Joseph Roth: Die Flucht ohne Ende. Roman
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Ilya Repin, Kopf eines Mannes, 1882
ISBN 978-3-8430-8230-3
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-7696-8 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-7697-5 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Entstanden 1927. Erstdruck bei Kurt Wolff, München 1927.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Im folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und Gesinnungsgenossen Franz Tunda.
Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen Erzählungen.
Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu »dichten«. Das wichtigste ist das Beobachtete. –
Paris, im März 1927
Joseph Roth
Der Oberleutnant der österreichischen Armee Franz Tunda geriet im August des Jahres 1916 in russische Kriegsgefangenschaft. Er kam in ein Lager, einige Werst nordöstlich von Irkutsk. Es gelang ihm, mit Hilfe eines sibirischen Polen zu fliehen. Auf dem entfernten, einsamen und traurigen Gehöft des Polen, am Rande der Taiga, blieb der Offizier bis zum Frühling 1919.
Waldläufer kehrten bei dem Polen ein, Bärenjäger und Pelzhändler. Tunda hatte keine Verfolgung zu fürchten. Niemand kannte ihn. Er war der Sohn eines österreichischen Majors und einer polnischen Jüdin, in einer kleinen Stadt Galiziens, dem Garnisonsort seines Vaters, geboren. Er sprach Polnisch, er hatte in einem galizischen Regiment gedient. Es fiel ihm leicht, sich für einen jüngeren Bruder des Polen auszugeben. Der Pole hieß Baranowicz. Tunda nannte sich ebenso.
Er bekam ein falsches Dokument auf den Namen Baranowicz, war nunmehr in Lodz geboren, im Jahre 1917 wegen eines unheilbaren und ansteckenden Augenleidens aus dem russischen Heer entlassen, von Beruf Pelzhändler, wohnhaft in Werchni Udinsk.
Der Pole zählte seine Worte wie Perlen, ein schwarzer Bart verpflichtete ihn zur Schweigsamkeit. Vor dreißig Jahren war er, ein Strafgefangener, nach Sibirien gekommen. Später blieb er freiwillig. Er wurde Mitarbeiter einer wissenschaftlichen Expedition zur Erforschung der Taiga, wanderte fünf Jahre durch die Wälder, heiratete dann eine Chinesin, ging zum Buddhismus über, blieb in einem chinesischen Dorf als Arzt und Kräuterkenner, bekam zwei Kinder, verlor beide und die Frau durch die Pest, ging wieder in die Wälder, lebte von Jagd und Pelzhandel, lernte die Spuren der Tiger im dichtesten Gras erkennen, die Vorzeichen des Sturms an dem furchtsamen Flug der Vögel, wußte Hagel- von Schnee- und Schnee- von Regenwolken zu unterscheiden, kannte die Gebräuche der Waldgänger, der Räuber und der harmlosen Wanderer, liebte seine zwei Hunde wie Brüder und verehrte die Schlangen und die Tiger. Er ging freiwillig in den Krieg, schien aber seinen Kameraden und den Offizieren schon in der Kaserne so unheimlich, daß sie ihn als einen Geisteskranken wieder in die Wälder entließen. Jedes Jahr, im März, kam er in die Stadt. Er tauschte Hörner, Felle, Geweihe gegen Munition, Tee, Tabak und Schnaps ein. Er nahm einige Zeitungen mit, um sich auf dem laufenden zu halten, glaubte aber weder den Nachrichten noch den Artikeln; selbst an den Inseraten zweifelte er. Seit Jahren ging er in ein bestimmtes Bordell, zu einer Rothaarigen, Jekaterina Pawlowna hieß sie. Wenn ein anderer bei dem Mädchen war, wartete Baranowicz, ein geduldiger Liebhaber. Das Mädchen wurde alt, es färbte seine silbernen Haare, verlor einen Zahn nach dem andern und sogar das falsche Gebiß. Jedes Jahr brauchte Baranowicz weniger zu warten, schließlich war er der einzige, der zu Jekaterina kam. Sie begann ihn zu lieben, das ganze Jahr brannte ihre Sehnsucht, die späte Sehnsucht einer späten Braut. Jedes Jahr wurde ihre Zärtlichkeit stärker, ihre Leidenschaft heißer, sie war eine Greisin, mit welkem Fleisch genoß sie die erste Liebe ihres Lebens. Baranowicz brachte ihr jedes Jahr die gleichen chinesischen Ketten und die kleinen Flöten, die er selbst schnitzte und auf denen er die Stimmen der Vögel nachahmte.
Im Februar 1918 verlor Baranowicz den Daumen der linken Hand, als er unvorsichtig Holz sägte. Die Heilung dauerte sechs Wochen, im April sollten die Jäger aus Wladiwostok kommen, er konnte in diesem Jahr nicht in die Stadt. Vergeblich wartete Jekaterina. Baranowicz schrieb ihr durch einen Jäger und tröstete sie. Statt der chinesischen Perlen schickte er ihr einen Zobel und eine Schlangenhaut und ein Bärenfell als Bettvorleger. So kam es, daß Tunda in diesem wichtigsten aller Jahre keine Zeitungen las. Erst im Frühling 1919 hörte er von dem heimkehrenden Baranowicz, daß der Krieg beendet war.
Es war an einem Freitag, Tunda wusch das Eßgeschirr in der Küche, Baranowicz trat in die Tür, man hörte das Bellen der Hunde. Eis klirrte an seinem schwarzen Bart, auf dem Fensterbrett saß ein Rabe.
»Es ist Friede, es ist Revolution!« sagte Baranowicz.
In diesem Augenblick wurde es still in der Küche. Die Uhr im Nebenzimmer schlug drei starke Schläge. Franz Tunda legte die Teller sorgfältig und leise auf die Bank. Er wollte die Stille nicht stören, wahrscheinlich hatte er auch Angst, die Teller würden zerbrechen. Seine Hände zitterten.
»Den ganzen Weg«, sagte Baranowicz, »habe ich es mir überlegt, ob ich es dir sagen soll. Schließlich tut es mir leid, daß du nach Hause gehn wirst. Wir werden uns wahrscheinlich nicht wiedersehn, und schreiben wirst du mir auch nicht.«
»Ich werde dich nicht vergessen«, sagte Tunda.
»Versprich nichts!« sagte Baranowicz.
Das war der Abschied.
Tunda wollte nach der Ukraine gelangen, von Shmerinka, wo er in Gefangenschaft geraten war, nach der österreichischen Grenzstation Podwoloczyska und dann nach Wien. Er hatte keinen bestimmten Plan, der Weg lag unsicher vor ihm, lauter Windungen. Er wußte, daß es lange dauern würde. Er hatte nur den einen Vorsatz: weder den weißen noch den roten Truppen nahe zu kommen und sich um die Revolution nicht zu kümmern. Die österreichisch-ungarische Monarchie war zerfallen. Er hatte keine Heimat mehr. Sein Vater war als Oberst gestorben, seine Mutter schon lange tot. Ein Bruder war Kapellmeister in einer mittelgroßen deutschen Stadt.
In Wien erwartete ihn seine Braut, Tochter des Bleistiftfabrikanten Hartmann. Von ihr wußte der Oberleutnant nichts mehr, als daß sie schön, klug, reich und blond war. Diese vier Eigenschaften hatten sie befähigt, seine Braut zu werden.
Sie schickte ihm Briefe und Leberpasteten ins Feld, manchmal eine gepreßte Blume aus Heiligenkreuz. Er schrieb ihr jede Woche auf dunkelblauem Feldpostpapier mit angefeuchtetem Tintenstift kurze Briefe, knappe Situationsberichte, Meldungen.
Seitdem er aus dem Lager geflohen war, hatte er nichts von ihr gehört.
Daß sie ihm treu war und auf ihn wartete, daran zweifelte er nicht.
Daß sie auf ihn wartete, bis zu seiner Ankunft, daran zweifelte er nicht.
Daß sie aber aufhören würde, ihn zu lieben, wenn er einmal da war und vor ihr stand, schien ihm ebenso gewiß. Denn als sie sich verlobt hatten, war er ein Offizier gewesen. Die große Trauer der Welt verschönte ihn damals, die Nähe des Todes vergrößerte ihn damals, die Weihe eines Begrabenen lag um den Lebendigen, das Kreuz auf der Brust gemahnte an das Kreuz auf einem Hügel. Rechnete man auf ein glückliches Ende, so warteten nach dem triumphalen Marsch der siegreichen Truppen über die Ringstraße der goldene Kragen des Majors, die Stabsschule und schließlich der Generalsrang, alles umweht von dem weichen Trommelklang des Radetzkymarsches.
Jetzt aber war Franz Tunda ein junger Mann ohne Namen, ohne Bedeutung, ohne Rang, ohne Titel, ohne Geld und ohne Beruf, heimatlos und rechtlos.
Er hatte seine alten Papiere und ein Bild seiner Braut im Rock eingenäht. Es schien ihm günstiger, mit dem fremden Namen, der ihm geläufig war wie sein eigener, durch Rußland zu wandern. Erst jenseits der Grenze wollte er seine alten Papiere wieder verwenden.
Den Pappendeckel, auf dem seine schöne Braut abgebildet war, fühlte Tunda hart und beruhigend auf der Brust. Die Photographie stammte von dem Hofphotographen, der den Modezeitungen Bilder von Damen der Gesellschaft lieferte. In einer Serie »Bräute unserer Helden« hatte sich auch Fräulein Hartmann als die Braut des tapferen Oberleutnants Franz Tunda befunden; eine Woche vor der Gefangennahme noch hatte ihn die Zeitung erreicht.
Den Ausschnitt mit dem Bild konnte Tunda bequem der Rocktasche entnehmen, sooft ihn die Lust befiel, seine Braut zu betrachten. Er betrauerte sie schon, noch ehe er sie gesehen hatte. Er liebte sie doppelt: als ein Ziel und als eine Verlorene. Er liebte das Heldentum seiner weiten und gefährlichen Wanderung. Er liebte die Opfer, die nötig waren, die Braut zu erreichen, und die Vergeblichkeit dieser Opfer. Der ganze Heroismus seiner Kriegsjahre erschien ihm kindisch im Vergleich zu dem Unternehmen, das er jetzt wagte. Neben seiner Trostlosigkeit wuchs die Hoffnung, daß er allein durch diese gefährliche Rückkehr wieder ein begehrenswerter Mann wurde. Er war den ganzen Weg über glücklich. Hätte man ihn gefragt, ob ihn die Hoffnung oder die Wehmut glücklich machten, er hätte es nicht gewußt. In den Seelen mancher Menschen richtet die Trauer einen größeren Jubel an als die Freude. Von allen Tränen, die man verschluckt, sind jene die köstlichsten, die man über sich selbst geweint hätte.
Es gelang Tunda, den weißen und roten Truppen aus dem Weg zu gehen. Er durchquerte in einigen Monaten Sibirien und einen großen Teil des europäischen Rußlands, mit der Bahn, mit Pferden und zu Fuß. Er gelangte in die Ukraine. Er kümmerte sich nicht um den Sieg oder die Niederlage der Revolution. Mit dem Klang dieses Wortes verband er schwache Vorstellungen von Barrikaden, Pöbel und dem Geschichtslehrer an der Kadettenschule, Major Horwath. Unter »Barrikaden« stellte er sich übereinandergeschichtete schwarze Schulbänke vor, mit aufwärts ragenden Füßen. »Pöbel« war ungefähr das Volk, das sich am Gründonnerstag bei der Parade hinter dem Kordon der Landwehr staute. Von diesen Menschen sah man nur verschwitzte Gesichter und zerbeulte Hüte. In den Händen hielten sie wahrscheinlich Steine. Dieses Volk erzeugte die Anarchie und liebte die Faulheit.
Manchmal entsann sich Tunda auch der Guillotine, die der Major Horwath immer Guillotin, ohne Endung, aussprach, ebenso wie er Pari sagte statt Paris. Die Guillotine, deren Konstruktion der Major genau kannte und bewunderte, stand wahrscheinlich jetzt auf dem Stephansplatz, der Verkehr für Wagen und Automobile war eingestellt (wie in der Silvesternacht), und die Häupter der besten Familien des Reiches kollerten bis zur Peterskirche und in die Jasomirgottstraße. Ebenso ging es in Petersburg zu und in Berlin. Eine Revolution ohne Guillotine war ebensowenig möglich wie ohne rote Fahne. Man sang die Internationale, ein Lied, das der Kadettenschüler Mohr an den Sonntagnachmittagen vorgetragen hatte, den sogenannten »Schweinereien«. Mohr zeigte damals pornographische Ansichtskarten und sang sozialistische Lieder. Der Hof war leer, man sah zum Fenster hinunter, leer und still war er, man hörte das Gras zwischen den großen Quadersteinen wachsen. – Eine »Guillotin« mit dem abgehackten, gleichsam von ihr selbst abgeschnittenen »e« war etwas Heroisches, Stahlblaues und Blutbetropftes. Rein als Instrument betrachtet, schien sie Tunda heroischer als ein Maschinengewehr.
Tunda nahm also persönlich keine Partei. Die Revolution war ihm unsympathisch, sie hatte ihm die Karriere und das Leben verdorben. Aber er war nicht im Dienst, sobald er sich der Weltgeschichte gegenüberstellte, und glücklich, daß ihn keine Vorschrift zwang, eine Partei zu ergreifen. Er war ein Österreicher. Er marschierte nach Wien.
Im September erreichte er Shmerinka. Er ging am Abend durch die Stadt, kaufte teures Brot für eine seiner letzten Silbermünzen und hütete sich vor politischen Gesprächen. Er wollte nicht verraten, daß er über die Lage nicht orientiert war und daß er von weither kam.
Er beschloß, die Nacht zu durchwandern.
Sie war klar, kühl, fast winterlich; noch war die Erde nicht gefroren, aber der Himmel war es schon. Gegen Mitternacht hörte er plötzlich Gewehrschüsse. Eine Kugel schlug ihm den Stock aus der Hand. Er warf sich zu Boden, ein Hufschlag traf ihn in den Rücken, er wurde ergriffen, hochgezogen, quer über einen Sattel gelegt, über ein Pferd gehängt, wie ein Wäschestück über eine Leine. Der Rücken schmerzte ihn, vom Galopp vergingen ihm die Sinne, sein Kopf war mit Blut gefüllt, es drohte ihm aus den Augen zu schießen. Er erwachte aus der Ohnmacht und schlief gleich ein – so, wie er hing. Am nächsten Morgen band man ihn ab, er schlief noch, gab ihm Essig zu riechen, er schlug die Augen auf, fand sich auf einem Sack in einer Hütte liegen, ein Offizier saß hinter einem Tisch. Pferde wieherten hell und tröstlich vor dem Haus, auf dem Fenster saß eine Katze. Man hielt Tunda für einen bolschewistischen Spion. Roter Hund! nannte ihn der Offizier. Sehr schnell begriff der Oberleutnant, daß es nicht gut war, russisch zu sprechen. Er sagte die Wahrheit, nannte sich Franz Tunda, gestand, daß er auf dem Heimweg begriffen war und daß er ein falsches Dokument besaß. Man glaubte ihm nicht. Schon machte er eine Bewegung nach der Brust, wollte sein richtiges Papier vorzeigen. Aber er empfand den Druck der Photographie wie eine Warnung oder wie eine Mahnung. Er legitimierte sich nicht, es hätte ihm übrigens gar nicht geholfen. Er wurde gefesselt, in einen Stall geschlossen, sah den Tag durch eine Lücke, sah eine kleine Gruppe von Sternen, sie waren hingestreut wie weißer Mohn – Tunda dachte an frisches Gebäck – er war ein Österreicher. Nachdem er zweimal die Sterne gesehen hatte, wurde er wieder ohnmächtig. Er erwachte in einem Meer von Sonne, bekam Wasser, Brot und Schnaps, Rotgardisten standen um ihn, ein Mädchen in Hosen war unter ihnen, ihre Brust ahnte man hinter zwei großen, mit Papieren gefüllten Blusentaschen.
»Wer sind Sie?« fragte das Mädchen.
Sie schrieb alles auf, was Tunda sagte.
Sie reichte ihm ihre Hand. Die Rotgardisten gingen hinaus, sie ließen die Tür weit offen, plötzlich fühlte man die glühende Sonne, obwohl sie weiß und ohne Lust zu brennen war. Das Mädchen war kräftig, sie wollte Tunda emporziehen und fiel selbst nieder.
Bei strahlender Sonne schlief er ein. Dann blieb er bei den Roten.
Irene hatte wirklich lange gewartet. In der Gesellschaftsschicht, der das Fräulein Hartmann angehörte, gibt es eine Treue aus Konvention, eine Liebe aus Gründen der Schicklichkeit, Keuschheit aus Mangel an Auswahl und infolge eines diffizilen Geschmacks. Irenes Vater, ein Fabrikant noch aus jener Zeit, in der die Redlichkeit eines Mannes nach der Anzahl der Prozente berechnet wurde, die er auf seine Waren anschlug, verlor seine Fabrik wegen der gleichen Bedenken, denen Irene beinahe ihr Leben geopfert hätte. Er konnte sich nicht entschließen, schlechtes Blei zu verwenden, obwohl die Verbraucher gar nicht anspruchsvoll waren. Es gibt eine geheimnisvolle rührende Anhänglichkeit an die Qualität der eigenen Ware, deren Gediegenheit zurückwirkt auf den Charakter des Erzeugers, eine Treue zum Fabrikat, die ungefähr dem Patriotismus jener Menschen gleicht, die von der Größe, der Schönheit, der Macht ihres Vaterlandes die eigene Existenz abhängig machen. Diesen Patriotismus haben Fabrikanten manchmal mit ihren letzten Bürodienern gemein, wie den großen Patriotismus Fürsten und Korporale.
Der alte Herr stammte aus jener Zeit, in der ein Wille die Qualität bestimmte und in der man noch mit Ethik Geld verdiente. Er hatte Kriegslieferungen, aber keine richtige Vorstellung vom Kriegsleben. Deshalb lieferte er Millionen allerbester Bleistifte an unsere Krieger im Feld, Bleistifte, die unsern Kriegern ebensowenig halfen wie die miserablen Erzeugnisse der anderen Kriegslieferanten. Einem Intendanten, der ihm den Rat gab, geringere Ansprüche an seine Ware zu stellen, wies der Fabrikant die Tür. Andere behielten das gute Material für eine bessere Zeit.
Als der Friede kam, hatte der Alte nur schlechtes Material, das ohnehin im Preis gesunken war. Er verkaufte es mitsamt seiner Fabrik, zog sich in einen ländlichen Bezirk zurück, machte noch ein paar kurze Spaziergänge und schließlich den langen letzten zum Zentralfriedhof.
Irene blieb, wie die meisten Töchter verarmter Fabrikanten, in einer Villa zurück, mit einem Hund und einer adeligen Dame, die Kondolenzbesuche empfing und den Alten ehrlich betrauerte, nicht weil er ihr nahegestanden hatte, sondern weil er dahingegangen war, ohne ihr nahegestanden zu haben. Ihren Weg von einem Majordomus zur Gebieterin hatte der Tod unterbrochen. Jetzt besaß sie die Schlüssel zu Schränken, die ihr nicht gehörten. Sie tröstete sich durch eine ausgiebige Betrachtung der leidenden Irene.
Übrigens war die vornehme Dame mittelbar die Ursache der Verlobung mit Tunda gewesen. Irene hatte sich verlobt, um ihre Selbständigkeit zu beweisen. Verlobtsein war beinahe soviel wie Großjährigkeit. Die Braut eines aktiven Offiziers im Krieg war sogar de facto großjährig. Wahrscheinlich hätte die Liebe, die auf diesem Grunde gewachsen war, die juristische Großjährigkeit, das Kriegsende, die Revolution nicht überdauert, wenn Tunda zurückgekommen wäre. Verschollene aber haben einen unwiderstehlichen Reiz. Einen Anwesenden betrügt man, einen Gesunden, einen Kranken auch und unter Umständen sogar einen Toten. Aber einen rätselhaft Verschwundenen erwartet man, solang es geht.
Es gibt verschiedene Ursachen weiblicher Liebe. Auch das Warten ist eine. Man liebt die eigene Sehnsucht und das bedeutende Quantum an Zeit, das man investiert hat. Jede Frau würde sich selbst geringschätzen, wenn sie den Mann nicht liebte, auf den sie gewartet hat. Weshalb aber wartete Irene? Weil anwesende Männer weit hinter Verschollenen zurückstehen.
Übrigens war sie anspruchsvoll. Sie gehörte zu der Generation der illusionslosen großbürgerlichen Mädchen, deren natürlich-romantische Veranlagung der Krieg zerstört hatte. Diese Mädchen gingen während des Krieges in die Mittelschule, ins Lyzeum, in die sogenannte Töchterschule. Das sind in ruhigen Zeiten die Brutstätten der Illusionen, der Ideale, der Verliebtheiten.
Im Krieg vernachlässigte man die Erziehung. Die Mädchen aller Stände lernten auf Kosten der Jamben Krankenpflege, aktuelles Heroentum, Kriegsberichte. Die Frauen dieser Generation sind skeptisch, wie nur Frauen, die eine große Erfahrung in der Liebe haben. Die stumpfe, simple und barbarische Beschaffenheit der Männer ist ihnen langweilig. Von der armseligen, ewigen und unveränderlichen Methode männlicher Werbung wissen sie alles schon im vorhinein.
Irene nahm nach dem Krieg eine Stellung in einem Büro an, weil man sich damals anfing zu schämen, wenn man nicht arbeitete. Sie gehörte zu den besseren Bürokräften, die der Herr Chef selbst zu rufen, nicht durch den Sekretär holen zu lassen pflegte. Deshalb bildete man sich damals ein, die Welt stünde kopf und die Gleichheit aller wäre gründlich durchgeführt. Welch eine Zeit, in der Fabrikantentöchter das Geehrte vom Achtzehnten dieses beantworten mußten, um bessere Strümpfe tragen zu können. Diese Zeit war »aus den Fugen«.
Irene wartete (wie viele tausend Frauen) morgens, mittags, abends auf den Briefträger. Er brachte manchmal einen gleichgültigen Brief vom Notar. Inzwischen umgaben sie die Seufzer der aristokratischen Dame, deren Mitgefühl aussah wie eine Schadenfreude.
Irene verkehrte bei einer befreundeten Familie aus Triest. Es war eine alte Familie, die seit Dezennien von Kachelöfenerzeugung lebte und von klassischen Statuen aus Gips. Dieser Familie sind die meisten Diskoswerfer zuzuschreiben, die unter Glasstürzen auf Mahagonivitrinen stehen. Ein Zweig der Triestiner Familie hatte – wahrscheinlich aus geschäftlichen Gründen – dem Irredentismus gehuldigt, seine Büros nach Mailand verlegt und sich von dem habsburgertreuen Familienteil getrennt. Beide Lager wechselten nicht einmal mehr Hochzeitstelegramme. So tiefgehende Konsequenzen kann der Patriotismus erzeugen.
Nach dem Kriege knüpften sich die Beziehungen wieder langsam an. Da der Sieg zur Großmut verpflichtet, streckte der italienische Teil der Familie dem österreichischen zuerst die Hand entgegen. Es war ein Neffe, der von Mailand nach Wien kam – und das ist der Mann, den Irene schließlich heiratete.
Er eroberte sie durch Galanterie. Es war in jenen Tagen bei deutschen Männern eine seltene Eigenschaft – sie ist es noch heute. Er war unbedeutend, flink, geschäftstüchtig, er verdiente Geld und besaß die große weltmännische Fähigkeit, geizig zu sein und gleichzeitig einer Frau kostbare und überraschende Geschenke zu machen. Sein persönlicher Geschmack stand in einem verblüffenden Gegensatz zu seinem beruflichen. In seinem Hause befand sich nicht eine einzige jener Statuen, die er fabrizierte. –
Irene war froh, als sie ihre väterliche Villa verließ und nach fünfzehn Jahren zum erstenmal die adelige Dame.
Da der Hund dem Ehepaar folgte, übernahm die Wirtschafterin auch einen Teil seiner Funktionen: sie knurrte den Briefträger an.
Irene vergaß Tunda nicht. Ihr erstes Kind, es war ein Mädchen, nannte sie gegen ihren guten Geschmack: Franziska.
Ich habe erzählt, wie Tunda für die Revolution zu kämpfen begann. Es war ein Zufall.
Er vergaß seine Braut nicht, aber er befand sich nicht mehr auf dem Wege zu ihr, sondern schon in der Nähe von Kiew und auf dem Marsch nach dem Kaukasus. Er trug einen roten Stern, seine Stiefel waren zerrissen. Noch wußte er nicht, ob er in seine Kameradin verliebt war. Aber nach althergebrachter Sitte schwor er ihr einmal Treue. Er begegnete ihrem Widerstand gegen jede Poesie und fühlte den Zusammenbruch ewiger Gesetze.
»Ich werde dich niemals verlassen«, sagte Franz Tunda.
»Ich werde dich loswerden!« erwiderte das Mädchen.