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Hermann Buhl bei der Rückkehr vom Gipfel des Nanga Parbat 1953

Editorische Vorbemerkung

Dieses Buch erschien erstmals 1954 bei der Nymphenburger Verlagshandlung in München. Nach dem Tod Hermann Buhls, der am 27. Juni 1957 an der Chogolisa tödlich abgestürzt ist, erschienen mehrere Ausgaben, in denen Kurt Diemberger in einem ausführlichen Anhang die Karakorum-Expedition von 1957 mit dem Erfolg am Broad Peak – Hermann Buhls zweitem Achttausender – und Buhls Ende an der Chogolisa schilderte. Später kamen auch Ausgaben heraus, in denen Buhls ursprünglicher Text gekürzt wurde.

Für die vorliegende Neuausgabe wurde mit Zustimmung von Eugenie Buhl, der Witwe Hermann Buhls, und in Absprache mit Kurt Diemberger der Text der Erstausgabe gekürzt. Gleichzeitig wurden mit ausdrücklicher Genehmigung von Eugenie Buhl die Expeditionstagebücher von Hermann Buhl vollständig abgeschrieben. Es handelt sich um die handschriftlichen Aufzeichnungen von der Nanga-Parbat-Expedition 1953 (zwei kleinformatige Notizbücher) und von der österreichischen Karakorum-Expedition 1957 mit Broad Peak (zwei kleinformatige Notizbücher) und Chogolisa (ein kleinformatiges Notizbuch). Diese Tagebücher werden im Rahmen der vorliegenden Ausgabe zum ersten Mal vollständig der öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Der Text des Nanga-Parbat-Tagebuchs findet sich im Anschluß an Buhls Bericht vom Nanga Parbat. Die beiden anderen Tagebücher wurden dem Bericht von Kurt Diemberger über Broad Peak und Chogolisa zugeordnet, der ursprünglich für die Gedächtnisausgabe (1958) verfaßt worden war und hier leicht gekürzt wieder abgedruckt wird. Dort finden sich auch Auszüge aus einem Gedächtnisprotokoll Hermann Buhls zur Karakorum-Expedition.

Schließlich wurde diese Ausgabe ergänzt um das »Protokoll über den tödlichen Unfall Hermann Buhls«, einen Bericht, den Kurt Diemberger direkt nach seiner Rückkehr von der Chogolisa gegeben hat. Diemberger, der Buhls Tagebücher, dessen Gedächtnisprotokoll und seinen eigenen Bericht jeweils kommentiert hat, faßt in seinen Schlußbemerkungen aus seiner Sicht die anhaltende Diskussion um HermannBuhl zusammen.

Damit deutlich wird, wie aktiv der Bergsteiger Hermann Buhl überhaupt und auch noch nach seinem Erfolg am Nanga Parbat gewesen ist, hat Rollo Steffens Auszüge aus Buhls Tourenbuch zusammengestellt. Diese bilden mit Literaturhinweisen den Schluß des Buches.

Der Verlag dankt Eugenie Buhl, Kurt Diemberger, Hans Kammerlander und Rollo Steffens für ihre Mitarbeit bei dieser Neuausgabe.

MALIK Verlag

Vorwort

von Hans Kammerlander

Was bleibt von einem Bergsteiger, der nicht mehr lebt. Ein Grabstein mit einer Inschrift, ein »verschollen« hinter dem Namen, ein Buch, Geschichten, Legenden … ?

Zu den ganz großen Figuren der Bergsteigerei – und es gibt nicht wirklich viele – gehört Hermann Buhl. Er war einer der Top-Alpinisten der Welt, ein Klettergenie und ein Energiebündel. Dieser Mann konnte offenbar über einen nicht zu bändigenden Willen verfügen

Hermann Buhls Leistung am Nanga Parbat ist eine unter Bergsteigern atemlos erzählte Geschichte. Im Alleingang zum Gipfel, Stehbiwak, kurz vor dem Erfrierungstod. Aber lebend zurückgekehrt. Dieses Kapitel alpiner Geschichte diente den Kritikern aber auch dazu, ihr Mütchen zu kühlen. Da ging es um Tabletten, um »Pervitin«, ein aufputschendes Mittel, das Buhl vielleicht das überleben sicherte. Doch wer würde nicht, wenn das Leben zu schwinden beginnt …

Hermann Buhl wird vielfach reduziert auf die Erstbesteigungen am Nanga Parbat und am Broad Peak. Er gilt als Erfinder des »Alpin-Stils« an den Achttausendern. Doch da gibt es ja viel, viel mehr. Sein bereits erwähnter Wille zum Beispiel. Nur eine Tour in Stichworten: mit dem Zug von Innsbruck nach Landeck – auf dem Fahrrad durch das Engadin – in brüllender Hitze über den Malojapaß – Aufstieg zur Sciorahütte – am Morgen verschlafen – im Eiltempo unter die 800 Meter hohe Nordostwand des Piz Badile – riesige Plattenschüsse – Hermann Buhl, der Solokletterer – am Gipfel angelangt, läuten im Tal die Glocken zu Mittag – drei Stunden später ist er auf dem Gletscher am Wandfuß – zwei weitere Stunden für zwanzig Kilometer und 1100 Höhenmeter auf dem Malojapaß – nun sind es »nur« noch 140 Kilometer bis Landeck. Plötzlich kracht es. Buhl fliegt im hohen Bogen durch die Luft – und erwacht schlaftrunken im Hochwasser führenden Inn. Eine Beule am Kopf, schlotternd vor Kälte, das Fahrrad geknickt. Woran denkt er? Mit Hochgenuß an den Piz Badile …

Beim Militär hat man ihn gehänselt, weil er zu klein war, zu schmächtig, zu schwach, zu kränklich. Und dann hat er sich zu einem der bedeutendsten Alpinisten der Welt entwickelt. In 33 Stunden überschreitet er nonstop die Gleirschkette oberhalb Innsbruck mit ihren 25 Gipfeln. In einer ersten vollständigen Begehung gelingen ihm die 15 Gipfel, die sich über Chamonix aneinanderreihen.

Achttausend drüber und drunterwar eines der ersten Bergbücher, das ich verschlungen habe. Da roch es auf jeder Seite nach Spannung und nach Abenteuer, nach Aufbruch und immer neuen Zielen. Aus diesem Buch sprang mir die überbordende Leidenschaft eines Mannes entgegen, der sein Leben den Bergen schenkte. Nun erscheint diese Kostbarkeit in einer neuen, überarbeiteten Auflage, erweitert um wertvolle Texte: die Tagebücher von Hermann Buhl.

Kurt Diemberger, Buhls Partner bei der Erstbesteigung des Broad Peak, hatte die kleinen Büchlein mit den handschriftlichen Aufzeichnungen vom Broad Peak dessen Witwe Eugenie überbracht. Ein Jahr nach Buhls tragischem Absturz an der Chogolisa hatten Japaner ein weiteres Tagebuch gefunden. Diese Aufzeichnungen und die Tagebücher vom Nanga Parbat hat Diemberger jetzt kommentiert. Die beiden verband viel. Auch das Kuriosum, daß Diemberger auf dem Rückweg vom Broad-Peak-Gipfel noch einmal kehrt machte und an Buhls Seite sofort ein zweites Mal hinaufstieg.

Die Tagebücher können nun endlich ungekürzt gelesen werden. Und das ist gut so: Sie sind ein fesselndes, hautnahes Dokument der alpinen Zeitgeschichte und sollten nicht in Vergessenheit geraten.

Am 21.9.2005 würde Hermann Buhl 81 Jahre alt. Geblieben sind die Erinnerungen jener, die ihn erleben durften. Und die Hochachtung derer, die heute beieinander sitzen und irgendwann – fast zwangsläufig – auf den Namen Hermann Buhl stoßen. Man muß Eugenie Buhl und Kurt Diemberger also dafür dankbar sein, daß sie uns das Leben dieses großen Bergsteigers noch einmal vor Augen führen.

ALPINE LEHRJAHRE

Aus mir wird niemals ein Bergsteiger …

Ich bin in Innsbruck geboren. Die Berge schauten in meine Wiege. Die Liebe zu ihnen war wohl vererbt. Mein Vater war ein begeisterter Bergwanderer, und meine Mutter stammte aus dem Grödnertal, also aus dem Herzen der Dolomiten. Ich war erst vier Jahre alt, als ich sie verlor. Sie muß eine feine, zarte Frau gewesen sein, deren Verständnis über den Rahmen des Alltags hinausreichte und sich auf Dinge erstreckte, die man nicht nach ihrem materiellen Wert beurteilen konnte. Ihr Bild und die Sehnsucht nach ihr begleiteten mich im Leben.

Es schien unsinnig, daß ich Bergsteiger werden wollte, daß in mir ein unlöschbares Feuer der Begeisterung für die Welt der Gipfel, Wände und Grate brannte. Ich war als Kind so zart, so schwach, daß ich sogar ein Jahr später als normal in die Schule kam. Trotzdem träumte ich von den Bergen. Bei Schulausflügen blieb ich oft bei Wasserfällen oder anderen romantischen Stellen stehen. Es war mir, als ob die Berge eine eigene Sprache zu mir redeten und ich ihnen zuhorchen müßte. Wenn Lehrer und Gefährten mich schalten oder verlachten, dann schwieg ich. Würden sie mich denn überhaupt verstehen, wenn sie selbst nicht die Stimmen hörten?

Zu meinem zehnten Geburtstag fragte mich mein Vater, ob ich zur Feier des Tages lieber eine Bahnfahrt nach Bregenz an den fernen Bodensee oder eine Besteigung des Glungezer machen wollte. Es gab kein langes überlegen für mich. Der Glungezer war immerhin 2600 Meter hoch. So wanderten wir auf diese Bergkuppe oberhalb Innsbrucks. Jenseits des Tales sah ich nun die ganze Nordkette vor mir, ein Gewirr von Zacken und Türmen, von abenteuerlichen Felsgestalten und schier endlosen Graten. Stark und groß müßte man sein, um dort klettern zu können. Von Berg zu Berg, von Turm zu Turm …

Wenige Jahre später wurde die Nordkette bei Innsbruck mein Hauptbetätigungsfeld. Fast jeden Sonntag war ich droben. Das war allerdings nicht so einfach. Wir waren streng religiös erzogen. Ein Sonntag mußte durch den Besuch der Messe die richtige Weihe und Würde bekommen. Also gab es auch keine Tour ohne vorherigen Gottesdienst. Da wir aber in Innsbruck lebten, wo man den Wünschen der Bergsteiger Rechnung trägt, ohne die Rechte der Kirche zu schmälern, gab es Frühmessen, Gottesdienst gewissermaßen zwischenNacht und Tag. Man mußte eben schon vor vier Uhr früh aufstehen, um in die Kirche und doch noch rechtzeitig auf den Berg zu kommen.

Die Leute, die mich wegen meines schwächlichen Aussehens bedauerten oder nicht als vollwertigen Jungen nahmen, hatten nicht recht. Ich war nicht zu schwach. Nicht für die Berge. Ich lief und tollte, kletterte und sprang. Bergauf, bergab. Das Steigen schien mir so leicht. Und wenn irgendwo kahler Fels aus Schutt und Schnee emporwuchs, stopfte ich meine Schuhe in den »Schnerfer«, den kleinen Rucksack, und kletterte den Stein in Wollsocken empor. Ich hatte kein Geld für Kletterschuhe. Das bedrückte mich aber nicht. Mich bedrückte überhaupt nichts, wenn ich nur droben in den Felsen sein durfte. Abends stand ich dann wieder im Tal des Inn, in irgendeiner Straße meiner Heimatstadt und blickte hinauf zur Nordkette. Dort oben also war ich gewesen? Auf diesem oder jenem Zacken? Ich war klein und zart und in den Augen der würdigen, heimkehrenden Sonntagsspaziergänger bestimmt etwas komisch. Trotzdem fühlte ich michin meinem kindlichen Stolz auf meine eingebildete Leistung über sie erhaben. Zu Hause wurde meine Begeisterung meistens gedämpft. Man sah das Wesentliche: die zerrissenen Wollsocken. Ich erfand alle möglichen Erklärungen und Ausreden. Zuletzt stand ich doch – mit geröteten Backen da. Bestimmt werde ich in Hinkunft auf die Socken besser aufpassen! Bis zum nächsten Sonntag.

Der Mensch wächst mit seinen höheren Zielen. Auch wenn er in einen so engen Rahmen gestellt wurde wie ich. Mit meinem Schulfreund Ernstl wollte ich einmal etwas richtig Zünftiges machen. Eine Kletterei mit Seil und allem Drum und Dran. Es gab herrliche, verführerisch schöne Seile. In den Schaufenstern der Sportgeschäfte. Für Menschen, die sie auch bezahlen konnten. Nicht aber für kleine Buben mit großen Rosinen im Kopf. Aber ein Seil mußte her. So wechselte der stiefmütterliche Wäschestrick vom Balkon in meinen Rucksack.

Draußen vor den Toren der Stadt allerdings wechselte unser Bergseil wieder seinen Platz. Wir trugen es abwechselnd um die Brust, die stolzgeschwellte. Was war das für ein erhebendes Gefühl. Wir kamen uns nicht die Spur lächerlich vor, sondern als verwegene Berghelden, wie wir sie aus Büchern und Liedern kannten. »Das Seil um die Brust … «

Das Brandjoch war unser Ziel. Mit seinen 2700 Metern war es mein bisheriger Höhenrekord. Und nun, als 13jähriger Gipfelstürmer, dessen Bedeutung doch jedem durch den um die Schulter geschlungenen Wäschestrick klar sein mußte, konnte ich nicht dulden, daß auf dem Weg andere Touristen vor uns waren. Wir liefen, überholten, fühlten uns als überlegene »Felsentiger« – und waren doch vom echten Bergsteigen noch so weit entfernt. Was so ein Wäschestrick alles anrichten kann …

Wir erreichten den Fuß der »Frau Hitt«. Eine verwegen aussehendeFelsgestalt, in die nach der Sage die hochmütige, eitle Frau Hitt verwandelt wurde. Aber auch zu Stein geworden behielt die von Gott gestrafte Dame ihre Unnahbarkeit. Steil der Fels. Kleingriffig und glatt. Wir verloren etwas von unserer Bubenüberlegenheit.

Am Fuße des Felsturms sind schon andere. Richtig zünftige, verwegene Gestalten, mit braungebrannten, hageren Gesichtern. So müssen Bergsteiger aussehen. Wir gesellen uns zu ihnen, ernten fragende, etwas spöttische Blicke. Aber wir lassen uns die Unsicherheit nicht anmerken. Mit möglichst gelassener Selbstverständlichkeit entrollen wir unseren Wäschestrick, während sich die anderen mit echten Kletterseilen verbinden.

Wie die klettern können! Mit sicheren Griffen und Tritten und dochohne merklichen Ruck gehen sie dem steinernen Weibsbild zu Leibe, gewinnen rasch an Höhe. Und dann sind wir dran. Die Sorge ist verschwunden. Da sind ja wirkliche Griffe und Tritte. Hier kann man ja wirklich empor. Auch wir, und gar nicht so schlecht. Die anderen, die wir auf der schmalen Gipfelfläche wiedertreffen, schauen nicht mehr spöttisch.

Wir sind sehr stolz, als wir uns nachher zu den Zünftigen setzen dürfen. Vor allem einer fällt mir auf, dessen markantes Gesicht vom breitkrempigen Hut überschattet wird. Auf diesem Hut sind Abzeichen: Edelweiß, Seil und schräg durchgesteckter Pickel. Bei so einem Verein, so einem Klub, müßte man halt einmal sein. Mächtig imponieren mir die jungen Männer, gegen die ich ja noch ein Kind bin. Ich rede nicht viel, höre aber um so angespannter zu. Namen von Bergen, Wänden, Anstiegen: Hohe Warte, Grubreißen, Kumpfkar, Schüsselkar … Jeder dieser Namen bedeutet eine abenteuerliche, wilde Welt fürsich. Ziel der Sehnsucht. Ob wir es so weit bringen werden?

Ich muß es so weit bringen!

Die Grubreißentürme. Sie werden ein Jahr lang Mittelpunkt meiner Phantasie. Diese Felsgebilde hinter dem Hafelekar – sie sind in meinem Traum Inbegriff aller Kletterfreuden, mehr noch, aller Freuden auf Erden. Gibt es denn auf der Welt noch etwas Schöneres als Klettern? Ich bin jetzt 14 Jahre alt. Zwar noch immer unscheinbar mager und zart, aber ich fühle mich schon als »Alter«, als ich wieder einmal am Hafelekar stehe. Natürlich bin ich von Innsbruck zu Fuß heraufgestiegen. Wer hat schon das Geld für Seilbahn und dergleichen Luxus?

Da stehe ich nun und schaue hinüber zu den grauen Felsnadeln im Norden, im Karwendel. Dort hinten entdecke ich auch einige kleine Punkte. Die bewegen sich. Kletterer. Vielleicht würden die mich mitnehmen … ?

Ich eile das schmale Steiglein hinunter, quere das Kar zu einer Schneerinne hinüber, steige durch diese zu einer Scharte an. Da sind sie nun, die Felsnadeln, die Türme, die Grubreißentürme. Da rechts – der Südturm, der sogenannte Melzerturm, der ist der schwerste. Dort hinten – der Nordturm. Vom Hörensagen kenne ich alle. Auch die Anstiege. Auch Bilder habe ich gesehen und Berichte gelesen. Lohnt es sich, das Leichtere zu wagen? Nein, das Schwere muß es sein. Der Melzerturm.

Gleich so, wie ich bin, in schweren Skistiefeln, mit umgehängter Regenpelerine, springe ich hinüber zum Einstieg, suche nicht lange nach Weg und Route, beginne zu klettern. In Skistiefeln und Pelerine. Komme ein gutes Stück empor. Dann kann ich nicht mehr weiter. Wie eine komische Fledermaus klebe ich in den Felsen. Fledermäuse können fliegen. Auch hinauf. Ich nur hinunter … Es ist ein böser Augenblick.

Da höre ich Stimmen. Ich erinnere mich der Kletterer, die ich früher als Punkte aus der Ferne sah. Man hat erkannt, daß ich mich hoffnungslos verstiegen habe, man bietet dem dummen Buben Seilhilfe an. Ich wäre glücklich über die Hilfe gewesen, überglücklich. Aber ich darf sie jetzt nicht annehmen. Ich will meine Kletterlaufbahn nicht gleich als Geretteter beginnen. Stolz und patzig (und im Inneren doch recht verzweifelt) lehne ich die gebotene Hilfe ab.

Hinauf kann ich nicht mehr. Also zurück. Es scheint unmöglich. Es wird aber doch möglich. Trotz der glatten Skistiefel. Hie und da werfe ich einen Blick nach unten, sehe den Weg, den ich nehmen müßte, wenn mich die Kraft verließe. Es gäbe keine Rückkehr ins Leben mehr von diesem Weg. Ich darf nicht stürzen! – Ich stürze nicht, erreiche wieder den sicheren Boden.

Die anderen haben mir zugeschaut. Und jetzt kommt der Lohn für meine Selbstüberwindung.

»Willst du mit uns auf den Nordturm steigen?«

Ich kann es kaum fassen vor Stolz und Glück. Ich darf mit Zünftigen gehen. Von ihnen eingeladen. An ihrem Seil gesichert.

»Wo hast du denn deine Kletterschuhe?«

Ich habe keine. Aber wunderschöne neue Skistiefel. Stolz zeige ich auf meine Treter mit den glatten Ledersohlen, die für schwere Klettereien denkbar ungeeignet sind. Man lacht, nimmt mich aber trotzdem mit. Ich schwelge förmlich im Glück. Hie und da geben meine kostbaren Schuhe doch zu wenig Halt und ich muß die Unterstützung durch das Seil in Anspruch nehmen. Aber was tut das. Von solchen Männern darf man sich schon helfen lassen. Ich habe inzwischen ihre Namen erfahren. Welcher Bergsteiger kennt sie nicht? Aschenbrenner, Mariner, Douschan – alles »Prominente«.

Beim Abstieg durch die Schneerinne zeigen mir meine Führer den begrenzenden Südgrat des Turmes. »Das ist eine ganz schwere Fahrt. Das ist noch nichts für dich. Vielleicht in ein paar Jahren.«

Bei mir haben sich die Zeitbegriffe scheinbar verschoben. Ich warte nicht ein paar Jahre. Schon eine Woche später stehen wir beide, mein Schulfreund Ernstl Vitavsky und ich, am Fuße des Südgrates, unter der senkrechten Einstiegswand. Wir würgen an unserem üblichen Frühstück: Brot und Streichkäse, beobachten dabei eine Seilschaft, die über uns auf dem Südgrat klettert. Jetzt entdecken auch die Kletterer uns, rufen uns zu, wir möchten das beim Einstieg liegende Seil hinauf in dieScharte tragen.

Richtig, da liegt ein Seil, ein echtes, schönes Bergseil. Und das sollen wir durch die Rinne in die Scharte hinauftragen? Das Seil – es wird unwiderstehliche Verlockung. Mit dem Seil könnten wir doch auch den Südgrat machen und es den anderen oben übergeben. Kommtauf das gleiche heraus – für die andern. Nicht für uns. Für uns würde die Fahrt das große, ersehnte Abenteuer bedeuten.

Die anderen sind unseren Blicken entschwunden. Da entrollen wir das Seil. Seilknoten? Wir haben keine Ahnung davon. Ein gewöhnlicher dreifacher Knoten muß es auch tun. Dann sind wir angeseilt. Eine echte Seilschaft. Es ist, als ob das Tau eine Ader wäre, durch die uns neue Kraft und Mut zufließen. Ein Karabiner liegt auch da, einer von jenen komischen Schnappringen, mit denen man das Seil in die ösen der in Felsspalten getriebenen Haken hängt. Das habe ich schon den anderen, den Zünftigen, abgeschaut. Die Schuhe bleiben zurück. Kletterschuhe haben wir noch nicht, also muß es diesmal noch in Socken gehen.

Ernstl steigt ein. Ich stehe noch herunten, »sichere« ihn. Lasse halt das Seil so ganz normal durch meine Hände laufen, glaube, ihn damit jederzeit halten zu können. Unser Vortraining war nicht umsonst. Der Freund geht sehr rasch. Bei einem Haken hängt er den Karabiner ein – ganz wie ein Großer. Den folgenden Spreizschritt allerdings hätte ein wirklich großer Mensch schon leichter getan. Ernstl ist aber noch ein genauso kleiner Junge wie ich, den Kinderschuhen noch kaum entwachsen. Er reckt und streckt sich, kommt dann gut über die Stelle, erreicht bald einen sicheren Stand. »Nachkommen!« sagt er großartig.

Es ist für mich ein großer Augenblick. Klettern in einer wirklich selbständigen Seilschaft. Meine ersten Schritte sind noch etwas zaghaft. Bald aber habe ich vollkommene Sicherheit erlangt. So angeseilt,ist ja das Klettern eine lustige, eine harmlose Angelegenheit. Abstürzen? Wer kann schon abstürzen? Schnell gewinne ich an Höhe. Da stecken einige Haken, die Ernstl nicht einmal beachtet hat. Ich will sie ausprobieren, stecke meine Finger in die Hakenringe. Das gibt prächtigen Halt. Weiter. Ein glatter Block, eine luftige Kanzel. Nun – der heikle Spreizschritt.

Rechts ist der in den Haken gehängte Karabiner, durch den zur Sicherung das Seil läuft. Ernstl gibt kurzen Zug, meine Hand tappt hinter einer Kante nach einem Griff, der Körper schwingt nach – dann stehe ich in einem Kamin. Ist das eine Freude! »Wir sind Herren dieser Welt … «

Ernstl sitzt bequem auf einer Kanzel und holt langsam das Seil ein. Er lacht und ich lache. Wir sind wunschlos glücklich nach dieser ersten gelungenen selbständigen Seillänge. Jetzt gehe ich voraus. Wir lösen uns im Vorklettern ab, wie es unter gleichwertigen »Zünftigen« der Brauch ist.

Wir hören Stimmen über uns. Die vorangehende Partie … Holen wir sie am Ende gar ein? Wir Buben? Richtig – am Fuß des »Auckenthalerrisses« treffen wir mit ihnen zusammen. Sie begrüßen uns nicht gerade freundlich. Wir müssen uns eine recht gewaschene Moralpredigt anhören. Das gehört dazu. Das stört niemanden und hemmt auch nicht unseren Auftrieb. In der Gipfelwand entpuppen sich die anderen doch als wirklich besorgte, auf uns Jungen schauende ältere Kameraden. Sie lassen uns ein Seil zur Hilfe herunter, so daß wir dieses letzte böse Stück in völliger Sicherheit genießen können. Dann sitzen wir auf dem warmen Gipfelfelsen des Südturms und liefern wunschgemäß das Seil ab. Lachendes Händeschütteln. Die anderen nennen uns grüne Lausbuben.

Obwohl es eher wie eine versteckte Anerkennung als eine Rüge klingt, soll mir die Berechtigung dieser Rüge sehr bald auf die grausamste Weise zu Bewußtsein gebracht werden. Wenige Wochen später, beim ungestümen Versuch, den Auckenthalerriß allein zu begehen,stürzt Freund Ernstl zu Tode. Ich verliere meinen ersten Seilgefährten.

Trotzdem statte ich in diesem Sommer 1939den Grubreißentürmen noch öfters einen Besuch ab. Ich lerne mit der Zeit einiges über Seilbedienung, Technik im Fels, Schwierigkeitsbewertung und dergleichen. Ich nütze jede freie Stunde fleißig zum Training.

Ich bin inzwischen auch in die Jungmannschaft der Sektion Innsbruck des Alpenvereins aufgenommen worden. 30 bis 40bergbegeisterte, junge Menschen, eine fröhliche Runde, die Sonntag für Sonntag in die Berge zieht. Unsere Grenzen sind eng gesteckt. Das Geld reicht nur für Touren, die man zu Fuß oder per Fahrrad von Innsbruck aus unternehmen kann. Die ganze Woche wird gespart, jeder Groschen wird zusammengekratzt, um für den Sonntag das nötige Kleingeld beisammen zu haben.

Wir kommen immer besser in Form, glauben schon, der Meisterschaft nahe zu sein. Aber die Berge sorgen dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, daß junge Kletterer auf das rechte Maß gebracht werden. Auch wenn sie schon echte Kletterschuhe mit Manchonsohle besitzen und nicht mehr daheim für zerrissene Socken gerötete Wangen ernten müssen.

Eine Schulungsbergfahrt der Jungmannschaft eröffnete uns ein neues Gebiet: den Wilden Kaiser. Bisher nur Sehnsucht, Traumvorstellung. Nun sollte es Wirklichkeit werden. Im Geiste sah ich schon die lotrechten Plattenfluchten gegen den Himmel schießen. Die Vorfreude war unbeschreiblich. Meine überschwengliche Phantasie zauberte mir Bilder vor, wie sie die Wirklichkeit nie bieten konnte.

Gaudeamus- und Gruttenhütte. Wir kennen diese berühmten Asyle ganzer Generationen von Kaiserkletterern vom Hörensagen. Als wir sie erreichen, sind sie überfüllt. So macht sich ein Teil von uns auf den Weg empor zum Ellmauer Tor. Unser erstes Biwak. Dieses Wort hat in mir immer eine ganze Flut romantischer Vorstellungen ausgelöst. Nun sollen wir ein Freilager in den Bergen am eigenen Leib auskosten. Im Fackelschein stolpern wir das schmale Steiglein bergan. Rabenschwarze Nacht, gespenstisch durchrissen vom flackernden Schein. Geisterhaft unwirklich leuchten steile Abhänge. Schluchten stürzen in die Tiefe. Eine Fackel nimmt den Weg hinunter, wir sehen ihr nach, bis sie irgendwo weit, weit unten erlischt.

Um Mitternacht erreichen wir das Ellmauer Tor, legen uns hinter einen Stein, decken uns mit allen verfügbaren Kleidungsstücken zu, versuchen zu schlafen. Bald verwünschen wir die Romantik. Wir sind noch unerfahrene Jungen, die zähneklappernd an die warme Hütte, oder auch nur an einen Heustadel, mit Sehnsucht denken. Es fehlt uns noch viel zum echten Bergsteiger …

Dann kommt, gleichzeitig mit der ärgsten Kälte, der junge Tag. Die Zinnen und Zacken werden licht. Not und Unbequemlichkeit der Nacht sind rasch vergessen. Nach wenigen Schritten stehe ich am höchsten Punkt des torartigen Einschnitts im Bergeskamm. Es ist das Tor zu einer Wunderwelt. Da liegt sie vor, unter mir, die Steinerne Rinne …

Eine enge Schlucht, begrenzt von himmelstürmenden Wänden, abenteuerlich in ihrer Steilheit und Glätte. Eine Landschaft von Urgewalten geformt. Da stehen die Wächter der Rinne – rechts der Predigtstuhl, links die Fleischbankspitze. Und dort, ja dort, ist die berühmte Fleischbank-Ostwand, die den Reigen der schweren Kaisertouren eröffnete. Die Wand, die Hans Dülfer mit seinem Gefährten Werner Schaarschmidt vor dem Ersten Weltkrieg als erster bezwang. Vor 28Jahren.

Seinerzeit eine alpine Sensation, zählt die Fleischbank-Ostwand heute nicht mehr zu den schwersten Kaisertouren. Aber sie ist noch immer die Fleischbank-Ostwand. Man muß die Kinderschuhe des Kletterers längst abgetreten haben, ehe man sich in sie wagen darf. Darf ich es schon? Der Verstand verneint die Frage. Die Sehnsucht schreit ein leidenschaftliches »Ja«! Ich weiß, daß einige ältere, erfahrene Jungmannen heute den Spuren Dülfers folgen dürfen. Mich, den Jüngsten und körperlich Schwächsten, hat Hannes Schmidhuber, unser Mannschaftsführer, noch nicht für reif erachtet. Offiziell werde ich bestimmtnicht mitgenommen.

Also heimlich. Ich schleiche zum Einstieg der Wand, verstecke mich hinter einem Block, warte auf die Seilschaft, die den Dülferweg gehen darf. Da kommen sie. Eine kleine Gruppe. Man hört die »Schlosserei« – Haken, Karabiner, Hammer – klingeln. In Kletterpatschen steigen sie das Steiglein ab, der Vigl Luis, der Magerle Hugo und noch einige. Und dann – ja dann kommt als letzter Hannes Schmidhuber. Er hat mich sofort in meinem Versteck erblickt. Ich brauche ihm gar nichts zu erklären, er kennt meine Absicht auch so. Sein Gesichtsausdruck verspricht nichts Gutes. Nein, Bürschlein, du kannst dich nicht heimlich in die Ostwand schleichen. Nicht, solange ich verantwortlich bin. Du bist noch zu jung, zu grün …

Ich könnte heulen vor Zorn und gekränktem Stolz, als mich Hannes mit starker Hand anpackt und mich zwingt, mit ihm zurück zum Ellmauer Tor zu gehen. Die anderen sind bereits in die Ostwand eingestiegen. Ich kann sie nur beobachten, beneiden, bewundern. Vielleicht habe ich in diesem Augenblick Hannes Schmidhuber verwünscht. Er tat mir auch viel an an diesem Tag. Er verbot mir nicht nur die schwere Wand, sondern teilte mich einem neuaufgenommenen Jungmannen – sogar nur als zweiten am Seil – zu. Auf dem Normalweg, dem sogenannten »Herrweg«, auf die Fleischbank. Ich, der sich schon so gut dünkte, sollte nun gesichert hinter einem anderen nachzotteln über einen Anstieg, zu dem man überhaupt kein Seil gebraucht hätte …

Heute denke ich anders über die Episode. Heute denke ich nur mit dankbarer Freundschaft an Hannes zurück. Viel habe ich von ihm gelernt, von diesem großartigen Bergsteiger und verantwortungsbewußten Mann, der im Bergrettungseinsatz für andere sein Leben ließ. Er erkannte wohl, daß ich in meiner Begeisterung blind in das Verderben gestürmt wäre, hätte er meine überschäumende Leidenschaft nicht gezähmt. Er beobachtete mich gut, wollte mir auch Selbstbeherrschung beibringen. Aber es ist schwer, eine Besessenheit zu beherrschen, die alle Schranken und Dämme brechen will.

Es ist einmal zu Pfingsten. Wieder im Wilden Kaiser. Das Wetter ist prachtvoll, so ist Massenauftrieb in den Wänden der Steinernen Rinne. Aus allen Routen, Mauern, Kanten, Verschneidungen, Rissen, Kaminen hört man die Seilkommandos, die Stimmen, Rufe und Jodelkünste der Kletterer. Wie winzige Fliegen an himmelhohen Feuermauern scheinen sie von der gegenüberliegenden Seite.

Auch wir haben eine schöne Kletterei hinter uns, die Nordkante des Predigtstuhls. Fredl Schatz, der vom Militärdienst gerade auf Urlaub ist, läßt es sich nicht nehmen zu führen. Helmut Weber macht den Mittelmann, während ich heute letzter am Seil bin. Wir steigen vom Nordgipfel über den Mittelgipfel gegen den Hauptgipfel an. Fred kommt zu einer schweren Stelle. Er probiert einige Male, steigt zurück, wieder empor. Helmut als Mittelmann hat ihn zu sichern. Auch ich schaue gespannt zu dem Führenden, denke aber nicht an die Möglichkeit einesAbsturzes.

In diesem Augenblick erfüllt die Steinerne Rinne dröhnender Lärm.Als ob alle Berge einstürzten. Der Laut bricht sich hundertfach in den Wandwinkeln, steigert sich zu ohrenbetäubender Höllenmusik. Es sind aber nicht einstürzende Berge. Es ist ein Flieger, der das tollkühne Husarenstück vollführt, mitten durch die Steinerne Rinne zu fliegen – tief unter meinem Standplatz. Ein toller Bursche, der Pilot. Ich kann von oben in seine Kanzel sehen. Gleich einem Spuk ist das Flugzeug im nächsten Moment meinen Blicken entschwunden.

Ich schaue zurück zu der Stelle, wo mein Kamerad am Felsen hängt. Nein er ist nicht mehr dort. Nur ein Schatten huscht entlang der Felsen abwärts. Blitzschnell. Fred ist gestürzt, fällt … Schnell umfasse ich das Seil, klemme mich hinter einen Block. Halten, halten … Ein kurzer Ruck, nicht allzu stark, da wir ja zu zweit sind. Der Körper Freds bleibt 20 Meter tiefer frei baumelnd am Seil hängen. Wir lassen ihn weiter hinab, bis er einen Standplatz findet. Dann klettere ich zu ihm hinunter.

»Ist’s schlimm, Fred?«

Tapfer die Antwort.

»Nein, nur Prellungen in den Beinen und Hüften. Aber – ich kann nicht mehr klettern.«

200 Meter tiefer ist das sichere Kar. Zwischen uns und dem rettenden Boden ist ein schwarzer, abweisender Schlund. Wasser rieselt über die Felsen; der Botzongkamin ist sonst ein schneller, luftig-lustiger Weg hinunter, wenn man frei von Sorge und Ballast sich abseilen kann von Absatz zu Absatz, von Stufe zu Stufe. Aber mit dem verletzten Gefährten?

Die Zeit drängt. Wir haben nur ein 30-Meter-Seil. Das muß für die Rettung des Freundes und zur eigenen Sicherung genügen. Wir wollen und werden nicht um Hilfe rufen. Dort unten bleiben schon einige Menschen stehen. Kleine, jetzt regungslose Punkte. Sie starren zu uns herauf. Wir rufen nicht um Hilfe, und von selbst kommen sie nicht.

Helmut und ich haben noch keine Erfahrung in Rettungen mit so primitiven Mitteln. Aber wir müssen aus der Wand, durch den Kamin, mit dem verletzten Fred. Ohne fremde Unterstützung. Wir lassen Fred am Seil hinunter. Er braucht sich nur mit den Händen vom Fels abzuspreizen, alles andere besorgen wir. Am selben Seil steigen wir dann hinab, sichern uns gegenseitig, so gut es geht; Meter für Meter kommen wir so tiefer in dem kalten, wasserüberronnenen Schlund. Es bleibt nicht bei Wasser. Es kommt Eis. Kein Sonnenstrahl trifft diesen Wandteil. Es wird so kalt, daß wir, schon ganz durchnäßt, völlig steif und durchfroren werden. Jetzt könnten wir gar nicht mehr rufen, weil wir alle ganz heiser sind. Es schleicht sich nur der Gedanke und die bange Frage in unsere Hirne: Warum kommt keiner der vielen, die sich mittlerweile am Fuße des Botzongkamins versammelt haben, uns zu Hilfe? Sieht man denn nicht, wie wir uns plagen? Will man uns prüfen? Nimmt man die Sache nicht ernst?

Wir haben keine Zeit, über diese Probleme nachzudenken. Wir müssen weiter, tiefer, um endlich herauszukommen aus diesem grausigen, kalten Gefängnis. Weder Helmut noch ich sind Athleten. Der Abtransport des Verletzten erfordert unsere letzte Kraft. Die Hände sind von Nässe wie ausgelaugt, vor Kälte gefühllos und steif. So müssen wir das wie zu Draht erstarrte Seil bedienen. Nur widerwillig gehorchen die Muskeln, wenn sie mit dem schweren Hammer Abseilhaken schlagen müssen. Wir sind am Rande der Erschöpfung, als wir nach zwei Stunden den Botzongkessel, das Schuttfeld erreichen. Fred wird hier von den Wartenden, unter denen sich einige »Prominente« befinden, übernommen.

Wir werden seltsam begrüßt. Man bezichtigt uns, am Absturz Freds schuld zu sein. Ich protestiere, will den Irrtum aufklären. Man gebietet mir zu schweigen. Es sind lauter starke, sehnige Männer, die einem schmächtigen Halbwüchsigen, der vor Erschöpfung ganz heiser ist, seine Traumwelt von Bergleidenschaft und sehr jungem Selbstbewußtsein zusammenschlagen wollen. Mit harten Worten:

»Du solltest zu Hause bleiben. Du gehörst nicht in die Berge. Aus dir wird nie ein Bergsteiger.«

Ich bin zu müde, zu durchfroren, zu getroffen, um mich energisch durchzusetzen. Ich denke nur nach, wie es zu dem Mißverständnis kommen konnte, wo mein Fehler lag. Vielleicht hätten wir Fred, der doch durch den Wehrdienst außer alpinem Training war, nicht führen lassen dürfen. Aber er war doch der ältere, Erfahrene, Erwachsene. Vielleicht hätte ich mich nicht von dem Flieger ablenken lassen dürfen von der Arbeit des Sicherns, obwohl diese Aufgabe dem Mittelmann zufiel. Aber bei einer Seilschaft ist jeder für jeden verantwortlich. Man muß an sich den strengsten Maßstab anlegen, muß von sichdas äußerste verlangen, wenn man das Höchste will.

Gewiß hatte ich Fehler gemacht, wenn ich auch die Vorwürfe zunächst als verletzende Ungerechtigkeit empfand. Aber aus der Demütigung wuchs der Trotz. Wenn ich auch noch ein halber Knabe war, der in seiner Schmächtigkeit das Gegenteil von dem schien, was man sich landläufig unter einem Helden vorstellte, fühlte ich mich den anderen doch in einem überlegen: In dem schier verzehrenden Feuer der Leidenschaft für den Berg.

Ich gehörte nicht in die Berge? Ich konnte ja ohne Berg gar nicht mehr leben! Ich dachte, träumte, lebte nichts anderes als den Berg. Und ich tat einen heimlichen Schwur, während ich hinter den anderen durch die Steinerne Rinne stolperte:

»Ich werde doch ein Bergsteiger werden!«

Ich glaube – ich habe den Schwur gehalten.

Der Tod als Lehrmeister

Sommer 1940.

Ich schließe mich mit dem Fuchs Seppl zusammen, um mit ihm die sogenannte Kadnerroute anzugehen.

Unter uns steigt ein Mann über die Schutthalden an, allein, etwas zögernd. Er bleibt immer wieder stehen, schaut nach oben, geht dann wieder einige Schritte.

Merkwürdig – ein Mann allein, was will der da heroben? Er scheintetwas Besonderes vorzuhaben.

Wir haben keine Zeit, uns mit dem einsamen Wanderer zu befassen. Wir steigen ein. Wunderbar, großartig ist die Kletterei. Der Fels ähnelt dem des Kaisergebirges, eisenfest, jeder Griff hält, ein Genuß dieses Höherklimmen. Nach einem Überhang tut sich ein Kamin auf, Verengungen zwingen uns immer wieder zum äußersten Kaminrand hinaus. Sehr luftig fällt die Wand ab, rechts und links glatter Fels ohne Rauhigkeit.

Wir sind schon 200 Meter gestiegen – noch eine Verengung, ein schmaler Kamin, fast ein Riß. Schlangenartig schiebe ich mich höher, etwas keuchend, und Sepp steht dann auch bald neben mir.

Da taucht unter uns im Kamin ein Haarschopf auf … Eine zweite Seilschaft? Doch dann erkennen wir den Einzelgeher, der sich so zögernd dem Einstieg näherte. Er ist allein – eine ganz beachtliche Leistung! Seine Hände sind zerschunden, bluten etwas. Wir fragen ihn nach der Ursache.

»Beim Einstieg … « sagt er – mehr gibt er nicht zu verstehen.

Wir bieten ihm das Seil an. Er lehnt dankend ab. Nun seien die größten Schwierigkeiten ja vorbei … Er geht an uns vorbei, steigt, da er allein ist, schneller empor und entschwindet rasch unseren Blicken.

Wir zwei wenden uns nach links. Hier gibt es noch eine glatte Stelle. Ich bewege mich mit Hilfe der Reibung der Kletterpatschen auf glatter Plattenwand nach oben, erreiche einen guten Stand, dann ist es an Sepp, diese heikle Stelle anzugehen …

Ein Rumpeln läßt uns plötzlich aufschrecken – Steinschlag? Wir ducken uns eng an den Fels und erwarten den Steinhagel. Dieser bleibt aber aus. – Statt dessen fliegt etwas Dunkles durch die Luft, etwas Schweres, Längliches – wie ein gefüllter Sack … Plötzlich erkenne ich einen menschlichen Körper – den Alleingänger! Kalt läuft es mir über den Rücken. Er fliegt direkt auf Sepp zu, der unter mir an der Wand hängt. Er muß ihn fortreißen, denke ich und umklammere das Seil noch fester. Der leblose Körper fliegt aber einen halben Meter über meinen Freund hinweg, hinaus in die Leere …

Endlose Sekunden vergehen, bis wir den letzten Aufprall unten im Kar hören … Dann lähmende Ruhe.

Drüben am Scharnitzjoch blöken die Schafe, wie unheimliche Klagerufe hört sich das an. Ich zittere am ganzen Körper. Noch hoffe ich, daß das Ganze nur ein Spuk gewesen sei. Aber Sepp deutet auf die Blutspritzer um uns. Ein Menschenleben ist ausgelöscht. Ein Mensch, mit dem wir Minuten vorher noch einige Worte gewechselt haben. So schnell geht das?

Wir machen uns bittere Vorwürfe; warum haben wir ihn nicht zum Anseilen gezwungen? Aber was hilft das jetzt! Und – welcher Bergsteiger ließe sich auch schon zwingen?

Wir getrauen uns kaum mehr weiter. Aber wir müssen heraus aus dieser grausamen Wand, nur hinaus so schnell wie möglich! … Hinunter! Vielleicht können wir noch helfen? Vielleicht lebt er noch? Aber da ist nichts zu hoffen – 200 Meter tiefer liegt das Kar …

Sepp kommt nach. Er steigt sehr unsicher. Auch ich muß mich arg zusammennehmen. Mein Kamerad kann sich auf der glatten Platte nicht halten, rutscht. Ich halte, was ich kann, ohne Sicherungshaken, mit freier Hand, an die Wand gepreßt. Das Seil schneidet mir schmerzend in die Hand, drückt mich fast zu Boden, droht mich aus dem Stand zu reißen. Ich rufe Sepp zu: »Halt dich fest, sonst komme ich gleich nach, ich kann dich nicht lange halten.« Sepp wiegt 20 Kilogramm mehr als ich. Schweißperlen treten mir auf die Stirn, ich kann gar nicht mehr die Wand hinabschauen. Aber da hat sich Sepp wieder gefangen, hat wieder festen Stand, geht langsam weiter, erreicht mich. Mit letzter Willensanstrengung und größter Vorsicht steigen wir dann zum Gipfel hinaus.

Diesmal ist’s nur ein stummer kurzer Händedruck; nichts von der gewohnten Freude, nicht das Lachen der Begeisterung nach schwerer Fahrt. Wir hasten hinunter, seilen uns von der Wangscharte ab. Als wir zum Einstieg gelangen, finden wir bereits andere um den Toten bemüht. Mit einem Latschenkranz wird sein Körper bedeckt. Dann geben wir ihm das letzte Geleit.

Tage, Wochen später bin ich von diesem Zwischenfall noch so ergriffen, daß ich meine Kletterausrüstung gar nicht mehr ansehen kann.Ich glaube, meine kaum erst begonnene Bergsteigerlaufbahn wieder beenden zu müssen. Immer wieder sehe ich den Körper eines lebenden, blutwarmen Menschen durch die Luft fliegen. Nachts träume ich davon. Ich hatte erfahren, daß Klettern gefährlich sein und daß es ein so rasches Ende bringen kann.

IN DEN BERGEN NORDTIROLS

Die alpine Lehrlingszeit ist vorbei

Das Jahr 1942 eröffnet mir das Reich des VI. Grades. Ich fühle mich reif genug, in diese Welt der »äußersten Schwierigkeit« einzudringen. Mit der ersten winterlichen Durchsteigung der Südwand der Schüsselkarspitze, des Spindlerweges im Wetterstein, beginne ich die Reihe schwerer und schwerster Kletterfahrten. Eine neue Epoche des Bergsteigens nimmt nun seinen Anfang. Freund Waldemar Gruber, auch erst 17 Lenze zählend, ist in jener Zeit mein treuester Begleiter.

Pfingsten. Nochmals im Wilden Kaiser.

Die Gaudeamushütte ist überfüllt. Gedränge, Trubel, Wirbel, Lärmen. Das muß man eben zu Pfingsten im Kaiser in Kauf nehmen. Dafür findet man auf den Touren reichliche Entschädigung. Der Auftrieb jagt uns schon früh aus der Hütte. Das Notlager hat mit dazu beigetragen, daß uns das Aufstehen nicht schwerfiel. Fleischbank-Ostwand und Christaturm-Südostkante haben schon am Vortag den Auftakt gebildet. Wir fühlen uns heute für die Südostwand der Fleischbank gerade richtig in Form. Wir brauchen nun auch nicht mehr so heimlich und zögernd mit dem Kletterwerkzeug herumzuhantieren. Wir können schon etwas selbstsicher die »Schlosserei« klingen lassen. Die alpine Lehrlingszeit ist vorbei.

In wohlgezielten Sprüngen von Block zu Block erreichen wir den Ansatz der Felsen und über einen kurzen Schrofengürtel den Einstieg. Waldemar geht mit mir, die zweite Seilschaft bilden Herbert Eberharter und Manfred Bachmann. Wir sind nicht die einzigen, die zum Einstieg der Fleischbankwände ziehen. Ein ganzer Verein ist unterwegs. Hier werden vermutlich Platzkarten gebraucht. Ob die Zeit, wo man per »Kletterlift« von der Schutzhütte aus in wenigen Minuten zum Beginn der Hauptschwierigkeiten geführt wird, nicht mehr fern ist?

Das erste Rot erglüht auf den Zacken des Predigtstuhls, während in den Wänden noch der Nachtfrost nistet. Die ersten Strahlen der Morgensonne treffen uns. Es ist angenehm warm. Zu Mittag wird es vermutlich recht heiß werden. So bleibt der Pullover zurück. In der alten üblichen Adjustierung richten wir uns zum Klettergang her. Durch die zerrissenen Manchonsohlen der Kletterpatschen schauen bereits neugierig einige Zehen hervor. Heute müssen sie noch aushalten. Weil die Strümpfe zur Schonung im Rucksack verschwinden, bleiben diesmal auch zwangsläufig die Waden frei. Aber was macht’s? Ich habe abgehärtete Beine. Der Anorak – etwas morsch zwar – muß diesen Sommer auch noch herhalten. Mit der Hose dagegen ist kein rechter Staat mehr zu machen – sie erfüllt nicht einmal mehr ihre einfachsten Aufgaben, zum Beispiel läßt sie beim Klettern den Hammer ständig durch das Sieb der rückwärtigen Hosentasche gleiten, so daß sich das Eisen wenig angenehm in das Gesäß bohrt. Am liebsten würde ich auch auf die nichtsnutzige Hose verzichten. Aber ganz »ohne« geht es auch in den Bergen nicht …

Es ist immer ein eigenartiges Gefühl, wenn man am Einstieg einer schweren Wand steht. Wenn man, kurz nachdem man Hand an den Fels gelegt hat, einen Blick hinunter wirft und sich heimlich eingesteht, daß dies durchaus keine »Promenade« ist. Trotzdem: um zu beweisen, wie gut man heute in Form sei, erklettert man alles natürlich frei, also ohne Zwischenhaken und Sicherung. Wenn man dann, angenehm überrascht, einen Standplatz erreicht hat, spielt man den Enttäuschten und fragt den Kameraden, ob denn das Seil auch wirklich schon zu Ende sei.

Die ältere Generation wirft uns Jungen gern vor, daß wir keinen Respekt mehr vor den Bergen hätten. Soweit ich aus meiner eigenen Erfahrung berichten kann, ist der Respekt durchaus der gleiche geblieben, nur die Einstellung zum Bergsteigen, zur technischen Schwierigkeit hat sich gewandelt. Ich glaube, daß auch der junge Bergsteiger von heute, wenn er am Fuße einer solchen Wand steht, kein anderes Gefühl kennt als das, was andere schon vor ihm verspürten. Diese eigenartige Mischung von Auftrieb, Begeisterung, Vorfreude, Ehrfurcht vor der Natur und der Schöpfung und – gestehen wir es uns doch ein! – einer guten Portion Angst! Man kennt doch die Berge und ihre Gefahren – wie sollte man da den Respekt verlieren können? Zwar sagt man bei jeder neuen Bergfahrt immer wieder der Natur den Kampf an, der Natur, die wohlwollende Freundin sein kann, aber auch unbarmherzige Feindin. So erklärt sich auch das Hochgefühl, das uns bewegt, wenn wir nach überstandenem Kampf mit der Gegnerin Natur freudestrahlend, siegesbewußt, wenn auch abgekämpft, am Gipfel stehen, den Bergriesen unter uns. Nun eins und Freund mit der Natur und allem Schönen auf dieser Erde – wohl aber wissend, daß wir nicht die große Natur des Hochgebirges gezähmt haben, sondern nur uns selber. Wie winzig klein, wie nichtssagend der Mensch im Weltall steht, können wir Bergsteiger vielleicht am besten erkennen, gerade wir »Extremen«.

Doch zurück zu unserer Pfingsttour in die Südostwand der Fleischbank. 1925 wurde sie erstmals von den großen Felsenmeistern Roland von Rossi und dem Dresdner und jetzigen Amerikaner Fritz Wiessner durchstiegen. Die größte Sensation im Wilden Kaiser seit Dülfer. Im oberen Teil dieser Feuermauer aus hell leuchtendem Kaiserfels kann man auf schmalem Band nach links in die Scharte zwischen Fleischbank und Christaturm »auskneifen«.

Wir dachten nicht daran, dies zu tun. Am Ellmauer Tor hat sich inzwischen eine ansehnliche Gesellschaft eingefunden. Wie auf einer Tribüne sitzen die Zaungäste des Alpinismus dort unten und beobachten gespannt das verwegene Spiel der Kletterer mit der Schwerkraft.Ganze Karawanen ziehen durch die Steinerne Rinne.

Eine andere Seilschaft macht sich hinter uns kletterbereit. Wir sind keine Freunde des langen Wartens und ziehen gleich los. Behangen mit dem Doppelseil, das einen förmlich in die Tiefe zieht, ist es anfangs noch ein vorsichtiges Tasten und Prüfen. Man muß erst wieder mit der Materie vertraut werden. Man muß auch den geistig-seelischen Kontakt finden. Noch etwas zögernd gestaltet sich die erste Seillänge, aber dann rollt das Seil schon rascher durch die Finger der Freunde. Der Kampfgeist und die Freude am Höherklimmen sind bald wieder da. Hemmungslos stehle ich nun Meter um Meter der Wand ab. Über mir noch eine Galerie von Haken, bis zum obersten steige ich an. Beinahe wäre ich zu hoch gekommen. Ich bemerke gerade noch links unten in der glatten Platte einen rostigen Stift. Also hier setzt der berüchtigte Quergang an. Im »Dülfersitz« – das hatte ich in der Zwischenzeit auch schon gelernt – schiebe ich mich, im Quergangseil hängend, entlang dem glatten, fast grifflosen Fels nach links hinüber. Wieder klinkt ein Karabiner ein – das wirkt beruhigend auf die Nerven –, und dann ist die Fortsetzung der Rißreihe jenseits dieser sperrenden Wandzone erreicht. Ich hänge an einem Haken, vom Fels gestützt, und erst wenn ich den Oberkörper weit nach außen lege, kann ich zum Einstieg hinuntersehen. Ein Seilgeländer wird gespannt.Einer nach dem anderen kommt nun dran, rutscht auf dem improvisierten Lift zu mir.

Das Wetter ist wunderbar. Zwischen Karlspitze und Bauernpredigtstuhl leuchtet der Groß-Venediger herüber. Seillänge um Seillänge zwingen wir der Wand ab, und bald stehen wir unter einem großen Überhang, dem Rossi-Überhang, einer Schlüsselstelle dieser großartigen Route.

Plötzlich kommt ein scharfer Wind auf. Wie durch einen Strich getrennt, schiebt sich eine rabenschwarze Wolkenwand im Nu über den Fleischbankgipfel herüber. Nebel legt sich kaltfeucht an die Wände, zieht vom Wind getrieben durch die Steinerne Rinne. Das lebhafte Stimmengewirr und das Gejohle von den umliegenden Gipfeln und Wänden sind mit einemmal verstummt. Es beginnt zu regnen, bald schüttet es, als ob der Himmel offen wäre. Wir wollen nicht zurück, steigen weiter. Die Wand, der Gipfel bleiben unser Ziel. Bald stehen wir vereint am Grasband, das die ganze Wand durchzieht. Die letzte, einzige Möglichkeit, zur Fleischbankscharte hinauszuqueren und schleunigst den Abstieg anzutreten. Die hinter uns kommende Seilschaft macht von dieser Möglichkeit Gebrauch und verläßt die Wand. Wir überlegen noch: nun sind wir schon hier im Kaiser, haben mehr als die halbe Wand bereits durchstiegen, noch dazu die »Südost« … so schnell werden wir nicht wieder hierherkommen … das Fahrgeld! – Also weiter, empor! – Nach einer Rechtsquerung ist der Ausstiegsriß erreicht. Der Regen geht nun allmählich in Hagel über; was kümmert uns das, wir raufen uns durch den überhängenden Riß, steigen weiter, sind ja doch schon pudelnaß. Von den Wänden tropft es wie aus einer Traufe. Es wird spürbar kälter, und schon fallen die ersten Schneeflocken vom Himmel, typisches Pfingstwetter in den Bergen!

Nun trauere ich allerdings meinem Pullover nach. Auch friert es mich jetzt jämmerlich an Händen und Füßen. Die Waden sind blau, wie schön wären jetzt Strümpfe. Aber wir müssen weiter. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, über das Band die Wand zu verlassen. Aber jetzt ist keine Wahl mehr. Noch zwei schwere Seillängen, dann legt sich der Fels etwas zurück. Hier hat sich bereits Schnee angesetzt. Manchmal, wenn der Nebel etwas aufreißt, sehen wir hinüber zu den Predigtstuhlwänden. Die sind ganz weiß angezuckert. Wir können nur froh sein, daß wir nicht dort drüben sind. Der Westwind peitscht den Schnee direkt in jene Flanken.

Wir haben keine Ahnung, wie spät es ist. Wir leben zeitlos. Eine Uhr ist ein Luxusartikel, den wir uns nicht leisten können. Wenn wir uns auch mit der Sonne gut verstehen, heute läßt sie uns im Stich. Ein eisiger Wind empfängt uns, waagerecht jagt er den Schnee über den Gipfel hinweg. Einen kurzen Eintrag ins Gipfelbuch – und schleunigstwenden wir uns dem Abstieg, dem sogenannten Herrweg, zu. Der vor Stunden noch sonnige Fels hat sich nun mit einem Winterkleid bezogen. Durch Schneerinnen, unter denen sich spiegelglatt vereister, tükkischer Fels verbirgt, rutschen wir abwärts.