Dieses Buch erscheint bei KLAUS ISELE . EDITOR
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Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7534-3023-2
Vom Großvater: »… er redete nur noch selten, und fiel eine Birne vom Baum, erbleichte er.« Oder von einer Frau im Gebirgsdorf: »… ihr Kopf ist so schmal, dass er zwischen die Hörner eines Geißbocks passt.« Von der Haushälterin: »… Ihre Brillengläser sahen aus wie Böden von Bierflaschen.« Wenn ich Thomas Hürlimanns Schreiben unter dem Titel »Der vollkommene Ausdruck« charakterisieren will, dann meine ich nicht diese Sprachkraft, diese Fähigkeit, genau zu sein, diesen sprachlichen Zugriff, der so drastisch wie zart ausfallen kann, ich meine das Großeganze einer Geschichte, einer Novelle, den Ausdruck, den die Notwendigkeit findet, die einen zum Schreiben bringt. Die Lebensstimmung, zum Beispiel. Es ist ja seltener Übermut, der einen zum Schreiben bringt. Öfter ist es Untermut. Allerdings, ohne die Kraft zum sprachlichen Zugriff, Satz für Satz, kann wahrscheinlich keine Form entstehen, die der Leser als vollkommenen Ausdruck erlebt. Häufiger ist also etwas Schweres der Schreibanlass. Und wir erleben sowohl Satz für Satz, wie auch im Großenganzen, Schönheit. Der Leser merkt, dass er genießt, obwohl Furchtbares erzählt wird. Am liebsten würde ich die Wirkung der Prosa Thomas Hürlimanns mit einem Satz bezeichnen, in dem das Wort WUCHT die wichtigste Rolle spielt. Ich meine damit Schwere mit Schwung. Man fühlt sich einem Schwung ausgesetzt und erlebt dabei, dass der sehr genau gefasst ist. Woher also dieses beglückende Erlebnis, dass er durch Ausdruck Herr wird der Furchtbarkeit, die immer der Anlass ist? Das kommt mir selber naseweis vor: dass er Herr wird. Aber dass das Furchtbare, das immer der Anlass ist, nicht Herr bleibt, ist sicher. Das spürt der Leser: als Glück.
Ich neige nicht dazu, meine Bewunderung für einen Autor in ein Werturteil zu fassen. Das ist eine Art, sich ihm zu entziehen. Ich muss zwar auch zurück zur Tagesordnung, aber ich lebe dann mit der Nachwirkung. Das ist ein reichhaltiges Erinnerungsgefühl. Kommt dann das Gespräch auf den Autor, merke ich, dass ich nicht im Stande bin, meine Leseerinnerung wirklich weiterzusagen. Ich sage dann: Thomas Hürlimann, wunderbar. Urteilszeug eben. Je mehr mir ein Autor zusagt, um so schwerer ist es, die Wirkung zu fassen. Die leicht formulierten Meinungen reichen überhaupt nicht mehr aus. Es geht um Leben und Tod. Es geht um mehr, als man wollen kann.
Jetzt, in der glücklichen Lage, über Thomas Hürlimann etwas sagen zu müssen, habe ich mich dieser dann doch ästhetischen Neugier überlassen dürfen, die aus der Nachwirkung entsteht. Ich habe mich sozusagen instinktiv zuerst drei Prosastücken aus dem Buch »Die Satellitenstadt« genähert. »Der Tunnel«, »Frau Lorentzen« und »Flug durch Zürich«.
Ein Extra-Zug fährt durch den Gotthard-Tunnel, die »Festlogistiker« haben einen Extrazug aus lauter Speisewagen zusammengestellt für Ehrengäste, die aus allen Landesteilen ins Tessin fahren. »Der Extra-Zug bestand aus Speisewagen, und Speisewagen, wer wüsste es nicht, haben keine Toilette.« So reagiert ein Schriftsteller auf das »eidgenössische Jubeljahr« 1991.
Zweitens: »Frau Lorentzen«. Der Erzähler wohnt bei einer Frau Lorentzen im südöstlichen Berlin, Seitenflügel, 3. Stock, vier Mietsparteien teilen sich ein Klo. Immer um zehn Uhr vormittags benutzt es der Erzähler; immer, wenn er es benutzt, setzt sich Frau Lorentzen mit ihrem Campingstuhl vor das Klo und erzählt ihm, was sie, anno 15 aus Schlesien nach Berlin gekommen, erlebt hat. »Heirat, Hunger, Hitler.« Ihr Mann ist gefallen, der Sohn durch Kopfschuss »blöde jeworden«.
Drittens: »Flug durch Zürich«. Straßenbahnhaltestelle Hauptbahnhof Zürich, eine Frau wird aufdringlich, redet von einer Taube, der man die Füße ausgerissen habe. Der Erzähler grinst. »Du Arsch, schreit sie, meiner Taube fehlen die Füße, ohne Füße kann sie nicht landen, kapiert.« Der Erzähler versäumt eine Straßenbahn. Die Frau öffnet langsam ihre Hand, »… auf ihrem Handteller liegen zwei Vogelfüße, graudünne Läufe mit vier Zehen.« Diese Frau ist rauschgiftsüchtig.
Ob heimische Jubiläumsjahrkomik, deutsches 20. Jahr hundert oder Drogentragödie: Der Schriftsteller braucht jeweils drei Seiten dafür, dass seine Geschichte uns angeht. Jede weitere Information wird in Zukunft überflogen werden von Thomas Hürlimanns Bildern.
Johann Peter Hebel und Heinrich von Kleist darf man als Ahnherren dieser Art nennen. Wir kriegen nicht schon wieder etwas zu wissen, womit wir nichts anfangen können. Die Vogelfüße auf der sich langsam öffnenden Hand der ruinierten Mädchenfrau, die Aussichtslosigkeit der nicht mehr landen könnenden Taube: Da herrscht nicht Mitteilungsbedürfnis, sondern Ausdruckszwang. Der vollkommene Ausdruck ist eine Art, das Entsetzliche zu ertragen. Sonst müsste man ja nur noch wegschauen.
Vielleicht die schönste Geschichte, die in der »Satellitenstadt« so erzählt wird, ist die letzte. Wenn ich sage: vielleicht die schönste, habe ich vielen anderen Geschichten Thomas Hürlimanns Unrecht getan. Er hat viele schönste Geschichten geschrieben. Eine dieser vielen schönsten Geschichten ist »Das Schiff«. Es heißt ja, das Leben sei eine Reise. Hier wird das Sterben als eine Reise erzählt. Eine Schiffsreise, die andauernd bevorsteht und nie beginnt. Und dann doch. Der Autor bedient sich diesmal tropischer Schiffsreisebilder, die schon andere benutzt haben. Aber er benutzt sie, um das Sterben zu erzählen, und zwar so, dass es in seiner Unverständlichkeit erhalten, in seiner Stimmung aber höchst gegenwärtig wird. Es ist eine Paraphrase. Eine Programm-Musik über unser allerhöchstes Thema. Und nur bei diesem allerhöchsten Thema ist Programm-Musik erträglich. Dem allerhöchsten Thema gegenüber ist Programm-Musik vielleicht sogar das einzig Erträgliche. Programm-Musik über das allerhöchste Thema, das heißt doch, diesem Thema gegenüber gibt es keine entsprechende Musik. Da ist jede Musik Programm-Musik. Deshalb verhält sich der am richtigsten, der dem allerhöchsten Thema gleich mit Programm-Musik begegnet. Die krasse Unverhältnismäßigkeit von Thema und Ausdruck ist die einzige Verhältnismäßigkeit gegenüber dem allerhöchsten Thema.
So buchstabiert es sich in mir fort, wenn ich diese mit allen literarischen Wassern gewaschene Schlussgeschichte »Das Schiff« lese. Und auf einmal buchstabiert sich da eine Art Formel für die Hürlimannsche Wucht. Er erzählt das Sterben der Tessinerin, statt das Sterben des Bruders. Und das Sterben der Tessinerin seinerseits treibt die Sterbegeschichte der Mutter der Tessinerin hervor und die Sterbegeschichte des Bruders der Tessinerin. Und in der Novelle »Das Gartenhaus« wird nicht die Trauer um den Sohn erzählt, die doch der Anlass der Novelle ist, erzählt werden die Schwierigkeiten, die der Vater hat, eine streunende Friedhofskatze zu füttern, ohne dass seine Frau das merkt. Und statt des Sterbens des Bruders, das auch dieser Novelle Anlass war, wird das Sterben des Vaters des Vaters erzählt. Und dass der Vater dann als Waisenkind auf den Hof zu einem Onkel Stauffacher kommt und vor dem den Kater verbergen muss, der ihm nachts in der Einsamkeitskammer warm gibt; das grundiert den vor der eigenen Frau zu verbergenden Katzenfütterungsfanatismus, der erzählt wird, um nicht direkt von dem erzählen zu müssen, was der Anlass des Erzählens ist. Diese Grundierung macht den Realismus möglich. Dadurch ist das Gegenthema kein Tick, keine ästhetische Willkür, sondern Ausdruck der Notwendigkeit, dass jedem Ausdrucksanlass mit einem Gegenthema zu begegnen ist. Das läuft auf einen Zwang zur indirekten Mitteilung hinaus. So hat es Kierkegaard genannt. Direkt sei von unserer Existenz nichts mitzuteilen. Der Leser Thomas Hürlimanns kann die Formel dann so buchstabieren: Je wichtiger das Thema, desto indirekter die Mitteilung. Je indirekter die Mitteilung, desto vollkommener der Ausdruck.
Thomas Hürlimanns Thema war bis jetzt unser aller Thema: das Sterben. Einigermaßen plötzlich reißt in der »Tessinerin« die Erzählung ab. Der Erzähler wird jäh unmittelbar. Egal, ob einer am Bett seiner sterbenden Frau sitze »oder ich am Bett meines Bruders (worüber ich nicht schreiben wollte und nicht schreiben kann)«, ein sterbender Mensch werde einem fremd. Und ist wieder zurück in Eutel, im Lehrerhaus, bei der Tessinerin. Aber später reißt die Erzählung noch einmal ab, und diesmal kriegen wir einen dokumentarischen Einschub zu lesen, in dem direkt mitgeteilt wird, wie lange der Bruder lebte, wann er starb. Daraus ergibt sich: Die Erzählung, die auf das Sterben des Bruders antwortet, findet ein Jahr nach dem Tod des Bruders statt. Man kann nichts Geschehenes bloß wiederholen. Man muss dem Geschehenen einen Ausdruck entgegensetzen, der einem die Illusion eines Spielraums verschafft. Atemmöglichkeit.