www.kremayr-scheriau.at
ISBN 978-3-218-01263-8
eISBN 978-3-218-01264-5
Copyright © 2021 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus
Unter Verwendung einer Grafik von rawpixel.com
Typografische Gestaltung und Satz: Danica Schlosser
Fotos: Alexia Weiss
Lektorat: Marilies Jagsch
Für Lea
Einleitung
Samuel – Samuel
Kleine Gemeinde mit großer Vergangenheit und bunter Gegenwart
Das unblutige Schlachten wurde noch nicht erfunden
Warum sich Antisemitismus schwer in Zahlen gießen lässt
Interview mit Chanan Babacsayv
Seit vielen Jahrhunderten in Österreich
Belastete Orte
Begegnung mit dem Judentum the easy way
Interview mit Mally Shaked
Das Israel-Dilemma
Ewige Ruhe
Von jüdischen Kirchen und jüdischen Weihnachten
Interview mit Susanne Trauneck
Die Sache mit dem Braindrain
Kein Schlussstrich
Niemals wieder
Interview mit Ursula Raberger
Ganz normale Menschen
Wenn ein MIT ausgrenzend wirkt
Sicherheit
Interview mit Schlomo Hofmeister
Einheitsgemeinde seit der Monarchie
Die Sache mit der Parallelgesellschaft
Die obere Hälfte oder die untere Hälfte oder gar nur die Arme?
Interview mit Shoshana Duizend-Jensen
Täter und Opfer
Ich wäre auch gerne reich
Mediale Samthandschuhe
Interview mit Willy Weisz
Die Sache mit dem Kreuz
Verwurschtelte Sterne
Hinschauen wollen
Identitätspolitik
Danksagung
Der Antisemitismus steigt in Europa und auch in Österreich. Kann man das an Statistiken festmachen? Ja, es gibt Umfragen und Dokumentationen. Repräsentativ sind sie allesamt nicht, doch sie zeigen einen Trend. Ist es alarmistisch, wenn jüdische Gemeinden auf die zunehmenden Anfeindungen hinweisen? Das ist es nicht. Hier geht es am Ende nicht nur um Statistiken, sie dokumentieren nur unzulänglich, wie viel Antisemitismus es in einer Gesellschaft gibt und wie sich dieser entlädt. Es geht darum, wie sich Juden und Jüdinnen in ihrem Alltag fühlen und wie sie diesen erleben.
Ja, da kann es schon einmal sein, dass der eine oder die andere eine zwar rasch dahingesagte, aber nicht antisemitisch gemeinte Bemerkung in den falschen Hals bekommt. Einerseits. Andererseits muss man dann aber doch auch hinterfragen, warum es gerade bei Begegnungen zwischen Jüd*innen und Nichtjüd*innen immer noch zu so viel Unbehagen auf der einen und so viel Unsicherheit auf der anderen Seite kommt.
Dieses Buch ist kein Buch über Antisemitismus. Oder: Es ist kein Buch ausschließlich über Antisemitismus, denn leider gibt es ihn und leider kann man ihn sich nicht einfach wegdenken. In diesem Buch will ich vor allem über die vielen kleinen Dinge erzählen, denen Juden und Jüdinnen in Österreich in ihrem Alltag begegnen. Das reicht von dem Gefühl, über Gebühr umarmt und fast schon auf ein Podest gestellt zu werden, bis zur Tatsache, dass jüdische Institutionen nur nach einer Sicherheitskontrolle betreten werden können. Dass es diese Kontrollen gibt, ist gut. Sie geben Sicherheit, sie bewahren vor Anschlägen und Übergriffen und sorgen dafür, dass es sich in Österreich als Jude und Jüdin gut leben lässt. Dass es sie geben muss, zeigt aber auch, dass immer noch keine Normalität herrscht.
All das wird auch in den Interviews spürbar, die ich für dieses Buch mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten geführt habe, die ihrerseits verschiedene Strategien im Umgang mit Anfeindungen gefunden haben. Während etwa Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister seinen Kindern rät, sich nur ja in keine Handgemenge verwickeln zu lassen, erzieht der Immobilienmakler Chanan Babacsayv seinen Nachwuchs dazu, sich zu wehren und sich nichts gefallen zu lassen.
Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes sind die Spuren dieses historisch einmaligen Massenmords an Juden und Jüdinnen noch allgegenwärtig. Sie zeigen sich in Gedenkstätten und Mahnmalen, sie zeigen sich in einem teils schon übersteigert anmutenden Interesse an jüdischer Kultur und jüdischen Geistesgrößen der Vergangenheit, sie zeigen sich aber eben auch in einem immer noch nicht normalen Umgang mit Juden und Jüdinnen heute. Und „nicht normal“ bezieht hier auch die Reden vieler Politiker*innen ein, die Jahr für Jahr das „Niemals wieder“ beschwören, dann aber schon bei der korrekten Anrede scheitern.
Die Jüdische Gemeinde Wien heißt offiziell Israelitische Kultusgemeinde Wien, die Bezeichnung geht bereits auf die Monarchie zurück. Als „israel.“ abgekürzt steht sie auch auf Behördenformularen und in der Rubrik Religionsbekenntnis in Schulzeugnissen. Dass ein Politiker, eine Politikerin in einer Rede dann „Israelische Kultusgemeinde“ sagt, ist leider keine Seltenheit. „Israelisch“ wird dadurch mit der jüdischen Religion gleichgesetzt – und das wiederum führt zu sehr entbehrlichen Diskussionen.
Gedanklich wird nämlich all das, was in Israel passiert, damit auch der Verantwortung von Jüd*innen in Österreich zugeschoben. Auch wenn es oft etwas subtiler formuliert wird, ist die Botschaft oft folgende: Ihr maßt euch an, unsere Regierung zu kritisieren? Gemeint ist die österreichische und „unsere“ impliziert gleich auch irgendwie, dass es nicht die Regierung von österreichischen Juden und Jüdinnen ist. Wenn man das dann anspricht, wird es als spitzfindig empfunden. Darauf folgt meist eine Antwort, die auf Israel und die Situation der Menschen, die in Gaza leben, verweist. Juden und Jüdinnen sollen also nicht die österreichische Regierung kritisieren, solange die israelische Regierung eine so kritikwürdige Politik macht.
All das ist unerfreulich, denn ja, Juden und Jüdinnen, die in der Diaspora leben, fühlen sich mit Israel verbunden. Schließlich ist das der sichere Hafen, der heute allen offen steht, wenn der Antisemitismus im bisherigen Heimatland unerträgliche Ausmaße annimmt. „Alija“ nennt sich das Auswandern nach Israel. Viele Jüd*innen, die in Wien leben, haben Freunde und/oder Verwandte in Israel. Israel ist ein beliebtes Urlaubsland, für viele eine zweite Heimat und ein Sehnsuchtsort. Dennoch sind Juden und Jüdinnen in Österreich großteils österreichische Staatsbürger*innen und eben nicht israelische, und sie sind jedenfalls genauso wenig für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich wie Österreicher*innen für die Politik der österreichischen Regierung.
Gut umschiffen könnte man diese ständigen falschen Zuordnungen und damit auch Vorwürfe, indem man Juden und Jüdinnen Juden und Jüdinnen nennt und nicht Israeliten. Auch die Bezeichnungen „mosaisch“ oder „jüdische Mitbürger*innen“ sind deplatziert und zeugen von einer Scheu, den Begriff „Jude“ auszusprechen. Man kann aber ruhig Jude, Jüdin, Juden sagen. Denn: Jude ist kein Schimpfwort.
Vor Jahren habe ich mir in einem Geschäft, in dem ich immer wieder einkaufe, eine Kundenkarte ausstellen lassen. Mittlerweile hat die Anzahl meiner Kundenkarten allerdings so zugenommen, dass ich nicht mehr alle ständig mit mir führe. In diesem bestimmten Shop ist das insofern kein Problem, als man einfach dazusagen kann, in der Kundenkartei zu sein. Und weil man Weiss ja auf die verschiedensten Arten schreiben kann – Weiss eben, aber auch Weiß oder Weis oder Weihs oder Wais – buchstabiere ich meinen Familiennamen jedes Mal.
Dafür gibt es verschiedene Optionen. Lautmalerisch: „We – e – i – es – es.“ Sie hören schon: Das geht nicht. Dann gäbe es noch die Möglichkeit, zu sagen: „Weiss – wie die Farbe, aber mit Doppel-s statt mit scharfem S.“ Doch diese Aber-und-statt-Nummer klingt auch irgendwie absurd. Also greife ich auf das Buchstabieralphabet zurück und sage: „Wilhelm – Emil – Ida – Samuel – Samuel.“ Und dann gibt es entweder fragende oder erstaunte Blicke.
Ja, erwartet hätte man ein „Siegfried – Siegfried“ am Ende. Allerdings entspräche das der Variante, welche die Nationalsozialisten für das Buchstabieren des S vorsahen. Die Wenigsten wissen, dass sich die österreichische Buchstabiertafel bis heute an jener orientiert, welche die Nationalsozialisten eingeführt haben. Jüdische Namen, die vorher für einige Buchstaben standen, mussten eliminiert werden. Und eliminiert sind sie bis heute. Das offizielle Buchstabieralphabet wurde in Österreich diesbezüglich nicht rückverändert. Obwohl, ganz stimmt das nicht – aber dazu später.
Seit Jahrzehnten wird in Österreich ein D mit Dora statt mit David angesagt, das J mit Jot statt mit Jacob, ein N mit Nordpol statt mit Nathan, ein S eben mit Siegfried statt mit Samuel und ein Z mit Zeppelin und nicht mit Zacharias. Festgehalten wurden die zu verwendenden Begriffe und Namen in der ÖNORM A 1081. Während Deutschland 1948 immerhin Samuel und Zacharias wieder in die offizielle Buchstabiertafel integrierte, heißt es in Österreich weiterhin Siegfried und Zeppelin.
Dass Buchstaben Namen oder Begriffe zugeordnet werden, um vor allem am Telefon die richtige Schreibung leichter vermitteln zu können, geht auf die Ausgabe des Berliner Telefonbuchs von 1903 zurück. Das Telefonbuch von 1934 enthielt erstmals die von den Nazis umgestaltete Tabelle. Jüdische Namen sollten da nicht mehr vorkommen.
Der Anstoß dazu soll von einem Herrn Schliemann (sein Vorname ist nur als Joh. abgekürzt überliefert) gekommen sein, der sich 1933 mit einer Postkarte an die Post, konkret das Postamt Rostock, wandte. „In Anbetracht des nationalen Umschwungs in Deutschland halte ich es für nicht angebracht, die in der Buchstabiertabelle des Telefonbuchs aufgeführten jüdischen Namen wie David, Nathan, Samuel etc. noch länger beizubehalten. Ich nehme an, dass sich geeignete deutsche Namen finden lassen. Ich hoffe, in der nächsten Ausgabe des Telefonbuchs meinen Vorschlag berücksichtigt zu sehen.“1
Ich versuche es daher seit einigen Jahren zu vermeiden, meinen Namen mit „Wilhelm – Emil – Ida – Siegfried – Siegfried“ zu buchstabieren. Nur ist „Samuel – Samuel“ eben nicht die allgemein übliche Variante und sorgt daher auch für Unklarheit. Das sind die Momente, in denen ich mich über Österreichs teils laschen Umgang mit Relikten aus der Nazi-Zeit ärgere. Ich weiß, es ist schon viel passiert, und vielleicht ist die Buchstabiertafel eine zu vernachlässigende Kleinigkeit. Aber dieses Beispiel ist eben sinnbildlich für den Versuch, sich über Unangenehmes hinwegzuwurschteln.
In Deutschland wurde im Dezember 2020 übrigens bekannt gegeben, dass das Buchstabieralphabet entnazifiziert wird.2 Ein guter Anlass also, um nochmals nachzufragen, wie der Stand der Dinge in Österreich ist. Die Antwort könnte österreichischer nicht sein: Wie mir dazu Jörg Nachbaur, Committee Manager bei Austrian Standards, nämlich mitteilte, wurde die oben angeführte ÖNORM A 1081 per 15. März 2019 „ersatzlos zurückgezogen“.
Und weiter: „Standards werden alle fünf Jahre erneuert. Eine damals erfolgte Umfrage bei den betroffenen Kreisen und Experten ergab keine Resonanz hinsichtlich Marktrelevanz, daher war dieses Dokument ersatzlos zurückzuziehen. Generell wurden alle Standards zum Thema Büroorganisation und schriftliche Kommunikation zurückgezogen. Es gibt in Österreich kein zuständiges Komitee mit entsprechenden Fachexperten mehr. Zur Praxis: Die Anwendung von Standards ist grundliegend freiwillig, das heißt, ob ein Dokument weiterhin angewendet wird, unabhängig davon ob gültig oder zurückgezogen, obliegt dem Anwender.“
Soll also heißen: Es gibt die genormte Buchstabiertabelle in Österreich nicht mehr, sie wird aber weiterhin angewandt und vermittelt, an Schulen ebenso wie etwa in Deutschkursen für Erwachsene. Dazu meinte Nachbaur: „In den aufgezählten Fällen gilt es die Lehrenden beziehungsweise deren Institutionen zu fragen, aus welchem Grund das Dokument verwendet wird. Ohne mir eine Einschätzung zur Praxis anzumaßen, würde ich in diesem Zusammenhang auch Gewohnheit bedenken, weil man es halt ‚immer so gemacht hat‘ und es wohl in den Unterlagen steht/stand.“
Fazit: Statt sich spät aber doch, wie nun in Deutschland, einer Debatte darüber zu stellen, wie das Buchstabieralphabet umfassend entnazifiziert und neu gestaltet werden kann, wählt Österreich einen einfacheren Weg. Ohne das groß zu kommunizieren, wurde die ÖNORM außer Kraft gesetzt und gilt daher nicht mehr. In der Realität läuft allerdings einfach alles so weiter wie bisher. Und obwohl nun im Grunde jede und jeder einfach buchstabieren kann, wie er oder sie das möchte, werde ich wohl auch noch in zehn oder fünfzehn Jahren mit fragenden Blicken bedacht werden, wenn ich sage: „Samuel – Samuel.“
1welt.de/kultur/article152336171/Wir-buchstabieren-immer-noch-wie-die-Nazis.html
2n-tv.de/panorama/Buchstabier-Alphabet-wird-entnazifiziert-article22216903.html
Wenn man Menschen fragt, wie viele Jüd*innen in Wien leben, bekommt man teils kuriose Antworten. 50.000, 100.000 und sogar eine halbe Million habe ich da schon gehört, als ich zum Beispiel bei einem Workshop zu jüdischem Leben in Wien Jugendlichen diese Frage gestellt habe. Wie das zu erklären ist? Es gibt mittlerweile ein großes mediales Interesse an Jüd*innen und dem Judentum. Es wird nicht mehr nur über Schoa und Verfolgung und NS-Gräuel berichtet, immer öfter ist in den heimischen Medien auch über jüdische Feiertage, Kulturveranstaltungen oder die Wahl des Vorstands der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien zu lesen, zu hören und zu sehen.
Wie viele Wiener Jüd*innen gibt es aber nun tatsächlich? Exakt ist diese Frage leider nicht zu beantworten. Im Juli 2020 zählte die Israelitische Kultusgemeinde Wien 7.735 Mitglieder. Wer Jude oder Jüdin ist, das ist in der Halacha, dem jüdischen Recht, so definiert: Jüdisch ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder zum Judentum übergetreten ist. Man kann also auch jüdisch sein, ohne der Kultusgemeinde als Mitglied anzugehören. Der im Juni 2020 vom Institute for Jewish Policy Research veröffentlichte Bericht „Jews in Austria“3 spricht von rund 10.000 Jüd*innen in ganz Österreich (das Gros davon in Wien lebend) – andere Schätzungen gehen von ungefähr 15.000 Jüd*innen aus. Nicht jede/r lebt observant, es gibt auch Menschen, die ihr Judentum nicht religiös, sondern über ihre Herkunft politisch oder kulturell verankern, und denen eine offizielle Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft daher nicht so wichtig ist.
Blickt man zurück, lebten um 1570 sieben jüdische Familien in Wien.4 1752 waren es circa 450 Jüd*innen, ein Jahrhundert später 3.470. Danach vergrößerte sich die jüdische Gemeinde in der Stadt rasant, vor allem durch den Zuzug aus den Kronländern: Um 1860 wurden 6.200 Jüd*innen gezählt, um 1870 rund 40.200, um 1880 waren es 72.600 – das entsprach einem Bevölkerungsanteil in Wien von circa zehn Prozent. Um 1890 lebten bereits 118.500 Jüd*innen hier, 1900 waren es 148.000, 1910 stieg die Zahl auf 175.300 und 1923 schließlich auf 201.513.
Danach war zunächst ein schwacher Rückgang zu verzeichnen, Jüd*innen spürten den immer stärker werdenden Antisemitismus, und wer nach Deutschland blickte, wusste, die Lage könnte noch schlimmer werden. So beschlossen einige schon in den 1930er Jahren, noch bevor die Nazis auch in Österreich die Macht ergriffen, zu emigrieren. 1934 lebten noch circa 178.000 Jüd*innen in Wien. Dann kam die große Zäsur. 1938 wurde Österreich Teil von Nazi-Deutschland. Zahlreiche Jüd*innen versuchten zu fliehen, andere wurden in den darauffolgenden Jahren in Lager deportiert und viele von ihnen dort auch ermordet. Wer Jude war, wurde nun nicht mehr nur von den jüdischen Gemeinden selbst, und damit der Halacha, definiert, die Nürnberger Gesetze machten nun auch Menschen zu Jüd*innen, die sich selbst teils gar nicht als solche verstanden, etwa, weil sie sich taufen lassen hatten.
Die Nazis unterteilten zudem in Voll-, Halb- und Vierteljuden. Legt man diese Definition an, die das Judentum als Rasse versteht und danach unterscheidet, ob die Eltern und Großeltern jüdisch waren oder nicht, lebten 1938 in Österreich bis zu 214.000 Menschen, die in eine dieser Kategorien fielen, 181.882 von ihnen wurden als „Volljuden“ eingestuft. Ein Jahr später lebten noch rund 91.000 von den Nazis als „Volljuden“ bezeichnete Menschen hier sowie an die 22.000 als „Mischlinge“ titulierte Personen. Ab 1940 begannen die großen Deportationen, 1942 wurde die IKG Wien aufgelöst.
Die bittere Bilanz: Über 65.000 österreichische Jüd*innen wurden von den Nationalsozialisten ermordet, etwa zweimal so viele konnten sich ins Ausland retten. Die Namen der Ermordeten wurden in einem Großprojekt durch das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) erfasst – auf der Homepage des DÖW5 gibt es auch eine Datenbank, in der man nach deren letzten Wohnorten suchen kann. Nicht immer stimmen diese übrigens mit den tatsächlichen Wohnorten überein. Jüd*innen wurden von den Nazis oft zunächst nach Wien verbracht und innerhalb Wiens in sogenannte Sammelwohnungen, vor allem in der Leopoldstadt.
Wenige überlebten den NS-Terror in Wien, das Gros in sogenannten „geschützten Ehen“, also Ehen mit Nichtjuden, oder als „U-Boote“6. Wenige Jüd*innen, die emigrieren konnten, kehrten zurück, dafür zogen Displaced Persons, meist Jüd*innen aus Osteuropa, die das NS-Unrechtsregime überlebt hatten, nach Wien. Bis Ende der 1940er Jahre zählte die wieder installierte IKG Wien rund 4.000 Mitglieder. 1956 kamen jüdische Flüchtlinge aus Ungarn, 1967 aus Polen, 1968 aus Tschechien.
In den 1970er Jahren begann der Zuzug von Jüd*innen aus der damaligen Sowjetunion. Sie kamen allerdings nicht direkt nach Wien. An die 250.000 sowjetische Jüd*innen nutzten die Möglichkeit, über das neutrale Österreich nach Israel auszuwandern. Doch vielen bekam das Klima dort nicht, andere konnten mit der Mentalität nicht umgehen. Eine Rückkehr in die Sowjetunion blieb ihnen aber auch verwehrt. So kehrten sie von Israel nach Wien zurück und begannen hier ein neues Leben. Dabei handelte es sich weniger um Russ*innen, sondern vor allem um Menschen aus Zentralasien (etwa aus Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan) sowie dem heutigen Georgien.
Zuvor war die jüdische Gemeinde aschkenasisch geprägt – nun stieg der sefardische Anteil von Jahr zu Jahr. Aschkenas*innen sind Jüd*innen aus Mittel- und Osteuropa, Sefard*innen stammen ursprünglich aus Iberien und gelangten später in die Türkei oder eben nach Zentralasien. Die größte sefardische Gruppe in Wien sind heute die bucharischen Jüd*innen, sie machen etwa ein Drittel der Community aus.
Die Riten in aschkenasischen und sefardischen Synagogen unterscheiden sich etwas voneinander, vor allem die Feste. Auch die Küche ist unterschiedlich. Die bucharische Kultur ist eine orientalische, die aschkenasische eine europäische. Während man etwa in einem aschkenasischen Lokal Gefillte Fisch, Matzeknödelsuppe oder gehacke Hühnerleber serviert bekommt, stehen auf den Speisekarten in sefardischen Restaurants gerne Fleischspieße oder Plov (ein Reisfleischgericht). Hummus und israelische Salate werden heute in fast allen koscheren Lokalen gereicht.
Sefardische Jüd*innen waren übrigens auch schon vor der NS-Zeit einmal in Wien heimisch: Davon zeugt der frühere Türkische Tempel in der Zirkusgasse. Er hat – wie auch alle anderen Synagogen bis auf den Stadttempel in der Seitenstettengasse – die NS-Zeit nicht überstanden, da er von den Nationalsozialisten brutal zerstört wurde.
Die heutige jüdische Gemeinde ist vielleicht auch deshalb so lebendig, weil sie sehr inhomogen ist. Das Gros der Wiener Jüd*innen hat Migrationshintergrund, sie selbst, oder zumindest ein Elternteil, sind also nicht in Österreich geboren. Von den 7.735 Mitgliedern, die die IKG Wien im Sommer 2020 zählte, kamen 3.864 in Österreich zur Welt. 1.516 wurden in der ehemaligen Sowjetunion geboren, 909 in Israel, 226 in Ungarn, 149 in Rumänien, 128 in den USA, 113 in Deutschland, 97 in Polen, 87 in Großbritannien und 67 in Belgien. Das bringt auch einen Sprachenreichtum in vielen Familien mit sich. In bucharischen Familien spricht die ältere Generation zum Beispiel oft noch Russisch, die jüngere Generation gerne Hebräisch.
Lange galt die Wiener jüdische Gemeinde als überaltert. Das spiegeln die aktuellen demografischen Zahlen allerdings nicht mehr wider. 2.011 Mitglieder sind zwischen 0 und 20 Jahre alt. Es gibt 1.797 21- bis 40-Jährige, 1.785 41- bis 60-Jährige und 1.706 61- bis 80-Jährige. 437 Menschen sind über 80 Jahre alt, davon sogar sieben über 100 Jahre.7
Ein möglicher Grund dafür liegt in der im Vergleich zu anderen österreichischen Familien etwas höheren Kinderzahl. Im Durchschnitt haben jüdische Familien nach Angaben des Institute for Jewish Policy Research 2,5 Kinder (heimischer Schnitt: 1,5 Kinder). Orthodox lebende Frauen bringen im Schnitt sogar sechs bis sieben Kinder zur Welt. Stichwort Orthodoxie: 19 Prozent der Wiener Jüd*innen bezeichnen sich laut des Reports „Jews in Austria“ als strikt orthodox, 30 Prozent sehen sich selbst als orthodox oder traditionell.
Worin hier der Unterschied liegt? Wer orthodox lebt, ist meist auch durch die Kleidung als jüdisch erkennbar, Männer tragen etwa Kippa8 oder es wird außer Haus nur in koscheren Restaurants gespeist. Wer sich für einen traditionellen Lebensstil entscheidet, kocht zu Hause zum Beispiel koscher, begeht alle Feiertage und betet auch regelmäßig in der Synagoge, isst aber zum Beispiel außer Haus auch in nicht-koscheren Restaurants, wählt dann aber fleischlose Speisen und trägt Kleidung, die nicht sofort eine Zuordnung erlaubt.
15 Prozent bezeichnen sich als Reform- oder progressive Jüd*innen. Hier hat sich mit Or Chadasch9 in Wien eine kleine liberale Gemeinde etabliert. An die 35 Prozent der Wiener Jüd*innen sehen sich einfach als jüdisch, ohne sich religiös irgendwo zuzuordnen.
Es gibt aber zwischen diesen verschiedenen Gruppen im Alltag große verbindende Klammern: zum einen die jüdischen Schulen. Die Zwi Perez Schajes Schule im Prater und der Lauder Chabad Campus im Augarten führen vom Kindergarten bis zur Matura. Darüber hinaus gibt es orthodoxe Volks- und Mittelschulen, sowohl für Mädchen als auch für Buben, und ein Jüdisches Berufliches Bildungszentrum, in dem einerseits Lehrberufe erlernt, aber auch Weiterbildung und Deutschkurse absolviert werden können. Im Maimonides Zentrum, dem Elternheim der Gemeinde, werden Mitglieder aus allen Gruppen der Gemeinde betreut, ebenso im Psychosozialen Zentrum ESRA, das sowohl psychotherapeutische als auch sozialarbeiterische Unterstützung anbietet.
Sehr aktiv ist die IKG Wien zudem im Bereich Jugendarbeit und Kultur. Die Bandbreite jüdischer Jugendorganisationen reicht von zionistisch-links über orthodox bis zu bucharisch-traditionell. Das Kulturprogramm versucht, Jüngere und Ältere, politisch, literarisch, aber auch popkulturell Interessierte zu erreichen. Es gibt Kantorenkonzerte im Stadttempel, israelische Stand-up Comedians und hochkarätig besetzte Podiumsdiskussionen, etwa vor Nationalratswahlen. Jedes Jahr im Frühsommer wird ein Straßenfest veranstaltet, auf dem sich einerseits alle jüdischen Institutionen und Organisationen präsentieren und damit auch zusammentreffen. Hier zeigt sich die Community aber auch gegenüber der nichtjüdischen Öffentlichkeit als Gastgeberin und präsentiert ein bisschen jewish way of life. Einige Jahre war man dabei in den Arkaden des Rathauses zu Gast, meist findet dieses Fest aber auf dem Judenplatz statt (2020 fiel es allerdings Corona-bedingt gänzlich aus).
Wenn dann auf dem Judenplatz eine große Bühne aufgebaut ist, jiddische und jüdische Musik erklingt, koscherer Kuchen und Falafel mit Hummus gereicht werden, Kinder zwischen den Ständen Fangen spielen und sich alle paar Meter kleine Grüppchen zu einem kurzweiligen Tratscherl zusammenfinden, zeigt das die Kontinuität jüdischen Lebens sehr eindrucksvoll auf. Hier gab es im Mittelalter eine Synagoge, deren Überreste man besichtigen kann, hier befindet sich auch heute eine Synagoge – die der Misrachi im Haus Nummer acht, wo auch eine Außenstelle des Jüdischen Museums Wien untergebracht ist. Doch auch der Bruch durch die NS-Zeit ist auf diesem Platz präsent durch das Holocaust-Mahnmal nach einem Entwurf der Künstlerin Rachel Whiteread. Auf diesem Platz vereint sich Vergangenheit und Zukunft wie auf keinem anderen in dieser Stadt.
3Online abzurufen unter: jpr.org.uk/publication?id=17423
4Mehr Zahlen sind im Bericht zur Wiener jüdischen Gemeinde auf jüdischegemeinden.de abrufbar.
5doew.at
6Zu „U-Booten“ hat die Wiener Historikerin Brigitte Ungar-Klein 2019 in ihrem Buch „Schattenexistenz: Jüdische U-Boote in Wien 1938-1945“ publiziert (erschienen im Picus Verlag).
7Stand: Juli 2020
8Kippa: Kopfbedeckung für männliche Juden, beim Gebet in der Synagoge ist sie verpflichtend zu tragen.
9Hebräisch für „neues Licht“
Barbarisch sei es, das koschere Schächten: Tieren die Kehle durchzuschneiden und sie dann ausbluten zu lassen, das gehe ja wirklich nicht im 21. Jahrhundert. Wann immer eine Debatte um das Schlachten, das religiösen Vorgaben folgt, losbricht, ist dies und Ähnliches zu lesen.
Ja, mich graust es da auch ziemlich. Mich graust es allerdings, weil ich seit Kindertagen gar kein Fleisch esse. Blut fließt beim Schlachten aber immer, und immer stirbt ein Tier und wird zum Lebensmittel. Die Debatte ist daher aus meiner Sicht teils von Verlogenheit, teils von Antisemitismus, teils – auch im Islam wird geschächtet, allerdings technisch im Detail etwas anders als im Judentum – von Ressentiments gegenüber Muslim*innen geprägt.
Wer selbst das Sonntagsschnitzerl nicht missen möchte, beim Schächten aber mit Tierschutz argumentiert (man erinnere sich an immer wiederkehrende Kampagnen der FPÖ zu diesem Thema)10, der verbrämt damit das, worum es eigentlich geht: um die Ablehnung von Menschen, die nicht so leben wie die Mehrheitsgesellschaft. In politischen Debatten wird das dann gerne so ausgedrückt: die nicht „unserer Kultur“ angehören.
In „unserer Kultur“ ist es also in Ordnung, Schweinsschnitzel beim Diskonter zu Billigpreisen zu kaufen. Aber geschächtetes Fleisch zu konsumieren zeugt von mittelalterlichem