Wilhelm Raabe: Im alten Eisen

 

 

Wilhelm Raabe

Im alten Eisen

Eine Erzählung

 

 

 

Wilhelm Raabe: Im alten Eisen. Eine Erzählung

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Vilhelm Hammershoi, Alte Frau am Fenster, 1885

 

ISBN 978-3-7437-0887-7

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-4444-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-4447-9 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden 1884/85. Erstdruck in: Vom Fels zum Meer (Stuttgart), Februar- Mai 1887.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Peter Goldammer und Helmut Richter, Berlin und Weimar: Aufbau, 1964–1966.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Similia similibus

 

Erstes Kapitel

Solange der Mensch auf seiner Erde Geschichten hört oder dergleichen selber erzählt, teilt er sie gewöhnlich ein in solche, die gut anfangen und böse endigen, und solche, die schlimm beginnen, aber zu einem wünschenswerten Ende kommen.

Darüber wäre nun manches zu sagen; denn so recht begriffen und ausgerechnet hat eigentlich noch keiner, wo bei den Geschichten dieser Erde der Anfang und wo das Ende ist, wo das Wünschenswerte beginnt und das Gegenteil davon endet, oder umgekehrt. Ich für mein Teil hüte mich wohl, mich hierüber des weitern auszulassen, ich halte mich einfach an des Menschen uralt hergebrachte Anordnung und Abfachung seiner Erlebnisse und seiner Schicksale und verkünde nur, zu eigener Erleichterung tief aufatmend, daß vorliegende Geschichte nach menschlichem Ermessen ziemlich gut ausgeht.

In eigener Sache frei aufatmen oder in der anderer Leute: für den rechten Erzähler läuft das auf ein und dasselbe hinaus, geradeso wie für den rechten Zuhörer. –

Es war, um mitten in der unruhvollen Wirklichkeit im altgewohnten Märchenton zu beginnen, an einem trüben Sonntagmorgen im Spätherbst noch vor dem Kirchenglockengeläut. Ach, es rüsteten sich eben nur zu viel mitleidige Seelen, gute Leute, die man für diesmal gern an anderer Stelle lieber gesehen hätte, zum Kirchgange. In der ganzen, großen Stadt Berlin hatte niemand von denen, die helfen konnten – auch keine Frau –, eine Ahnung davon, was sich nebenan ereignen sollte, der Zeit nach gerechnet von diesem Sonntagmorgen bis zum Morgen des nächsten Mittwochs.

Nebenan, das ist wohl ein etwas enger Begriff für eine so[263] weitläufige Stadt wie die Stadt Berlin; aber alle diejenigen, die nachher zuerst in den Zeitungen durch den Doktor Berg von dem Vorgefallenen zu lesen bekamen, hatten doch sämtlich das Gefühl, daß die Geschichte dicht neben ihnen selber an passiert sei. So sagten sie auch alle, indem sie sich des gewohnten fremdländischen Wortes für ihren innerlichsten Schauder ob des unbemerkten Vorbeigleitens des Trauerspiels ruhig bedienten.

Was war denn nun aber eigentlich so besonders Außergewöhnliches vorgefallen neben uns an in der mächtigen Stadt? Was war es, das nachher, als es laut wurde, alles Glockengeläut und jede Predigt überschrie?

Nur zwei Kinder hatte man während der Zeit vom Sonntagmorgen bis zum Dienstagabend neben ihrer Mutter allein gelassen – einen Jungen von dreizehn und ein Mädchen von acht Jahren. Die Mutter war am Sonntag bald nach Tagesanbruch gestorben – ein Fall, der so häufig eintritt, daß es nur die ihm anhaftenden Umstände sein konnten, welche später alle Leute so sehr erschreckten. Wir aber können heute auch nichts Besseres tun, als so genau als möglich wie Doktor Berg niederzuschreiben, was auch wir nachher in Erfahrung brachten.

Bei Bewußtsein war die Frau nicht mehr gewesen, als die Kinder durch ihr letztes schweres Atmen erweckt wurden. Sie hatte nicht mehr ihre letzten Verfügungen treffen, auch nicht mehr ihren Sohn zum letztenmal nach dem Arzt schicken können.

»Bleib liegen, bleib still liegen; ich bin gleich wieder da«, hatte der Junge zu dem Schwesterchen gesagt. »Bleib untergekrochen, Paulchen, und rufe nicht nach Mama, bis ich wieder hier bin. Der Herr Doktor kommt wohl noch einmal zu uns, wenn er heute morgen in unsere Gegend kommt.«

Der junge Bezirksarmenarzt hätte, auch wenn er sofort vorgefahren wäre, die Kranke nicht auf ihrem Wege aufgehalten. Als er kurz vor dem Kirchengeläut eintraf, fand er sie nicht mehr gegenwärtig, nicht mehr zu Hause, und konnte ihre Abreise ihren Kindern und dem Armenvorsteher des Bezirks nur durch Ausfüllung des vom Staat und dessen Sterblichkeitslisten vorgeschriebenen Frage- und Antwortbogens bescheinigen.[264]

Er hatte nachher den Knaben unterm Kinn genommen und gesagt:

»Tapfer, mein Junge! Mußt ein guter Junge sein. Verwandte habt ihr nicht? Keine alte Tante, die so ein bißchen nach dem Rechten sehen könnte?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Hm ... Nun, man wird euch schon beispringen, den Zettel gib aber so bald als möglich heute morgen an Ort und Stelle ab. Man wird schon nach euch sehen, und auch ich werde euch im Auge behalten. Daß du mir auf die Kleine da achtgibst, armer Tropf, und mir keinen Unsinn machst, bis – eure Angelegenheiten geordnet sind! Ich selber kann mich nun nicht länger bei euch aufhalten; also noch einmal, sei ein verständiger Junge, bis man dir zu Hülfe kommt; und was deine Mutter betrifft –«

Er vollendete den Satz nicht, die gewohnten beruhigenden Wortverbindungen erschienen ihm gänzlich überflüssig im gegebenen Fall, den diesmaligen Hinterlassenen gegenüber. Und er hatte recht, und es zeugte mehr von seinem braven Herzen, daß er, statt zu reden, sich noch einmal in dem leeren oder vielmehr ausgeleerten Raum umsah und bei sich dachte:

›Die Sache müßte einem wieder einmal von Rechts wegen den ganzen Tag verderben!‹ – Wir können nicht sagen, auf was für ein besonderes Behagen er für diesen Tag rechnete. –

Es war an einem Sonntagmorgen noch vor dem Kirchengeläut, und die beiden Kinder waren neben der Leiche allein mit dem Blatt Papier, welches der Doktor zurückgelassen hatte und welches fürs erste allen Trost und jede Hülfe der Welt, die ihnen eben versprochen worden waren, in sich faßte.

Aus der nächsten Nachbarschaft, aus dem Hause selbst ließ sich niemand blicken, obgleich der Arzt beim Herabsteigen der Treppen jedem ihm in den Weg geratenden erwachsenen Mitbewohner mitgeteilt hatte, daß »die Frau da oben soeben gestorben und daß nach den Kindern sofort zu sehen sei«.

»O du mein Je«, sagten die Frauen, während die Männer sich, meistens stumm verhielten, nur durch eine Schulterbewegung[265] antworteten und erst, nachdem der junge Herr aus Hörweite war, ihre Ansicht äußerten: »Daß sich keines eher da hereinmischt, als bis die Polizei dagewesen ist und die Sache auf ihr Risiko genommen hat. So ein Doktor wäscht sich bloß die Hände, geht hin, wenn er sein Wort gesprochen hat, und kümmert sich um uns erst wieder, wenn er sagen kann: ›Habe ich's nicht gesagt, daß das Ding mit dem, einen Fall noch nicht aus und zu Ende war?‹«

Und alle Ärzte und Sanitätsräte der Welt hätten kommen können und hätten es der Nachbarschaft doch nicht eingeredet, daß die Frau da oben nicht an der giftigsten Krankheit gestorben sei und jedes Nahegehen nicht sofortige Ansteckung durch die Seuche und gleichfalls den bittersten Tod verbürge. Und sie hatten wirklich schon genug mit sich selber zu schaffen. Die Nachbarn nämlich, sowohl die im Hause als auch die in den Häusern zu beiden Seiten und gegenüber. Und sie hielten merkwürdigerweise auf ihr Leben wie die wohlgestelltesten Mitbürger und Mitbürgerinnen in den anständigsten Stadtteilen. Und da sie hier herum allesamt von ihrer Hände Arbeit von einem Tag zum andern lebten, so hatten sie nicht unrecht, wenn sie ihre Gesundheit soviel als möglich zu Rate hielten, vorzüglich die, welche nicht bloß für sich selbst sorgen mußten: es war mit die kinderreichste Gegend der Stadt – selbstverständlich!

Natürlich auch die elternreichste! Und – in dieser kinder- und elternreichen Gegend diese beiden Kinder ihrer Aufgabe gegenüber allein!...

Ihrer Aufgabe?

Jawohl, der Aufgabe, die Mutter zu begraben. In dem Folgenden ist zu lesen, wie sie auf sich selber angewiesen waren und wie sie sich zu helfen suchten. –

»Das hat eben der Doktor an den Herrn geschrieben, wo ich das Geld jeden Monat holte, Paule«, sagte der Knabe. »Vorhin haben sie mir auf der Treppe gesagt, sie wollten uns einen Topf Kaffee und Brot vor die Türe setzen. Weiter können sie sich nicht trauen; sie haben alle Angst. Hast du Angst, Paulchen, wenn ich jetzt noch einmal für einen Augenblick weglaufe?«[266]

»Mama! Meine Mama!« schluchzte die Kleine, mit beiden Fäustchen vor den Augen.

Ein Schauder, ein Zittern lief auch durch den Körper des Knaben, als sich das Schwesterchen so mit zugehaltenen Augen dichter an ihn drängte; aber er reckte sich doch mit den Schultern auf und biß die Zähne zusammen, um seiner Angst, seinem Schmerz, seiner Ratlosigkeit nicht durch ein noch lauteres Weinen Luft machen zu müssen. Er sah, als er das Kind fest umfaßte, nach der toten Mutter hin. Er überwand den großen Schrecken vor der Leiche, indem er mit dem Fuße aufstampfte und die Fingernägel sich in das Fleisch der Hand drückte und nun, wie die Schwester schluchzend, rief:

»Tapfer – ein tapferer Junge! Das hat schon Mama gesagt. Ja!... Und ich will ein tapferer Junge sein, und ich will ein guter Junge sein, wie Mama es gewollt hat und es mir anbefohlen hat bis – bis zuletzt... Ich will, ich will keine Furcht haben. Sie ist auch so unsere liebe Mama, Paule! Ich will sehen, was ich tun kann für Mama und für uns, für dich und für mich, Paulchen!«

Er war noch kein großer Junge, aber er hatte sich zu der Schwester doch niederzubeugen, als er sie in die Arme nahm und flüsterte:

»Ich muß weit und schnell laufen, und du hast noch so kleine Beine. Willst du wieder unterkriechen und wieder einschlafen, oder kannst du – willst du zu Mama dich setzen?«

»Zu Mama setzen!« schluchzte das Kindchen; und von der Tür aus sah noch der Mann in der Familie, wie es zu Häupten des Leichnams sich auf die schlechte Matratze kauerte, dicht neben das stille, beruhigte Gesicht der Mutter. –

Wie die Zeitungen davon geschrieben haben, werden wir seinerzeit Genaueres mitteilen, wenn es uns noch nötig scheinen sollte; wie jede zuständige Behörde ihre Pflicht getan hat, wie alles nur auf unglückliche Umstände und Mißverständnisse hinauslief, werden wir, wenn wir es nicht vergessen, auch sagen. An diesem Sonntagmorgen ist jetzt der Knabe mit dem Schein des Armenarztes zu dem Armenvorsteher des Bezirks gelaufen[267] und hat ihn glücklicherweise noch zu Hause getroffen. Es war aber wirklich eben noch Zeit; Frau und Tochter haben bereits ungeduldig im Nebenzimmer gewartet mit den Gesangbüchern auf dem Frühstückstische; und schon mit dem Hute auf dem Kopfe hat der Herr den zweiten Schein – den Schein für den Sarg – ausgefertigt und, indem er den Jungen damit zu dem Bezirksarmenschreiner schickte, abermals Eile anempfohlen.

Er ist durchaus nicht unfreundlich dabei gewesen. Im Gegenteil, er hat dem kleinen, keuchenden Boten ganz zärtlich und bedauernd auf die Schultern geklopft: »Armes Kerlchen! Nun, lauf nur jetzt. Es wird sich schon alles ordnen; wir werden schon nachsehen.«

Und gelaufen ist der Junge wiederum, einen weiten Weg zu dem Meister Tischler, der nur gebrummt hat:

»Hm, auch wieder 'n Geschäft!«

Dann ist er nach drei Stunden atemlos und im Schweiß nach Hause gekommen und hat die unmündige Schwester der Mutter das Gesicht waschend und die Haare kämmend gefunden, aber den Kaffee und das Brot der Nachbarn noch unangerührt draußen vor der Tür.

Er hat den Topf und den schwarzen Laib mit in die Kammer gebracht, aber beides zitternd auf den Boden niedergesetzt, als er das noch unmündigere Geschöpf so am Werke erblickte.

»O Paulchen!«

»Oh, Mama hat es gestern auch noch von mir gelitten. Sie hat es immer sich von mir tun lassen, seit sie krank war.«

»Nun bleibe ich bei dir und helfe dir bei allem. Am Dienstag um elf Uhr kommt der Wagen für Mama, Paulchen!«

»Oh, und wir fahren mit?«

»Ja, Paulchen, und nachher in die weite Welt, von der Mama immer erzählt hat. Wie brav du gewesen bist, während ich fort war! Aber haben sie nicht angeklopft und es durchs Schlüsselloch hereingerufen, daß sie dir zu essen und zu trinken vor die Tür setzten?«

»O doch; aber ich mochte nicht hinausgucken, ich mochte[268] mit Mama allein nichts essen und trinken; aber nun bin ich hungrig.«

»Mama weinte am meisten, wenn wir nichts hatten. Sie sah uns so gern essen. Und nun wollen wir Kaffee trinken. Komm, ich setze mich zu dir und Mama. Sie wird sich freuen, wenn sie sieht, daß sie uns so bei sich sitzen hat. Und des Großpapas Degen habe ich ja auch noch. Den nehme ich übermorgen mit in die Welt. Mit dem haue ich uns schon raus, und es soll uns keiner viel anhaben.«

Die Kleine rückte auf dem Strohsack der Toten, und der Bruder kauerte sich neben sie. Sie hatten den schlechten irdenen Topf vor sich auf dem Fußboden und das Brot auf dem Schoß. Sie aßen und tranken, und als sie satt waren, hatten sie den ganzen Tag über nichts mehr zu tun, und ebenso den nächsten Tag, den Montag durch. Wolf Wermuth aber hielt ritterlich mit dem Degen des Leutnants Wolfram Hegewisch die Leichenwache.[269]

 

Zweites Kapitel

In der Nacht nun von Montag auf den Dienstag waren in einem höchst anständigen bürgerlichen Hause viele Leute beieinander, das heißt, es war große Gesellschaft dort. Ihren jour fixe nannte die Hausfrau den abendlichen Zusammenlauf und war nicht ohne Grund stolz darauf; denn es kam viel Volk zu ihr, Männlein und Fräulein, paarweise und auch einzeln, zumeist auserlesene, und zwar zum Zweck auserlesene Leute, die sich meistens wenig zum Volk, noch weniger zu den Leuten, aber sehr beträchtlich zur Welt rechneten. Wie könnte in der letzteren Beziehung die ausgiebigste Märchenphantasie dahin nachsteigen, wohin gerade der phantasiefreieste, der solideste, vernünftigste, verständigste Teil der Erdenbürger und Erdenbürgerinnen in seinen Einbildungen von seinem Verhältnis zu dem Volk und zu den Leuten und – der Welt sich verklettern kann!

Es war in einer hochachtbaren Geschäftsgegend der Stadt, wo[269] Gastgeber und Gastgeberin sich höher als gewöhnlich und diesmal ins Ästhetische verklettert hatten und die Gäste natürlich zum größten Teil – danach waren.

Die Straßen sind dort noch breit und ungemein reinlich. Es können die nobelsten Menschen in den ersten Stockwerken der Häuser da wohnen und Gesellschaften geben, in denen man sich sehen und hören lassen kann. Der bürgerliche Lebensbetrieb ist hier in dieser Hinsicht noch nicht hinderlich und verhindert vor allen Dingen noch durchaus nicht das Vorfahren in »eigener Equipage«. Letzteres freilich ist das Hauptargument fürs »Wohnenbleiben«, das dem Herrn der augenblicklich so glänzend erleuchteten und gefüllten Salons im ersten Stock über Runne & Plate seiner und ihrer Herrin gegenüber zur Verfügung steht. Ohne es würde man doch wohl schon längst in noch anständigerer Gegend die Leute aus seiner Gesellschaftssphäre bei sich sehen und nicht über den Geschäftsstuben und Familienwohnräumen der zwar sehr bekannten, sehr ehrbaren und soliden, aber durchaus nicht geist- und geldaristokratischen Firma Runne & Plate.

Gottlob, das Haus hat außer seinem Geschäftstor für das Volk, die Leute und den Werkeltagslebensverkehr auch seine stattliche Privatpforte für – uns! Wir aber, wo blieben wir mit unserem Beruf auf Erden, wenn wir uns nicht das Recht nähmen, ungeladen durch alle Türen einzugehen und uns ungerufen überall einzufinden, bei dem Volk, bei den Leuten und bei uns? Und zwar nicht bloß beim Feste!

Und was würde dabei zutage kommen, wenn wir es nicht verstünden, unsere Zeit abzupassen und stets im richtigen Augenblick mit da zu sein?

Nichts von Bedeutung selbstverständlich. –

Wenn wir nun diesmal ungeladen, ungesehen, unbelauscht von unserem Rechte Gebrauch machen, befindet sich die »Soiree« auf ihrem Höhepunkt und Hofrat Dr. Brokenkorb, einer der geladenen Gäste – und zwar aus dem Hause selbst –, in denkbar kläglichster Laune und flauester Stimmung inmitten des Glanzes und der Fülle, der feinfühligsten Freundlichkeiten der Hausfrau,[270] der achtungsvollen Zutunlichkeiten des Kommenzienrates und der schmeichelhaften Liebenswürdigkeiten der Töchter des Hauses. Er, der sonst unter diesen Lichtern und Tönen, bei diesem Fächerrauschen und diesen Redensarten, im Fließen dieser Genüsse aus allen Künsten und im sanften Geflüster aus mehr als einer Wissenschaft heraus ganz an seiner Stelle und eine Zierde unter uns ist, hat an diesem Abend genug von sich und also auch von der Gesellschaft, von – uns. Er fühlt sich nicht bei sich heute abend und schiebt es auf ein körperliches Unwohlsein, worin er sich irrt. Er fühlt sich niedergedrückt, gelangweilt und eigentlich recht überflüssig, nicht bloß in den Kissen seiner Causeuse, unter den Fächerpalmen des Salongartens, sondern auch ein wenig sonst. Und das letztere ist uns besonders erwünscht. Haben wir uns doch nur deshalb ungeladen, ungesehen, unbelauscht bei uns eingefunden, um den Herrn abzuholen und mit ihm innerhalb seiner eigenen vier Wände, eine Treppe hoch über der gegenwärtigen Lust und Unlust am Dasein, noch eine stille Stunde zuzubringen. Ob wir ihn noch einmal so wie jetzt in tadelloser Gesellschaftstoilette finden werden, ist zum mindesten zweifelhaft. Benutzen wir also die günstige Gelegenheit und reden ein wenig von den Äußerlichkeiten seiner Existenz. Die Samtrobe und das Fächergeknarr seiner Nachbarin im Diwan und ihr schmeichelhaftes Dreinreden sind uns durchaus nicht hinderlich dabei.

Er bekommt viele Komplimente, nicht bloß von der gnädigen Frau und Hausherrin, sondern auch von vielen andern Damen der Gesellschaft, jungen und alten, zu hören. Sagen wir ihm gleichfalls einige; er hat, wie man das nennt, Sinn dafür.

Wie man das nennt, ist Hofrat Dr. Albin Brokenkorb ein schöner Mann. Ein schöner Mann in den besten Jahren, so um die Vierzig herum; zwar mit etwas hoher Stirn und auch sonst gelichtetem Haupthaar, aber mit einem weichlockigen blonden Vollbart und blauen, weichblickenden Augen, deren Aufschlag oder Aufgeschlagenwerden vorzüglich etwas Sympathisches haben soll, wie von Autoritäten holdester Kompetenz häufig versichert wird! Mit knarrenden Stiefeln ist seine Erscheinung nimmer in Verbindung zu bringen; er tritt auf, wie er redet, und die[271] Lider hebt und senkt er nicht geräuschloser, um seinen Reden an der rechten Stelle den herzfesselnden Nachdruck zu geben. Er redet leise, oder vielmehr gedämpft, doch er kann sonor reden und tut es, wo er sich Erfolg davon verspricht; und gestern abend hat er im Saal der Singakademie einen Vortrag über das Schwert und die Myrte in der Weltliteratur gehalten, und er hat die tiefsten Fasern der Empfindung mit dem letzteren Gewächs aus der Tiefe seiner Seele symbolisch aufgezogen. Morgen wird er (wenn nichts dazwischenkommt) über dasselbe Thema in Potsdam vor dem gewähltesten Publikum reden, und er glaubt an seinen Beruf, die besten Stände zu sich emporzuheben: er ist wirklich gar kein übler Mensch. Daß er es böse mit sich und seinem geselligen Kreise meine, hat ihm noch niemand nachgesagt, und, wahrhaftig, wir tun's auch nicht!

Wenn es ein Glück ist, seinen Fähigkeiten, Liebhabereien und so weiter ungestört sich überlassen zu dürfen, so ist dieses Glück dem Hofrat Dr. Brokenkorb durch Gunst und Gnade der Götter im höchsten Maße zuteil geworden. Er ist gesund und ein verhältnismäßig noch junger Hofrat. Dieser sein Titel schreibt sich aus den Verpflichtungen, der Gnade und Gunst eines der kleinern Fürstenhöfe unseres deutschen Vaterlandes her. Sein auskömmliches Vermögen stammt weniger von eigenem Verdienst als von ungemein geachteten Vorfahren aus der Freien und Hansestadt Lübeck ab.

Ja, sie mögen ihn alle gern, die Götter wie die sterblichen Menschen! Und er verdient es; denn wenig andere wissen so fließend, so glatt, so lieblich von ihnen und – zu ihnen zu reden wie er. Die Götter haben das Ihrige an ihm getan, und die Menschen tun es noch. Wir wiederholen: die älteren Damen lächeln ihm und machen ihm lieber als irgendeinem anderen Platz an ihrer Seite. – Die Hausherren klopfen ihm vertraulich und doch respektvoll auf die Schulter und nennen ihn: bester Hofrat – die jüngeren, die unverheirateten Damen haben noch nicht das mindeste gegen ihn einzuwenden. Es ist in der letzteren Hinsicht in mehr als einem Hause immer noch dann und wann in einer Weise von ihm die Rede, von der man annimmt, daß er – gar[272] keine Ahnung davon habe. Die Töchter des Hauses, welches heute seinen jour fixe hat, werden von den schönen Freundinnen und Bekanntinnen zwischen dem vierundzwanzigsten und neunundzwanzigsten Lebensjahre auf den liebenswürdigen Hausgenossen in einer Art angesehen, die nicht bloß Neid, sondern hie und da auch Schadenfreude ist. Wir aber hätten viel zu tun, wenn wir von allem, was geredet werden kann, singen und sagen müßten. –

Hofrat Dr. Albin Brokenkorb hatte auch im Glanz und Lärm des heutigen Abends einen der bevorzugtesten Plätze eingenommen. Gleichweit entfernt von dem Piano wie von den Kartentischen und jenem Tischchen mit den beiden Lichtern, hinter welchem der Herr mit dem roten Maroquinheft (diesmal nicht er!) Platz zu nehmen pflegt. Er hatte von allem Angenehmen abgekriegt, wie gestern, wie vorgestern und so rückwärts durch manches liebe, lange Jahr. Und er war selber auch heute wie gestern angenehm gewesen – »bezaubernd« im höchsten Maße, beredt fast zu sehr. Letzteres lag ihm seltsamerweise augenblicklich auf den Nerven. Er hatte Nerven – Nerven, Nerven! Er gehörte nicht zu den Leuten, denen der Rock, welchen sie tragen, ebenso gleichgültig ist wie das, was man über sie denkt, von ihnen spricht, wenn sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat. Wie alle, denen der Weg durch das Leben ein wenig zu leicht gemacht wurde, hielt er etwas sowohl auf seinen Rock wie auf seinen Ruf. Daß einem Menschen durch das Schicksal auch aus Bosheit die Pfade eben gemacht werden können, ist eine Tatsache, die von solchen, welche sich nicht über allzu großes Glück im Leben zu beklagen haben, lange nicht genug mit in die letzte Abrechnung gezogen wird.

»Sie wollen uns doch nicht schon verlassen, lieber Freund?« hatte die Herrin des Hauses gefragt; er aber durfte eigentlich schon seit längerer Zeit diese Absicht nicht verbergen und suchte nur immer noch nach der höflichsten und wohltuendsten Begründung derselben gegenüber der stattlichen, schönen Frau in bordeauxrotem Sammet. Was ihn an diesem Abend so früh aus diesem seinem Daseinselemente von dannen scheuchte, ließ sich[273] schwer ausdrücken in der Sprache des ihn umgehenden Gesellschaftskreises und auch – in seiner gewohnten eigenen.

Daß die Gnädige hinzufügte: »Aber Hofrätchen, die Kinder, Aglae und Josepha, werden dies sogar unartig finden; sie hatten noch so sehr auf Ihre wundervolle ägyptologische Erfahrung in betreff ihres Kostüms für das Künstlerfest im nächsten Monat gerechnet!«, konnte ihn diesmal nicht zum Bleiben bewegen und wie sonst zu einem interessanten Exkurse über die Damentoiletten am Hofe der Königin Kleopatra anreizen.

Er hatte wie ein anderer ganz gewöhnlicher Sterblicher trotz Josepha und Aglae einfach Kopfweh als Entschuldigungsgrund seines vorzeitigen Aufbruchs vorzugehen. Er hatte sich ganz wie jemand, der nicht der gesuchte Ratgeber in solchen ästhetischgeselligen Angelegenheiten oder gar der geliebteste Salonvorträgler der Stadt war, aus dem Programm der »Soiree« selber zu streichen, das heißt sich mit dem Taschentuch vor der Stirn an den Wänden hin wegzuschleichen. Er, der geistreichste Mann des Abends, quälte sich in der Überzeugung, eben diesen ganzen Abend durch Sottise auf Sottise gehäuft zu haben, und verbeugte sich jetzt nach rechts und links lächelnd und bis zum äußersten den Schein der Unbefangenheit aufrechterhaltend, in der Gewißheit, demnächst ruhelos auf heißem Kopfkissen mit heißer Stirn zu liegen und weiter darüber nachzugrübeln, was es eigentlich war, das ihm so sehr und für diesmal unwiederbringlich die Stimmung, das leichte, angenehm melancholisch angehauchte gewohnte Behagen am Dasein und den in seinem Kreise Mitdaseienden nahm.

Wir aber haben unseren Mann draußen! Der Türvorhang ist hinter ihm zugefallen und die Tür auch. Wir haben ihn abgeholt und folgen ihm die Treppe hinauf zu seinem eigenen Reich. Auf jeder dritten Stufe drückt er das Taschentuch an die wirklich etwas »eingenommene« Stirn und murmelt: »Ich habe mein Teil.«

Hofrat Albin Brokenkorb ist ein sehr belesener Mann, und so sind auch seine unwillkürlichsten Ausrufe nicht selten Erinnerungen aus Gelesenem. Diesmal stammte die Reminiszenz aus einer anderen sehr merkwürdigen Geschichte, in der ein anderer, im[274] Erdentreiben nicht recht feststehender Mann die Treppe hinaufstieg und auf jeder dritten Stufe: »Ich habe mein Teil!« ächzte.

»I promessi sposi«, die Verlobten, heißt das Buch, und der darin so seufzt, war nicht Doktor der Philosophie und ***scher Hofrat, sondern Leutpfarrer in einem kleinen Dorfe am Comer See, nicht weit von der Stadt Lecco gelegen. Als Don Abbondio geht er durch die Weltliteratur. Letzteres eine Ehre, die wir unserem Freunde, Hofrat Dr. Brokenkorb, weder wünschen können noch wollen. Letzterer ist aber auch nicht auf seinem abendlichen Wege nach seiner Wohnung auf die beiden Sbirren des Don Rodrigo gestoßen, sondern hat in seiner Sofaecke im vollsten ästhetischen und gesellschaftlichen Behagen des Abends eine merklich andere Erscheinung gehabt.[275]

 

Drittes Kapitel

»Der Herr will morgen früh wiederkommen.«

»Welcher Herr, Rupfer?«

»Der diese Visitenkarte für den Herrn Hofrat dagelassen hat«, sagte der Diener mit einem Grinsen, das jeder Beschreibung spottete.

Mit dem breitmäuligen stummen Lachen eines treuen Knechtes, der sich schon seit Stunden darauf vorbereitete und freute, seinen Herrn »mal richtig in Verwunderung zu setzen«, reichte er dem Hofrat das hin, was er eben eine Visitenkarte genannt hatte. Sein Herr aber hatte in der Tat Grund, den Gegenstand mit Verwunderung – mit Erstaunen entgegenzunehmen, ihn in den Händen zu wiegen und dann mit ihm rasch an den mit Schreibzeug, geschriebenem Zeug, gedruckten Büchern und dergleichen hoch bedeckten Arbeitstisch in das hellere Licht der Lampe zu treten.

Ein Stock!

Ein abgenutzter, abgelaufener Spazierstock oder vielmehr Wanderknüppel, ein höchst unfeiner und, wie es schien, schon[275] vor recht langer Zeit aus der Weißdornhecke geschnittener Wegbegleiter, mit einer Bocksfratze am Griff und mit einem derben Lederriemen, dem man es gleichfalls ansah, daß er bei mehr als einer andringlichen Gelegenheit fest um das rechte Handgelenk geschlungen worden sei.

»Was soll denn nun dieser Unsinn?... Was soll... mein Gott, ist es möglich?«

Die Knie schwankten wahrhaftig unter dem Mann. Er stützte sich mit der Linken schwer auf die Platte seines Schreibtisches, die seltsame carte de visite wie ein Kurzsichtiger (der er nicht war) vom Griff bis zu der eisernen Zwinge immer genauer und immer näher den Augen untersuchend, bis er plötzlich den jetzt seinerseits sehr erstaunten Rupfer am Kragen faßte und, mit dem unheimlichen Stabe bedrohlich nach rückwärts ausholend, rief:

»Mensch, wie sah der Mensch – der Herr, der dir dies gab, aus? Nimm dich zusammen, oder ich mache dich gleichfalls zu einem Spuk, einem Gespenst, einem – revenant!«

»Es war schon in der Dämmerung, als er die Glocke zog. Jawohl, so was von 'n Spuk mag er wohl an sich gehabt haben, aber so recht habe ich ihn mir in meiner Verblüffung nicht drauf ansehen können. Und seinen Namen hat er auch nicht nennen wollen, als ich ihm sagte, der Herr Hofrat seien nicht zu Hause. Da hat er mich nämlich erst mit dem Knüppel vor die Brust gestoßen und ihn mir dann zugereicht und dumpfig wie aus 'm Kirchhofe raus bemerkt, der Herr Hofrat würden schon wissen, und mehr sei nicht nötig. Morgen früh würde er wieder vorsprechen.«

»Schon gut! Morgen früh! Morgen früh will er wiederkommen«, sagte der Herr Hofrat matt. Er saß jetzt in dem Lehnstuhl vor seinem Arbeitstische mit dem Stabe des geheimnisvollen Fremden über den Knien. Eine ziemliche Weile wartete der Diener darauf, daß er noch einmal angeredet werde; da dieses aber nicht geschah, versuchte er es endlich lieber selber, die Unterredung noch einmal aufzunehmen.

»Der Herr Hofrat haben sonst nichts mehr zu befehlen?«

»Wie meinst du, guter Rupfer?«[276]

»Der Herr Hofrat wünschen vielleicht noch nicht zu Bette zu gehen; und so möchte ich mir erlauben –«

»Du kannst jedenfalls gehen und dich niederlegen. Gute Nacht! Ich werde mich allein auskleiden; ich bedarf deiner nicht weiter. Dieser Herr – der Herr, welcher diesen – diesen Stab – diesen Stock zurückgelassen hat, ist mir morgen zu jeder Zeit willkommen. Hörst du, Rupfer? Ich bin für ihn den ganzen Tag zu Hause – für jeden andern erst nach Anfrage; – verstehst du, mein guter Rupfer?«

»Zu Befehl, Herr Hofrat, und wünsche ich dem Herrn Hofrat eine recht wohlzuschlafende Nacht.«

Der treue Diener wendete sich zur Tür. Dort zögerte er, kam noch einmal zurück und flüsterte respektvoll vertraulich zuredend:

»Soll ich also nicht lieber den greulichen Schandprü-, den Stock – den Stab – mit hinaus – wenigstens mit auf den Vorplatz hinausnehmen?«

»Rege mich nicht noch mehr auf, Menschenkind«, seufzte Hofrat Dr. Albin Brokenkorb, unfähig, von neuem grob den Quäler anzufahren. Dieser aber meinte draußen vor der Tür kopfschüttelnd:

»Hat er einmal Haue damit gekriegt, oder soll er morgen welche damit haben? Na, die Zeit wird's ja wohl hoffentlich ausweisen! I je, was man doch alles in so 'ner feinen, ruhigen Junggesellenhauswirtschaft in Erfahrung bringen kann!«

Nachdem er dann in seiner Kammer die Lampe ausgeblasen und die Decke über den Kopf gezogen hatte, schlummerte er wie ein Kind ein, was sein Herr noch lange nicht tat.

Zu letzterem drang noch geraume Zeit hindurch aus dem Stockwerk unter ihm, bei Runne & Plate im Hause, das Geräusch, Stimmengesumm und Musikgetön der Abendgesellschaft, aus der er vorhin vor der sonst gewohnten Stunde unruhig und mißgelaunt, körperlich und geistig verstimmt, aber selbstverständlich mit dem unbedingt an der Tür geforderten Lächeln sich entfernt hatte. Er aber, der auch die feste Absicht gehabt hatte, so rasch als möglich sich zu Bett zu legen und die Decke über den Kopf zu[277] ziehen, nahm statt dessen über dem auf seinem Tische liegenden Memento den Kopf in beide Hände und hielt ihn so, bis – er ihn losließ und auf und ab ging – ja auf und ab lief im Gemache über dem dumpfen Weltgeräusch unter seinen Füßen.

Er saß, er ging, er lief, und er – Hofrat Dr. Albin Brokenkorb – nahm die bei seinem Diener Rupfer abgegebene Visitenkarte mit auf seiner nächtlichen Wanderung. Er schlang den Lederriemen dieses Stocks um das eigene Handgelenk und stieß mit der eisernen Zwinge dann und wann fest auf über dem jour fixe seiner Haus- und Lebensgenossen. Auf und ab schritt er mit dem Handwerksgesellenstabe über den weichen Teppich seines Studierzimmers, und er – Albin Brokenkorb, der da gemeint hatte, sehr müde nach Hause gekommen zu sein, hatte sich in Wirklichkeit müde zu laufen, ehe er von neuem in seinen Stuhl sinken und den Stock wieder vor sich auf den Tisch legen konnte.

»Uhusen!« murmelte er, als er so weit war. Wir, nachdem wir ihn so weit haben, sehen uns zuerst ein wenig genauer bei ihm um. Das ist in mehr als einer Hinsicht der Mühe wert. –

»O wie himmlisch, o wie reizend!« pflegten die Damen zu rufen, die Hofrat Dr. Brokenkorb dann und wann durch seine Wohnräume zu führen hatte, alle jene jüngeren und älteren, jungen und alten Damen, welche er in der Gesellschaft kennengelernt hatte oder welchen die Vergünstigung zuteil geworden war, ihn durch seine weit durchs deutsche Land gekannten und geschätzten Vorträge über die Symbolik des –, über die Mystik der –, über die Ästhetik des und der – kennen und verehren zu lernen. Und sie hatten vollkommen recht mit ihren Ausrufen. Ja noch mehr, es war nicht nur himmlisch und reizend, sondern es war auch im höchsten Grade behaglich um diesen allgemeinen Liebling der bessern und besten Kreise her. Auch Runne & Plate wußten das und schätzten es an ihm.

Als vermöglicher Junggesell von jener stillnervösen Sorte, die sich ebenso ungern stören läßt, als sie andere stört, befriedigte dieser Mieter alle Ansprüche an den Hausbesitzer um der lieben Ruhe willen und des bessern Geschmacks wegen aus eigenem Geldbeutel; und Runne & Plate würden in der Tat sehr anspruchsvoll[278] gewesen sein, wenn sie einen noch angenehmeren Bewohner ihres zweiten Stockwerks als diesen Hofrat für möglich gehalten hätten. Er aber hatte sich bei ihnen eingerichtet und ausgebreitet. Durch alle Räume zeugten Wände, Decken und Fußböden davon, daß er als Sammler und mit dem Talent zum Abstäuben geboren worden sei und daß er bis zu seinem jetzigen Lebensjahre nicht aufgehört habe, zusammenzutragen, mit zierlichem Verständnis zu ordnen und mit zarter Neigung Federwedel und – Wischtuch in Tätigkeit zu erhalten. Was sie nicht sagten, aber dachten (die den Mann mit Mama usw. besuchenden Damen nämlich), war: ›O wie schade, daß die in dieser Hinsicht entzückendsten männlichen Wesen sich nur zu häufig so schwer entschließen, unsere Hülfe dabei fürs Leben anzunehmen!‹

Und das ist richtig. Es ist eine der betrübendsten Tatsachen, daß Jünglinge, junge Männer, Männer in den besten Jahren, die es am meisten verdienen, zu heiraten und geheiratet zu werden, ihrem Glück im Dasein eben aus dem tiefsten Grunde ihrer Veranlagung zu dem, was den Damen gefällt, töricht oder bemitleidenswert sich entziehen.

Ein Spinnrad aus dem siebenzehnten Jahrhundert war eine Perle der Sammlungen des Hofrats Albin Brokenkorb; aber obgleich er auch über es und das Spinnen von den ältesten bis zu den neuesten Zeiten einen Vortrag im Frauenverein, in Dutzenden von Frauenvereinen durch halb Deutschland gehalten hatte, kam es ihm am wenigsten in den Sinn, wirklich eine spinnende Hausehre an dasselbe zu setzen.

Wo würden wir aufhören, wenn wir anfangen wollten, im einzelnen zu schildern? Schrank an Schrank, Fach über Fach in kunstgewerblichster Ausstattung durch alle Zimmer! Das Museum eines reichen Privatmanns von den ersten Siegel-, Briefmarken-, Käfer- und Schmetterlings-Sammlungen an bis zur echten Figur aus Tanagra! Mappen voll Kupferstiche, Radierungen, Holzschnitte ältester und neuester Meister! Mappen voll Handschriften berühmter, bekannter, berüchtigter Menschen aller Zeiten! Alles, was einen Zug ins Zierliche, Kleine und Kleinste hatte in Pastell, Aquarell, Wachs, Öl, Schmelz – auf Papier, Leinen, Kupfer,[279]Bücher!