Richard Wagner: Oper und Drama
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
ISBN 978-3-86199-989-8
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-4604-6 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-4607-7 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Entstanden zwischen September 1850 bis Februar 1851 im Zürcher Exil . Hier nach: Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bände 3 und 4, Leipzig: Breitkopf und Härtel, o.J. [1911]. Die Eigentümlichkeit der Orthographie wurde bei der vorliegenden Ausgabe beibehalten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Ein Freund theilte mir mit, daß ich mit dem bisherigen Ausspruche meiner Ansichten über die Kunst bei Vielen weniger dadurch Ärgerniß erregt hätte, daß ich den Grund der Unfruchtbarkeit unseres jetzigen Kunstschaffens aufzudecken mich bemühte, als dadurch, daß ich die Bedingungen künftiger Fruchtbarkeit desselben zu bezeichnen strebte. Nichts kann unsere Zustände treffender charakterisiren, als diese gemachte Wahrnehmung. Wir fühlen Alle, daß wir nicht das Rechte thun, und stellen dieß somit auch nicht in Abrede, wenn es uns deutlich gesagt wird; nur wenn uns gezeigt wird, wie wir das Rechte thun könnten und daß dieses Rechte keinesweges etwas Menschenunmögliches, sondern ein sehr wohl Mögliches, und in Zukunft sogar Nothwendiges sei, fühlen wir uns verletzt, weil uns dann, müßten wir jene Möglichkeit einräumen, der entschuldigende Grund für das Beharren in unfruchtbaren Zuständen benommen wäre; denn uns ist wohl so viel Ehrgefühl anerzogen, nicht träge und feig erscheinen zu wollen; wohl aber mangelt es uns an dem natürlichen Stachel der Ehre zu Thätigkeit und Muth. – Auch dieß Ärgerniß werde ich durch die vorliegende Schrift wieder hervorrufen müssen, und zwar um so mehr, als ich mich bemühe, in ihr nicht nur allgemeinhin – wie es in meinem »Kunstwerke der Zukunft« geschah –, sondern mit genauem Eingehen auf das Besondere die Möglichkeit und Nothwendigkeit eines gedeihlicheren Kunstschaffens im Gebiete der Dichtkunst und Musik nachzuweisen.
Fast muß ich aber fürchten, daß ein anderes Ärgerniß dießmal überwiegen werde, und zwar das, welches ich in der Darlegung der Unwürdigkeit unserer modernen Opernzustände gebe. Viele, die es selbst gut mit mir meinen, werden es nicht begreifen können, wie ich es vor mir selbst vermochte, eine berühmte Persönlichkeit unserer heutigen Opernkomponistenwelt auf das Schonungsloseste anzugreifen, und dieß in der Stellung als Opernkomponist, in der ich selbst mich befinde und den Vorwurf des unbezähmtesten Neides leicht auf mich ziehen müßte.
Ich läugne nicht, daß ich lange mit mir gekämpft habe, ehe ich mich zu dem, was ich that, und wie ich es that, entschloß. Ich habe Alles, was in diesem Angriff enthalten war, jede Wendung des zu Sagenden, jeden Ausdruck, nach der Abfassung ruhig überlesen und genau erwogen, ob ich es so der Öffentlichkeit übergeben sollte, – bis ich mich endlich davon überzeugte, daß ich – bei meiner haarscharf bestimmten Ansicht von der wichtigen Sache, um die es sich handelt – nur feig und unwürdig selbst besorgt sein würde, wenn ich mich über jene glänzendste Erscheinung der modernen Opernkompositionswelt nicht gerade so ausspräche, als ich es that. Was ich von ihr sage, darüber ist unter den meisten ehrlichen Künstlern längst kein Zweifel mehr: nicht aber der versteckte Groll, sondern eine offen erklärte und bestimmt motivirte Feindschaft ist fruchtbar; denn sie bringt die nöthige Erschütterung hervor, die die Elemente reinigt, das Lautere vom Unlauteren sondert, und sichtet, was zu sichten ist. Nicht aber diese Feindschaft bloß um ihrer selbst willen zu erheben war meine Absicht, sondern ich mußte sie erheben, da ich nach meinen, bisher nur allgemeinhin ausgesprochenen Ansichten jetzt noch die Nothwendigkeit fühlte, mich genau und bestimmt im Besonderen kundzugeben; denn es liegt mir daran, nicht nur anzuregen, sondern mich auch vollkommen verständlich zu machen. Um mich verständlich zu machen, mußte ich auf die bezeichnendsten Erscheinungen unserer Kunst mit dem Finger hinweisen; diesen Finger konnte ich aber nicht wieder einziehen und mit der geballten Faust in die Tasche stecken, sobald diejenige Erscheinung sich zeigte, an der sich uns ein nothwendig zu lösender Irrthum in der Kunst am ersichtlichsten darstellt, und die, je glänzender sie sich zeigt, desto mehr das befangene Auge blendet, das vollkommen klar sehen muß, wenn es nicht vollständig erblinden soll. Wäre ich somit in der einzigen Rücksicht für diese eine Persönlichkeit befangen geblieben, so konnte ich die vorliegende Arbeit, zu der ich mich, meiner Überzeugung nach, verpflichtet fühlte, entweder gar nicht unternehmen, oder ich mußte ihre Wirkung absichtlich verstümmeln; denn ich hätte das Ersichtlichste und für das genaue Ersehen Nothwendigste mit Bewußtsein verhüllen müssen.
Welches nun auch das Urtheil über meine Arbeit sein werde, Eines wird ein Jeder, auch der Feindgesinnteste, zugestehen müssen, und das ist der Ernst meiner Absicht. Wem ich diesen Ernst durch das Umfassende meiner Darstellung mitzutheilen vermag, der wird mich für jenen Angriff nicht nur entschuldigen, sondern er wird auch begreifen, daß ich ihn weder aus Leichtsinn, noch weniger aber aus Neid unternommen habe; er wird mich auch darin rechtfertigen, daß ich bei der Darstellung des Widerlichen in unseren Kunsterscheinungen den Ernst vorübergehend mit der Heiterkeit der Ironie vertauschte, die uns ja einzig den Anblick des Widerwärtigen erträglich machen kann, während sie auf der anderen Seite immer noch am mindesten verletzt.
Selbst von jener künstlerischen Persönlichkeit hatte ich aber nur die Seite anzugreifen, mit der sie unseren öffentlichen Kunstzuständen zugekehrt ist: erst nachdem ich sie mir nur von dieser Seite her vor die Augen stellte, vermochte ich meinem Blicke, wie es hier nöthig war, gänzlich die andere Seite zu verbergen, mit der sie Beziehungen zugekehrt steht, in denen auch ich einst mit ihr mich berührte, die von der künstlerischen Öffentlichkeit aber so vollkommen abgewandt liegen, daß sie nicht vor diese zu ziehen sind, – selbst wenn es mich fast dazu drängte, zu gestehen, wie auch ich mich einst irrte, – ein Geständniß, das ich gern und unumwunden leiste, sobald ich mich meines Irrthumes bewußt geworden bin.
Konnte ich mich nun hierbei vor meinem Gewissen rechtfertigen, so hatte ich die Einwürfe der Klugheit um so weniger zu beachten, als ich mir vollkommen darüber klar sein muß, daß ich von da an, wo ich in meinen künstlerischen Arbeiten die Richtung einschlug, die ich mit dem vorliegenden Buche als Schriftsteller vertrete, vor unseren öffentlichen Kunstzuständen in die Ächtung verfiel, in der ich mich heute politisch und künstlerisch zugleich befinde, und aus der ich ganz gewiß nicht als Einzelner erlöst kann. –
Aber ein ganz anderer Vorwurf könnte mir noch von Denen gemacht werden, die Das, was ich angreife, in seiner Nichtigkeit für so ausgemacht halten, daß es sich nicht der Mühe eines so umständlichen Angriffes verlohne. Diese haben durchaus Unrecht. Was sie wissen, wissen nur Wenige; was diese Wenigen aber wissen, das wollen wiederum die Meisten von ihnen nicht wissen. Das Gefährlichste ist die Halbheit, die überall ausgebreitet ist, jedes Kunstschaffen und jedes Urtheil befangen hält. Ich mußte mich aber im Besonderen scharf und bestimmt auch nach dieser Seite hin aussprechen, weil es mir eben nicht sowohl an dem Angriffe lag, als an dem Nachweise der künstlerischen Möglichkeiten, die sich deutlich erst darstellen können, wenn wir auf einen Boden treten, von dem die Halbheit gänzlich verjagt ist. Wer aber die künstlerische Erscheinung, die heut' zu Tage den öffentlichen Geschmack beherrscht, für eine zufällige, zu übersehende, hält, der ist im Grunde ganz in demselben Irrthume befangen, aus welchem jene Erscheinung in Wahrheit sich herleitet, – und dieß eben zu zeigen, war die nächste Absicht meiner vorliegenden Arbeit, deren weitere Absicht von Denen gar nicht gefaßt werden kann, die sich zuvor nicht über die Natur jenes Irrthumes vollständig aufgeklärt haben.
Hoffnung, so verstanden zu werden, wie ich es wünsche, habe ich nur bei Denen, die den Muth haben, jedes Vorurtheil zu brechen. Möge sie mir bei Vielen erfüllt werden!
Zürich, im Januar 1851.
Keine Erscheinung kann ihrem Wesen nach eher vollständig begriffen werden, als bis sie selbst zur vollsten Thatsache geworden ist; ein Irrthum wird nicht eher gelöst, als bis alle Möglichkeiten seines Bestehens erschöpft, alle Wege, innerhalb dieses Bestehens zur Befriedigung des nothwendigen Bedürfnisses zu gelangen, versucht und ausgemessen worden sind.
Als ein unnatürliches und nichtiges konnte uns das Wesen der Oper erst klar werden, als die Unnatur und Nichtigkeit in ihr zur offenbarsten und widerwärtigsten Erscheinung kam; der Irrthum, welcher der Entwickelung dieser musikalischen Kunstform zu Grunde liegt, konnte uns erst einleuchten, als die edelsten Genies mit Aufwand ihrer ganzen künstlerischen Lebenskraft alle Gänge seines Labyrinthes durchforscht, nirgend aber den Ausweg, überall nur den Rückweg zum Ausgangspunkte des Irrthumes fanden, – bis dieses Labyrinth endlich zum bergenden Narrenhause für allen Wahnsinn der Welt wurde.
Die Wirksamkeit der modernen Oper, in ihrer Stellung zur Öffentlichkeit, ist ehrliebenden Künstlern bereits seit lange ein Gegenstand des tiefsten und heftigsten Widerwillens geworden; sie klagten aber nur die Verderbtheit des Geschmackes und die Frivolität derjenigen Künstler, die sie ausbeuteten, an, ohne darauf zu verfallen, daß jene Verderbtheit eine ganz natürliche, und diese Frivolität demnach eine ganz nothwendige Erscheinung war. Wenn die Kritik das wäre, was sie sich meistens einbildet zu sein, so müßte sie längst das Räthsel des Irrthumes gelöst und den Widerwillen des ehrlichen Künstlers gründlich gerechtfertigt haben. Statt dessen hat auch sie nur den Instinkt dieses Widerwillens empfunden, an die Lösung des Räthsels aber ebenso befangen nur herangetappt, als der Künstler selbst innerhalb des Irrthumes nach Ausweggängen sich bewegte.
Das große Übel für die Kritik liegt hierbei in ihrem Wesen selbst. Der Kritiker fühlt in sich nicht die drängende Nothwendigkeit, die den Künstler selbst zu der begeisterten Hartnäckigkeit treibt, in der er endlich ausruft: so ist es und nicht anders! Der Kritiker, will er hierin dem Künstler nachahmen, kann nur in den widerlichen Fehler der Anmaßung verfallen, d.h. des zuversichtlich gegebenen Ausspruches irgend einer Ansicht von der Sache, in der er nicht mit künstlerischem Instinkte empfindet, sondern über die er mit bloß ästhetischer Willkür Meinungen äußert, an deren Geltendmachung ihm vom Standpunkte der abstrakten Wissenschaft aus liegt. Erkennt nun der Kritiker seine richtige Stellung zur künstlerischen Erscheinungswelt, so fühlt er sich zu jener Scheu und Vorsicht angehalten, in der er immer nur Erscheinungen zusammenstellt und das Zusammengestellte wieder neuer Forschung übergiebt, nie aber das entscheidende Wort mit enthusiastischer Bestimmtheit auszusprechen wagt. Die Kritik lebt somit vom »allmählichen« Fortschritte, d.h. der ewigen Unterhaltung des Irrthumes; sie fühlt, wird der Irrthum gründlich gebrochen, so tritt dann die wahre, nackte Wirklichkeit ein, die Wirklichkeit, an der man sich nur noch erfreuen, über die man aber unmöglich mehr kritisiren kann, – gerade wie der Liebende in der Erregtheit der Liebesempfindung ganz gewiß nicht dazu kommt, über das Wesen und den Gegenstand seiner Liebe nachzudenken. An diesem vollen Erfülltsein von dem Wesen der Kunst muß es der Kritik, so lange sie besteht und bestehen kann, ewig gebrechen; sie kann nie ganz bei ihrem Gegenstande sein, mit einer vollen Hälfte muß sie sich immer abwenden, und zwar mit der Hälfte, die ihr eigenes Wesen ist. Die Kritik lebt vom »Doch« und »Aber«. Versenkte sie sich ganz auf den Grund der Erscheinungen, so müßte sie mit Bestimmtheit nur dies Eine aussprechen können, eben den erkannten Grund, – vorausgesetzt, daß der Kritiker überhaupt die nöthige Fähigkeit, d.h. Liebe zu dem Gegenstande, habe: dies Eine ist aber gemeinhin der Art, daß, mit Bestimmtheit ausgesprochen, es alle weitere Kritik geradezu unmöglich machen müßte. So hält sie sich vorsichtig, um ihres Lebens willen, immer nur an die Oberfläche der Erscheinung, ermißt ihre Wirkung, wird bedenklich, und – siehe da! – das feige, unmännliche »Jedoch« ist da, die Möglichkeit unendlicher Unbestimmtheit und Kritik ist von Neuem gewonnen!
Und doch haben wir jetzt Alle Hand an die Kritik zu legen; denn durch sie allein kann der, durch die Erscheinungen enthüllte, Irrthum einer Kunstrichtung uns zum Bewußtsein kommen; nur aber durch das Wissen von einem Irrthume werden wir seiner ledig. Hatten die Künstler unbewußt diesen Irrthum genährt und endlich bis zur Höhe seiner ferneren Unmöglichkeit gesteigert, so müssen sie, um ihn vollkommen zu überwinden, eine letzte männliche Anstrengung machen, selbst Kritik zu üben; so vernichten sie den Irrthum und heben die Kritik zugleich auf, um von da ab wieder, und zwar erst wirklich, Künstler zu werden, die sorgenlos dem Drange ihrer Begeisterung sich überlassen können, unbekümmert um alle ästhetische Definition ihres Vorhabens. Der Augenblick, der diese Anstrengung gebieterisch fordert, ist aber jetzt erschienen: wir müssen thun, was wir nicht lassen dürfen, wenn wir nicht in verächtlichem Blödsinn zu Grunde gehen wollen. –
Welcher ist nun der von uns Allen geahnte, noch nicht aber gewußte Irrthum? –
Ich habe die Arbeit eines tüchtigen und erfahrenen Kunstkritikers vor mir, einen längeren Artikel in der Brockhaus'schen »Gegenwart«: »Die moderne Oper«. Der Verfasser stellt alle bezeichnenden Erscheinungen der modernen Oper auf kenntnißvolle Weise zusammen und lehrt an ihnen recht deutlich die ganze Geschichte des Irrthumes und seiner Enthüllung; er bezeichnet diesen Irrthum fast mit dem Finger, enthüllt ihn fast vor unseren Augen, und fühlt sich wieder so unvermögend, seinen Grund mit Bestimmtheit auszusprechen, daß er dagegen es vorziehen muß, auf dem Punkte des nothwendigen Ausspruches angekommen, sich in die allerirrigsten Darstellungen der Erscheinung selbst zu verlieren, um so gewissermaßen den Spiegel wieder zu trüben, der bis dahin uns immer heller entgegenleuchtete. Er weiß, daß die Oper keinen geschichtlichen (soll heißen: natürlichen) Ursprung hat, daß sie nicht aus dem Volke, sondern aus künstlerischer Willkür entstanden ist; er erräth den verderblichen Charakter dieser Willkür ganz richtig, wenn er es als einen argen Mißgriff der meisten jetzt lebenden deutschen und französischen Opernkomponisten bezeichnet, »daß sie auf dem Wege der musikalischen Charakteristik Effekte anstreben, die man allein durch das verstandesscharfe Wort der dramatischen Dichtung erreichen kann«; er kommt auf das wohlbegründete Bedenken hin, ob die Oper nicht wohl an sich ein ganz widerspruchvolles und unnatürliches Kunstgenre sei; er stellt in den Werken Meyerbeer's – allerdings hier fast schon ohne Bewußtsein – diese Unnatur als bis auf die unsittlichste Spitze getrieben dar, – und, statt nun das Nothwendige, von Jedem fast schon Gewußte, rund und kurz auszusprechen, sucht er plötzlich der Kritik ein ewiges Leben zu bewahren, indem er sein Bedauern darüber ausspricht, daß Mendelssohn's früher Tod die Lösung des Räthsels verhindert, d.h. hinausgeschoben hätte! – Was spricht der Kritiker mit diesem Bedauern aus? Doch nur die Annahme, daß Mendelssohn, bei seiner seinen Intelligenz und seiner außerordentlichen musikalischen Befähigung, entweder im Stande hätte sein müssen, eine Oper zu schreiben, in welcher die herausgestellten Widersprüche dieser Kunstform glänzend widerlegt und ausgesöhnt worden, oder aber dadurch, daß er trotz jener Intelligenz und Befähigung dieß nicht vermögend gewesen wäre, diese Widersprüche endgültig bezeugt, das Genre somit als unnatürlich und nichtig dargestellt hätte? – Diese Darlegung glaubte der Kritiker also nur von dem Wollen einer besonders befähigten – musikalischen – Persönlichkeit abhängig machen zu können? War Mozart ein geringerer Musiker? Ist es möglich, Vollendeteres zu finden, als jedes Stück seines »Don Juan«? Was aber hätte Mendelssohn im glücklichsten Falle Anderes vermocht, als Nummer für Nummer Stücke zu liefern, die jenen Mozart'schen an Vollendung gleichkämen? Oder will der Kritiker etwas Anderes, will er mehr, als Mozart leistete? – In der That, das will er: er will den großen, einheitvollen Bau des ganzen Drama's, er will – genau genommen – das Drama in seiner höchsten Fülle und Potenz. An wen aber stellt er diese Forderung? An den Musiker! – Den ganzen Gewinn seines einsichtsvollen Überblickes der Erscheinungen der Oper, den festen Knoten, zu dem er alle Fäden der Erkenntniß in seiner geschickten Hand zusammengefaßt hat, – läßt er schließlich fahren, und wirft Alles in das alte Chaos wieder zurück! Er will sich ein Haus bauen lassen, und wendet sich an den Skulptor oder Tapezierer; der Architekt, der auch den Skulptor und Tapezierer, und sonst alle bei Herrichtung des Hauses nöthigen Helfer mit in sich begreift, weil er ihrer gemeinsamen Thätigkeit Zweck und Anordnung giebt, der fällt ihm nicht ein! – Er hatte das Räthsel selbst gelöst, aber nicht Tageshelle hatte ihm die Lösung gegeben, sondern nur die Wirkung eines Blitzes in finsterer Nacht, nach dessen Verschwinden ihm plötzlich die Pfade nur noch unerkennbarer als vorher geworden sind. So tappt er nun endlich in vollster Finsterniß umher, und da, wo sich der Irrthum in nacktester Widerwärtigkeit und prostituirtester Blöße für den Handgriff erkenntlich hinstellt, wie in der Meyerbeer'schen Oper, da glaubt der vollständig Geblendete plötzlich den hellen Ausweg zu erkennen: er stolpert und strauchelt jeden Augenblick über Stock und Stein, bei jedem Tasten fühlt er sich ekelhaft berührt, sein Athem versagt ihm bei stickend unnatürlicher Luft, die er einsaugen muß, – und doch glaubt er sich auf dem richtigen, gefunden Wege zum Heile, weßhalb er sich auch alle Mühe giebt, sich über alles Das zu belügen, was ihm auf diesem Wege eben hinderlich und von bösem Anzeichen ist. – Und doch wandelt er, aber eben nur unbewußt, auf dem Wege des Heiles; dieser ist in Wirklichkeit der Weg aus dem Irrthume, ja, er ist schon mehr, er ist das Ende dieses Weges, denn er ist die in der höchsten Spitze des Irrthumes ausgesprochene Vernichtung dieses Irrthumes, und diese Vernichtung heißt hier: der offenkundige Tod der Oper, – der Tod, den Mendelssohn's guter Engel besiegelte, als er seinem Schützlinge zur rechten Zeit die Augen zudrückte! –
Daß die Lösung des Räthsels vor uns liegt, daß sie in den Erscheinungen klar und deutlich ausgesprochen ist, Kritiker wie Künstler sich aber von ihrer Erkenntniß willkürlich noch abwenden können, das ist das wahrhaft Beklagenswerthe an unserer Kunstepoche. Seien wir noch so redlich bemüht, uns nur mit dem wahren Inhalte der Kunst zu befassen, ziehen wir noch so ehrlich entrüstet gegen die Lüge zu Felde, dennoch täuschen wir uns über jenen Inhalt und kämpfen wir nur mit der Unkraft dieser Täuschung wieder gegen jene Lüge, sobald wir über das Wesen der wirkungsreichsten Kunstform, in der die Musik sich der Öffentlichkeit mittheilt, geflissentlich in demselben Irrthume beharren, dem unwillkürlich diese Kunstform entsprungen und dem jetzt allein ihre offenkundige Zersplitterung, die Darlegung ihrer Nichtigkeit, zuzuschreiben ist. Es scheint mir fast, als gehöre für Euch ein großer Muth und ein besonders kühner Entschluß dazu, jenen Irrthum einzugestehen und offen aussprechen zu sollen; es ist mir, als fühlet Ihr das Schwinden aller Nothwendigkeit Eures jetzigen musikalischen Kunstproduzirens, sobald Ihr den, in Wahrheit nothwendigen, Ausspruch gethan hättet, zu dem Ihr Euch deßhalb nur mit dem höchsten Selbstopfer anlassen könntet. Wiederum will es mich aber bedünken, als erfordere es weder der Kraft noch der Mühe, am allerwenigsten des Muthes und der Kühnheit, sobald es sich um nichts weiter handelt, als das Offenkundige, längst Gefühlte, jetzt aber ganz unläugbar Gewordene einfach und ohne allen Aufwand von Staunen und Betroffenheit anzuerkennen. Fast scheue ich mich, die kurze Formel der Aufdeckung des Irrthumes mit erhobener Stimme auszusprechen, weil ich mich schämen möchte, etwas so Klares, Einfaches und in sich selbst Gewisses, daß meinem Bedünken nach alle Welt es längst und bestimmt gewußt haben muß, mit der Bedeutung einer wichtigen Neuigkeit kundzuthun. Wenn ich diese Formel nun dennoch mit stärkerer Betonung ausspreche, wenn ich also erkläre, der Irrthum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin,
daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war,
so geschieht dieß keinesweges in dem eitlen Wahne, etwas Neues gefunden zu haben, sondern in der Absicht, den in dieser Formel aufgedeckten Irrthum handgreiflich deutlich hinzustellen, um so gegen die unselige Halbheit zu Felde zu ziehen, die sich jetzt in Kunst und Kritik bei uns ausgebreitet hat. Beleuchten wir mit der Zünde der in der Aufdeckung dieses Irrthumes enthaltenen Wahrheit die Erscheinungen unserer Opern-Kunst und Kritik, so müssen wir mit Staunen ersehen, in welchem Labyrinthe des Wahnes wir beim Schaffen und Beurtheilen bisher uns bewegten; es muß uns erklärlich werden, warum nicht nur im Schaffen jedes begeisterte Streben an den Klippen der Unmöglichkeit scheitern mußte, sondern auch beim Beurtheilen die gescheidtesten Köpfe selbst in das Faseln und Irrereden geriethen.
Sollte es zuvörderst nöthig sein, das Richtige in jener kundgegebenen Aufdeckung des Irrthumes im Kunstgenre der Oper nachzuweisen? Sollte es bezweifelt werden können, daß in der Oper wirklich die Musik als Zweck, das Drama aber nur als Mittel verwandt worden sei? Gewiß nicht. Der kürzeste Überblick der geschichtlichen Entwickelung der Oper belehrt uns hierüber ganz untrüglich; Jeder, der sich um Darstellung dieser Entwickelung bemühte, deckte – durch seine bloße Geschichtsarbeit – unwillkürlich die Wahrheit auf. Nicht aus den mittelalterlichen Volksschauspielen, in welchen wir die Spuren eines natürlichen Zusammenwirkens der Tonkunst mit der Dramatik finden, ging die Oper hervor; sondern an den üppigen Höfen Italiens – merkwürdiger Weise des einzigen großen europäischen Kulturlandes, in welchem sich das Drama nie zu irgend welcher Bedeutung entwickelte – fiel es vornehmen Leuten, die an Palestrina's Kirchenmusik keinen Geschmack mehr fanden, ein sich von Sängern, die bei Festen sie unterhalten sollten, Arien, d.h. ihrer Wahrheit und Naivetät entkleidete Volksweisen, vorsingen zu lassen, denen man willkürliche, und aus Noth zu einem Anscheine von dramatischem Zusammenhang verbundene, Verstexte unterlegte. Diese dramatische Kantate, deren Inhalt auf Alles, nur nicht auf das Drama, abzielte, ist die Mutter, unserer Oper, ja sie ist die Oper selbst. Je weiter sie sich von diesem Entstehungspunkte aus entwickelte, je folgerechter sich die, als nur noch rein musikalisch übriggebliebene, Form der Arie zur Unterlage für die Kehlfertigkeit der Sänger fortbildete, desto klarer stellte sich für den Dichter, der zur Hülfe bei diesen musikalischen Divertissements herbeigezogen wurde, die Aufgabe heraus, eine Dichtungsform herzurichten, die gerade zu weiter gar nichts dienen sollte, als dem Bedürfnisse des Sängers und der musikalischen Arienform den nöthigen Wortversbedarf zu liefern. Metastasio's großer Ruhm bestand darin, daß er dem Musiker nie die mindeste Verlegenheit bereitete, vom dramatischen Standpunkte aus ihm nie eine ungewohnte Forderung stellte, und somit der allerergebenste und verwendbarste Diener dieses Musikers war. Hat sich dieses Verhältniß des Dichters zum Musiker bis auf den heutigen Tag um ein Haar geändert? Wohl darin, was nach rein musikalischem Dafürhalten heute für dramatisch gilt und allerdings von der altitalienischen Oper sich unterscheidet, keineswegs aber darin, was das Charakteristische der Stellung selbst betrifft. Als dieses gilt heute wie vor 150 Jahren, daß der Dichter seine Inspirationen vom Musiker erhalte, daß er den Launen der Musik lausche, der Neigung des Musikers sich füge, den Stoff nach dessen Geschmacke wähle, seine Charaktere nach der, für die rein musikalische Kombination erforderlichen, Stimmgattung der Sänger modele, dramatische Unterlagen für gewisse Tonstückformen, in denen der Musiker sich ergehen und ausbreiten will, herbeischaffe, – kurz, daß er in seiner Unterordnung unter den Musiker das Drama nur aus speziell musikalischen Intentionen des Komponisten heraus konstruire, – oder, wenn er dieß Alles nicht wolle oder könne, sich gefallen lasse, für einen unbrauchbaren Operntextdichter angesehen zu werden. – Ist dieß wahr oder nicht? Ich zweifle, daß gegen diese Darstellung das Mindeste eingewendet werden könnte.
Die Absicht der Oper lag also von je, und so auch heute, in der Musik. Bloß um der Wirksamkeit der Musik Anhalt zu irgendwie gerechtfertigter Ausbreitung zu verschaffen, wird die Absicht des Drama's herbeigezogen, – natürlich aber nicht um die Absicht der Musik zu verdrängen, sondern vielmehr ihr nur als Mittel zu dienen. Ohne Anstand wird dies auch von allen Seiten anerkannt; Niemand versucht es auch nur, die bezeichnete Stellung des Drama's zur Musik, des Dichters zum Tonkünstler, zu läugnen: nur im Hinblick auf die ungemeine Verbreitung und Wirkungsfähigkeit der Oper hat man geglaubt, mit einer monströsen Erscheinung sich befreunden zu müssen, ja ihr die Möglichkeit zuzusprechen, in ihrer unnatürlichen Wirksamkeit etwas Neues, ganz Unerhörtes, noch nie zuvor Geahntes zu leisten, nämlich auf der Basis der absoluten Musik das wirkliche Drama zu Stande zu bringen.
Wenn ich nun als Zweck dieses Buches mir den zu führenden Beweis dafür gesetzt habe, daß allerdings aus dem Zusammenwirken gerade unserer Musik mit der dramatischen Dichtkunst dem Drama eine noch nie zuvor geahnte Bedeutung zu Theil werden könne und müsse, so habe ich, zur Erreichung dieses Zweckes, zunächst mit der genauen Darlegung des unglaublichen Irrthumes zu beginnen, in dem Diejenigen befangen sind, welche jene höhere Gestaltung des Drama's durch das Wesen unserer modernen Oper, also aus der naturwidrigen Stellung der Dichtkunst zur Musik, erwarten zu dürfen glauben.
Wenden wir unsere Betrachtung zuvörderst daher ausschließlich dem Wesen dieser Oper zu!
Jedes Ding lebt und besteht durch die innere Nothwendigkeit seines Wesens, durch das Bedürfniß seiner Natur. Es lag in der Natur der Tonkunst, sich zu einer Fähigkeit des mannigfaltigsten und bestimmtesten Ausdruckes zu entwickeln, zu der sie, wiewohl das Bedürfniß dazu in ihr lag, nie gelangt sein würde, wenn sie nicht in eine Stellung zur Dichtkunst gedrängt worden wäre, in der sie Anforderungen an ihr äußerstes Vermögen entsprechen zu wollen sich genöthigt sah, selbst wenn diese Anforderungen auf das ihr Unmögliche sich richten mußten.
Nur in seiner Form kann sich ein Wesen aussprechen: ihre Formen verdankte die Tonkunst dem Tanze und dem Liede. Dem bloßen Sprachdichter, der sich zur Erhöhung des ihm zu Gebote stehenden Ausdruckes für das Drama der Musik bedienen wollte, erschien diese nur in jener beschränkten Tanz- und Liedform, in welcher sie ihm unmöglich die Fülle des Ausdruckes zeigen konnte, deren sie in Wahrheit doch fähig war. Wäre die Tonkunst ein-für allemal zu dem Sprachdichter in einer Stellung verblieben, wie dieser in der Oper sie jetzt zu ihr einnimmt, so würde sie von diesem nur nach ihrem beschränktesten Vermögen verwendet worden und nie zu der Fähigkeit gelangt sein, ein so überaus mächtiges Ausdrucksorgan zu werden, als sie es heute ist. Es mußte der Musik somit vorbehalten sein, sich selbst Möglichkeiten zuzutrauen, die in Wahrheit für sie Unmöglichkeiten bleiben sollten; sie mußte sich in den Irrthum stürzen, als reines Ausdrucksorgan für sich auch das Auszudrückende deutlich bestimmen zu wollen; sie mußte sich in das hochmüthige Unternehmen wagen, da Anordnungen zu treffen und Absichten aussprechen zu wollen, wo sie in Wahrheit einer, aus ihrem Wesen gar nicht zu fassenden Absicht sich unterzuordnen, in dieser Unterordnung aber auch an der Verwirklichung dieser Absicht einen einzig ermöglichenden Antheil haben kann. –
Nach zwei Seiten hin hat sich nun das Wesen der Musik in dem von ihm aus bestimmten Kunstgenre der Oper entwickelt: nach einer ernsten – durch alle die Tondichter, welche die Last der Verantwortung auf sich fühlten, die der Musik zugetheilt war, als sie die Absicht des Drama's für sich allein übernahm, – nach einer frivolen – durch alle die Musiker, die, wie von dem Instinkt der Unmöglichkeit der Lösung einer unnatürlichen Aufgabe getrieben, dieser den Rücken wandten, und, nur auf den Genuß des Vortheiles bedacht, den die Oper einer ungemein ausgedehnten Öffentlichkeit gegenüber gewonnen hatte, einem ungemischt musikalischen Experimentiren sich hingaben. Es ist nothwendig, daß wir die erste, die ernste, Seite zuvörderst näher in das Auge fassen.
Die musikalische Grundlage der Oper war – wie wir wissen – nichts Anderes als die Arie, die Arie aber wiederum nur das vom Kunstsänger der vornehmen Welt vorgeführte Volkslied, dessen Wortgedicht ausgelassen und durch das Produkt des dazu bestellten Kunstdichters ersetzt wurde. Die Ausbildung der Volksweise zur Opernarie war zunächst das Werk jenes Kunstsängers, dem es an sich nicht mehr an dem Vortrage der Weise, sondern an der Darlegung seiner Kunstfertigkeit gelegen war: er bestimmte die ihm nothwendigen Ruhepunkte, den Wechsel des bewegteren oder gemäßigteren Gesangsausdruckes, die Stellen, an denen er, frei von allem rhythmischen und melodischen Zwange, seine Geschicklichkeit nach vollstem Belieben allein zu Gehör bringen konnte. Der Komponist legte nur dem Sänger, der Dichter wieder dem Komponisten das Material zu dessen Virtuosität zurecht.
Das natürliche Verhältniß zwischen den künstlerischen Faktoren des Drama's war hierbei im Grunde noch nicht aufgehoben, es war nur entstellt, indem der Darsteller, die nothwendigste Bedingung für die Möglichkeit des Drama's, nur der Vertreter einer einzigen besonderen Geschicklichkeit (der absoluten Gesangsfertigkeit), nicht aber aller gemeinsamen Fähigkeiten des künstlerischen Menschen war. Diese eine Entstellung des Charakters des Darstellers war es auch nur, welche die eigentliche Verdrehung im natürlichen Verhältnisse jener Faktoren hervorrief, nämlich die absolute Voranstellung des Musikers vor dem Dichter. Wäre jener Sänger ein wirklicher, ganzer und voller dramatischer Darsteller gewesen, so hätte der Komponist nothwendig in seine richtige Stellung zum Dichter kommen müssen, indem dieser es war, welcher bestimmt und für alles Übrige maaßgebend die dramatische Absicht ausgesprochen und ihre Verwirklichung angeordnet hätte. Der jenem Sänger zunächst stehende Dichter war aber der Komponist, – der Komponist, der eben nur dem Sänger half seine Absicht zu erreichen, diese Absicht, die von aller dramatischen, ja nur dichterischen Beziehung überhaupt losgelöst, durchaus nichts Anderes war, als seine spezifische Gesangskunstfertigkeit glänzen zu lassen.
Dieses ursprüngliche Verhältniß der künstlerischen Faktoren der Oper zu einander haben wir uns fest einzuprägen, um im Verfolge genau zu erkennen, wie dieses entstellte Verhältniß durch alle Bemühungen, es zu berichtigen, nur immer noch mehr verwirrt werden konnte. –
Der dramatischen Kantate wurde, durch das luxuriöse Verlangen der vornehmen Herren nach Abwechselung im Vergnügen, das Ballet hinzugefügt. Der Tanz und die Tanzweise, ganz so willkürlich dem Volkstanze und der Volkstanzweise entnommen und nachgebildet, wie die Opernarie es dem Volksliede war, trat mit der spröden Unvermischungsfähigkeit alles Unnatürlichen zu der Wirksamkeit des Sängers hinzu, und dem Dichter entstand, bei solcher Häufung des innerlich gänzlich Zusammenhangslosen, natürlich die Aufgabe, die Kundgebungen der vor ihm ausgelegten Kunstfertigkeiten zu einem irgendwie gefügten Zusammenhange zu verbinden. Ein immer mehr als nothwendig sich herausstellender dramatischer Zusammenhang verband nun unter des Dichters Hilfe das, was an sich eigentlich nach gar keinem Zusammenhange verlangte, so daß die Absicht des Drama's – von äußerlicher Noth gedrungen – nur angegeben, keineswegs aber aufgenommen wurde. Gesangs- und Tanzweise standen in vollster, kältester Einsamkeit nebeneinander zur Schaustellung der Geschicklichkeit des Sängers oder des Tänzers; nur in dem, was sie zur Noth verbinden sollte, in dem musikalisch rezitirten Dialoge, übte der Dichter seine untergeordnete Wirksamkeit aus, machte das Drama sich irgendwie bemerklich.
Auch das Rezitativ ist keinesweges aus einem wirklichen Drange zum Drama in der Oper, etwa als eine neue Erfindung, hervorgegangen: lange bevor man diese redende Gesangsweise in die Oper einführte, hat sich die christliche Kirche zur gottesdienstlichen Rezitation biblischer Stellen ihrer bedient. Der in diesen Rezitationen nach ritualischer Vorschrift bald stehend gewordene, banale, nur noch scheinbar, nicht aber wirklich mehr sprechende, mehr gleichgültig melodische, als ausdrucksvoll redende Tonfall ging zunächst, mit wiederum nur musikalischer Willkür gemodelt und variirt, in die Oper über, so daß mit Arie, Tanzweise und Rezitativ der ganze Apparat des musikalischen Drama's – und zwar bis auf die neueste Oper dem Wesen nach unverändert – festgestellt war. Die dramatischen Pläne, die diesem Apparate untergelegt wurden, gewannen ebenfalls bald stereotypen Bestand; meistens der gänzlich misverstandenen griechischen Mythologie und Heroenwelt entnommen, bildeten sie ein theatralisches Gerüst, dem alle Fähigkeit, Wärme und Theilnahme zu erwecken, vollständig abging, das dagegen die Eigenschaft besaß, sich zur Benutzung von jedem Komponisten nach Belieben herzugeben, wie denn auch die meisten dieser Texte von den verschiedensten Musikern wiederholt komponirt worden sind. –
Die so berühmt gewordene Revolution Gluck's, die vielen Unkenntnißvollen als eine gänzliche Verdrehung der bis dahin üblichen Ansicht von dem Wesen der Oper zu Gehör gekommen ist, bestand nun in Wahrheit nur darin, daß der musikalische Komponist sich gegen die Willkür des Sängers empörte. Der Komponist, der nächst dem Sänger die Beachtung des Publikums besonders auf sich gezogen hatte, da er es war, der diesem immer neuen Stoff für seine Geschicklichkeit herbeischaffte, fühlte sich ganz in dem Grade von der Wirksamkeit dieses Sängers beeinträchtigt, als es ihm daran gelegen war, jenen Stoff nach eigener erfinderischer Phantasie zu gestalten, so daß auch sein Werk, und vielleicht endlich nur sein Werk dem Zuhörer sich vorstelle. Es standen dem Komponisten zur Erreichung seines ehrgeizigen Zieles zwei Wege offen: entweder den rein sinnlichen Inhalt der Arie, mit Benutzung aller zu Gebote stehenden und noch zu erfindenden musikalischen Hilfsmittel, bis zur höchsten, üppigsten Fülle zu entfalten, oder – und dieß ist der ernstere Weg, den wir für jetzt zu verfolgen haben – die Willkür im Vortrage dieser Arie dadurch zu beschränken, daß der Komponist der vorzutragenden Weise einen dem unterliegenden Worttexte entsprechenden Ausdruck zu geben suchte. Wenn diese Texte ihrer Natur nach als gefühlvolle Reden handelnder Personen gelten mußten, so war es von jeher gefühlvollen Sängern und Komponisten ganz von selbst auch schon beigekommen, ihre Virtuosität mit dem Gepräge der nöthigen Wärme auszustatten, und Gluck war gewiß nicht der Erste, der gefühlvolle Arien schrieb, noch seine Sänger die Ersten, die solche mit Ausdruck vortrugen. Daß er aber die schickliche Nothwendigkeit eines der Textunterlage entsprechenden Ausdruckes in Arie und Rezitativ mit Bewußtsein und grundsätzlich aussprach, das macht ihn zu dem Ausgangspunkt für eine allerdings vollständige Veränderung in der bisherigen Stellung der künstlerischen Faktoren der Oper zu einander. Von jetzt an geht die Herrschaft in der Anordnung der Oper mit Bestimmtheit auf den Komponisten über: der Sänger wird zum Organ der Absicht des Komponisten, und diese Absicht ist mit Bewußtsein dahin ausgesprochen, daß dem dramatischen Inhalte der Textunterlage durch einen wahren Ausdruck desselben entsprochen werden solle. Der unschicklichen und gefühllosen Gefallsucht des virtuosen Sängers war also im Grunde einzig entgegengetreten worden, im Übrigen aber blieb es in Bezug auf den ganzen unnatürlichen Organismus der Oper durchaus beim Alten. Arie, Rezitativ und Tanzstück stehen, für sich gänzlich abgeschlossen, ebenso unvermittelt neben einander in der Gluck'schen Oper da, als es vor ihr, und bis heute fast immer noch der Fall ist.
In der Stellung des Dichters zum Komponisten war nicht das Mindeste geändert; eher war die Stellung des Komponisten gegen ihn noch diktatorischer geworden, da er, bei ausgesprochenem Bewußtsein von seiner – dem virtuosen Sänger gegenüber – höheren Aufgabe, mit vorbedachterem Eifer die Anordnungen im Gefüge der Oper traf. Dem Dichter fiel es gar nicht ein, in diese Anordnungen sich irgendwie einzumischen; er konnte die Musik, der nun einmal die Oper ihre Entstehung verdankte, gar nicht anders fassen als in jenen engen, ganz bestimmten Formen, die er – als selbst den Musiker wiederum gänzlich bindend – vorfand. Es wäre ihm undenklich erschienen, durch Anforderungen der dramatischen Nothwendigkeit an sie, auf diese Formen in dem Grade zu wirken, daß sie ihrem Wesen nach aufgehört hätten, Schranken für die freie Entwickelung der dramatischen Wahrheit zu sein, da er eben nur in diesen – dem Musiker selbst unantastbaren – Formen das Wesen der Musik begriff. Er mußte daher, gab er sich nun einmal zur Dichtung eines Operntextes her, peinlicher als der Musiker selbst auf die Beobachtung jener Formen bedacht sein, und höchstens diesem Musiker es überlassen, auf dem ihm heimischen Felde Erweiterungen und Entwickelungen auszuführen, zu denen er sich nur behülflich erzeigen, nie aber anfordernd sich stellen konnte. Somit wurde vom Dichter selbst, der dem Komponisten mit einer gewissen heiligen Scheu zusah, diesem die Diktatur in der Oper eher noch vollständiger zugeführt, als bestritten, da er wahrnahm, welch' ernsten Eifer der Musiker an seine Aufgabe setzte.
Erst Gluck's Nachfolger waren aber darauf bedacht, aus dieser ihrer Stellung für wirkliche Erweiterung der vorgefundenen Formen Vortheil zu ziehen. Diese Nachfolger, unter denen wir die Komponisten italienischer und französischer Herkunft zu begreifen haben, welche dicht am Ende des vorigen und im ersten Anfange dieses Jahrhunderts für die Pariser Operntheater schrieben, gaben ihren Gesangstücken, bei immer vollendeterer Wärme und Wahrheit des unmittelbaren Ausdruckes, zugleich eine immer ausgedehntere formelle Grundlage. Die herkömmlichen Einschnitte der Arie, im Wesentlichen zwar immer noch beibehalten, wurden mannigfaltiger motivirt, Übergänge und Verbindungsglieder selbst in das Bereich des Ausdruckes gezogen; das Rezitativ schloß sich unwillkürlicher und inniger an die Arie an, und trat als nothwendiger Ausdruck selbst in die Arie hinein. Eine namentliche Erweiterung erhielt die Arie aber dadurch, daß an ihrem Vortrage – je nach dem dramatischen Bedürfnisse – auch mehr als eine Person theilnahm, und so das wesentlich Monologische der früheren Oper sich vortheilhaft verlor. Stücke wie Duette und Terzette waren zwar auch schon früher längst bekannt; daß in einem Stücke Zwei oder Drei sangen, hatte im Wesentlichen aber nicht das Mindeste im Charakter der Arie geändert: diese blieb in der melodischen Anlage und in Behauptung des einmal angeschlagenen thematischen Tones – der eben nicht auf individuellen Ausdruck, sondern auf eine allgemeine spezifisch-musikalische Stimmung sich bezog – vollkommen sich gleich, und nichts Wirkliches änderte sich in ihr, gleichviel ob sie als Monolog oder als Duett vorgetragen wurde, als höchstens ganz Materielles, nämlich daß die musikalischen Phrasen abwechselnd von verschiedenen Stimmen, oder gemeinschaftlich, durch bloß harmonische Vermittelung als zwei- oder dreistimmig u.s.w., gesungen wurden. Dieß spezifisch Musikalische ebenso weit zu deuten, daß es des lebhaft wechselnden individuellen Ausdruckes fähig wurde, dieß war die Aufgabe und das Werk jener Komponisten, wie es sich in ihrer Behandlung des sogenannten dramatisch-musikalischen Ensemble's darstellt. Die wesentliche musikalische Essenz dieses Ensemble's blieben in Wahrheit immer nur Arie, Rezitativ und Tanzweise: nur mußte, wenn einmal in Arie und Rezitativ ein der Textunterlage entsprechender Gesangsausdruck als schickliches Erforderniß erkannt worden war, folgerichtig die Wahrheit dieses Ausdruckes auch auf alles Das ausgedehnt werden, was in dieser Textunterlage sich von dramatischem Zusammenhang vorfand. Dem redlichen Bemühen, dieser nothwendigen Konsequenz zu entsprechen, entsprang die Erweiterung der älteren musikalischen Formen in der Oper, wie wir sie in den ernsten Opern Cherubini's, Mehul's und Spontini's antreffen: wir können sagen, in diesen Werken ist das erfüllt, was Gluck wollte oder wollen konnte, ja, es ist in ihnen ein-für allemal das erreicht, was auf der ursprünglichen Grundlage der Oper sich Natürliches, d.h. im besten Sinne Folgerichtiges, entwickeln konnte.
Der jüngste jener drei Meister, Spontini, war auch so vollkommen überzeugt, das höchste Erreichbare im Genre der Oper wirklich erreicht zu haben; er hatte einen so festen Glauben an die Unmöglichkeit, seine Leistungen irgendwie überboten zu sehen, daß er in allen seinen späteren Kunstproduktionen, die er den Werken aus seiner großen Pariser Epoche folgen ließ, nie auch nur den mindesten Versuch machte, in Form und Bedeutung über den Standpunkt, den er in diesen Werken ein nahm, hinauszugehen. Er sträubte sich hartnäckig, die spätere sogenannte romantische Entwickelung der Oper für irgend etwas Anderes als einen offenbaren Verfall der Oper anzuerkennen, so daß er Denjenigen, denen er sich seitdem hierüber mittheilte, den Eindruck eines bis zum Wahnsinn für sich und seine Werke Eingenommenen machen mußte, während er eigentlich doch nur eine Überzeugung aussprach, der in Wahrheit eine kerngesunde Ansicht vom Wesen der Oper sehr wohl zu Grunde lag. Spontini konnte, beim Überblick des Gebahrens der modernen Oper, mit vollstem Rechte sagen: »Habt Ihr die wesentliche Form der musikalischen Opernbestandtheile irgendwie weiter entwickelt, als Ihr sie bei mir vorfindet? Oder habt Ihr etwa gar irgend etwas Verständliches oder Gesundes zu Stande bringen können mit wirklicher Übergehung dieser Form? Ist nicht alles Ungenießbare in Euren Arbeiten nur ein Resultat Eures Heraustretens aus dieser Form, und habt Ihr alles Genießbare nicht nur innerhalb dieser Formen hervorbringen können? Wo besteht diese Form nun großartiger, breiter und umfangreicher als in meinen drei großen Pariser Opern? Wer aber will mir sagen, daß er diese Form mit glühenderem, gefühlvollerem und energischerem Inhalte erfüllt habe, als ich?« –
Es dürfte schwer sein, Spontini auf diese Fragen eine Antwort zu geben, die ihn verwirren müßte; jedenfalls noch schwerer, ihm zu beweisen, daß er wahnsinnig sei, wenn er uns für wahnsinnig hält. Aus Spontini spricht die ehrliche, überzeugte Stimme des absoluten Musikers, der da zu erkennen giebt: »Wenn der Musiker für sich, als Anordner der Oper, das Drama zu Stande bringen will, so kann er, ohne sein gänzliches Unvermögen hierzu darzulegen, nicht einen Schritt weiter gehen, als ich gegangen bin.« Hierin liegt aber unwillkürlich des Weiteren die Aufforderung ausgesprochen: »Wollt Ihr mehr, so müßt Ihr Euch nicht an den Musiker, sondern – an den Dichter wenden.« –
Wie verhielt sich nun zu Spontini und dessen Genossen dieser Dichter? Bei allem Heranwachsen der musikalischen Opernform, bei aller Entwickelung der in ihr enthaltenen Ausdrucksfähigkeit veränderte die Stellung des Dichters sich doch nicht im Mindesten. Er blieb immer der Bereiter von Unterlagen für die ganz selbständigen Experimente des Komponisten. Fühlte dieser, durch gewonnene Erfolge, sein Vermögen zu freierer Bewegung innerhalb seiner Form wachsen, so gab er dadurch dem Dichter nur auf, ihn mit weniger Befangenheit und Ängstlichkeit bei Zuführung des Stoffes zu bedienen; er rief ihm gleichsam zu: »Sieh', was ich vermag! Genire Dich nun nicht; vertraue meiner Fähigkeit, auch Deine gewagtesten dramatischen Kombinationen mit Haut und Haar in Musik aufzulösen!« – So ward der Dichter vom Musiker nur mit fortgerissen; er durfte sich schämen, seinem Herrn hölzerne Steckenpferde vorzuführen, wo dieser im Stande war, ein wirkliches Roß zu besteigen, da er wußte, daß der Reiter die Zügel tüchtig zu handhaben verstand, – diese musikalischen Zügel, die das Roß in der wohlgeebneten Opernreitbahn schulgerecht hin- und herlenken sollten, und ohne die weder Musik noch Dichter es zu besteigen sich getrauten, aus Furcht, es setze hoch über die Einhegung hinweg und liefe in seine wilde, herrliche Naturheimath fort.
So gelangte der Dichter neben dem Komponisten allerdings zu steigender Bedeutung, aber doch nur genau in dem Grade, als der Musiker vor ihm her aufwärts stieg und er diesem nur folgte; die streng musikalischen Möglichkeiten allein, die der Komponist ihm wies, hatte der Dichter einzig als maaßgebend für alle Anordnung und Gestaltung, ja selbst Stoffauswahl im Auge; er blieb somit, bei allem Ruhm, den auch er zu ärnten begann, immer gerade nur der geschickte Mann, der es vermochte, den »dramatischen« Komponisten so entsprechend und nützlich zu bedienen. Sobald der Komponist selbst keine andere Ansicht von der Stellung des Dichters zu ihm gewann, als er sie der Natur der Oper nach vorfand, konnte er sich selbst auch nur für den eigentlichen verantwortlichen Faktor der Oper ansehen, und so mit Recht und Fug auf dem Standpunkte Spontini's, als dem zweckmäßigsten, stehen bleiben, da er sich die Genugthuung geben durfte, auf ihm alles Das zu leisten, was irgend dem Musiker möglich war, wenn er der Oper, als musikalischem Drama, einen Anspruch als gültige Kunstform gewahrt wissen wollte.
Daß im Drama selbst aber Möglichkeiten lagen, die in jener Kunstform – wenn sie nicht zerfallen sollte – gar nicht auch nur berührt werden durften, dieß stellt sich uns jetzt wohl deutlich heraus, mußte dem Komponisten und Dichter jener Periode aber vollständig entgehen. Von allen dramatischen Möglichkeiten konnten ihnen nur diejenigen aufstoßen, die in jener ganz bestimmten und ihrem Wesen nach durchaus beschränkten Opernmusikform zu verwirklichen waren. Die breite Ausdehnung, das lange Verweilen bei einem Motiv, dessen der Musiker bedurfte, um in seiner Form sich verständlich auszusprechen, – die ganze rein musikalische Zuthat, die ihm als Vorbereitung nöthig war, um gleichsam seine Glocke in Schwung zu setzen, daß sie ertöne und namentlich so ertöne, daß sie einem bestimmten Charakter ausdrucksvoll entspreche, – machten es von je dem Dichter zur Aufgabe, nur mit einer ganz bestimmten Gattung von dramatischen Entwürfen sich zu befassen, die in sich Raum hatten für die gedehnte, geschraubte Gemächlichkeit, die dem Musiker für sein Experimentiren unerläßlich war. Das bloß Rhetorische, phrasenhaft Stereotype in seinem Ausdrucke war für den Dichter eine Pflicht, denn auf diesem Boden allein konnte der Musiker Raum zu der ihm nöthigen, in Wahrheit aber gänzlich undramatischen, Ausbreitung erhalten. Seine Helden kurz, bestimmt und voll gedrängten Inhaltes sprechen zu lassen, hätte dem Dichter nur den Vorwurf der Unpraktikabilität seines Gedichtes für den Komponisten zuziehen müssen. Fühlte der Dichter sich also nothgedrungen, seinen Helden diese banalen, nichtssagenden Phrasen in den Mund zu legen, so konnte er auch mit dem besten Willen von der Welt es nicht ermöglichen, den so redenden Personen wirklichen Charakter, und dem Zusammenhange ihrer Handlungen das Siegel voller dramatischer Wahrheit aufzudrücken. Sein Drama war immer mehr nur ein Vorgeben des Drama's; alle Konsequenzen der wirklichen AbsichtThéâtre françaisAusdruckesInhalte