einiges kompliziert, Bro. Ich fühle mich wie in einem James-Bond-Streifen.« Tobis Augen weiteten sich. »Ach, du meine Fresse, ist sie ein Spion?«

»Was?«

»Eine Geheimagentin? Eine Assassine?«, präzisierte Tobi.

»Himmel, nein!«, rief Sam.

»Ein Vampir? Werwolf?«

»Tobi!«

Der ließ nicht locker. »Ist sie Elvie?«

»Ich hab keine Ahnung, wer das ist«, stieß Sam entnervt aus.

»Ne Mutantin wäre toll«, fantasierte Tobi weiter.

»Du spinnst doch echt.« Sam war drauf und dran, Tobi die Mütze ins Gesicht zu werfen. Wie oft hatte er in den Serien nicht verstanden, warum die Figuren ihren besten Freunden nicht einfach die Wahrheit über ihre übernatürlichen Geheimnisse verrieten! Jetzt wusste er es. Es ging einfach nicht. Er konnte Tobi da nicht auch noch mit reinziehen. Schon gar nicht jetzt, wo durch Hopes Verschwinden alles auf der Kippe stand. Und doch hätte er mit seinem besten Kumpel nur zu gerne über diese Dinge gesprochen. Sein Blick glitt über die Schulter seines Gegenübers hinweg und er sah Emma an einem der Tische sitzen. Zu ihren Füßen stand eine große Papiertüte mit dem Aufdruck des Diners. Sie hatte eine Schale mit Pommes herausgefischt und verspeiste sie, während ihr Blick an den Seiten eines Buches klebte. Sie sah Hope so ähnlich, dass es schmerzte.

»Was ihr angestellt habt, verrätst du mir nicht oder?«, fragte Tobi, jetzt wieder in nüchternem Tonfall.

Sam schüttelte den Kopf, ohne den Blick von seinen verkrampften Händen auf der Tischplatte zu lösen. »Kann ich nicht, Mann.«

Tobi sah ihn eine Weile an. »Ich schätze mal, es hat mit dem Veilchen zu tun, mit dem du dir die Visage verschönert hast?«

Sam zuckte zusammen. Das hatte er fast vergessen. Er widerstand dem Drang, sein Auge zu berühren. Die Haut darunter sah wirklich übel aus, blau verfärbt, mit leichten Lilatönen. Es tat nicht wirklich weh. Die Erinnerung war schlimmer: Hope mit diesem leeren Blick; Hope, die vor ihm davonlief genau in die Arme dieses Monsters. Irgendetwas hatte sie völlig in seiner Gewalt gehabt und Sam war sich mittlerweile sicher, dass hier jemand Spielchen mit ihnen spielte. Diese Fay aus Hopes Träumen – er traute ihr nicht im Geringsten. Doch was sollte er tun? Es gab keine Möglichkeit, Hope in ihre Träume zu folgen, das hier war nicht Inception oder Supernatural. Es war einfach nur das Leben. Ein verdrehtes, verrücktes, verwirrendes Leben.

»Sam?«

»Was?« Er schreckte hoch.

Tobi musterte ihn besorgt. »Das Veilchen.«

Sam stellt sich dumm. »Was ist damit?«

Aber natürlich ließ Tobi nicht locker. »Wo hast du es her?«

»Hope hat mir eine verpasst.« Sam biss sich auf die Zunge, während Tobis Augen riesig groß wurden. Warum hatte er das nur gesagt?

»Wie bitte?«

»Es war nicht … sie wollte … es tut ihr leid«, stammelte Sam.

»Na, das will ich aber auch hoffen.« Tobi lachte, doch es lag keinerlei Humor in dem Laut. »Sam, was zum Geier …«

»Es ist kompliziert, okay?« Sam sah seinen Freund verzweifelt an. »Und ich kann’s dir nicht sagen. Nicht alles, das … das geht einfach nicht, okay? Vertrau mir einfach.«

»Dir vertraue ich ja, Bruder, nur der Braut nicht«, entgegnete Tobi.

»Sie ist was Besonderes, sie, sie ist … Ihr wurde schon ziemlich übel mitgespielt okay? Deswegen hat sie es nicht so mit Menschen«, versuchte Sam zu erklären.

Tobi lehnte sich abrupt zurück und schnippte mit den Fingern. »Natürlich! Daher kenne ich sie!«

»Wie bitte?« Sam hielt verwirrt inne.

»Weißt du noch, vor dem Comicladen? Ich hab gesagt, sie kommt mir bekannt vor«, sagte Tobi.

»Ich dachte, du wolltest sie angraben«, meinte Sam.

»Du denkst, das ist mein Anmachspruch? ›Hey, ich glaub, ich kenn dich irgendwoher, hast du Bock mit mir auszugehen?‹ Also echt, Alter. Was denkst du denn von mir?« Tobi schüttelte mit gespielter Enttäuschung den Kopf.

»Komm zum Punkt!«, rief Sam.

»Der Punkt ist, dass ich doch vor einer Weile diese Sache da hatte.« Tobi senkte die Stimme und warf einen misstrauischen Blick hinter sich, als würde sie jemand – versteckt hinter Zuckerstreuern und Serviettenhaltern – belauschen. »Weißt du noch dieses … Missverständnis damals, gegen Ende des ersten Semesters am College?«

»Du hast Gras geraucht, bist in den Computerraum unserer ehemaligen Schule eingebrochen und hast alle Bildschirmhintergründe geändert, sodass sie ein gephotoshoptes Bild von dir und Milly Bishop angezeigt haben, auf dem du kein Shirt getragen hast, dafür aber ein Sixpack hattest, mit äußerst fragwürdigen Tätowierungen. Außerdem hast du die Lautsprecherdurchsagen getürkt, sodass am nächsten Tag unentwegt Tainted Love lief, und mutwillig den Amokalarm ausgelöst.« Sam konnte sich nur zu gut an diesen denkwürdigen Tag erinnern.

»Aus Versehen«, korrigierte Tobi, dessen Ohren ganz rot angelaufen waren. »Ich dachte, es wäre jemand hinter mir her.«

»Du hast dich vor dem Kostüm des Schulmaskottchens erschrocken.« Sam kicherte unwillkürlich.

»Das ist eine Kakerlake, meine Fresse! Weißt du, wie gruselig eine zweieinhalb Meter große Kakerlake im Dunkeln aussieht? Ich bin doch kein Ghostbuster!«, verteidigte sich Tobi.

»Ich wäre damals bei der Abstimmung auch definitiv für das Schaf gewesen«, meinte Sam.

»Wir waren auf einer bescheuerten Schule.« Tobi schüttelte den Kopf, sein Iro wippte hypnotisierend bei der Bewegung.

»Ich habe mich immer gefragt, wieso sie dich nicht von der Uni geworfen haben«, sagte Sam nachdenklich.

»Ich mich auch«, gab Tobi zu. »Ich glaube, mein Dad hat den Rektor der Schule bedroht, sodass er keine Anzeige erstattet hat, und sich dann noch die anderen Mächtigen vorgeknöpft. Vielleicht hatte er belastende Bilder vom gemeinsamen Golfen.«

Sam wartete, bis Mandy wegsah, und schob sich hastig zwei Weingummi zwischen die Zähne. »Das wird’s gewesen sein. Aber was hat das mit Hope zu tun?«

»Oh, richtig.« Tobi setzte sich ruckartig wieder gerade hin. »Also, sie haben mich doch dann für die Ferien zu meinen Großeltern in dieses Kaff bei Torquay geschickt. Totales Hinterland, kein Internet, kein Kabelanschluss, nichts. Ich bin da beinahe krepiert. Und dann haben sie mich gezwu… freundlichst davon überzeugt, dass ich bei der Kirche mithelfe. Die haben mittags immer Essen ausgegeben, für Bedürftige, Klamottenspenden sortiert und verteilt und so. War eigentlich ganz nett.«

Allmählich dämmerte Sam, worauf sein Freund hinauswollte. »Und da …«

»Da habe ich sie gesehen!«, beendete Tobi den Satz. »Ja, ganz sicher. Sie, na ja, sie war noch nicht ganz so dünn und ihre Haare waren auch irgendwie anders. Aber sie war es, ganz sicher. Sie war mehrmals da glaube ich, mindestens zwei- oder dreimal. War sehr still. Viele von denen quatschen dich an, sind froh mal mit jemandem reden zu können, aber sie nicht. Sie hat einfach nur dagesessen und gegessen, bis …«

»Bis was?«, fragte Sam alarmiert.

»Na ja, da war so’n Kerl«, erinnerte sich Tobi. »Ziemlicher Schrank. Alle hatten Angst vor ihm, aber es war gegen die Spielregeln der Kirche, jemanden auszugrenzen, so weit hat er es nicht kommen lassen. An dem Tag ist bei ihm aber irgendeine Sicherung durchgebrannt. Er hat rumgepöbelt, die Mädels angemacht. So eine kleine Rothaarige hatte es ihm angetan. Der Pfarrer hat ihn ermahnt, aber es half nichts. Irgendwann hat er sie gepackt und versuchte sie zu küssen. Da ist Hope ausgerastet.«

»Wie meinst du das?«, fragte Sam verwirrt.

»Sie ist auf ihn losgegangen, ist über die Tische hinweggesprungen. Hat ihn umgeworfen und ihn in den Polizeigriff genommen. Der Typ hat geschrien wie am Spieß. Hat ihr übel eine verpasst. Als die Polizei kam, ist sie abgehauen. Danach hat sie niemand mehr gesehen«, erzählte Tobi.

Sam nickte. »Ja, das klingt nach Hope.«

»Der Pfarrer meinte, sie ist vielleicht ne Ausreißerin, die sich vor der Polizei versteckt. Er wollte sie suchen, aber dann waren die Ferien vorbei und ich durfte wieder nach Hause. Keine Ahnung, ob der Pfarrer sie je gefunden hat. Mann, ich kann nicht glauben, dass ich da nicht direkt daraufgekommen bin, als ich sie wiedergesehen hab.«

»Es muss nach dem Tod von Eleonore gewesen sein«, murmelte Sam. »Kurz nachdem ich sie das erste Mal gesehen habe.« Er strich über das Armband an seinem Handgelenk, das Hope ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Wo mochte Hope jetzt stecken? In welche Schwierigkeiten brachte sie sich gerade? Sie hatte versprochen, nicht ohne ihn ins Feenreich zu gehen. Galt das noch?

»Tod von wem?«, hakte Tobi nach. »Ist ihre Mutter tot?«

»Nein!«, erwiderte Sam etwas zu heftig.

Tobi zuckte zurück und hob abwehrend die Hände. »Ganz ruhig Samweis.«

»Tut mir leid. Ihre Eltern … das ist ein heikles Thema. Sie ist auf der Suche nach ihnen.«

»Und dabei über dich gestolpert?«, fragte Tobi sarkastisch.

»Sozusagen.« Und über eine Parallelwelt, magische Fähigkeiten, dunkle Geheimnisse …

»Okay, dann wird mir einiges klar.« Tobi schnappte sich Sams unberührten Milchshake und nahm einen schlürfenden Schluck. »Die Prinzessin hat ein Vertrauensproblem. Habt ihr euch gezofft?«, wollte Tobi wissen.

»Sozusagen.«

»Aber du fühlst dich nicht schuldig«, fragte Tobi weiter.

Sam horchte auf. »Wie kommst du darauf?«

»Du bist hier«, erklärte Tobi schlicht. »Würdest du denken, dass es deine Schuld ist, wärst du ihr längst nachgegangen. Aber du sitzt hier und grübelst. Mit gebrochenem Herzen. Weil du nicht gut im Schmollen bist, Sam, das ist nicht dein Ding. Du warst nicht mal auf mich jemals wirklich böse.«

»Ich bin müde, Tobi. Ich bin so müde.« Sam fuhr sich mit den Händen über die Augen. Alles, was er wollte, war schlafen, doch er wusste, dass er das nicht konnte. Seine Gedanken hielten ihn wach. Und die Angst. Die Angst vor dem, was im Dunkeln noch lauerte. »Es ist nicht meine Schuld, ich … wir hätten das nicht tun dürfen. Meine Mum war im Recht.«

»Sam, es ist doch gar nicht die Frage, wer Schuld hat, oder? Du bist total verliebt in dieses Mädchen und sie in dich. Ihr beide zusammen, das war wie … Luke und Mara Jade. Tony Stark und Pepper Pots. Ich weiß, ich hab dummes Zeug gequatscht auf der Eröffnung. Aber Fakt ist doch, dass du der Einzige von uns dreien bist, der sein Leben auf die Kette bekommt. Mit dem Job und so, das ist toll. Ich hab nur … ich hab nur so dumm dahergeredet, weil ich selber noch nicht weiß, was ich will. Und eigentlich sollten wir das doch allmählich wissen, oder? Ich meine, wir sind keine Kinder mehr. Wir haben keine Zeit, wir müssen jetzt das Richtige tun. Und das tust du. Fehler gehören dazu und dieses Mädchen … Wenn sie dir etwas bedeutet, dann lass sie nicht gehen. Ganz egal wie oft du ihr nachlaufen musst. Na los.« Tobi streckte die Hand aus und klatschte sie Sam wuchtig auf die Schulter. »Ich helfe dir auch suchen. Wir könnten Verkehrsüberwachungskameras hacken oder so was.«

»Ich kann nicht«, ächzte Sam.

»Ach was, so schwer gesichert können die nicht sein«, überlegte Tobi laut.

»Nein, ich meine, ich kann ihr nicht nach. Nicht heute Nacht.« Sam sah seinem Freund in die Augen. Schmerz trübte die Ränder seines Blickfeldes. »Nicht heute Nacht, Tobi. Es ist Sternschnuppennacht.«

Tobis Augen zogen sich nachdenklich zusammen und weiteten sich dann, als er begriff. »Oh. Scheiße.«

Kapitel 1

Sternschnuppenromantik

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Ich hatte mehr Zeit im Teeladen verbracht als gedacht. Als ich ins Freie trat, hatte der Himmel bereits ein wunderschönes nachtblaues Kleid übergeworfen, auf dem Tausende von Sternen zu glitzern begannen. Der typische Geruch von Sommerregen auf heißem Asphalt lag in der Luft und ich sog tief die Luft ein. Ich liebte diesen Geruch. Beinahe so sehr wie den Duft nach frisch gebackenen Zimtsternen. Mein Herz klopfte schwer in meiner Brust, doch der Druck wurde leichter, je schneller ich lief. Je mehr ich mich Sam näherte.

Um diese Zeit fuhren keine Busse mehr, doch der Traktor stand noch dort, wo ich ausgestiegen war. Der Mann mit den silbergrauen Haaren schenkte mir ein gutmütiges Lächeln. »Siehst schon besser aus, kleine Lady. Keine Sorge, es wird schon alles wieder gut werden.«

»Hoffentlich«, wisperte ich und sah zum Himmel.

»Schön, was?«, brummte mein Fahrer. »Sternschnuppennacht. Die Zeitungen kennen seit Tagen kein anderes Thema. Deswegen ist heute auch schon nichts mehr los. Die liegen alle irgendwo rum und starren in den Himmel, selbst die Leute, die normalerweise nur vor ihren Bildschirmen hocken.«

In meinem Kopf machte es Klick, dann hörte ich Sams Stimme, in meiner Erinnerung: »Morgen ist übrigens Sternschnuppennacht und ich wollte fragen, ob wir da an meinen geheimen Lieblingsplatz gehen und uns die Sternschnuppen ansehen wollen.« O Mist! Krampfartig schloss sich meine Hand um die Träger meiner Tasche, während meine Gedanken sich überschlugen: Ob Sam noch Lust hatte, sich die Sterne anzusehen? War er schon an diesem Platz? Wo konnte das sein? Hatte er nicht erwähnt, als wir beim Anwesen seiner Großeltern gewesen waren, dass dort einer seiner Lieblingsplätze war? Oder meinte er das Dach des Poolhauses? Ich grub die Zähne in die Unterlippe, während sich mein Herzschlag zu einem nervösen Trommeln steigerte, und versuchte mir das Dach des Poolhauses genau in Erinnerungen zu rufen. Leider war ich, als ich das einzige Mal dort oben gewesen war, leicht von Sam abgelenkt gewesen, aber ich glaubte mich daran zu erinnern, dass es recht nah bei den Tannen stand und somit nicht unbedingt die beste Aussichtsplattform zum Sternegucken bot. Das Anwesen seiner Großeltern lag ungefähr 20 Minuten außerhalb der Stadt – wenn ich mich falsch entschied, würde ich kostbare Zeit verlieren. Beinahe hätte ich über mich selbst gelacht. Erst rannte ich voller Entschlossenheit von ihm weg und jetzt konnte ich es nicht erwarten, zu ihm zurückzukehren. Ein Schleudertrauma der Entscheidungen. Kein Wunder, dass ich Kopfschmerzen habe. »Sehr konsequent, Hope, wirklich.«

»Hast du was gesagt, kleine Lady?«, fragte der Traktorfahrer.

»Können Sie mich dort vorne rauslassen?«, bat ich und traf eine Entscheidung. Sollte mich doch diese Maoam-Verbindung zu Sam bringen.

Der Fahrer hielt an und tippte sich zum Abschied an die Stirn. »Alles Gute, kleine Lady.«

»Ihnen auch.« Ich sprang aus dem Traktor und joggte in die Richtung, in die mein Herz mich zog.

Nach wenigen Schritten schon ging mir die Puste aus und mein Bauch meldete sich. Nicht nur vor Hunger, nein, auch die Wunde brachte sich schmerzhaft in Erinnerung. Zähneknirschend drosselte ich mein Tempo. Ich befand mich in einem wunderschönen Neubauviertel – hell gestrichene Zäune, hölzerne Veranden und großzügig angelegte Häuser, so weit das Auge reichte. Die Straßen waren mit hohen Bäumen gesäumt, von denen gelegentlich ein Regentropfen auf mich hinunterpurzelte. Hier und da drangen Stimmen zu mir herüber, die verdächtig nach Gartenparty klangen, doch je weiter ich kam, desto ruhiger wurde es. Ein kühler Wind legte seine Arme um mich und ich fröstelte in meinem T-Shirt. Mit Schrecken stellte ich fest, dass ich nicht sicher war, welchen Monat wir hatten, geschweige denn, welches Datum. Diese Welt war mir mehr entglitten, als ich geahnt hatte, und ich spürte, wie Angst in mir aufstieg. Ich wollte all das hier nicht verlieren.

Ich beschleunigte meine Schritte wieder. Beinahe lautlos trafen meine Chucks auf dem Asphalt auf. Als sich eine Kreuzung vor mir auftat, blieb ich abrupt stehen. Bis hierhin hatte ich mich recht gut an den Weg erinnern können, den Sam und ich genommen hatten. War diese Kreuzung damals auch schon hier gewesen? Unruhig wippte ich auf den Fußspitzen auf und ab, während sich die feinen Haare auf meinen Armen aufstellten. »Komm schon, Sam«, flüsterte ich. »Wo bist du?« Ich machte ein paar Schritte geradeaus, doch da ertönte ein heller Pfiff. Ich drehte den Kopf und spähte die dunkle Straße hinab. Ein roter Punkt glomm auf, vielleicht fünfzehn Meter entfernt.

Ich zögerte nicht lange. Der rote Punkt erwies sich als die glühende Spitze einer Zigarette und dahinter bildeten sich die Konturen eines Irokesenhaarschnittes ab.

»Du läufst in die falsche Richtung«, tönte eine Stimme zu mir herüber, die mir ziemlich bekannt vorkam.

»Tobi?«

»Sie weiß meinen Namen, welche Ehre.« Die Zigarette glomm wieder auf, als er daran zog, und ich wich unwillkürlich vor dem Geruch zurück.

»Seit wann rauchst du denn?«, fragte ich und schalt mich im nächsten Moment eine Idiotin. Was spielt seine Sucht denn jetzt bitte für eine Rolle?

»Stressbewältigung. So ne Pute, die ich eigentlich echt mag, bricht meinem besten Freund das Herz.«

Oh. »Was für ein Miststück.«

Tobi lächelte. »Ach, ich glaube, sie ist in ihrem Herzen ganz okay. Nur ein bisschen plemplem.«

»Sie ist hier, um es wiedergutzumachen«, sagte ich.

»Na, dann will ich sie nicht aufhalten. Einfach neben dem Haus entlang und dann dem Steinweg folgen. Er ist oben vor der Hütte. Sei am Haus etwas leise, Großvater Winterbuttom hat einen leichten Schlaf. Und sag meinem Schwesterherz, ich warte hier auf sie.«

»Ähm, klar«, erwiderte ich verwirrt. Meinte er damit Seth? »Danke, Tobi. Fürs … Aufpassen. Und Herpfeifen und so.«

»Ich würde ja sagen ›Gerne wieder‹, aber ehrlich gesagt hoffe ich, dass ihr euren Kram jetzt mal auf die Reihe kriegt, okay?«

»Okay«, flüsterte ich beschämt und machte mich auf den Weg.

Eine dichte Hecke streckte ihre nachtdunklen Blätter nach mir aus, während ich an dem beeindruckenden Haus vorbeischlich. Von drinnen war nichts zu hören. Ich beeilte mich trotzdem in den Garten zu kommen. Hier fiel das Sternenlicht ungehindert auf den Rasen. Nur am Rand der Grünfläche standen Bäume und ein ordentlich gepflasterter Weg führte zu einer kleinen Gartenhütte hinauf. Mein Herz klopfte mir einen nervösen Soundtrack zum Rhythmus meiner Schritte und meine Lippe wurde langsam wund, weil ich die Zähne so fest hineingrub. Ob Sam mir verzeihen würde? Wieder einmal? Bisher hatte ich ihm nicht wirklich einen Grund dazu gegeben.

Plötzlich raschelte es neben mir, dann leuchteten tiefblaue Augen in der Dunkelheit auf und ich konnte gerade noch ein erschrockenes Kreischen unterdrücken.

»Bay«, keuchte ich. »Mann, hast du mich erschreckt.« Das kleine Wesen bedachte mich mit einem Zähnefletschen und stieß dann eine ganze Reihe von Knurr- und Zischlauten aus, die ziemlich anklagend wirkten. »Ich spreche kein Alien«, unterbrach ich ihn irgendwann sanft. »Es tut mir leid, okay?« Ich versuchte ihn zu streicheln, doch Bay wich mir aus und schnappte nach meinen Fingern, die ich hastig in Sicherheit brachte.

»Hope?«

Wieder unterdrückte ich einen spitzen Schrei, doch dieses Mal gelang es mir nicht ganz so gut und ein hysterisch anmutendes Quieken entwich in die Nacht hinaus. »Himmel«, stöhnte ich. »Was soll denn das, dauernd schleicht sich jemand an!?«

»Sorry.« Der Gestalt vor mir verlieh das Mondlicht ein fast mystisches Schimmern. »Ich habe was gehört und wollte Tobi nur davon abhalten, wieder ins Rosenbeet zu stolpern.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Emma?«

»Ja.« Das Mädchen mit den elfenblonden Haaren kam zögernd auf mich zu. »Hi.«

»Hi.« Mein Hirn arbeitete fieberhaft. »Du bist Tobis Schwester?« Emma nickte. »Na, das passt ja irgendwie«, murmelte ich mehr zu mir selbst und fügte lauter hinzu: »Daher kennst du auch Sam?« Was bin ich nur für eine selbstbezogene Ziege! Wenn ich genau drüber nachdenke, sehen die zwei sich sogar ein bisschen ähnlich.

»Ja. Er war oft bei uns und …« Sie zögerte kurz und rang die Hände. »Ich hoffe, das ist nicht komisch für dich oder so, aber Sam war immer ein Teil meines Lebens, und als Tobi sagte, es gäbe einen Notfall, wollte ich unbedingt mit herkommen und sehen, ob ich irgendwie helfen kann. Aber nicht weil, ich … also ich meine, ich würde dir nie und … und ich wollte auch nicht – also du sollst nicht denken …«

»Du stehst nicht auf ihn«, unterbrach ich ungeduldig ihr Gestammel und versuchte nicht allzu unruhig von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen. Ich wollte zu Sam! »Ist schon okay, Emma, ehrlich. Das dachte ich auch gar nicht.«

»Oh, gut.« Emma atmete erleichtert auf. »Ich will nicht, dass es zwischen uns komisch wird, weil ich hoffe, dass du irgendwann doch wieder zur Schule zurückkommst. Es heißt, dass du die Grippe hast, aber …« Ihre Handbewegung beschrieb meine Gestalt. »Für 40 Grad Fieber siehst du echt gut aus.«

»Ich bin nicht krank«, sagte ich ehrlich. »Aber ich kann dir auch nicht wirklich erklären, wo ich war. Tut mir leid«, fügte ich etwas verspätet hinzu. »Das klingt sicher blöd. Ich wünschte, es wäre anders.«

»Na ja, also wenn in letzter Zeit ein maskierter Rächer durch Grinsby Town gestreift wäre, der noch nicht gefasst wurde, würde ich jetzt aufmerksam werden, aber so …« Emmas Zähne blitzten hell auf. »Sorry, ich quatsch hier rum …«

Im nächsten Moment drückte ich sie, so fest ich konnte, an mich. »Ich mag dich furchtbar gern, Emma«, flüsterte ich. »Und ich verspreche dir, ich versuche mich zu ändern und dir eine bessere Freundin zu sein. Aber jetzt muss ich erst mal zu Sam, okay?«

»Okay.« Emma tätschelte mir den Rücken. »Er liegt dort drüben. Seine Stimmung ist nicht die beste, aber das wird schon. Viel Glück. Und fall nicht in die Rosen! Die sind preisgekrönt.«

Das Glück würde ich definitiv brauchen. Mit gestrafften Schultern tappte ich weiter. Bay war verschwunden, aber ich spürte, dass er in der Nähe war. Ich konnte schon die Hütte erkennen, in der irgendjemand (vermutlich Emma) eine Kerze angezündet hatte, sodass ein klein wenig goldenes Licht nach draußen fiel. Der Mond schob eine Wolke beiseite, die ihm bis dahin vor der Nase gehangen hatte, und silbriges Licht ergoss sich auf eine große Wolldecke auf der Wiese und die darauf liegende Gestalt. Ich erkannte den Pullover an dem großen Flicken am rechten Arm. Frodo hatte sich als Welpe an diesem Kleidungsstück ausgetobt, was Sam nicht davon abhielt, den hellblauen Pullover immer noch zu tragen, auf dem in großen Buchstaben Training for the Avengers stand. Die Kappen seiner Chucks leuchteten im silbernen Licht und er hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt, den Blick in den Himmel gerichtet. Weiße Kabel führten von einem dunklen Fleck – vermutlich seinem Handy – zu seinen Ohren.

»Wenn du weiter streiten willst, ich kann dich leider nicht hören, meine Ohren sind voll mit Sternenstaub«, sagte Sam, ohne mich anzusehen oder die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen. »Ich will heute nicht streiten, heute nicht mehr, Hope.« Seine Stimme klang so müde und so traurig, dass ich am liebsten geweint hätte.

Ich ließ meine Tasche ins Gras plumpsen und grub die Hände in die Taschen meiner Jeans. Artus Ring bohrte sich fest in meine Haut. Meine Kehle war so eng, dass ich kaum Luft bekam, die Angst schnürte mir mit präzisem Griff die Luft ab. »Ich bin ein Idiot.«

Es war nicht mehr als ein Krächzen, doch Sams Kopf drehte sich ein Stückchen in meine Richtung. Sein Handydisplay leuchtete auf, als er auf Pause drückte. »Ich bin ganz Ohr.«

Behutsam ließ ich mich neben ihm auf der Decke nieder – meine Knie hätten mich keinen Moment länger getragen – und holte tief Luft. Für das, was jetzt kam, würde ich allen Mut brauchen, den ich irgendwo in mir hervorkratzen konnte. »Ich bin ein Idiot, wenn ich mich mit dir streite. Wenn ich dich verletzte. Wenn ich dir sage, was du zu tun hast. Und wenn ich vor dir weglaufe. Und du bist ein Idiot …«

»Was?«, protestierte Sam und richtete sich ein Stück auf.

»… wenn du bei mir bleibst«, fuhr ich ungeachtet fort.

Er sackte wieder in sich zusammen. »Oh.«

»Aber ich hoffe, du tust es trotzdem«, fügte ich hinzu und spürte, wie meine Stimme zu zittern begann. Unsicher knetete ich die Hände in meinem Schoß. »Ich habe einen … viele Fehler gemacht, Sam, und es tut mir leid. Ich habe das Gefühl, ich drehe langsam durch. Dieser ganze Parallelwelt-Kram ist ja schön und gut, aber immer wieder treffen wir entweder auf etwas abgrundtief Böses oder Trauriges oder etwas anderes, was mir Angst macht. Wer ich bin, war immer klar definiert: ein Straßenmädchen ohne Eltern. Jetzt habe ich plötzlich welche, kann sie aber nicht finden. Ich habe diese Kräfte, wenn wir in Yaoráo sind und ich kann endlich etwas mit meinem Leben anfangen. Ich kann dort jemand sein, Sam. Jedenfalls, wenn mich nicht vorher ein kuttentragendes Albtraummonster niedermetzelt. Und von denen gibt es da ganz schön viele, die lustigerweise von meiner eigenen Mutter auf das Feenreich losgelassen wurden, weswegen ein paar Leute echt sauer sind. Unter anderem auch die Königin der Feen, die gibt’s nämlich wirklich und ich verdanke ihr ein paar echt üble blaue Flecken und …« Ich rang die Hände. »Es ist alles so kompliziert! Ich bin so müde von den ganzen Fragen und Ängsten. Ich muss unbedingt herausfinden, wo meine Eltern sind; ich kann das nicht einfach auf sich beruhen lassen und irgendetwas sagt mir, dass ich mich beeilen muss, sonst komme ich vielleicht zu spät. Ich kann diese magische Welt nicht aufgeben, sie lebt in mir. Aber ich will auch diese Welt hier nicht verlieren. Sie ist ebenfalls ein Teil von mir, meine Mum stammt von hier. Und du … bist hier. Ich will keinen Ort aufgeben, an den du gehörst«, schloss ich und zwang meine Hände, ruhig auf meinen Beinen liegen zu bleiben, ehe ich mir bei meinem Fingerkneten noch etwas brach.

Sam lag ganz still da und sah mich an. Das Mondlicht stellte verrückte Dinge mit seinem Gesicht an, er sah mehr aus wie eine Fabelfigur als ich – und in mir floss schließlich magisches Blut. Irgendwann richtete er sich auf, zog die Kopfhörer aus den Ohren, zuckte unter dem Knacken seiner Schultern zusammen, kniete sich vor mich und griff nach meinen Händen. »Ich will auch keinen Ort aufgeben, an den du gehörst«, sagte er leise. »Ich weiß, wie wichtig dir diese neue Welt ist, und glaub mir, ich steh da auch ziemlich drauf. Die Zeit bei König Artur oder der Besuch bei Sherlock … Mann, das war der Wahnsinn! Ich verstehe, was dich daran so fasziniert. Aber wir gehören in beide Welten. Wir müssen ein Gleichgewicht finden.« Er drückte meine Finger. »Zusammen.«

»Also gibst du mir noch eine Chance?« Die Hoffnung drohte meine Stimme zu sprengen. »Ich verspreche dir, ich versuch nicht mehr wegzulaufen.«

»Weglaufen ist nicht das Problem. Versprich mir nur, dass du wiederkommst, wenn ich dich mal nicht einholen kann.« Wärme kroch von seinen Fingern meinen Arm hinauf und legte sich wie ein Schwur auf meine Haut. »Ich werde dich immer suchen kommen, Hope. Aber an manche Orte kann ich dir nicht folgen. Sag mir, dass du zurückkommen wirst. Immer. Und ich sorge dafür, dass du immer einen Ort haben wirst, an den du zurückkommen kannst.«

Ich war nicht sicher, wann ich angefangen hatte zu weinen, aber jetzt liefen mir die Tränen in Strömen über die Wangen und tropften auf unsere Hände. Sam beugte sich vor und lehnte seine Stirn gegen meine. Meine Brust zog sich unter krampfartigen Schluchzern zusammen. »Ich habe Angst«, flüsterte ich.

»Ich werde dich niemals im Stich lassen, Hope«, hauchte er.

»Du bist es nicht, an dem ich zweifle«, erwiderte ich.

Seine Schultern hoben sich unter einem winzigen Auflachen, dann zog er mich in seine Arme, barg meinen Kopf an seiner Schulter, ungeachtet der Tränen, die jetzt seinen Pullover in Angriff nahmen. »Ich weiß, meine Mum hat dich mit ihren Worten verletzt. Aber sie hat auch nur Angst, genauso wie du. Und sie läuft eben nicht weg, sondern geht zum Angriff über. Das ist ihre Art.«

»Ich bin ihr nicht böse«, flüsterte ich. »Sie hat recht.«

»Nicht in allem.« Sam drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Ist schon gut, wir kriegen das hin. Ich bin für dich da. Ganz egal was passiert.« Es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Sam löste sich ein kleines Stück von mir, um mich anzusehen, und lächelte schief. »Wir sind schon ein lustiges Gespann.«

»Gemeinsam bis ins Irrenhaus, hast du gesagt«, murmelte ich.

»Mit dir würde ich sogar den Schicksalsberg hochtigern. Oder zum Todesstern fliegen. Aber ungern. Weil das dumm wäre. Wir sollten es lieber lassen«, sagte Sam.

Ich hickste unter einem Schluckauf und legte meine Hand auf Sams Brust. Sacht schlug sein Herz unter meinen Fingern. »Sam, da ist noch etwas«, gestand ich. »Eine Sache, die … sie macht mir so große Angst, dass ich nicht mal darüber nachdenken kann, weißt du? Weil wenn sie stimmt, dann … Aber wenn sie nicht stimmt … Ich weiß nicht, was schrecklicher wäre, und …« Die Tränen drohten meine Stimme zu ersticken und Sam legte mir sanft einen Finger auf die Lippen.

»Ist schon gut. Ich weiß, was du meinst. Und ich habe einen ähnlichen Verdacht, aber es muss nicht stimmen, Hope. Vielleicht irren wir uns.«

»Ich weiß.«

»Wir müssen auch etwas wegen dieser Fay unternehmen, das weißt du, oder? Bei dem Gedanken daran, dass sie in deinen Träumen rumgeistert und wer weiß was anstellt, wird mir ganz übel«, fuhr Sam fort.

Ich senkte den Blick. »Wir wissen nicht, ob sie böse ist. Ich glaube es eigentlich nicht.«

Doch damit gab sich Sam nicht zufrieden. »Ich bin dafür, dass wir Robin von ihr erzählen. Vielleicht auch Nimueh. Sie sollen dir etwas geben, was deine Träume schützt.«

»Und was, wenn ich es wieder nicht schaffe, das Tor zum richtigen Ort zu öffnen?«, protestierte ich.

Sam küsste mich leicht auf die Stirn. »Das schafft du. Ganz sicher sogar.« Er hob die Hand und streichelte mit dem Daumen über meine Wange. »Deine Augen sind ganz rot.«

»Sorry, aber für Make-up hatte ich keine Zeit«, frotzelte ich.

Sam verschränkte die Arme vor der Brust. »Pff, so weit geht die Liebe also doch nicht.«

»Aber deine!« Ich hickste wieder. Blöder Schluckauf. »Nicht mal Kissen hast du hier liegen. Schlechte Planung.«

»Das ist Taktik. Dann kann ich dir nämlich ganz Gentlemen meine starke Brust zum Anlehnen anbieten.« Er grinste süffisant und rollte demonstrativ mit den Schultern.

»Hänfling«, schnaubte ich.

»Rotauge«, gab er zurück. Es waren unsere üblichen Albereien, doch etwas war anders. In Sams Augen lag noch eine tiefe Traurigkeit, die nicht verschwinden wollte.

»Was ist los?«, fragte ich ihn und schob die Hände in seinen Nacken. »Du hast doch noch was.«

Sein Blick verdunkelte sich. Stumm griff er nach den Kopfhörern, reichte mir einen davon und ließ sich dann wieder auf die Decke sinken. Stirnrunzelnd tat ich es ihm gleich. Über uns leuchteten die Sterne, völlig unbeeindruckt von dem Gefühlschaos, das sich unter ihnen abspielte. Ein heller Streifen sauste über den Himmel und irgendwo ertönte ein lautes »Ooohh«. Sam zog mich dicht an sich, bis mein Kopf auf seiner Schulter lag, dann schaltete er die Musik wieder ein. Eine schwermütige Melodie aus Geigen, Flöten und noch gut einem Dutzend anderen Instrumenten, die ich nicht benennen konnte, hüllte mich ein und erweckte eine tiefe Sehnsucht nach fremden Welten in meinem Bauch. Plötzlich war ich weit weg, in einem anderen Land, einer anderen Stadt, einem anderen Garten. Doch die Sterne waren dieselben. Ich konnte den Geruch von Eleonores Apfelbäumen riechen – sie hatte diese Bäume geliebt, gehegt und gepflegt wie nichts anderes. Außer mir. Sie hatte mir beigebracht Apfelmus zu kochen und Apfelkuchen zu backen. Wie oft hatte ich im Garten gelegen, mit einem Buch in der Hand. Wie oft nachts die Sterne angesehen und über das Leben nachgedacht, bis sie mich nach drinnen geholt und mir einen heißen Kakao gemacht hatte. Und wie wenig hatte ich damit gerechnet, einmal hier zu landen.

Sam zog mich noch dichter an sich und zauberte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, als mir wieder die Tränen kamen. Sein Arm lag fest um mich geschlungen, wie ein menschlicher Sicherheitsgurt. »Was ist los?«, flüsterte Sam.

»Ich musste nur gerade an Eleonore denken. Wir hatten auch so einen Garten. Man konnte dort wunderbar die Sterne sehen. Ich hatte das beinahe vergessen.«

»Aber nur beinahe.« Sam küsste mich. »Es ist alles noch da. In dir. Und da wird es auch immer bleiben.«

»Was ist das für Musik?«, fragte ich.

»Herr der Ringe«, antwortete Sam und seine Stimme war voller trauriger Erinnerungen. »Weißt du, in dem ganzen Trubel hab ich gar nicht mehr daran gedacht, was für ein Tag heute ist.«

»Was für ein Tag ist denn heute?«, fragte ich, während es in meinem Nacken nervös zu kribbeln begann.

»Heute ist der dritte Todestag meiner Oma«, sagte Sam so leise, dass ich ihn kaum verstand, als die Musik wieder einsetzte.

Meine Gedanken purzelten durcheinander. Ich kannte inzwischen beide Elternpaare von Leo und Juliet. Seine Oma mütterlicherseits hatte mir auf unserer gemeinsamen Geburtstagsfeier aufgelauert und mich nicht gerade freundlich unter die Lupe genommen, bis Juliet kam, um mich zu retten. Leos Vater war verwitwet und lebte sehr zurückgezogen. Ich hatte ihn noch nie getroffen. Das eine Mal, als Sam mit mir hier gewesen war, hatte er sich unter dem Vorwand zurückgezogen, dass es ihm nicht gut ging.

»Sie war krank«, fuhr Sam fort. »Sehr krank. Dement. Es wurde immer schlimmer und irgendwann