Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. 1
  5. 2
  6. 3
  7. 4
  8. 5
  9. 6
  10. 7
  11. 8
  12. 9
  13. 10
  14. 11
  15. 12
  16. 13
  17. 14
  18. Epilog
  19. Danksagung
  20. Leseprobe
  21. Die Autorin
  22. Die Romane von Ilona Andrews bei LYX
  23. Impressum

ILONA ANDREWS

Hidden Legacy

Wilde Schatten

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Marcel Aubron-Bülles

Zu diesem Buch

Wenn die Welt in Flammen steht …

Es fällt Nevada Baylor schwer, sich zu entscheiden: Ist es tatsächlich härter, ihre Talente als Wahrheitssucherin zu schärfen oder mit der frisch erblühten Beziehung zu Mad Rogan zu jonglieren? Harte Entscheidung! Denn bald schon wird Nevada eine wichtige Akteurin auf der magischen Bühne sein, während Rogan ihr dabei hilft, all die Gefahren zu umschiffen, die es mit sich bringt, ein eigenes Haus zu gründen. Doch all das ist ein Kinderspiel verglichen mit den ganzen Gefühlen füreinander, die die beiden zu kontrollieren versuchen. Als dann eine neue Bedrohung auftaucht, müssen Nevada und der Primemagier abermals die Kräfte vereinen, ehe ihre Welt in Flammen aufgeht …

Für Anastasia und Helen.

Wir hoffen, dass euch dieser Band gefällt.

1

Wenn dir das Leben einen Tiefschlag verpasst, dann kommt er immer unerwartet. Du bemerkst es nicht, bis es dich erwischt. Eben bist du noch munter durch die Welt spaziert, hast dir Gedanken über deine kleinen Probleme gemacht, Pläne geschmiedet, und im nächsten Moment liegst du hilflos weinend auf dem Boden und versuchst dich gegen die Panik und die Schmerzen zu schützen, während in deinem Kopf ein heilloses Durcheinander herrscht.

An der Tür hing ein Weihnachtskranz. Meine Hand verharrte über dem Tastenfeld. So ist’s brav. Heute war Weihnachten. Heute Morgen noch hatte ich mit dem gefährlichsten Mann Houstons im Schnee vor seiner Berghütte herumgealbert. Dann hatte Rogan eine Nachricht von seinem Überwachungsteam erhalten, und jetzt stand ich nur sechs Stunden später vor dem Lagerhaus, das meiner Familie als Zuhause diente. Meine Haare waren eine Katastrophe, meine Klamotten unter der Winterjacke zerknittert. Ich musste das Lagerhaus betreten und ihnen die schlechte Nachricht überbringen. Was dann geschähe, würde niemandem gefallen. Bei all dem, was mittlerweile passiert war, hatten wir uns darauf geeinigt, uns keine Geschenke zu machen. Ich hatte nicht nur Heiligabend verpasst, ich musste ihnen jetzt auch noch das schlimmste Präsent überhaupt überreichen.

Das Wichtigste war jetzt, nicht in Panik zu geraten. Wenn ich in Panik geriete, würde es meinen Schwestern und Cousins nicht anders ergehen. Meine Mutter wiederum würde sich alle Mühe geben, mir die einzig logische Lösung unseres Problems auszureden. Ich hatte es geschafft, meine Gefühle den ganzen Weg von der Berghütte bis zum Flughafen unter Kontrolle zu halten, auch während des Flugs in seinem Privatjet und seinem Hubschrauber, der uns nur vier Straßenblöcke von meinem Zuhause entfernt abgesetzt hatte. Aber jetzt drohten mich meine Ängste und der ganze Stress zu überwältigen.

Ich atmete tief durch. Auf der Straße war eine Menge los. Nicht so viel wie noch vor ein paar Tagen, als ich Cornelius Harrison, einem Tiermagier und jetzigen Angestellten der Baylor Investigative Agency, dabei geholfen hatte, den Mörder seiner Frau Nari zu finden, aber doch noch eine ganze Menge. Rogans Ansichten zum Thema persönliche Sicherheit waren ziemlich krass. Er liebte mich und war zu dem Schluss gekommen, dass mein Zuhause einem entschieden geführten Angriff nicht standhalten konnte. Also hatte er einfach ein paar Quadratkilometer Industriegebiet um unser Lagerhaus erstanden und in seine private Militärbasis verwandelt.

Jeder Mensch in meiner Nähe trug Zivilkleidung, aber damit täuschten sie niemanden. Rogans Leute hatten auf die eine oder andere Art in der Armee gedient, und keiner von ihnen wusste, wie man spazieren ging oder herumschlenderte. Sie bewegten sich mit einem klaren Ziel vor Augen von A nach B. Sie trugen saubere Kleidung, hatten kurz geschnittene Haare und nannten Rogan den Major. Wenn wir beide miteinander schliefen, nannte ich ihn Connor.

Ein leise knirschendes Geräusch ertönte auf der anderen Straßenseite und rief in mir die Erinnerung hervor, wie ich David Howlings Genick brach. Seine Knochen hatten ein knackendes Geräusch von sich gegeben, als ich seinen Kopf brutal zur Seite gedreht hatte. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn zu Boden gleiten, nachdem ich ihn schließlich losgelassen hatte, und Panik befiel mich. Die Angst schlug wie eine riesige Flutwelle über mir zusammen, und ich wartete, bis ich wieder Luft bekam. Naris Mörderin zu finden war eine furchtbare und brutale Angelegenheit gewesen. Am Ende hatte ich dabei zugesehen, wie diese Frau, Olivia Charles, bei lebendigem Leib von einem Rattenschwarm aufgefressen wurde, während Cornelius den Verlust seiner Liebsten besang. Fast jede Nacht durchlebte ich diese Szene in meinen Träumen – immer wieder.

Ich wollte noch nicht in die Welt zurückkehren. Ich hätte tatsächlich gerne … Ich hätte gerne ein bisschen mehr Zeit gehabt.

Ich zwang mich in Richtung des Geräuschs zu blicken. Ein ehemaliger Soldat kam auf mich zu. Er war um die vierzig, hatte mehrere Narben im Gesicht und führte einen riesigen Grizzlybären an einer sehr dünnen Leine. Der Bär lief auf allen Vieren und trug ein Geschirr, auf dem Sergeant Teddy stand.

Der Mann streckte seinen linken Arm aus und drehte ihn mit einem kurzen Ruck, als ob er versuchte, seine Knochen wieder an Ort und Stelle zu schieben. Noch ein Knacken, was mich erneut aufschreckte. Wahrscheinlich eine alte Verletzung.

Der Bär blieb stehen und sah mich an.

»Sei höflich«, ermahnte ihn der ehemalige Soldat. »Machen Sie sich keine Sorgen. Er möchte nur Hallo sagen.«

»Kein Problem.« Ich ging einen Schritt auf den Bären zu. Das riesige Tier beugte sich zu mir hin und schnupperte an meinen Haaren.

»Darf ich ihn streicheln?«

Der Soldat warf Sergeant Teddy einen Blick zu. Der Bär gab einen kurzen, leisen Laut von sich.

»Er sagt, dass Sie dürfen.«

Ich streckte die Hand aus und tätschelte vorsichtig seinen großen pelzigen Hals.

»Und was ist seine Geschichte?«

»Jemand hielt es für eine gute Idee, überaus schlaue, magisch begabte Bären zu erschaffen, um sie im Kampf einzusetzen«, sagte der ehemalige Soldat. »Das Problem ist nur: Wenn man jemanden schlau macht, dann entwickelt er auch ein eigenes Bewusstsein, und man kann ihm keinen Scheiß mehr erzählen. Sergeant Teddy ist Pazifist. Die Leine ist nur dazu da, dass die Leute nicht in Panik geraten. Der Major hat ihn vor ein paar Jahren gekauft. Der Major ist der Ansicht, dass man Leute nicht dazu zwingen sollte, in einen Krieg zu ziehen, den sie aus moralischen Gründen nicht unterstützen können, ob nun Mensch oder Bär.«

»Aber du bist immer noch hier«, sagte ich zu dem Bären.

Der schnaubte und sah mich mit seinen schokoladenbraunen Augen an.

»Wir haben ihm in Alaska ein nettes Fleckchen Erde angeboten«, sagte der ehemalige Soldat. »Aber dort gefällt es ihm nicht. Er meint, dass er sich dort langweilt. In der Regel treibt er sich bei uns rum, isst Müsli, was schlecht für ihn ist, und schaut sich samstags Cartoons an. Und Filme. Er liebt Das Dschungelbuch

Ich wartete auf das vertraute Summen meiner Magie, das mir bestätigte, dass er mich veralberte, aber nichts geschah.

Sergeant Teddy stieg auf die Hinterbeine, versperrte mir das Licht und legte seine zotteligen Vorderpfoten um mich. Mein Gesicht wurde in Pelz gedrückt. Ich erwiderte seine Umarmung. Wir blieben einen Augenblick so stehen, dann ließ sich der Grizzly wieder zu Boden fallen und machte sich auf den Weg. Die Leine zog er neben sich her.

Ich blickte den Mann neugierig an.

»Er muss gespürt haben, dass Sie eine Umarmung brauchen könnten«, sagte er. »Er ist die meiste Zeit bei uns im Hauptquartier. Sie können also jederzeit vorbeischauen und ihn besuchen.«

»Mache ich«, sagte ich zu ihm.

Der Mann nickte und ging dem Bären hinterher.

Ich gab meinen Sicherheitscode ein. Ich war gerade von einem riesigen, hyperintelligenten, pazifistischen Bären umarmt worden. Ich konnte es schaffen. Ich konnte alles schaffen. Ich musste einfach nur ins Haus gehen und eine Familienkonferenz einberufen. Es war ohnehin fast Zeit zu essen. Sonntags waren die meisten eh zu Hause.

Ich öffnete die Tür und betrat mein kleines Büro, das der Baylor Investigative Agency als Zentrale diente. Ein kurzer Flur, drei Büros zur Linken sowie ein Pausenraum und ein Sitzungszimmer zur Rechten. Das Verlangen, mich in meinem Büro zu verstecken, war nahezu übermenschlich, aber ich ging den Flur weiter entlang bis zu der Tür, durch die ich den knapp dreihundert Quadratmeter großen Bereich betrat, den wir unser Zuhause nannten. Als wir unser Haus verkauft hatten, um die Krankenhauskosten meines Vaters begleichen zu können, war unsere Familie in dieses Lagerhaus gezogen, um Geld zu sparen. Wir hatten den Innenraum in drei separate Bereiche eingeteilt: das Büro, den Wohnraum und, verborgen hinter einer sehr hohen Wand, Oma Fridas Werkstatt, wo sie an gepanzerten Fahrzeugen und Panzerartillerie für Houstons magische Elite arbeitete.

Ich zog die Schuhe aus und schritt entschlossen durch die verworrenen Gänge. An den Wänden hingen Girlanden. Meine Schwestern hatten sich offensichtlich um die Dekoration gekümmert.

Aus der Küche ertönten leise Stimmen. Mom … Oma. Gut. Das würde mir Zeit sparen.

Ich ging an dem riesigen Weihnachtsbaum vorbei, den wir im Pausenraum aufgestellt hatten, betrat die Küche und erstarrte.

Mutter und Großmutter hockten am Küchentisch. Eine junge Frau saß direkt neben meiner Großmutter. Sie war gertenschlank und wunderschön, mit einem herzförmigen Gesicht, das von atemberaubend rotem Haar in perfekten Wellen eingerahmt war. Ihre Augen leuchteten so sehr, dass ihr Grau fast silbern wirkte.

Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter.

Rynda Charles. Rogans frühere Verlobte. Olivias Tochter.

»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte. Sie hatte blutunterlaufene Augen, und sie war so bleich, dass ihre Lippen beinahe weiß wirkten. »Sie haben meine Mutter getötet.«

Irgendwie schaffte ich es, Worte hervorzubringen. »Was tun Sie hier?«

Rynda wischte sich Tränen aus den Augen und starrte mich verzweifelt an. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.

Mom sah mich mit großen Augen an und nickte in Richtung Stuhl. Ich stellte meine Tasche ab und nahm Platz.

»Trinken Sie Ihren Tee.« Oma Frida schob Rynda einen dampfenden Becher hin.

Rynda ergriff ihn und trank einen Schluck, ohne den Blick von mir zu nehmen. In ihren Augen lag Verzweiflung, die in Panik umzuschlagen drohte. Okay.

Ich schloss die Augen, atmete ganz tief ein, hielt die Luft an und atmete anschließend ganz langsam aus. Eins … zwei … ganz ruhig … ganz ruhig …

»Nevada?«, fragte Oma Frida.

»Sie ist eine hochbegabte Empathin«, sagte ich. »Ich bin durcheinander, und das wirkt sich auf sie aus.«

Rynda lachte kurz, und für einen Augenblick war Olivia Charles in ihrer Stimme zu hören. »Das sagt die Richtige.«

Fünf … sechs … einatmen, ausatmen … zehn. Das sollte reichen.

Ich öffnete langsam meine Augen und sah Rynda an. Ich musste nicht nur meine Stimme, sondern auch meine Gefühle unter Kontrolle halten. »Ihre Mutter hat eine ganze Reihe von Rogans Soldaten sowie vier Anwälte umgebracht, unter ihnen zwei Frauen Ihres Alters. Sie wurden ohne Grund abgeschlachtet. Wegen Ihrer Mutter haben nicht nur diese Männer ihre Frauen verloren, sondern auch deren Kinder ihre Mütter.«

»Kein Leben ist schwarz-weiß«, sagte Rynda und stellte den Teebecher ab. »Für Sie mag sie ja nur ein Monster gewesen sein, aber für mich war sie meine Mutter. Sie war meinen Kindern eine wunderbare Großmutter. Sie hat sie unglaublich geliebt. Meine Schwiegermutter interessiert sich nicht für sie. Und jetzt haben sie keine Großeltern mehr.«

»Sie haben mein Mitgefühl. Ich bedaure, dass sich die Dinge so entwickelt haben. Aber sie zu töten war leider der richtige Weg.« Oh mein Gott, ich hörte mich an wie meine Mutter!

»Ich weiß nicht einmal, wie sie gestorben ist.« Rynda ballte ihre Hände zu Fäusten. »Sie haben mir einfach nur ihre Knochen geschickt. Wie ist es passiert, Nevada?«

Ich atmete tief durch. »Es war weder ein leichter noch ein schneller Tod.«

»Ich verdiene es, es zu erfahren«, sagte sie mit energischer Stimme. »Reden Sie mit mir!«

»Nein. Sie haben gesagt, Sie bräuchten meine Hilfe. Etwas Schreckliches muss also geschehen sein. Lassen Sie uns darüber sprechen.«

Ihre Hände zitterten. Als sie den Becher an den Mund führte, wackelte er ein wenig. Sie nahm einen weiteren Schluck Tee. »Mein Ehemann ist verschollen.«

Okay. Verschollener Ehemann. Das kannte ich nur zu gut. »Wann haben Sie …« Rogan hatte mir seinen Namen einmal genannt, wie hieß er noch mal? »… Brian das letzte Mal gesehen?«

»Vor drei Tagen. Er ist am Donnerstag zur Arbeit gegangen und nicht mehr heimgekommen. Er geht nicht ans Handy. Brian liebt einen geregelten Alltag. Er ist immer rechtzeitig zum Essen zurück. Es ist der erste Weihnachtstag. Den würde er im Leben nicht verpassen.« In ihren Tonfall hatte sich eine leichte Note Hysterie geschlichen. »Ich weiß schon, was Sie mich fragen werden: Hat er eine Geliebte, führen wir eine glückliche Ehe, verschwindet er schon mal, um mit seinen Kumpels saufen zu gehen? Nein. Nein, tut er nicht. Er kümmert sich um mich und unsere Kinder. Er kommt immer nach Hause!«

Sie musste schon mit der Houstoner Polizei gesprochen haben. »Haben Sie bereits eine Vermisstenanzeige aufgegeben?«

»Ja. Sie werden nicht nach ihm suchen.« Nun klang sie verbittert. Sie wurde mit jedem Satz aufgeregter. »Er ist ein Hochbegabter, und das macht es zur Angelegenheit der Häuser. Nur ist Haus Sherwood leider davon überzeugt, dass es Brian gutgeht und er sich einfach eine Auszeit gönnt. Niemand außer mir sucht nach ihm. Niemand reagiert auf meine Anrufe. Selbst Rogan weigert sich, mit mir zu sprechen.«

Das klang äußerst merkwürdig. Rogan würde sie niemals abweisen, selbst wenn ich ihm deswegen eine Szene machte. Ich hatte gesehen, wie sich die beiden unterhalten. Er mochte sie, und sie war ihm wichtig. »Was genau hat Rogan gesagt?«

»Ich bin am Freitag zu ihm gefahren. Seine Leute haben mir erklärt, er sei nicht da. Samstag war er auch nicht da. Ich habe gebeten, dort warten zu dürfen, doch seine Leute meinten nur, das wäre reine Zeitverschwendung. Sie behaupteten, nicht zu wissen, wann er zurückkehren würde. Ich mag ja naiv sein, aber ich bin kein Idiot. Ich weiß genau, was das bedeutet. Vor zwei Wochen hatte ich noch Freunde. Ich hatte die Freunde meiner Mutter, mächtige, respektierte Persönlichkeiten, die Olivia Charles nur zu gerne einen Gefallen getan hätten. Vor zwei Wochen hätte ein Anruf ausgereicht, und die halbe Stadt hätte sich auf die Suche nach Brian gemacht. Sie hätten Druck auf die Polizei ausgeübt, auf den Bürgermeister, auf die Texas Rangers. Aber jetzt ist niemand mehr da. Alle haben zu viel zu tun, um mit mir sprechen zu können. Eine unsichtbare Mauer hat sich um mich erhoben. Egal, wie laut ich schreie, niemand kann mich hören. Die Leute nicken mir einfach nur zu und speisen mich mit hohlen Phrasen ab.«

»Er hat Sie nicht abgeblockt«, sagte ich. »Er war unterwegs. Mit mir.«

Sie hielt inne. »Sie sind mit ihm zusammen?«

Es hatte keinen Zweck, sie anzulügen. »Ja.«

»Diese Sache mit meiner Mutter, das war nicht einfach nur ein Job für Sie?«

»Nein. Sie hat die Frau eines Mannes getötet, den ich als meinen Freund ansehe. Er arbeitet jetzt für mich.«

Rynda hielt sich entsetzt die Hand vor.

Unangenehme Stille senkte sich auf den Raum.

»Ich hätte nicht hierherkommen sollen«, sagte sie. »Ich hole meine Kinder und gehe sofort.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Oma Frida.

»Nein«, sagte meine Mutter. Diese Stimme kannte ich. Das war die Stimme von Sergeant Mom. Rynda kannte sie offensichtlich auch, denn sie setzte sich aufrecht hin. Olivia Charles hatte nicht den geringsten Bezug zum Militär, aber nach nur drei Minuten mit ihr war mir klar gewesen, dass sie ihre Familie mit eiserner Hand regiert hatte und Dingen, die sie für unsinnig hielt, mit äußerst wenig Verständnis begegnet war.

»Sie sind jetzt hier«, sagte Mom. »Sie sind hierhergekommen, weil Sie Hilfe brauchen, weil sich sonst niemand um Sie kümmert und weil sie Angst um Ihren Ehemann und Ihre Kinder haben. Sie haben den richtigen Ort aufgesucht. Verschwundene Menschen aufzuspüren gehört zu Nevadas Spezialgebiet. Sie wird ihnen entweder persönlich zur Seite stehen oder ihnen jemanden empfehlen, der diese Aufgabe übernehmen kann.«

Oma Frida drehte sich zu Mom um und musterte sie, als ob ihr gerade Brokkoli aus den Ohren gewachsen wäre.

»Selbstverständlich«, sagte ich. Ich mochte Ryndas Mutter nicht mit eigener Hand getötet haben, aber ich hatte Anteil an ihrem Tod gehabt. Und nun war sie eine Ausgestoßene, die – von allen Freunden verlassen – Angst hatte. Sie hatte ihre Mutter verloren, ihren Ehemann und all die Leute, von denen sie gedacht hatte, sie seien ihre Freunde. Ich musste ihr helfen. Oder ihr zumindest Starthilfe geben.

»Könnte ich mal ganz kurz mit euch zwei Hübschen sprechen?«, knurrte Oma Frida.

»Einen Moment, bitte«, sagte ich zu Rynda und stand auf.

Oma packte mit einer Hand meinen Arm und mit der anderen Moms Handgelenk und zerrte uns den gesamten Flur entlang bis zum Ende, so weit wie möglich von der Küche entfernt.

»Die Kinder?« Ich warf Mom einen Blick zu.

»Deine Schwestern passen gerade auf sie auf. Ein Junge und ein Mädchen.«

»Habt ihr beiden völlig euren Verstand verloren?«, fauchte Oma Frida.

»Sie lügt uns nicht an«, sagte ich. »Ihr Ehemann ist wirklich verschwunden.«

»Ich erwarte das ja von ihr!« Oma Frida deutete mit dem Daumen auf mich, während sie meine Mutter wütend anstarrte. »Aber du solltest es wirklich besser wissen, Penelope.«

»Die Frau ist am Ende ihrer Kräfte«, sagte Mom. »Was glaubst du wohl, was für eine Überwindung es sie gekostet hat, hierherzukommen? Das ist unser Job. Wir helfen Leuten wie ihr.«

»Genau!«, fauchte Oma Frida. »Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Sie ist wunderschön, reich, hilflos und sucht verzweifelt nach jemandem, der sie rettet. Und sie ist Rogans frühere Verlobte. Rogan und Rynda werden auf jeden Fall Zeit miteinander verbringen, wenn Nevada den Fall annimmt.«

Ich starrte sie an.

»Die Kerle liegen ihr zu Füßen.« Oma Frida ballte ihre Hände zu Fäusten. »Sie lieben es, für arme, hilflose Frauen den Helden zu spielen. Ihr Ehemann ist jetzt schon drei Tage verschwunden. Wenn er nicht abgehauen ist, ist er wahrscheinlich tot. Dann muss sie getröstet werden. Sie wird sich nach einer Schulter umsehen, an der sie sich ausweinen kann, einer attraktiv muskulösen Schulter. Muss ich es für dich wirklich erst ausbuchstabieren? Du bist auf dem besten Weg, ihr deinen Freund auf einem Silbertablett zu servieren!«

Rynda war nicht nur wunderschön, sondern auch sehr, sehr hilflos. Ich wollte ihr helfen. Ich wusste, dass auch Rogan ihr helfen wollen würde.

»So ist es aber nicht. Er hat ihre Verlobung aufgelöst.«

Oma Frida schüttelte den Kopf. »Du hast mir gesagt, dass sie sich schon jahrelang kannten, ja, sogar schon als kleine Kinder. Das vergisst man nicht mal eben so. Und das wissen Rogans Leute auch, deswegen haben sie ihr nicht das Geringste gesagt. Nevada, du spielst mit dem Feuer. Lass sie gehen. Lass sich jemand anderen um sie kümmern. Sie ist eine Hochbegabte. Sie ist reich. Sie ist nicht dein Problem, außer, du machst sie dazu.«

Ich sah Mom an.

»Dritte Regel«, sagte sie.

Als Dad und Mom damals die Firma gegründet hatten, gab es für sie nur drei Regeln: Erstens, sobald wir unsere Bezahlung erhalten hatten, konnte uns niemand anders mehr kaufen; zweitens, wir versuchten immer alles, um keine Gesetze zu brechen; und drittens mussten wir am Ende eines jeden Tages in der Lage sein, unserem Spiegelbild ins Auge blicken zu können. Mit Olivias Tod konnte ich leben. Ich hatte zwar ihretwegen Albträume, aber unser Handeln war gerechtfertigt. Doch Rynda jetzt aus dem Haus zu werfen, wo sie doch gerade an unserem Küchentisch saß, brachte ich nicht übers Herz. Wo sonst sollte sie hingehen?

»Wenn Rynda Rogan mit ein paar Tränen dazu bringt, unsere Beziehung zu beenden, dann hat sie ohnehin keine Zukunft.«

Nahezu alles in mir schenkte den Worten Glauben, die ich gerade ausgesprochen hatte, bis auf diese eine kleinliche Stimme, die leise dagegenhielt. Das war schon okay. Ich war auch nur ein Mensch, und ich hatte das Recht, mich ein wenig unsicher zu fühlen. Aber ich würde den Teufel tun, und meine Unsicherheit mein Leben bestimmen lassen.

»Vielen Dank, Oma, aber ich habe das im Griff.«

Oma Frida riss entrüstet die Arme hoch. »Wenn du dir das Herz brechen lässt, komm nicht, um dich bei mir auszuheulen.«

»Doch, das werde ich.« Ich umarmte sie.

»Iiiih …« Sie tat so, als ob sie sich aus meiner Umarmung befreien wollte, und erwiderte sie dann doch.

Ich öffnete die Tür in Richtung Büro und ging den Flur entlang zu meinem Schreibtisch und dem Laptop, der dort auf mich wartete.

»Das ist James’ Schuld«, sagte Oma Frida in bedauerndem Tonfall hinter mir. »Ich hatte praktisch veranlagte Enkelkinder, und er hat sie mit seinem Altruismus versaut.«

Mom reagierte nicht auf diese Aussage. Dad war schon seit sieben Jahren tot, aber selbst seinen Namen zu hören tat ihr immer noch weh. Mir auch.

Ich schnappte mir den Laptop, einen Notizblock und eine Klientenmappe, nur für den Fall. Dann kehrte ich in die Küche zurück, setzte mich an den Tisch und klappte den Laptop auf. Ein paar Tastenanschläge später wusste ich, dass Bern zu Hause und online war.

Ich sandte ihm schnell eine E-Mail.

Bitte schick mir so schnell wie möglich alles Wissenswerte über Brian Sherwood.

Ich schob den Laptop zur Seite und wechselte zu Notizblock und Stift. In der Regel hatten Leute mit Notizen, die man auf Papier niederschrieb, weniger Probleme als mit einem Laptop oder gar einer Videoaufnahme. Und Rynda musste sich entspannen, sie war ohnehin schon aufgeregt.

»Lassen Sie uns von vorne anfangen.«

»Sie mögen mich nicht«, sagte Rynda. »Ich habe es gespürt, als wir uns das erste Mal in diesem Ballsaal gesehen haben. Sie waren auf mich eifersüchtig.«

»Ja.« Tja, ich hatte mir eine Empathin als Kundin ausgesucht, und das war nun der Dank.

»Und als Sie eben hereinkamen und mich erkannten, verspürten Sie Angst und Mitgefühl.«

»Ja.«

»Aber Sie helfen mir trotzdem. Warum? Es ist kein Schuldgefühl. Schuldgefühle sind wie ein Sturz in einen finsteren Brunnen. Das hätte ich gespürt.«

»Erklären Sie es mir doch!«

Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Magie huschte wie eine federleichte Berührung über meinen Körper. »Mitgefühl«, sagte sie leise. »Und Pflichtgefühl. Warum fühlen Sie sich mir gegenüber verpflichtet?«

»Haben Sie jemals gearbeitet?«

Sie runzelte die Stirn. »Nein. Wir brauchen das zusätzliche Geld nicht.«

Wie angenehm! »Haben Sie irgendwelche Hobbys? Eine Leidenschaft?«

»Ich … fertige Skulpturen an.«

»Verkaufen Sie sie?«

»Nein. Sie sind nichts Besonderes. Ich habe sie noch nie in einer Ausstellung gezeigt.«

»Warum fertigen Sie sie dann weiter an?«

Sie blinzelte. »Die Arbeit macht mich glücklich.«

»Sehen Sie, und Privatdetektivin zu sein macht mich glücklich. Ich tue es nicht nur fürs Geld. Ich tue es, weil ich manchmal die Gelegenheit habe, anderen Menschen unter die Arme zu greifen. Und im Augenblick brauchen Sie meine Hilfe.«

Ein kurzer Signalton ertönte. In meiner Inbox tauchte eine neue E-Mail von Bern auf.

Brian Sherwood, 32, zweiter Sohn des Hauses Sherwood, Hochbegabter, Herbamagos. Haupteinnahmequelle: Sherwood BioCore. Geschätztes Privatvermögen: 30 Millionen Dollar. Ehefrau: Rynda (Charles), 29. Kinder: Jessica, 6, und Kyle, 4. Geschwister: Edward Sherwood, 38, Angela Sherwood, 23.

Brian Sherwood war ein Pflanzenmagier. Rynda war eine Empathin mit einer sekundären telekinetischen Begabung. Das passte nicht zusammen. Hochbegabte heirateten normalerweise nur Partner mit ähnlichen magischen Begabungen. Wie Rogan mir einmal in aller Deutlichkeit und mit dem ihm üblichen Fatalismus erklärt hatte, war das Bewahren und Verstärken magischer Fähigkeiten der Hauptgrund für die meisten Heiratspläne.

Ich erwiderte ihren Blick. »Ich weiß noch nicht, ob ich Ihre erste Wahl sein sollte. Es ist durchaus möglich, dass eine andere Agentur besser für Sie wäre. Aber bevor wir darüber sprechen, erzählen Sie mir bitte, wie Ihr Donnerstag ausgesehen hat. Sie sind aufgewacht. Was ist dann passiert?«

Sie konzentrierte sich. »Ich bin aufgestanden. Brian war bereits wach. Er hatte geduscht. Ich habe uns Frühstück gemacht und danach für ihn und die Kinder das Mittagessen vorbereitet.«

»Machen Sie ihnen jeden Tag das Mittagessen?«

»Ja. Ich tue das gerne.«

Brian Sherwood, der dreißig Millionen Dollar sein Eigen nannte, nahm jeden Tag ein Essenspaket seiner Frau mit zur Arbeit. Hat er es gegessen oder in den Müll geworfen? Das war die Frage.

»Brian gab mir einen Kuss und sagte mir, er würde wie immer zur selben Zeit nach Hause kommen.«

»Um wie viel Uhr ist das?«

»Um sechs. Ich meinte noch zu ihm, es gebe Steak zum Abendessen. Er fragte mich, ob auch Fritten im Spiel seien.«

Sie unterdrückte ein Schluchzen.

»Wer hat Jessica zur Schule gebracht?«

Sie sah mich überrascht an. »Woher kennen Sie ihren Namen?«

»Mein Cousin hat alle öffentlich verfügbaren Informationen angefordert.« Ich drehte den Laptop um und zeigte ihn ihr.

Sie blinzelte. »Mein gesamtes Leben in einem Absatz.«

»Erzählen Sie weiter«, sagte ich zu ihr. »Wie ist Jessica zur Schule gekommen?«

»Brian hat sie dorthin gebracht. Ich bin mit Kyle spazieren gegangen.«

Lüge.

»Ich habe Brian um die Mittagszeit angerufen. Er hat den Anruf entgegengenommen.«

Die Wahrheit.

»Worüber haben Sie gesprochen?«

»Nichts Ernstes.«

Lüge.

»Ich bin nicht Ihr Feind. Es würde mir helfen, wenn Sie ehrlich zu mir wären. Versuchen wir es noch einmal. Wo sind Sie und Kyle hingegangen, und worüber haben Sie am Telefon gesprochen?«

Ihr Mund verwandelte sich in einen geraden, dünnen Strich.

»Alles, was Sie mir hier erzählen, ist vertraulich. Allerdings nicht so vertraulich wie ein Gespräch mit Ihrem Anwalt. Das bedeutet, dass ich vor Gericht verpflichtet wäre, den Inhalt unseres Gesprächs offenzulegen. Aber abgesehen davon wird es niemand erfahren.«

Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen, dachte ausführlich nach und atmete tief durch. »Kyles Magie hat sich doch noch gezeigt. Bei mir wusste man es bereits mit zwei, bei Brian mit vier Monaten. Bei Jessica kam es nach dreizehn Monaten. Kyle ist fast fünf. Er ist spät dran. Wir gehen mit ihm zu einem Spezialisten. Nach jeder Sitzung rufe ich Bryan an, denn er möchte wissen, wie sich Kyle geschlagen hat.«

Ein Kind ohne magische Begabung wäre für einen Hochbegabten eine Katastrophe. Mit einem Mal hörte ich Rogans Stimme in meinem Kopf. Du glaubst noch, dass dir das nichts bedeutet, aber das wird es. Denk an deine Kinder, denen du erklären musst, warum ihre Talente unterdurchschnittlich sind – du warst nicht willens, den genetisch passenden Partner zu wählen.

»Sie haben sich ganz plötzlich Sorgen gemacht. Warum? Lag es an dem, was ich gesagt habe? Ist der Spezialist von Bedeutung?«

»Das weiß ich noch nicht.« Sie würde eine wirklich schwere Klientin sein. Sie bemerkte jede noch so kleine emotionale Änderung. »Hat Kyles Talent sich gezeigt?«

»Nein.«

»Was ist dann passiert?«

Sie seufzte, und wir gingen gemeinsam ihren Tag durch. Sie holte Jessica ab, gab den Kindern eine Kleinigkeit zu essen, und anschließend lasen sie und sahen sich ein paar Cartoons an. Dann bereitete sie das Abendessen vor, doch Brian tauchte nicht auf. In den nächsten beiden Stunden rief sie ihn mehrfach auf seinem Handy an und schließlich seinen Bruder. Edward Sherwood war noch auf der Arbeit. Er hatte zufälligerweise aus dem Fenster gesehen, als Brian zum üblichen Zeitpunkt das Gebäude verließ, und erinnerte sich noch, wie er in seinen Wagen eingestiegen ist. Nur um sicher zu sein, ging Edward hinüber in Brians Büro und bestätigte, dass es leer sei. Er rief auch unten am Empfang an, und der Wachmann bestätigte, dass sich Brian abgemeldet und das Gebäude um Viertel vor Sechs verlassen hatte. Er war nicht zurückgekehrt.

»Wie weit ist ihr Haus von Sherwoods BioCore entfernt?«

»Die Fahrt dauert zehn Minuten. Wir wohnen in Hunters Creek Village. BioCore befindet sich am Post Oak Circle, in der Nähe des Houstonian Hotel. Das sind knapp sechs Kilometer über den Memorial Drive. Selbst bei dichtem Verkehr braucht er in der Regel nur fünfzehn Minuten.«

»Hat Edward erwähnt, ob Brian einen Zwischenhalt einplante?«

»Das wusste er nicht. Er sagte auch, dass er nichts von irgendwelchen Sitzungen an diesem Nachmittag wusste.«

»Hörte er sich besorgt an?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er meinte, dass er sicher sei, dass Brian schon kommen würde. Aber ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Ich wusste es einfach.«

Was immer auch Leute taten, wenn geliebte Menschen verschwunden waren, tat sie auch: Sie rief in Krankenhäusern und bei der Polizei an, fuhr die Strecke ab, weil sein Wagen vielleicht liegen geblieben war, redete mit seinen Kollegen, telefonierte mit anderen Familienmitgliedern, um zu fragen, ob sie etwas von ihm gehört hätten.

»Er ist nicht nach Hause gekommen«, flüsterte sie resigniert. »Am Morgen rief ich Edward an. Er sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Er meinte, dass Brian in letzter Zeit angespannt gewesen schien und dass er schon wieder auftauchen würde. Ich teilte ihm mit, dass ich eine Vermisstenanzeige aufgeben würde. Daraufhin meinte er, dass das seiner Meinung nach nicht nötig wäre, aber wenn ich mich dann besser fühlen würde, sollte ich es tun.«

»Wie wirkte er auf Sie?«

»Er schien sich Sorgen um mich zu machen.«

Interessant. »Um Sie? Nicht um Brian?«

»Um mich und die Kinder.«

»Und Brian hat so etwas noch nie zuvor getan?«

Darauf gab sie mir keine Antwort.

»Rynda?«

»Wenn er gestresst ist, dann verschwindet er manchmal«, sagte sie sanft. »Früher zumindest. Aber er ist seit drei Jahren nicht mehr weg gewesen, und es war auch nie so lang. Sie müssen das verstehen, Brian ist kein Feigling, er braucht nur Stabilität. Er mag es, wenn Ruhe in die Sachen kommt.«

Das erklärte auch, warum es bei seinem Bruder nicht sofort die Alarmglocken läuten ließ, und er alle Mann an Deck beordert hatte. »Können Sie mir dazu mehr sagen? Wann ist er das letzte Mal verschwunden?«

»Das war nach Kyles erster Geburtstagsparty. Edward fragte ihn, ob Kyles Talent sich schon gezeigt habe, und Brian musste das verneinen. Dann mischte sich Joshua ein, Brians Vater, der ein Jahr später starb. Er sagte, dass Brian und ich uns besser ans nächste Kind machen sollten, denn Jessica ist wie ich Empathin, und ein Blindgänger könne unmöglich an der Spitze der Familie stehen.«

Er hat seinen Enkel einen Blindgänger genannt. Pfui!

»Vielen Dank«, sagte Rynda.

»Wofür?«

»Ihre Abscheu. Brian drohte in dem Moment von seinen Ängsten überwältigt zu werden. Ich spürte, dass er nur noch wegwollte. Ich sagte allen daher, dass es schon spät sei und die Kinder sehr müde. Die Familie verabschiedete sich. Brian kam nicht ins Bett. Er stieg in seinen Wagen und fuhr weg. Am nächsten Abend kehrte er zurück. Länger ist er seit unserer Hochzeit nie fortgegangen.«

»Hat er Ihnen gesagt, wo er gewesen ist?«

»Er sagte, er sei einfach gefahren. Irgendwann ist er an einem kleinen Hotel vorbeigekommen und hat dort übernachtet. Er kam nach Hause, weil ihm klar wurde, dass er nirgendwo sonst hinkonnte, und er mich und die Kinder vermisste. Er würde mich niemals verlassen, und als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er ruhig.«

Die Wahrheit.

Ich rieb mir über die Stirn. »Haben Sie dies auch der Polizei mitgeteilt?«

»Ja.«

Und man hatte sie als hysterische Ehefrau abgetan, deren Ehemann abgehauen war, weil der Druck zu groß wurde.

»Haben Sie Zugriff auf Brians Bankkonten?«

»Ja.« Sie blinzelte.

»Können Sie nachschauen, ob es irgendwelche Bewegungen gegeben hat? Hat er in den letzten Tagen seine Karten benutzt?«

Sie schnappte sich ihre Handtasche und durchsuchte sie hektisch. »Warum habe ich daran nicht gedacht …« Sie holte ihr Handy hervor und gab die Daten ein.

Sie wartete auf eine Reaktion. Und wartete.

Dann machte sie ein langes Gesicht. »Nein. Nichts.«

»Rynda, haben Sie Ihren Ehemann umgebracht?«

Sie starrte mich an.

»Sie müssen mir antworten.«

»Nein.«

»Wissen Sie, was ihm zugestoßen ist?«

»Nein!«

»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«

»Nein!«

Jedes Nein war die Wahrheit gewesen.

»Es gibt mehrere Möglichkeiten«, sagte ich. »Erstens, Brian könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein, weil er das Opfer von Streitigkeiten im Haus oder auf seiner Arbeit geworden ist. Zweitens, im Lauf seines Arbeitstages am letzten Donnerstag ist ihm etwas so Traumatisches widerfahren, dass er gezwungen war abzutauchen. Ich kann nach ihrem Ehemann suchen. Alternativ kann ich Ihnen Montgomery International Investigations empfehlen.«

Als Dad krank geworden war, hatten wir unser Unternehmen mit einer Hypothek belastet, die sich im Besitz von MII und damit Augustin Montgomery befand. Unser Verhältnis war nicht unbedingt das Beste, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass MII für ihren Fall die beste Lösung war.

»Es ist eine hervorragende Agentur, und sie sind bestens ausgestattet, um solche Fälle zu lösen. Sie können Sie sich leisten. Es sollte Ihnen klar sein, dass unser Unternehmen nur über einen Bruchteil von MIIs Möglichkeiten verfügt.«

Rynda saß schweigend da.

Jemand flitzte auf sehr kleinen Füßen den Flur entlang.

»Mom!« Ein kleiner Junge kam mit einem Blatt Papier in die Küche gerannt. Er hatte dunkle Haare und Ryndas silberne Augen. Sie breitete die Arme aus, und er rannte mit dem Blatt in ihre Umarmung. »Ich habe einen Panzer gezeichnet! Sie haben einen Panzer in ihrer Werkstatt!«

Catalina betrat die Küche. Sie hatte dunkle Haare, eine schlanke Gestalt und lächelte sanft. »Kyle wollte es Ihnen unbedingt zeigen.«

»Das ist aber ein furchteinflößender Panzer«, sagte Rynda.

»Komm!« Meine Schwester streckte ihre Hand aus. »Ich zeig dir noch andere coole Sachen.«

Kyle legte das Blatt vor seiner Mutter hin. »Das ist ein Geschenk für dich. Ich male noch einen für Dad!« Er rannte wieder zurück. Catalina seufzte und jagte ihm hinterher.

Rynda sah ihm mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck nach.

»Ich habe bereits mit MII gesprochen.« Sie schluckte schwer, und ich bemerkte in ihren Augen kurz den Ausdruck gnadenloser Logik, für den ihre Mutter so gefürchtet gewesen war. »Montgomery hat mich abgelehnt.«

Augustin Montgomery hatte sich entschlossen, sich in diese Angelegenheit nicht einzumischen. Interessant. Ich war wirklich ihre letzte Hoffnung.

»Nun gut«, sagte ich. »Ich werde nach Brian suchen.«

Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Dann platzte es plötzlich aus ihr heraus. »Ich will einen Vertrag.«

»Okay.«

»Ich möchte nicht, dass dies als Akt der Barmherzigkeit verstanden wird. Ich will Sie bezahlen.«

»Das ist für mich in Ordnung.«

»Ich möchte alles klar und professionell ausformuliert haben.«

»Das sehe ich genauso.«

»Und unsere Beziehung ist die einer Klientin zu ihrem Dienstanbieter.«

»Einverstanden«, sagte ich.

Eine Tür flog auf. Ein Gewittersturm brodelte hinter mir, bewegte sich durch unser Haus, voller Kraft und Magie. Rogan.

Er tauchte in der Tür zur Küche auf, groß gewachsen, mit breiten Schultern und blauen Augen. Seine Magie umhüllte ihn wie ein wild gewordenes Haustier, stets bereit, nach allem in seiner Nähe zu schnappen. Wenn ich ihn nicht gekannt hätte, wäre ich einige Schritte zurückgewichen und hätte meine Waffe gezogen.

»Connor!« Rynda sprang von ihrem Stuhl auf, rannte auf ihn zu und umarmte ihn.

Rasende Eifersucht durchbohrte mein Herz wie ein Pfeil aus Eis. Er gehörte mir.

Rogan legte zärtlich seine Arme um sie und sah mich mit seinen blauen Augen an. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Nein.« Rynda unterdrückte ein Schluchzen. »Brian ist verschwunden.«

Er sah mich immer noch an. Ich nickte. Ja. Mir geht’s gut.

Rynda ließ ihn wieder los. »Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Ich …«

»Ich kümmere mich drum«, sagte ich zu Rogan.

»Es gibt niemand Besseres als Nevada«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Ich warf einen Blick auf meinen Laptop: 17.47 Uhr. »Rynda, ich habe einigen Papierkram, den Sie unterzeichnen müssen. Ich kann heute schon einiges erledigen, aber morgen gehe ich dann zu BioCore und werde dort nachforschen. Es würde mir die Arbeit erleichtern, wenn Sie dort anrufen und die Familie darauf vorbereiten, dass ich vorbeischauen werde.«

»Ich werde Sie begleiten«, sagte sie.

»Es wäre am besten, wenn ich allein gehe«, sagte ich. »Es gibt unter Umständen Dinge, die die Leute in Ihrer Anwesenheit nicht aussprechen wollen. Wenn ich Zugang zur Familie Sherwood oder anderen gesperrten Bereichen benötige, werde ich Sie auf jeden Fall bitten, mich zu begleiten.«

»Was tue ich denn jetzt?« Sie sah Rogan an, nicht mich.

»Unterschreibe den Papierkram und geh heim. Brian könnte zu Hause anrufen oder wieder auftauchen«, sagte Rogan. »Du bist nicht allein, Rynda. Nevada wird dir helfen. Ich werde dir helfen.«

»Ich hasse dich dafür, dass du meine Mutter getötet hast«, sagte sie mit ergriffener Stimme.

»Ich weiß«, lautete seine Antwort. »Es ließ sich nicht vermeiden.«

»Alles fällt auseinander, Connor. Wie kann das einfach so passieren?«

»So ist nun mal das Leben der Häuser«, sagte er.

Rynda ließ die Schultern hängen. Sie wandte sich mir zu. »Wo muss ich unterschreiben?«

Ich ging mit ihr die Unterlagen durch, die Kosten und jede einzelne Klausel. Sie unterschrieb den Vertrag und verließ die Küche, um ihre Kinder zu holen.

Rogan wartete, bis sie uns nicht mehr sehen konnte, und trat dann nahe an mich heran.

»Sie braucht eine Eskorte für den Heimweg«, sagte ich. »Und jemand muss auf ihr Haus aufpassen.« Wir hatten keine Ahnung, wohin uns unsere Untersuchung führen würde. Zusätzliche Vorsicht zahlte sich immer aus.

»Dann kümmere ich mich darum«, sagte er und küsste mich. Es war ein spontaner Kuss, leidenschaftlich und wild. Er brannte wie Feuer auf meinen Lippen.

Wir lösten uns voneinander, und ich erkannte den Drachen in seinem Blick. Rogan bereitete sich darauf vor, in den Krieg zu ziehen.

»Deine Großmutter ist in der Stadt«, sagte er und drückte mir einen USB-Stick in die Hand. »Du musst dich heute Abend entscheiden.«

Er drehte sich um und ließ mich stehen. Die Erinnerung an seinen Kuss loderte immer noch in mir.

Ich atmete tief durch und steckte den USB-Stick in meinen Laptop.