Karen M. McManus
Aus dem amerikanischen Englisch
von Anja Galić
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Copyright © 2021 by Karen M. McManus, LLC
Published by Arrangement with Karen M. McManus
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
»You’ll Be the Death of Me« bei Delacorte Press,
an imprint of Random House Children’s Books, New York.
© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Anja Galić
Lektorat: Katarina Ganslandt
Umschlaggestaltung: © Suse Kopp, Hamburg,
unter Verwendung mehrerer Motive von Stocks (Cindy Prins, Viktor Solomin,
Raymond Forbes Photography); Getty Images (Oliver Rossi)
he • Herstellung: AJ
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-26265-5
V002
www.cbj-verlag.de
Für Zachary, Shalyn und Aidan
1
IVY
Nichts gegen eine gute Checkliste, aber so langsam habe ich das Gefühl, dass meine Mom es übertreibt.
»Sorry, welche Seite?« Ich blättere die Ausdrucke durch, die vor mir auf unserem Küchentisch liegen, während Mom mir über Skype dabei zuschaut. Die Checkliste trägt die Überschrift Reise Sterling-Shepard anlässlich 20. Hochzeitstag: Anweisungen für Ivy und Daniel, und umfasst elf Blätter. Beidseitig bedruckt. Es ist das erste Mal, dass Mom und Dad ein paar Tage – vier, um genau zu sein – ohne meinen Bruder und mich verreist sind, was meine Mutter mit derselben Gründlichkeit und militärischen Präzision geplant hat, mit der sie alles im Leben organisiert. Die Checkliste und ihre regelmäßigen Skype- und FaceTime-Anrufe haben dafür gesorgt, dass es sich für uns so angefühlt hat, als wären sie nie abgereist.
»Neun«, sagt Mom. Ihre blonden Haare sind wie immer zu einem French Twist hochgesteckt, und ihr Make-up ist makellos, obwohl es in San Francisco erst kurz vor fünf Uhr morgens ist. Ihr Rückflug geht erst in dreieinhalb Stunden, aber eine gute Vorbereitung ist für Mom das A und O. »Gleich nach dem Abschnitt Beleuchtung.«
»Ah, der Abschnitt Beleuchtung.« Mein Bruder Daniel seufzt dramatisch, während er am anderen Ende des Tischs seine Müslischale bis zum Rand mit Lucky Charms füllt. Daniel ist sechzehn, frühstückstechnisch aber immer noch auf dem Stand eines Kleinkinds. »Ich hätte gedacht, dass wir das Licht anmachen, wenn wir es brauchen, und wieder ausmachen, wenn wir es nicht mehr brauchen. Das war offenbar ein Trugschluss. Ein fataler Trugschluss.«
»Ein Haus, in dem Licht brennt, schreckt Einbrecher ab«, sagt Mom, als würden wir nicht in einer Gegend leben, in der das von Jugendlichen praktizierte Fahrradfahren ohne Helm das Äußerste ist, was ich je an einer strafbaren Handlung beobachtet habe.
Normalerweise würde ich jetzt die Augen verdrehen, aber ich halte mich zurück, weil es keinen Sinn hat, mit Mom zu diskutieren. Sie unterrichtet Angewandte Statistik am MIT und kennt alle Zahlen, um ihre Argumente zu untermauern. Also suche ich auf der Checkliste weiter nach dem Punkt mit dem Titel: Carlton Citizen of the Year Award. Der Veranstaltung, bei der Mom heute Abend für ihren Beitrag zu einer Regierungsstudie über den wachsenden Missbrauch von Opioiden in den Randbezirken unserer Städte als Bürgerin des Jahres ausgezeichnet werden soll.
»Hab es gefunden.« Ich überfliege die Seite, um zu prüfen, ob ich irgendeine der dort aufgelisteten Aufgaben vergessen habe. »Dein Kleid hab ich gestern aus der Reinigung geholt, es kann nichts mehr schiefgehen.«
»Genau darüber wollte ich mit dir sprechen«, sagt Mom. »Unser Flug landet planmäßig um siebzehn Uhr dreißig. Die Verleihung fängt um neunzehn Uhr an, theoretisch bleibt uns also noch genügend Zeit, um nach Hause zu fahren und uns umzuziehen. Aber mir ist gerade klar geworden, dass wir nie darüber gesprochen haben, wie wir es machen, falls unser Flug Verspätung hat und wir direkt vom Flughafen zur Mackenzie Hall fahren müssen.«
»Ähm.« Ich erwidere den eindringlichen Blick, mit dem sie mich auf meinem Laptop-Bildschirm anschaut. »Könntest du mir nicht einfach eine Nachricht schicken, falls ihr später ankommen solltet?«
»Doch, klar. Aber für den Fall, dass das WLAN im Flugzeug nicht funktioniert, solltest du sicherheitshalber immer mal wieder die Ankunftszeiten auf der Webseite des Flughafens checken«, sagt Mom. »Die Verbindung auf dem Hinflug war eine Katastrophe. Falls du also absehen kannst, dass wir nicht vor sechs landen, müsstest du zum Flughafen kommen und mir mein Kleid bringen. Schuhe und Schmuck natürlich auch. Hast du einen Stift parat? Dann sage ich dir, was ich brauche.«
Daniel schüttet sich noch mehr Lucky Charms in seine Müslischale, während ich hektisch mitschreibe und versuche, die wie üblich leise vor sich hin brodelnde Feindseligkeit gegenüber meinem Bruder zu unterdrücken. Ich frage mich schon mein halbes Leben lang, warum ich mir bei allem immer doppelt so viel Mühe geben muss wie Daniel, wobei ich zugeben muss, dass ich es in diesem speziellen Fall nicht anders gewollt habe. Bevor meine Eltern zu ihrer Reise aufgebrochen sind, habe ich darauf bestanden, mich allein um alles zu kümmern, was mit der Preisverleihung zu tun hat – hauptsächlich, weil ich Angst hatte, meine Mutter könnte zu dem Schluss kommen, dass es ein Fehler war, mich und nicht Daniel darum gebeten zu haben, bei dem Festakt eine kleine Rede auf sie zu halten. Naturgemäß hätte die Wahl auf meinen Bruder fallen müssen – das Wunderkind, das eine Klasse übersprungen hat und mich zurzeit in allen Aspekten unseres Abschlussjahrs in den Schatten stellt.
Ein Teil von mir wird den Gedanken nicht los, dass Mom ihre Entscheidung bereut. Vor allem seit gestern, als meine einmalige Chance, in die Schulgeschichte einzugehen, brutal zerstört wurde.
Bei dem Gedanken daran zieht sich mein Magen zusammen. Ich werfe den Stift auf den Tisch und schiebe meine leere Müslischale weg, was Moms Argusaugen natürlich sofort registrieren. »Tut mir leid, Ivy. Ich halte dich bestimmt vom Frühstücken ab.«
»Kein Problem. Ich hab sowieso keinen Hunger.«
»Aber du musst was essen«, drängt sie. »Einen Toast. Oder wenigstens ein bisschen Obst.«
Allein bei der Vorstellung schnürt sich mein Magen noch mehr zusammen. »Ich kann nicht.«
Mom legt besorgt die Stirn in Falten. »Du wirst doch hoffentlich nicht krank?«
Bevor ich etwas sagen kann, hustet Daniel und röchelt leise »Boney«. Ich erdolche ihn mit Blicken und sehe dann schnell wieder zum Bildschirm, in der Hoffnung, dass Mom die Anspielung nicht mitgekriegt hat.
Vergeblich.
»Ach, Schatz.« Ihr Gesicht bekommt einen mitfühlenden Ausdruck, in den sich ein Hauch Verzweiflung mischt. »Dir liegt das mit der Wahl doch nicht immer noch im Magen, oder?«
»Mir? Nein, Quatsch«, lüge ich.
Dabei ist es genau das. Die Katastrophe von gestern. Die Wahl, in der ich, Ivy Sterling-Shepard, dreimalige Jahrgangssprecherin in Folge, in der Abschlussstufe gegen Brian »Boney« Mahoney verloren habe. Der nur aus Scheiß kandidiert hat. Mit dem Slogan: »Wer für Boney votiert, dem wird Chillen garantiert.«
Ja, okay. Er ist ganz eingängig. Aber jetzt ist Boney Jahrgangssprecher und wird getreu seines Wahlspruchs keinen Finger rühren, während ich alle möglichen Pläne in der Tasche hatte, um den Schüleralltag auf der Carlton High zu verbessern. Ich hatte mit einer Farm aus der Umgebung an einem Konzept gearbeitet, um unsere Salatbar mit lokalen Bioprodukten zu versorgen, und mit einem der Vertrauenslehrer über ein Mediationsprogramm nachgedacht, um Konflikte zwischen Schülern zu lösen. Ach ja, und dann war da noch die Idee, eine Ressourcen-Sharing-Partnerschaft mit der Carlton Library einzugehen, wodurch unsere Schulbibliothek eBooks und Hörbücher in ihr Angebot hätte aufnehmen können. Ich wollte sogar eine Blutspende-Aktion des Abschlussjahrgangs für das Carlton Hospital organisieren, obwohl ich schon in Ohnmacht falle, wenn ich eine Spritze bloß sehe.
Aber das alles hat letztlich niemanden interessiert. Und deshalb wird Boney heute um Punkt zehn Uhr vor der versammelten Oberstufe seine Siegerrede zur gewonnenen Wahl als Jahrgangssprecher halten. Nimmt man unsere Rededuelle als Grundlage, wird er dabei ständig den Faden verlieren und sich mit Furzwitzen über peinliche Pausen hinwegretten.
Ich habe versucht, mir nichts anmerken zu lassen, aber es tut verdammt weh. Die Schülermitverwaltung ist genau mein Ding gewesen. Das einzige Gebiet, auf dem ich je besser als Daniel war. Okay, vielleicht nicht unbedingt besser, schließlich hatte er nie Interesse, für irgendein Amt zu kandidieren, aber es war etwas, das ganz allein mir gehört hat.
Mom sieht mich mit ihrem »liebevoll-strengen«-Blick an. Er gehört zu ihren wirkungsvollsten erzieherischen Instrumenten und kommt gleich nach dem »Was fällt dir ein, in diesem Ton mit mir zu reden?«-Blick. »Schatz, ich weiß, wie enttäuscht du bist. Aber du darfst der Geschichte nicht zu viel Raum geben, sonst machst du dich nur selbst krank.«
»Wer ist krank?«, dröhnt von irgendwo aus dem Hotelzimmer die Stimme meines Vaters. Eine Sekunde später taucht er in reisetauglicher Freizeitkleidung aus dem Bad auf und rubbelt sich mit einem Handtuch seine grau melierten Haare trocken. »Hoffentlich nicht du, Samantha. Wir haben einen sechsstündigen Flug vor uns.«
»Mit mir ist alles in bester Ordnung, James. Ich spreche gerade mit …«
Dad kommt zu dem Schreibtisch, an dem Mom sitzt. »Ist was mit Daniel? Daniel, hast du dir im Club eine Lebensmittelvergiftung geholt? Ich habe gehört, dass am Wochenende ein paar Gäste nach ihrem Besuch dort davon betroffen waren.«
»Ich weiß. Aber ich esse dort nie was«, sagt Daniel. Dad hat meinem Bruder vor Kurzem einen Job in einem neu eröffneten Country Club im Nachbarort besorgt, an dessen Entstehung er beruflich beteiligt war, und obwohl Daniel nur Hilfskraft ist, verdient er sich mit dem Trinkgeld ein kleines Vermögen. Selbst wenn er verdorbene Meeresfrüchte gegessen hätte, hätte er sich wahrscheinlich trotzdem zu seiner nächsten Schicht geschleppt, nur um seine Sammlung völlig überteuerter Designer-Sneakers weiter vergrößern zu können.
Wie es mir geht, interessiert im Sterling-Shepard-Haushalt zunächst wie immer niemanden. Es würde mich nicht wundern, wenn mein Vater sich erst noch nach dem Befinden unserer Dackeldame Mila erkundigen würde, bevor er auf mich zu sprechen kommt. »Wir sind alle gesund«, versichere ich ihm, als er, über Moms Schulter gebeugt, kritisch in die Bildschirmkamera schaut. »Aber da wir gerade davon sprechen … Ich würde heute trotzdem gern ein bisschen später in die Schule gehen. Erst gegen elf oder so.«
Dad zieht überrascht die Brauen hoch. Ich habe während meiner gesamten Highschool-Laufbahn noch keinen einzigen Tag im Unterricht gefehlt. Es ist nicht so, als würde ich nie krank werden. Aber wenn man wie ich eine dieser Schülerinnen ist, die hart arbeiten müssen, um zu den Klassenbesten zu gehören, hat man ständig Angst, abgehängt zu werden. Ich habe nur ein einziges Mal freiwillig Unterricht verpasst, als ich mich in der Sechsten mit zwei Jungs aus meiner Klasse, die ich damals noch nicht mal richtig gut kannte, heimlich von einer sterbenslangweiligen Exkursion zur Massachusetts Horticultural Society, einem Institut für Gartenbau, weggeschlichen habe.
Wir saßen im Hörsaal und lauschten einem einschläfernden Vortrag, als Cal O’Shea-Wallace plötzlich begann, sich unauffällig Richtung Ausgang zu schieben, der in der Nähe unsere Plätze lag.
Cal war der einzige Schüler in unserer Klasse, der zwei Väter hatte, und ich hatte mir schon immer heimlich gewünscht, mit ihm befreundet zu sein, weil er witzig war, genau wie ich einen Doppelnamen hatte und meistens bunt gemusterte Hemden trug, die ich irgendwie cool fand. Er guckte zu mir und Mateo Wojcik, der neben mir saß, rüber, und machte uns Zeichen, mitzukommen. Mateo und ich sahen uns kurz an, zuckten mit den Achseln – warum nicht? – und folgten ihm.
Ich dachte, wir würden bloß eine Weile schuldbewusst im Foyer vor dem Hörsaal rumstehen, aber als Mateo die Tür des Eingangsportals aufdrückte und wir in den strahlenden Sonnenschein hinaustraten, zog gerade ein Festzug vorbei, der die frisch gewonnene Meisterschaft der Red Sox feierte. Statt in den Hörsaal zurückzukehren, mischten wir uns in die Menge und verbrachten die darauffolgenden zwei Stunden damit, auf eigene Faust Boston zu erkunden. Wir schafften es sogar rechtzeitig zum Institut zurück, ohne dass unser Verschwinden irgendjemandem aufgefallen wäre. Nach diesem gemeinsamen Erlebnis – Cal sprach vom »Genialsten Tag aller Zeiten« – entstand zwischen uns dreien eine Freundschaft, die sich damals so anfühlte, als würde sie bis in alle Ewigkeit halten.
Sie hat immerhin bis zur achten Klasse gehalten, was in diesem Alter so ziemlich dasselbe wie eine Ewigkeit ist.
»Warum erst um elf?«, reißt Dads Stimme mich in die Gegenwart zurück, und Mom dreht sich auf ihrem Stuhl zu ihm um.
»Morgens findet die Versammlung statt, bei der der frisch gewählte Jahrgangssprecher in sein Amt eingeführt wird«, erklärt sie ihm.
»Ahhh.« Dad seufzt und seine attraktiven Züge nehmen einen mitfühlenden Ausdruck an. »Was da gestern abgelaufen ist, ist eine Schande, Ivy. Aber es spiegelt nicht deinen Wert als Mensch oder dein Können wider. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Witzbold ein Amt ergattert, das er nicht verdient hat, und wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein. In so einem Fall kann man nichts anderes tun, als weiter den Kopf hochzutragen.«
»Sehr richtig.« Mom nickt so energisch, dass ihrem French Twist beinahe eine Haarsträhne entwischt. Aber eben nur beinah. Das würden ihre Haarsträhnen nämlich niemals wagen. »Außerdem ist es sehr gut möglich, dass Brian von dem Amt zurücktritt, wenn sich der Rummel erst mal gelegt hat. Es klingt nicht so, als wäre er für die Arbeit in der Schülermitverwaltung geschaffen. Sobald der Reiz des Neuen nachgelassen hat, wird er das Feld räumen und du kannst seinen Platz übernehmen.«
»Ganz bestimmt«, sagt Dad fröhlich, als wäre es nicht total demütigend, wenn ich nur deswegen wieder Jahrgangssprecherin werden würde, weil Boney Mahoney keine Lust hat, die Drecksarbeit zu machen. »Und vergiss nicht, Ivy: Die Realität ist oft viel weniger schlimm, als man sie sich vorstellt. Ich wette, es wird nachher nicht annähernd so hart werden, wie du jetzt denkst.« Er stützt sich mit einer Hand auf die Lehne von Moms Stuhl, und während sie auf meine Zustimmung warten, lächeln sie so einträchtig, dass man ihr Bild auf meinem Laptopbildschirm mit einem gerahmten Foto verwechseln könnte. Die beiden sind das perfekte Team: Mom cool und analytisch, Dad warmherzig und voller Energie, und beide vollkommen davon überzeugt, dass sie immer recht haben.
Das Problem ist, dass meine Eltern noch nie auf irgendeinem Gebiet versagt haben. Samantha Sterling und James Shepard waren schon ein Power Couple, als sie sich an der Columbia Law School kennengelernt haben, obwohl mein Dad das Studium sechs Monate später hinschmiss, nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass er als Immobilienmakler schneller und mehr Geld verdienen konnte als mit einer Zulassung als Anwalt. Er machte sich hier in seiner Heimatstadt Carlton, einem Vorort von Boston, selbstständig, kaufte zwei heruntergekommene Villen im viktorianischen Stil, sanierte und verkaufte sie und sorgte so dafür, dass sich die Stadt zu einem angesagten Hotspot entwickelte. Jetzt, zwanzig Jahre später, gehört ihm eines dieser konjunktursicheren Immobilienunternehmen, die es immer schaffen, günstig zu kaufen und teuer zu verkaufen.
Kurz: Keiner der beiden versteht, wie es ist, wenn man mal einen Tag lang eine Auszeit braucht. Oder auch nur einen Morgen lang.
Deswegen versuche ich erst gar nicht, gegen ihren geballten Optimismus anzukommen. »Ich weiß«, sage ich und unterdrücke ein Seufzen. »War auch nicht wirklich ernst gemeint.«
»Gut.« Mom nickt zufrieden. »Und hast du schon entschieden, was du heute Abend anziehst?«
»Das Kleid, das Tante Helen mir geschickt hat«, antworte ich und spüre, wie sich meine Laune ein winziges bisschen hebt. Die Schwester meiner Mutter ist zwar schon Ende fünfzig, hat aber einen absolut stilsicheren Geschmack – und ein hohes Einkommen zur freien Verfügung, dank der Liebesromane, von denen sie jährlich Hunderttausende verkauft. Ihr letztes Geschenk war ein Kleid von einem belgischen Designer, von dem ich bis dahin noch nie was gehört hatte. Es ist das schönste Kleidungsstück, das ich je besessen habe, und heute Abend werde ich es zum ersten Mal außerhalb meines Zimmers tragen.
»Und welche Schuhe?«
Ich besitze keine Schuhe, die dem Kleid gerecht werden würden, aber daran ist nichts zu ändern. Vielleicht, wenn Tante Helen ihr nächstes Buch auf den Markt bringt. »Die schwarzen mit dem Absatz.«
»Perfekt.« Mom nickt zufrieden. »Ach so, und wartet auf keinen Fall mit dem Abendessen auf uns, dafür werden wir einfach zu knapp dran sein. Ihr könnt euch ja was von dem Chili auftauen oder …«
»Ich gehe nach dem Lacrosse-Training mit Trevor ins Olive Garden«, unterbricht Daniel sie.
Mom runzelt die Stirn. »Bist du sicher, dass du das zeitlich alles hinkriegst?«
Es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass mein Bruder seine Pläne lieber ändern sollte, aber er ignoriert ihn. »Absolut.«
Bevor Mom protestieren kann, klopft Dad mit den Fingerknöcheln auf die Schreibtischplatte. »Wir sollten Schluss machen, Samantha«, sagt er. »Du musst noch packen.«
»Stimmt.« Mom seufzt. Sie kann es nicht leiden, beim Packen in Stress zu geraten, weshalb ich davon ausgehe, dass unser Gespräch damit beendet ist, aber dann schiebt sie hinterher: »Nur noch eine letzte Sache. Ivy – hast du deine Rede für die Preisverleihung gut vorbereitet? Sitzt der Text?«
»Klar.« Ich habe das ganze Wochenende nichts anderes gemacht. »Die kann ich mittlerweile praktisch auswendig. Gestern hab ich sie dir gemailt, hast du sie nicht bekommen?«
»Doch, doch. Sie ist ganz wundervoll. Ich meinte nur …« Sie wirkt plötzlich unsicher, was bei ihr so gut wie nie vorkommt. »Denk dran, einen Ausdruck davon mitzunehmen, ja? Ich weiß doch, wie du … dass es dich nervös machen kann, wenn du vor vielen Leuten sprichst.«
Mein Magen verkrampft sich wieder. »Ich hab sie schon ausgedruckt und in meinen Rucksack gesteckt.«
»Daniel!«, ruft Dad plötzlich grimmig. »Dreh bitte mal den Laptop um, Ivy. Ich möchte mit deinem Bruder reden.«
»Was? Warum denn?«, fragt Daniel, als ich den Laptop mit brennenden Wangen in seine Richtung drehe. Ich ahne, was jetzt kommt.
»Hör mir gut zu, mein Sohn.« Auch ohne Dad sehen zu können, weiß ich, dass er gerade versucht, sein strenges Gesicht aufzusetzen. Das Gesicht, das nie auch nur ansatzweise einschüchternd wirkt, egal, wie viel Mühe er sich gibt. »Du wirst die Finger von den Notizen deiner Schwester lassen. Denk noch nicht mal dran, irgendeinen Unfug damit anzustellen. Haben wir uns verstanden?«
»Dad, ich würde niemals … Gott.« Daniel lässt sich übertrieben mit den Augen rollend in seinem Stuhl zurückfallen, und ich muss mich schwer beherrschen, ihm nicht meine Müslischale an den Kopf zu knallen. »Können wir uns vielleicht darauf einigen, mit dieser uralten Geschichte endlich abzuschließen? Das sollte ein Gag sein. Ich hätte doch nie gedacht, dass sie den Scheiß tatsächlich vorliest.«
»Ich meine es ernst, Daniel«, sagt Dad. »Das ist ein sehr wichtiger Abend für deine Mutter. Und du hast hoffentlich nicht vergessen, in was für eine unangenehme Situation du deine Schwester damals gebracht hast.«
Wenn sie noch länger darüber reden, übergebe ich mich. »Schon gut, Dad«, mische ich mich ein. »Das Ganze war bloß ein blöder Scherz. Ich bin darüber hinweg.«
»Du klingst nicht, als wärst du darüber hinweg«, stellt Dad korrekterweise fest.
Ich drehe den Laptop wieder zu mir und klebe mir ein Lächeln ins Gesicht. »Doch. Bin ich. Wirklich. Das ist alles Schnee von gestern.«
Mein Vater schaut so skeptisch, als würde er mir kein Wort glauben. Und damit hätte er auch verdammt recht. Klar, verglichen mit der Schmach von gestern ist die Sache, die im letzten Frühjahr passiert ist, tatsächlich Schnee von gestern. Aber ich bin nicht – in keinster Weise, Beziehung oder Hinsicht – darüber hinweg.
Dabei war es noch nicht mal eine besonders wichtige Rede. Ich sollte bei der Frühjahrs-Talentshow der elften Klassen ein paar abschließende Worte sagen und wusste, dass mir sowieso niemand wirklich zuhören würde. Trotzdem hatte ich mir meinen kurzen Text wie immer auf einem Blatt Papier notiert, weil es mich tatsächlich nervös macht, vor vielen Leuten zu sprechen, und ich nichts vergessen wollte.
Erst, als ich vor der versammelten Stufe auf der Bühne stand, habe ich gemerkt, dass Daniel meine Notizen geklaut und durch eine Seite aus Tante Helens letztem Erotik-Roman mit dem Titel Firefighter: Flammendes Begehren ersetzt hatte. Vor lauter Panik hat mein Gehirn auf Autopilot geschaltet und ich habe die Seite allen Ernstes laut vorgelesen. Die anfänglich geschockte Stille wurde von hysterischem Gelächter abgelöst, als den Leuten klar wurde, dass mein Auftritt nicht Teil der Talentshow war. Als ich schließlich zu der Stelle kam, wo die Details der Anatomie des Helden beschrieben wurden, sah eine Lehrerin sich gezwungen, auf die Bühne zu stürzen und mich davon abzuhalten weiterzulesen.
Ich verstehe immer noch nicht, wie das passieren konnte. Wieso mein Sprachzentrum weiter funktioniert hat, obwohl mein Gehirn sich doch komplett abgeschaltet hatte. Aber genau so war es, und es war unfassbar demütigend. Ich bin davon überzeugt, dass das der Moment war, in dem die gesamte Schule anfing, mich für eine Witzfigur zu halten.
Boney Mahoney hat das, was sowieso alle dachten, bloß noch offiziell gemacht.
Dad redet weiter auf meinen Bruder ein, obwohl er ihn nicht mehr sehen kann. »Deine Tante ist eine kreative Naturgewalt, Daniel. Wenn du eines Tages auch nur die Hälfte ihres beruflichen Erfolgs hast, kannst du dich glücklich schätzen.«
»Ich weiß«, murmelt Daniel.
»Apropos. Bevor wir gefahren sind, habe ich gesehen, dass sie uns einen Vorabdruck von Brennende Herzen geschickt hat. Sollte ich heute Abend auch nur ein einziges Wort daraus hören, werde ich …«
»Dad«, unterbreche ich ihn. »Es wird nichts schiefgehen. Heute Abend wird alles perfekt laufen.« Ich zwinge meine Stimme, fest und souverän zu klingen, während ich meine Mutter anschaue. In ihren Augen liegt ein besorgter Ausdruck, der alle meine Niederlagen der letzten Zeit widerzuspiegeln scheint. Ich muss mich wieder auf Kurs bringen und diesen Blick ein für alle Mal aus meinem Kopf verbannen. »Heute Abend wird alles so sein, wie du es verdient hast, Mom. Versprochen.«
2
MATEO
Das Problem mit Powerfrauen ist, dass man erst dann mitbekommt, wie viel sie leisten, wenn sie auf einmal ausfallen.
Ich hab mir immer eingebildet, ich würde zu Hause total viel mithelfen. Jedenfalls mehr als meine Freunde. Aber seit meine Mutter nur noch ungefähr halb so belastbar wie früher ist, muss den Tatsachen ins Auge geschaut werden: Der Mateo von damals hat keinen verdammten Finger gerührt. Ich versuche wirklich, mich nützlich zu machen, aber meistens fällt mir erst dann ein, was ich noch hätte erledigen müssen, wenn es zu spät ist. So wie jetzt. Ich starre in den leeren Kühlschrank und frage mich, wie es sein kann, dass ich während meiner fünfstündigen Schicht im Supermarkt gestern kein einziges Mal auf den Gedanken gekommen bin, für uns einzukaufen.
»Oh, Schatz, tut mir leid, wir haben fast nichts mehr im Haus«, ruft Ma aus dem Wohnzimmer, wo sie gerade ihre Physio-Übungen macht. Sie dreht mir dabei den Rücken zu, kann also trotz unseres offenen Wohn- und Küchenbereichs eigentlich nicht sehen, was ich gerade mache, aber ich bin davon überzeugt, dass sie ein zweites Paar Augen im Hinterkopf hat. »Ich habe es diese Woche nicht geschafft, einkaufen zu gehen. Kannst du dir vielleicht zum Frühstück was in der Schule holen?«
Das Essen in der Carlton-High-Cafeteria ist scheiße, aber sie darauf hinzuweisen, wäre etwas, was der Mateo von früher getan hätte. »Klar, kein Problem«, sagt der neue Mateo und wirft mit knurrendem Magen die Kühlschranktür zu.
»Hier!«, ruft meine Cousine Autumn, die mit einem Rucksack vor sich am Küchentisch sitzt. Als ich mich umdrehe, wirft sie mir einen Energieriegel zu. Ich fange ihn mit einer Hand, reiße das Papier auf und beiße eine Hälfte davon ab.
»Gott segne dich«, nuschle ich mit vollem Mund.
»Für dich immer, Brousin.«
Autumn lebt bei uns, seit sie vor sieben Jahren mit elf ihre Eltern bei einem Autounfall verloren hat. Ma war damals schon alleinerziehend – sie und mein Dad hatten sich gerade scheiden lassen, was ihre aus Puerto Rico stammende Familie schockierte und seine aus Polen stammende Familie völlig ungerührt ließ. Weil Autumn keine Blutsverwandte ist, sondern Dads Nichte, hätte meine Mutter eigentlich ganz unten auf der Liste derjenigen stehen sollen, die infrage gekommen wären, die Verantwortung für eine traumatisierte, elfjährige Waise zu übernehmen, zumal es in Dads Familienzweig etliche verheiratete Paare gibt. Aber Ma war eben schon immer eine totale Macherin.
Und im Gegensatz zu den anderen wollte sie Autumn wirklich bei sich aufnehmen. »Das Mädchen braucht uns, und wir brauchen sie«, hatte sie über mein wütendes Protestgeheul hinweg erklärt, während sie den Raum, der bis dahin mein Spielzimmer war, in zartem Lavendelblau strich. »Wir müssen doch füreinander da sein.«
Am Anfang fand ich es überhaupt nicht cool. Autumn war damals emotional total angeschlagen und ist oft ausgeflippt, was in ihrer Situation natürlich komplett normal war, aber als Zehnjähriger fand ich das trotzdem extrem anstrengend. Man wusste nie, was sie aus der Fassung bringen oder welchen Gegenstand sie diesmal an die Wand werfen würde. Als Ma das erste Mal mit uns beiden einkaufen gegangen ist, sagte eine ahnungslose Kassiererin zu meiner Cousine: »Nein, was für wunderschöne rote Haare du hast! Du siehst deinem Bruder überhaupt nicht ähnlich.« Autumns Gesichtszüge sind sofort eingefroren und ihre Augen begannen feucht zu schimmern.
»Er ist mein Cousin«, hat sie wütend hervorgestoßen. »Ich hab keinen Bruder. Ich hab niemanden.« Dann hat sie die Faust in die Süßigkeiten-Auslage neben der Kasse gerammt und die Kassiererin damit zu Tode erschreckt.
Während ich hektisch Süßkram vom Boden aufgesammelt habe, hat Ma beide Arme um Autumns Schultern gelegt und sie an sich gezogen. Ihre Stimme klang völlig entspannt, als hätte niemand weit und breit eben einen Nervenzusammenbruch gehabt. »Vielleicht hast du ja jetzt einen Bruder und einen Cousin«, hat sie gesagt.
»Einen Brousin«, habe ich gesagt, während ich weiter Schokoriegel in die falschen Fächer zurückstopfte. Und weil Autumn daraufhin eine Art ersticktes Lachen von sich gab, ist dieses Kombiwort aus Bruder und Cousin hängen geblieben.
Meine Cousine wirft mir noch einen Energieriegel zu, nachdem ich den ersten in drei Bissen hinuntergeschlungen habe. »Arbeitest du heute Abend im Supermarkt?«, fragt sie.
Ich beiße ein großes Stück von dem zweiten Riegel ab, bevor ich antworte. »Nein, im Garrett’s.« Mein Lieblingsjob; eine einfache Kellerkneipe, in der ich Tische abräume. »Und du? Kellnern?«
»Ich bin mit der Killerkiste unterwegs«, antwortet Autumn. In einem ihrer Jobs fährt sie für Sorrento’s Messerschleiferei in einem zerbeulten weißen Transporter, auf dessen Seite ein gigantisches Messer prangt, Restaurants im Großraum Boston ab. Der Spitzname für den Wagen war sozusagen ein Selbstläufer.
»Weißt du schon, wie du zu Sorrento’s kommst?«, frage ich. Wir haben bloß einen Wagen, weshalb die Frage, wer wie wohin kommt, bei uns zu Hause sorgfältig ausgeklügelt werden muss.
»Gabe holt mich ab. Er kann dich an der Schule absetzen, wenn du willst.«
»Nein, danke.« Ich spare mir die Mühe, meine Grimasse zu verbergen. Autumn weiß, dass ich ihren Freund nicht ausstehen kann. Die beiden sind kurz vor ihrem Highschool-Abschluss letztes Frühjahr zusammengekommen, und ich war mir sicher, dass es keine Woche halten würde. Vielleicht war das auch Wunschdenken. Ich bin noch nie ein großer Fan von Gabe gewesen, aber seit ich das erste Mal mitbekommen habe, wie er sich am Handy mit »Dígame« gemeldet hat, habe ich eine – um es mit Autumns Worten auszudrücken –, »irrationale Abneigung« gegen ihn entwickelt. Er meldet sich immer noch so, ständig.
»Was regst du dich überhaupt darüber auf?«, fragt sie jedes Mal, wenn ich mich darüber aufrege. »Ist doch egal, wenn er das lieber sagt als Hallo. Hör auf, bei anderen nach Fehlern zu suchen, nur damit du sie hassen kannst.«
»Dadurch entlarvt er sich einfach als Poser«, sage ich dann immer. »Ich meine, der Typ spricht noch nicht mal Spanisch.«
Gabe und meine Cousine passen nur dann zusammen, wenn man an die »Gegensätze ziehen sich an«-Theorie glaubt: Autumn macht sich immer viel zu viele Gedanken um alles, Gabe ist alles scheißegal. Früher hat er die Party Crowd auf der Carlton High angeführt, jetzt nimmt er ein »Brückenjahr«. Was in seinem Fall bedeutet, dass er weiter so lebt, als würde er noch auf die Highschool gehen, wäre aber von den Hausaufgaben befreit. Obwohl er keinen Job hat, hat er sich einen neuen Camaro zugelegt, dessen Motor er jedes Mal, wenn er Autumn abholt, wie einen paarungsbereiten Hirsch in unserer Einfahrt röhren lässt.
Jetzt verschränkt meine Cousine die Arme vor der Brust und sieht mich mit schräg gelegtem Kopf an. »Schön. Wenn du die anderthalb Kilometer aus reiner Gehässigkeit und Sturheit lieber zu Fuß gehen willst – bitte, tu dir keinen Zwang an.«
»Tu ich auch nicht«, brumme ich, bevor ich mir das letzte Stück des Energieriegels in den Mund schiebe und das Papier in den Müll werfe. Vielleicht bin ich bloß neidisch auf Gabe. In letzter Zeit reagiere ich auf jeden gereizt, der mehr hat, als er braucht, und nicht dafür arbeiten muss. Ich habe zwei Jobs, und Autumn, die im Frühjahr ihren Abschluss auf der Carlton High gemacht hat, hat sogar drei. Und trotzdem reicht es nicht. Nicht, seit das Schicksal bei uns gleich zweimal zugeschlagen hat.
Ma kommt in den Küchenbereich. Sie geht langsam und bedächtig, um nicht zu humpeln. Schicksalsschlag Nummer eins: Im Juni wurde bei ihr eine akute Arthrose festgestellt, eine Scheißkrankheit, die die Gelenke steif werden lässt und die man in ihrem Alter noch gar nicht haben dürfte. Sie macht regelmäßig Physiotherapie, kann sich aber nur ohne Schmerzen bewegen, wenn sie entzündungshemmende Medikamente nimmt.
»Wie fühlst du dich heute, Tante Elena?«, fragt Autumn in aufgesetzt heiterem Tonfall.
»Großartig!«, antwortet Ma und schafft es sogar, ihre Stimme noch heiterer als die von Autumn klingen zu lassen. Meine Cousine hatte in ihr die beste Lehrmeisterin. Ich presse die Lippen aufeinander und schaue woandershin, weil ich nicht so gut schauspielern kann wie die beiden. Jeden einzelnen Tag fühlt es sich aufs Neue an, als würde mir jemand einen Baseballschläger über den Kopf ziehen, wenn ich sehe, wie meine Mutter, die früher jedes Wochenende fünf Kilometer gelaufen ist und Softball gespielt hat, es nur mit Mühe aus dem Wohnbereich in die Küche schafft.
Nicht dass ich noch daran glauben würde, dass es im Leben fair zugeht. Dieser Zahn ist mir vor sieben Jahren gezogen worden, als ein Autofahrer betrunken in den Wagen von Autumns Eltern gerast ist und die beiden sofort tot waren, während er keinen einzigen Kratzer davongetragen hat. Ich weiß, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Trotzdem ist es zum Kotzen.
Ma hat mittlerweile die Kücheninsel erreicht und lehnt sich dagegen. »Hast du daran gedacht, mein Rezept in der Apotheke abzuholen?«, fragt sie Autumn.
»Hab ich. Moment …« Autumn kramt in ihrem Rucksack und zieht eine kleine weiße Tüte heraus, die sie meiner Mutter reicht. Sie lässt den Blick kurz zu mir wandern, bevor sie ihn wieder senkt und noch etwas anderes aus dem Rucksack holt. »Und hier ist der Rest des Geldes.«
»Der Rest?« Mas Brauen schießen nach oben, als sie den dicken Stapel Zwanziger in Autumns Hand sieht. Die Tabletten kosten ein Vermögen. »Ich hab nicht damit gerechnet, dass ich noch Geld zurückkriege. Wie viel ist das denn?«
»Vierhundertacht Dollar«, antwortet Autumn achselzuckend.
»Aber wie …« Ma schüttelt verwirrt den Kopf. »Hast du meine Kreditkarte benutzt?«
»Nein. Die Zuzahlung hat diesmal nur zwanzig gekostet.« Da Ma immer noch keine Anstalten macht, das Geld zu nehmen, steht Autumn auf und legt die Scheine vor sie auf die Kücheninsel. Dann setzt sie sich wieder, greift nach einem Haargummi, das auf dem Tisch liegt, und bindet sich seelenruhig die Haare zu einem Pferdeschwanz. »Der Apotheker hat mir erklärt, dass es ein Generikum ist, das gerade erst auf den Markt gekommen und viel billiger ist.«
»Ein Generikum?«, wiederholt Ma. Ich hefte den Blick auf den Boden, weil ich sie jetzt auf keinen Fall anschauen kann.
»Genau. Aber keine Sorge, er hat mir versichert, dass der Inhaltsstoff genau derselbe ist.«
Autumn ist eine verflucht gute Schauspielerin, aber ich bleibe trotzdem auf der Hut, weil Ma auf zehn Kilometer Entfernung riechen kann, wenn ihr jemand Bullshit erzählt. Dass sie nur überrascht blinzelt und dann erleichtert lächelt, beweist, wie hart die letzten Monate gewesen sind.
»Das ist die beste Neuigkeit seit Langem.« Sie greift in die Tüte, holt ein braunes Tablettenfläschchen heraus, schraubt den Deckel ab und späht hinein, als könnte sie nicht glauben, dass es wirklich dasselbe Medikament ist. Anscheinend kommt sie zu dem Schluss, dass alles seine Ordnung hat, weil sie einen Moment später zum Küchenschrank neben dem Kühlschrank geht, ein Glas rausholt und es mit Leitungswasser füllt.
Autumn und ich verfolgen mit Adleraugen, wie sie die Tablette schluckt. Weil wir finanziell gerade ziemlich in der Scheiße stecken, hat sie wochenlang immer wieder eine Tagesdosis ausgelassen, damit die Tabletten länger reichen.
Womit wir bei Schicksalsschlag Nummer zwei wären: Meine Mutter hat bis vor Kurzem eine Bowlinghalle gehabt. Das »Spare Me« war hier in Carlton eine Institution. Ma, Autumn und ich haben uns die Arbeit dort geteilt und den Job geliebt. Vor sechs Monaten ist ein Junge auf einer zu stark gebohnerten Bahn ausgerutscht und hat sich verletzt, worauf seine Eltern uns verklagt haben. Als sich der Staub wieder gelegt hatte, war das »Spare Me« bankrott und meine Mutter musste die Anlage so schnell wie möglich verkaufen. James Shepard, Carltons Top-Immobilienunternehmer, hat sie praktisch für umsonst bekommen.
Ich sollte deswegen nicht wütend sein. Das ist eine rein geschäftliche Angelegenheit, nichts Persönliches, sagt Ma immer wieder zu mir. Ich bin froh, dass James der Käufer war. Er wird etwas Gutes daraus machen. Und das wird er wahrscheinlich wirklich. Er hat Ma Pläne für einen Entertainment-Komplex mit Bowlingbahn gezeigt – um einiges schicker als das »Spare Me«, aber auch nicht bescheuert übertrieben für eine Kleinstadt – und sie gebeten, ihn zu beraten, wenn es auf die Fertigstellung zugeht. Am Ende könnte sogar ein entspannter Job für sie dabei rausspringen. Irgendwann ganz am Ende.
Aber die Sache ist die: James Shepards Tochter Ivy und ich waren mal befreundet. Und auch wenn das schon eine Weile her ist, hat es mich ehrlich gesagt ganz schön enttäuscht, dass es ihr Vater war, der uns von seinen Plänen erzählt hat, und nicht sie. Sie wird als eine der Ersten davon gewusst haben, hat es aber anscheinend nicht für nötig gehalten, mich vorzuwarnen.
Keine Ahnung, warum mich das so beschäftigt. Schließlich hätte es nichts geändert. Außerdem haben wir sowieso kaum noch was miteinander zu tun. Aber als James Shepard uns mit seinem roségoldenen Laptop und seinen Bauplänen zu Hause besucht hat und uns auf seine verflucht nette und zuvorkommende und respektvolle Art dargelegt hat, wie sein Unternehmen auf den Trümmern des Traums meiner Mutter etwas Neues aufbauen würde, hatte ich nur einen Gedanken: Fuck, Ivy, du hättest mir echt was sagen können.
»Erde. An. Mateo.« Ma steht auf einmal vor mir und schnippt mit den Fingern vor meinem Gesicht herum. Ich habe sie noch nicht mal kommen sehen, muss also völlig in Gedanken versunken gewesen sein. Shit. Sie macht sich immer Sorgen, wenn ich so drauf bin, und sieht mich jetzt so durchdringend an, als würde sie versuchen, in mein Gehirn zu schauen. Manchmal denke ich, sie würde es mir am liebsten aus dem Schädel reißen, wenn sie könnte, um meine Gedanken zu lesen. »Bist du sicher, dass ich dich nicht dazu überreden kann, für einen Tag mit mir in die Bronx zu fahren? Tante Rose würde sich so freuen, dich zu sehen.«
»Ich hab Schule«, erinnere ich sie.
»Ich weiß«, seufzt Ma. »Aber du fehlst nie, und ich hab das Gefühl, dass du mal einen freien Tag gebrauchen könntest.« Sie dreht sich zu Autumn. »Das gilt für euch beide. Ihr arbeitet so viel.«
Sie hat recht. Ein freier Tag wäre der Hammer – wenn er nicht damit verbunden wäre, mindestens sieben Stunden mit ihrer Collegefreundin Christy in einem Wagen verbringen zu müssen. Christy hat sich als Chauffeurin angeboten, als Ma gesagt hat, dass sie Tante Rose gern zu ihrem neunzigsten Geburtstag besuchen würde, was supernett von ihr ist, weil Ma nicht mehr gut lange Strecken fahren kann. Aber Christy redet wie ein Wasserfall. Und irgendwann dreht sich die Unterhaltung immer nur noch um die verrückten Dinge, die sie und Ma während des Studiums angestellt haben und von denen ich lieber nichts wissen will.
»Ich würde echt gern mitkommen«, lüge ich. »Aber im Garrett’s sind sie heute Abend sowieso schon unterbesetzt.«
»Und ich kann Mr Sorrento nicht hängen lassen«, schiebt Autumn schnell hinterher. Sie ist auch kein Fan von Christys Monologen. »Du weißt ja, wie es ist. Die Messer schleifen sich nicht von selbst. Aber wir rufen Tante Rose auf jeden Fall an und gratulieren ihr.«
Bevor Ma antworten kann, dringt ein vertrautes Röhren an mein Ohr und zerrt an meinen Nerven. Ich steuere auf die Haustür zu und reiße sie auf. Wie nicht anders zu erwarten, steht Gabes roter Camaro in unserer Einfahrt. Er lässt den Arm aus dem Fenster baumeln, während er unrhythmisch aufs Gaspedal drückt und so tut, als würde er mich nicht sehen. Obwohl er sich extratief in den Sitz hat sinken lassen, kann ich seine nach hinten gegelten schwarzen Haare und seine verspiegelte Sonnenbrille sehen. Würde ich Gabe weniger hassen, wenn er nicht so unfassbar schmierig aussehen würde? Die Welt wird es nie erfahren.
Ich hebe die Hände und fange an, langsam zu klatschen, als Autumn neben mir auftaucht und stirnrunzelnd zwischen mir und dem Wagen hin- und herschaut. »Was machst du da?«, fragt sie.
»Ich klatsche Gabes Motor Beifall«, antworte ich, während ich mit brennenden Handflächen weiterapplaudiere. »Es scheint ihm wichtig zu sein, dass man ihn bemerkt.«
Autumn rammt mir den Ellbogen in die Seite und bringt mich aus dem Takt. »Hör auf, dich wie ein Arsch aufzuführen.«
»Er ist der Arsch«, antworte ich mechanisch. Wir könnten dieses Streitgespräch im Schlaf führen.
»Na los, Babe«, ruft Gabe und winkt Autumn zu sich. »Sonst kommst du zu spät zur Arbeit.«
Ihr Handy klingelt, und als sie aufs Display schaut, werfe ich ebenfalls einen Blick darauf. »Wer ist Charlie?«, frage ich über neuerliches Motorheulen hinweg. »Gabes Nachfolger? Bitte sag Ja.«
Ich rechne damit, dass sie die Augen verdreht, aber stattdessen drückt sie den Anruf weg und steckt das Handy in ihren Rucksack. »Niemand.«
Die Haut in meinem Nacken kribbelt. Ich kenne diesen Tonfall und er bedeutet nichts Gutes. »Ist er einer von ihnen?«, frage ich.
Sie schüttelt energisch den Kopf. »Je weniger du weißt, desto besser.«
Ich wusste es. »Legst du heute ein paar zusätzliche Stopps ein?«
»Wahrscheinlich.«
»Tu’s nicht.«
Sie presst die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Ich muss.«
»Und wie lange noch?« Auch diesen Schlagabtausch könnten wir im Schlaf führen.
»So lange, wie ich kann«, sagt Autumn.
Sie schiebt ihren Rucksack höher auf die Schulter und sieht mich an. In ihrem Gesicht lese ich das, was sie seit Wochen immer wieder zu mir sagt. Wir müssen doch füreinander da sein, oder nicht?
Ich will nicht nicken, aber verflucht noch mal, wie soll ich denn sonst reagieren?
Ja. Das müssen wir.