Holger Kiefer

Endlich glücklich,
endlich frei

Letztes Kapitel

Franz Bebiotai hatte sein Leben gelebt. Er saß im Sessel, nahm behutsam das Glas in die rechte Hand und trank den letzten Schluck. Er setzte die Spritze an und drückte die gesamte Luft aus dem 2,5ml-Zylinder in die Verbindungsvene der linken Ellenbeuge. Er zog die Kanüle aus der Vene, legte die Spritze neben sich auf den Tisch und hielt eine Druckwatte ein paar Sekunden lang auf die Einstichstelle. Er legte auch dies auf den Tisch und atmete entspannt durch. Kurz darauf stellte das gesunde Herz nach fünfzig Jahren seine Funktion ein. Und der Kerzendocht ertrank neben ihm im geschmolzenen Restwachs, das nun erkaltete. Die CD spielte weiter, und der dritte Satz begann. Aber das hörte er schon nicht mehr.

Die Liebe

Was ist Liebe? Am Ende war die Antwort klar. Aber er hatte lange gebraucht, um sie zu finden – die Antwort und die Liebe. Mit 50 Jahren konnte er sich sicher sein, dass all das, was die Literatur und die Menschen unter Liebe verstehen, ein Trugschluss und eben nicht die Liebe ist. Hansi hatte immer gesagt: Die Liebe ist ein Scheißdreck. Dem stimmte Franz aber nicht zu.

Liebe hat nichts mit zwei Menschen zu tun. Liebe war für ihn die Hingabe an eine Sache um ihrer selbst willen, ohne etwas von ihr zu erwarten. Er liebte zum Beispiel die klassische Musik, hatte als Kind und Jugendlicher Querflöte und Klavier und später als reifer Mann noch Cello gelernt, also blasen drücken streichen. Schlagen mochte er nicht.

Er genoss die traurigen Arien, wenn sie von Cecilia Bartoli oder Gundula Janowitz gesungen wurden und konnte sie wieder und wieder hören, leise und laut, so dass manchmal der Nachbar gegen die Wand schlug oder nachts vor die Haustür ging und die Klingel mit dem Namen „Bebiotai“ betätigte. Sprechen mochte er nicht.

Er liebte die Erkenntnis und das Wissen, Informationen im Allgemeinen, auf Griechisch: Philosophie. Auch wenn in den Büchern viel Unbrauchbares steht, findet sich doch auf der Straße, wenn man genau hinsieht, genug Philosophie, mit der man etwas anfangen kann. Manchmal findet man aber auch einen Wissensgenossen wie zum Beispiel Lucius Annaeus Seneca, Michel de Montaigne oder Friedrich Nietzsche, die einem beweisen, dass nichts neu und man mit den eigenen Gedanken auf dem richtigen Weg ist („the one less travelled by“).

Er liebte den Himmel in bestimmten Farben, wenn er wie ein Aquarell in die Höhe gemalt scheint, oder wenn der Mond von einem Halo umgeben über einem Fluss oder einem Meer steht und sein Licht trichterförmig über die Oberfläche zu ihm hinfunkeln lässt.

Er liebte die Ruhe, die nicht gestört wurde vom unterschiedlichen Treiben der Mitbewohner und Mitbürger: Kindergeschrei und Säuglingsgejammer, Motoren-geräusche aller Art und Stimmen, die unwichtiges Gewäsch von sich gaben. Daraus ergibt sich automatisch, dass natürlich die Momente in der Nacht, wenn er bei einem Glas Wein oder Whiskey in seinem Sessel musikhörend in einem Buch las, für ihn mit Gold nicht aufgewogen werden konnten.

Menschen liebte er nicht.

Was die anderen als Liebe bezeichnen, ist oft genug nur Befriedigung von Trieben oder Eitelkeiten, ist Prostitution, Bequemlichkeit oder gespielte, unwahre Abhängigkeit, ist Hunger oder Versagen. Es gibt treffendere Worte. Warum alles mit dem Wort „Liebe“ bezeichnen? Was die anderen als „Liebe“ bezeichnen, ist oft genug nur ein Schlachterladen, vor dem Realität und Ehrlichkeit draußen bleiben müssen.

Iska – der Erste Tag

Es sind zehn Jahre vergangen, seitdem er das letzte Mal in Dänemark gewesen war. Am Abend zuvor hatte ihn der Himmel über Sæby bei der Ankunft vor dem Ferienhaus mit einem überwältigenden Schauspiel aus übereinander getürmten Wolken in intensivem Orange und Graublau begrüßt. Das Meer lag unruhig vor ihm und trank den niederfallenden Regen wie eine verspätete Opfergabe in sich hinein.

Das Haus roch nach ungestörter Ruhe und einem befristeten Leben am Meer, das in zehn Metern Entfernung seine flachen Wellen lockend und labend auf den Strand ergoss.

Nachdem er seinen Koffer ausgepackt hatte, stand er noch lange vor dem Haus und blickte auf das Meer hinaus, fing die Regenbögen mit seinen Augen ein, die sich zweimal als Paar am Horizont zeigten – doppeltes Glück, dachte er in jedem Augenblick, und sah den vorbeifliegenden Möwen zu, die ihn neugierig beäugten und ebenfalls zu begrüßen schienen. Als die Sonne für diesen Tag verschwunden war, entfachte er Feuer im Ofen und genoss den Abend: Das erste Glas Rotwein, der erste Mond, das erste Knistern der abbrennenden Scheite, die erste Nacht im Bett dieses Hauses.

Am nächsten Morgen relativ pünktliches Erwachen, was bei ihm etwa zehn Uhr bedeutete. Mehrere Tassen Kaffee und Zigaretten – französisch eben. Nebenbei ein Kreuzworträtsel auf Dänisch, denn er lernte diese Sprache weiter. Ein „Warum“ konnte er nur so beantworten: Er liebte es.

Um zwölf ging er das erste Mal am Strand spazieren, hatte die Schuhe ausgezogen und senkte seinen Blick oft auf den Sand, in dem er unbeschädigte Muscheln oder anderes Interessantes zu finden gedachte. Und manchmal beugte er sich nieder und hockte danach mit angewinkelten Knien einen kleinen Stein oder die Porzellanscherbe eines Marmeladenglases betrachtend, die vielleicht von einem Kutter gefallen oder geworfen und mit der Flut an Land gespült worden waren, in der Sonne und ließ sich vom leichten Wind der Ostsee umwehen.

Während er so langsam Schritt für Schritt in Richtung Hafen schlenderte, sah er plötzlich in etwa dreißig Metern Entfernung ein weibliches Wesen auf den Steinen des nächsten Steinwalls sitzen, der als Schutz vor hohen Wellen fünfzig Meter in das Meer hinein aufgeschüttet worden war. Nein: Sie hatte, so weit er das erkennen konnte, keinen Fischschwanz. Aber sie saß in der gleichen Haltung wie die kleine Meerjungfrau im Kopenhagener Außenhafen auf einem großen Stein und blickte nicht sehnsüchtig zum Land hin, sondern traurig auf das Meer hinaus.

Als sie mich näher kommen sah, wurde sie etwas unruhig und überlegte vielleicht, ob sie flüchten solle. Das verrieten ihre Bewegungen. Aber sie glitt nicht unversehens vom Stein ins Meer hinab, um ins Unsichtbare zu verschwinden, sondern blieb sitzen und tat so, als ob sie mich ignoriere. Ich wollte sie irgendwie ansprechen, aber mir fiel mal wieder kein passender Anfang ein. Also tat ich so, als ob mich etwas am Boden interessieren und aufhalten würde. Ich versuchte einfach mein Glück.

„En skøn dag, ikke sandt?“ Ich versuchte es auf Dänisch, weil sich an diesem Ort normalerweise zu dieser Jahreszeit keine Deutschen aufhielten.

Sie schaute mich überrascht, aber verständnislos an und hob nur beide Arme in die Luft, um mir anzudeuten, dass sie mich nicht verstanden habe. Dabei lächelte sie und machte mir durch dieses Lächeln Mut.

„Ein schöner Tag, nicht wahr?“, wiederholte ich auf Deutsch.

„Naja“, sagte sie entmutigt und blickte auf das Meer hinaus.

Wir waren im Gespräch.

Nachdem ich bemüht war, alle Register der angebrachten Höflichkeit und des ernst gemeinten Interesses an den Tag, besser in ihren Schoß zu legen, erzählte sie mir, warum sie so bedrückt war:

Wir hatten Streit – ich und meine Freundin – sie hat da jemanden gefunden – und jetzt verbringt sie die ganze Zeit mit ihm – dabei sind wir doch zusammen in Urlaub gefahren – ich bin ihr überhaupt nicht mehr wichtig – ich bin hierhergekommen, um meinen Vater zu fragen – er wusste für alles einen Rat – hatte auf alles eine Antwort – aber er ist tot – seit zwei Jahren – Krebs – obwohl er nie geraucht hat – es war schrecklich – ich vermisse ihn so sehr – Kennen Sie das?: Jemand, der gerade noch da war, ist plötzlich weg – für immer – meine Mutter – ja – sie ist lieb – aber sie ist nicht mein Vater– und manchmal ist sie nicht da – sie arbeitet viel – aber ich liebe sie – sie bemüht sich – sie ist manchmal richtig süß und versucht, eine gute Mutter zu sein – das ist sie auch – ach, warum erzähle ich Ihnen das alles?

Ich war mir nicht sicher, ob dies eine rhetorische Frage war, und wartete ein paar Sekunden. Aber es kam nichts nach. Sie schwieg. Es war tatsächlich eine richtige Frage, nach der sie auf eine Antwort wartete.

„Weil ich zuhören kann.“, antwortete ich.

Sie drehte sich zu ihm hin. Ihre Augen klarten ein wenig auf. Und es sah für ihn eine kurze Zeit so aus, als ob sie sich zu ihm hinbeugen und ihn umarmen wollte.

Er musste ein Zeichen geben – irgendetwas. Früher hätte er sich nicht getraut und alles so belassen. Aber er hatte gelernt und wollte dieses Mal nicht die Möglichkeit vorbeiziehen lassen, einem Hilferuf zu antworten. Er hielt ihr seinen rechten Arm entgegen, die Handfläche offen nach oben gewendet.

Zuerst sah sie mit ihren feuchten Augen auf den Arm, danach auf die Hand, dann in sein Gesicht, daraufhin wieder auf die Hand. Niemand außer ihr selbst weiß, was ihr in dem Moment durch den Kopf ging: Vorsicht, Angst, Erinnerungen, Zurückhaltung oder anderes.

Schließlich nahm sie seine Hand in ihre beiden Hände, umschloss sie wie einen Schatz, den man nicht verlieren will, oder wie ein kleines Tier, das man schützen und nicht davonspringen lassen will. In der nächsten Sekunde öffnete sie diesen Käfig und betrachtete seine Hand, fing an mit ihr zu spielen, zeichnete mit ihrem rechten Zeigefinger die Linien in seiner Hand nach, hob sie vor ihre Augen, legte sie auf ihren rechten Oberschenkel, ohne die Augen davon zu lassen, hob sie wieder mit beiden Händen hoch und legte sie an ihre Stirn, dachte einen Augenblick lang nach und drückte ihre Lippen in die geöffnete Hand.

„Was haben Sie jetzt vor?“, fragte Franz.

„Ich weiß nicht. Aber zurück möchte ich nicht. Dort bleiben? Ein Horror.“

„Sie könnten mit ihrer Freundin reden.“

„Hab ich schon. Sie liebt ihn, hat sie gesagt. – Ich glaub, ich fahr wieder zurück.“

Eine lange Pause. Beide dachten an etwas, Verschiedenes, Entferntes, Vergangenes, Zukünftiges.

„Geben Sie nicht auf! Lassen Sie sich Ihren Urlaub nicht vermiesen! Gehen Sie eigene Wege! Sie brauchen Ihre Freundin nicht. Und Ihre Freundin braucht Sie offensichtlich auch nicht mehr.“

Wieder eine lange Pause, in der beide an Verschiedenes, Gleiches, Gegenwärtiges dachten.

„Ich werde darüber nachdenken.“, sagte sie und stand auf. „Und vielen Dank! Sie haben mir sehr geholfen.“

„Gern. Dafür nicht!“

„Doch. Dafür schon!“

Sie ging. Kletterte den Steinwall hinab, lächelte Franz noch einmal zu, aber drehte sich nicht mehr um; ging zielstrebig dem Zeltplatz entgegen und war nach zehn Minuten endgültig hinter dem Schilfgras verschwunden, hinter dem er ihr nur noch in Gedanken folgen konnte.